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Sommer, Sonne, Festival-Zeit. Eigentlich wollten Lokaljournalistin Vera Horvath und ihre Freundinnen vom Klub der Grünen Daumen den August geruhsam angehen. Doch dann kommt alles anders als gedacht. Statt Love & Peace gibt es am legendären Musik-Festival »picture on« Mord und Totschlag. Ein seltsamer Stalker geht um, Vera wird in einen hochpeinlichen Sexunfall verwickelt und Rocksängerin Alex Woods verschwindet nach einer exzessiven After-Show-Party. Die Gartenladies nehmen sich der Sache an und graben bei ihren Ermittlungen statt Stauden eine Leiche aus …
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Seitenzahl: 426
Martina Parker
Eintunkt
Gartenkrimi
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig
und nicht beabsichtigt. Ausnahmen sind Personen des öffentlichen Lebens, mit denen eine Namensnennung abgesprochen wurde.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
Illustration und Coverdesign: Magdalena Zotti
ISBN 978-3-7349-3130-7
Años, amores y copas de vino, no se deben contar nunca.
Spanisches Sprichwort (Jahre, Lieben und Gläser von Wein sollten niemals gezählt werden.)
*
Auch dieses ist für dich
Das ist das 5. Abenteuer des Klubs der Grünen Daumen. Aber keine Angst. Sie werden sich auch bestens auskennen, wenn Sie die vorherigen Bände nicht gelesen haben. Da der Gartenklub mittlerweile gewachsen ist, gibt es hier eine Übersicht der wichtigsten handelnden Personen.
Johanna Blum: Chefin und Gründerin des Klubs der Grünen Daumen. Liebt alles, was wächst.
Mathilde Werderits: Köchin mit einem Faible für Mode im 50er-Style. War Hauptperson im 2. Abenteuer Hamdraht.
Isabella Hohenfelsen, geborene Kirnbauer: Kräuter- und Waldpädagogin und Jungmama. War Hauptperson im 3. Abenteuer Aufblattelt.
Vera Horvath: Lokaljournalistin beim »Burgenländischen Boten« mit einem Hang zur Verbrecherjagd. Mischt bei jedem Abenteuer mit.
Hilda Horvath: Veras Mutter. Ist immer Hauptperson, hat aber vor allem im 4. Band Ausgstochen ihren großen Auftritt.
Letta Horvath: Veras Tochter, will aus Oma Hilda einen Social-Media-Star machen.
Tom Dunkel: Wirt, Gin-Produzent und Veras große Liebe, die sich (noch) nicht erfüllt hat.
Max Mustermann: Veras Kollege, Fotograf beim »Burgenländischen Boten«, hilft auch in Bettys Bestattung aus.
Betty Pomper: Bestatterin und Leichenschminkerin, war mal kurz mit Tom zusammen.
Hacki Liszt: Bettys aktueller Freund, ein Weinbauer.
Bernd Biela: Weininvestor und Veras missglückter One-Night-Stand.
Alex Woods: Bettys Schwester, die als Rocksängerinbeim picture on festival auftritt.
Marlies Murlasits und Franz Grandits: Kriminalbeamte in Oberwart.
Eva Achleitner und »Inkaerde«-Produzent Finz Kreishofer: die Stars des ersten Abenteuers Zuagroast. Ihr habt die beiden zurückgewollt. Hier sind sie.
Es fühlt sich an, als würde ich innerlich ausbluten. Es tut so weh. So, als wäre mein Innerstes mit feinen, messerscharfen Glassplittern gespickt, die ständig in Bewegung sind. Mir hat noch nie etwas so wehgetan wie dieses Nein. »Nein, ich will nicht. Nein, ich will dein Kind nicht. Nein, ich sehe keine Zukunft für uns. Du versaust mir meine Zukunft, mein Leben.«
»Ich will dich doch glücklich machen«, habe ich gewimmert.
»Indem du mich ins Unglück stürzt?«
»Ich liebe dich!«, habe ich geschrien. »Aber ich kann das nicht.« Und der eigentliche Abschied war dann ein fucking Post-it. »Das ist nicht das, was ich suche. Ich wünsche dir trotzdem viel Erfolg und alles Liebe.«
Und dann hatte ich diese einmalige Chance zu entscheiden. Wie ein römischer Kaiser. Daumen hoch oder Daumen runter. Kann es mir irgendwer verdenken, dass ich mich für Daumen runter entschieden habe?
Reptilien in Terrarien durchlaufen in den ersten Lebensmonaten eine Futterprägung. Es ist deshalb wichtig, sie von Anfang an artgerecht und vielseitig zu ernähren, um eine Prägung auf ungesunde Nahrung zu verhindern. Starkes Übergewicht bei Echsen erkennt man an deutlich sichtbaren Fetteinlagerungen und straff gespannter Haut. Schildkröten quellen oft regelrecht aus ihren Panzern heraus.
»Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?« Betty rückte höflich die Sessel nach hinten, sodass ihre Besucher Platz nehmen konnten. Es war schwül in dem kleinen, getäfelten Empfangsraum. Schwerer Lilienduft lag in der Luft. Sie schwitzte in ihrem langärmligen Kleid und den schwarzen Strümpfen. Aber sie wusste, die Etikette war wichtig. Es gibt keine zweite Chance auf den ersten Eindruck. Und die Konkurrenz schlief nicht.
Sie überlegte kurz , ob sie die Klimaanlage einschalten sollte, entschied sich dann aber dagegen. Das Kühlhaus im Keller fraß schon genug Strom.
»Nein, danