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Das Leben Benedikts von Nursia ist allein durch die sogenannten "Dialoge" aus der Feder von Papst Gregor dem Großen überliefert. Diese Lebensbeschreibung des Mönchvaters Benedikt wurde oft als reine Wundererzählung abgetan. Anselm Grüns tiefenpsychologische Deutung lässt uns Stationen eines Reifungsweges entdecken, auf dem Benedikt seinen Schatten annimmt und so immer mehr eins wird mit Gott, den Menschen und sich selbst. Ein Weg, der uns allen offensteht.
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Seitenzahl: 106
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Printausgabe
© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2024
ISBN 978-3-7365-0555-1
E-Book-Ausgabe
© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2024
ISBN 978-3-7365-0629-9
Überarbeitete Neuausgabe der 1986 unter gleichem Titel erschienenen »Münsterschwarzacher Kleinschrift« (Band 36).
Alle Rechte vorbehalten
E-Book-Erstellung: Sarah Östreicher
Gestaltung: Dr. Matthias E. Gahr
Illustration: Elli Bruder
www.vier-tuerme-verlag.de
Anselm Grün
EINSWERDEN
Der Weg des heiligen Benedikt
Vier-Türme-Verlag
EINLEITUNG
Einswerden, in Einklang mit sich selbst kommen, das möchte jeder gerne. Die Frage ist, wie wir den Weg zu dieser Erfahrung des Einsseins finden. Ich möchte in den nun folgenden Kapiteln nicht theoretisch über den Weg zum Einswerden schreiben, sondern anhand der Gestalt des heiligen Benedikt aufzeigen, wie der Prozess zum inneren Einssein aussehen könnte.
Mit der Person des heiligen Benedikt beschäftige ich mich, seit ich 1964 ins Kloster eingetreten bin. Als ich im Noviziat die Lebensbeschreibung des heiligen Benedikt, die sogenannten »Dialoge« von Papst Gregor las, konnte ich allerdings nicht viel damit anfangen. Es waren mir zu viele wunderbare und wundersame Geschichten, die mir Benedikt in weite Ferne rückten. Ich wusste nicht, wie weit ich diese Geschichten ernst nehmen oder eben als fromme Legenden abtun sollte. Und wenn ich mich mit meinen Fragen an die Mitbrüder wandte, so entschuldigten sie sich fast, dass wir über Benedikt so wenig wüssten und nur auf eine Propagandaschrift Gregors des Großen angewiesen seien, der mit ihr zeigen wolle, dass das Abendland ebenso heilige Männer hervorgebracht hat wie der Osten. Gregor wähle zudem bewusst die Form eines Dialogs zwischen ihm und dem wissbegierigen Diakon Petrus, um den Anschein der Authentizität zu erhöhen, aber diese Geschichten seien eben nicht so ernst zu nehmen. Auf diese Weise wurde mir die Person Benedikts nie vertraut. Allein die von ihm selbst verfasste Lebensregel für sein eigenes Kloster half mir, dem Geist Benedikts näher zu kommen und zu erahnen, wer dieser Mann gewesen sein musste, der so schreiben konnte.
Die Beschäftigung mit der tiefenpsychologischen Auslegung der Bibel und der Märchen machte mich neugierig, diese Methode nun auch auf die Erzählungen Gregors anzuwenden. Und da bekam für mich Benedikt auf einmal menschliche Farben. Da wurde er mir als Person sympathisch, da konnte ich mich in ihn einfühlen. Ich entdeckte dabei, dass Gregor die Geschichte Benedikts als Entwicklungsweg beschreibt, als Weg der Selbstwerdung, als »Individuationsprozess«, wie C. G. Jung den Reifungsweg des Menschen nennt. Und die vielen Wunder, denen ich früher immer mit Skepsis begegnete, wurden mir auf einmal verständlich. Sie sind für mich nicht nur »Bilder des Heils«1, sondern Bilder der menschlichen Psyche, Bilder des Menschen auf seinem Weg der Selbstwerdung. Sie beschreiben in äußeren Ereignissen, was in der Seele Benedikts geschehen ist, und was bei jedem Menschen auf seinem Weg der Individuation auf ähnliche Weise geschieht. Sie zeichnen den Weg nach, auf dem Benedikt immer mehr eins wird mit sich selbst, auf dem er sich aussöhnt mit seinem Schatten, auf dem er seine »anima« – seinen weiblichen Seelenanteil – integriert, auf dem er von der egoistischen Selbstbehauptung immer mehr frei wird und eins wird mit Gott, in dem er zu sich selbst findet, und durch den er fähig wird zur Gemeinschaft mit den Menschen.
Wenn wir die Dialoge Gregors so lesen, dann entdecken wir in Benedikt eine faszinierende Gestalt, die uns alle angeht. Denn im Weg Benedikts finden wir uns selbst wieder. So wie Benedikt Schritt für Schritt weitergeht von einer infantilen Mutterbindung über die Einsamkeit der Höhle zu einem Menschen, der mit sich eins geworden ist, so sollen auch wir unseren Weg der Selbstwerdung gehen. Doch das Leben Benedikts ist mehr als ein moralischer Appell, dass wir nun genauso leben müssten. Es ist ein Modell, das uns einen neuen Weg ermöglicht. Gregor beschreibt das Leben Benedikts in archetypischen Bildern. Und das bedeutet, dass dieses Leben nicht nur eine individuelle Bedeutung hat, sondern dass es immer und überall gültig ist, dass es uns die Möglichkeit der Identifikation und der Selbsterkenntnis bietet, und dass es in uns selbst den Prozess der Individuation in Gang setzt. Von einem archetypischen Bild geht eine Kraft aus, die auch uns verwandeln kann.
Die reinen Fakten, die wir von einem Menschen wissen, sind für uns persönlich ohne Bedeutung. Von dem, was ich in einem Computer speichern kann, kann ich nicht leben. Wenn ein Mensch für mich von Bedeutung sein soll, muss sein Leben so gedeutet werden, dass ich mich in ihm wiederfinden kann. Die archetypischen Bilder der Dialoge Gregors sind so eine Deutung, die uns alle miteinschließt. Und von daher ist die legendenhafte Erzählweise nicht etwas, für das man sich entschuldigen müsste, sondern gerade eine Chance, Benedikt in seiner eigentlichen Bedeutung zu verstehen. Die Wundergeschichten beschreiben das Wesen des Gottesmannes adäquater als es ein historischer Bericht könnte. Wir können in diesen Geschichten entdecken, was Benedikt für ein Mensch war, wie er sein Leben verstanden hat und was er uns mit seinem Leben vermitteln möchte. Im Spiegel Benedikts können wir uns aber auch selbst besser verstehen. Am Weg Benedikts sehen wir, wohin uns unser Weg führen will, welche Schritte er uns abverlangt und welchen Gefahren wir auf diesem Weg begegnen werden. Der Weg Benedikts macht uns Mut, durch alle Anfechtungen hindurch immer weiterzuschreiten und nicht zu früh stehenzubleiben, an uns zu arbeiten und uns zu wandeln, bis auch wir mit uns selbst eins werden und in der Einheit mit Gott auch die Einheit mit den Menschen erfahren können.
Die archetypische Beschreibung Benedikts deutet uns unser Leben und bringt zugleich etwas in uns in Bewegung. Sie belebt in uns die Energien, die in unserem Unbewussten liegen, und die sich oft negativ auf uns auswirken, wenn die unbewussten Inhalte nicht ins Bewusstsein gehoben werden. Die archetypischen Bilder machen uns diese Inhalte bewusst und geben uns so die Möglichkeit, sie zu integrieren. Das aber bedeutet einen Zuwachs an Kraft und Lebendigkeit, es lässt uns ein Stück mehr mit uns selbst eins werden. Von diesen Bildern geht eine Energie aus, die in uns etwas bewirkt und auch uns die Schritte ermöglicht, die Benedikt auf seinem Weg der Selbstwerdung gegangen ist. Wenn wir die Dialoge Gregors so lesen, kann uns die Beschäftigung mit Benedikt verwandeln und uns auf unserem Weg der Individuation vorantreiben.
Gregor hat die Gestalt Benedikts nicht erfunden, er hat sie nur mit seinen Erzählungen und Geschichten gedeutet. In seiner Deutung hat er die wahre Bedeutung des historischen Benedikt getroffen. Wenn er den Weg der Einswerdung am historischen Benedikt festmacht, dann zeigt das, dass Benedikt eine außergewöhnliche Erscheinung gewesen sein muss, dass er etwas ausgestrahlt hat, das die Menschen faszinierte und ihnen zugleich Hoffnung schenkte. Benedikt muss ein weiser Mensch gewesen sein, durch und durch klar, so dass man sich in seiner Gegenwart nicht verstellen konnte, ein Heiliger, der anderen zum Heil wurde und ihre Krankheiten heilte, ein Gesegneter, von dem Leben ausging, der anderen zum Segen wurde, indem er sie auf ihrem Weg der Einswerdung weiterbrachte und sie in eine größere Freiheit und in eine neue Lebendigkeit hineinführte.
Gregors Dialoge sagen uns mehr aus über das Wesen Benedikts und über das Geheimnis seiner Person, als es eine historische Darstellung vermöchte. Wir müssen nur die richtige Methode anwenden, um Gregors Beschreibung gerecht zu werden. Die tiefenpsychologische Auslegungsmethode kann uns dabei helfen. Jedoch müssen wir uns davor hüten, die Texte Gregors psychologisch plattzuwalzen und überall nur psychologische Theorien zu bestätigen. Dann würde letztlich jede Geschichte das Gleiche bedeuten. Es geht nicht um eine Reduktion des geistlichen Weges auf dem psychologischen Weg der Individuation, sondern um eine Erhellung des religiösen Weges und um ein neues Gespür für das Bilddenken Gregors. Die Psychologie Jungs soll nicht die Richtschnur der Auslegung sein, sondern uns nur ermuntern, uns selbst in die Bilder hineinzufühlen, sie von sich aus sprechen zu lassen und sie durch Assoziationen zu erweitern. Dann gehen wir mit den Dialogen Gregors ähnlich um wie die Kirchenväter in ihrer allegorischen Schriftauslegung mit den biblischen Geschichten. Dabei kann in diesem Buch vieles nur angedeutet werden.
Sie, liebe Leserinnen und Leser, sind eingeladen, selbst in die Bilder hineinzuhorchen. Dann kann ihnen vieles von alleine aufgehen. Sie können neue Zusammenhänge entdecken, sich selbst in den Bildern wiederfinden und die Aktualität Benedikts für seinen eigenen geistlichen Weg erkennen.
1. DER ERSTE SCHRITT IN DIE FREIHEIT
Benedikt entstammt einem vornehmen Haus aus der Gegend von Nursia.
Von seiner Kindheit an zeigte er die Einsicht eines reifen Menschen (cor gerens senile).BENEDICTUS 30
Mit diesem Satz beschreibt Gregor nicht, wie Benedikt als Kind war und lebte, sondern er sagt damit etwas über das Wesen Benedikts aus. Benedikt verbindet in sich Kindheit und Alter, die Spontaneität und Ursprünglichkeit des Kindes mit der Erfahrung und dem Wissen des Alters, die Unverfälschtheit des Anfangs mit der Fülle des Endes.
Das Kind ist ein archetypisches Bild für das Selbst des Menschen. Es bereitet die zukünftige Wandlung der Persönlichkeit vor. »Es antizipiert im Individuationsprozess jene Gestalt, die aus der Synthese der bewussten und der unbewussten Persönlichkeitselemente hervorgeht. Es ist daher ein die Gegensätze vereinigendes Symbol, ein Mediator, ein Heilbringer, das heißt Ganzmacher.«2
Mit diesem Bild gibt Gregor das Programm seiner Lebensbeschreibung an: Benedikt wird auf seinem Weg das Selbst entfalten und darin Bewusstes und Unbewusstes miteinander verbinden. Er wird das unverfälschte Bild Gottes in sich zur Vollendung bringen und dabei zugleich jugendlich frisch und altersweise sein.
Gregor beschreibt nun, wie Benedikt seinen Weg beginnt. Zunächst wird Benedikt von seinen Eltern zum Studium nach Rom geschickt. Das ist bereits ein erster Schritt aus der Familie heraus. Doch es ist ein Weg in eine neue Geborgenheit. Die Stadt ist auf der einen Seite ein mütterliches Symbol für das Behütet- und Geborgensein. Auf der anderen Seite bezeichnet sie den Bereich der Öffentlichkeit, des Bewusstseins. Sich in der Stadt niederlassen bedeutet dann, das Ich im Äußeren zu sichern, es durch Besitz, durch die Anerkennung bei den Menschen, durch menschliche Kontakte, durch beruflichen Erfolg abzusichern. Doch Benedikt gibt all diese Sicherheiten auf. Er verlässt Rom. Er durchschaut das oberflächliche Treiben, die Fremdbestimmung des Ichs durch die Erwartung der anderen. Er reißt sich davon los und will allein Gott gefallen, er will sein wahres Bild leben, sein Selbst entfalten, nach dem Willen Gottes seine eigentliche Berufung erfüllen.
Gregor beschreibt Benedikts Auszug so:
Recessit igitur scienter nescius et sapienter indoctus. — So ging er also fort, bewusst unwissend, und, weil er weise war, ohne Gelehrsamkeit.BENEDICTUS 30
Er wich zurück in einer Art Regression. Er gab das Streben nach äußerem Wissen und Ruhm auf, um sich auf das innere Wissen, auf das Unbewusste einzulassen, das eine neue Form von Wissen mit sich bringt: die Weisheit des Unbewussten, die den Menschen an das eigentliche Geheimnis seiner Existenz heranführt, an die Weisheit Gottes und an das Geborgensein in Gott, in dem der Mensch neu geboren wird.
2. LOSLÖSUNG VON DER MUTTER
Benedikt verlässt Rom nicht allein, sondern in Begleitung »seiner Amme, die ihn zärtlich liebte« (arctius heißt, dass sie ihn in ihrer Liebe nicht losließ). Die Amme hatte in der Antike oft eine viel engere Beziehung zu den Kindern als die leibliche Mutter.3 Allein mit seiner Amme war Benedikt vom Treiben der Welt losgekommen, aber doch in Gefahr, nun erst recht in einer engen Mutterbindung Zuflucht zu suchen vor den Kämpfen des Lebens und dem eigentlichen Schritt, den Gott von ihm verlangte, auszuweichen. Dann wäre sein Weggang von Rom kein Schritt nach vorne geworden, sondern eine Regression zurück in die infantile Abhängigkeit von der Mutter.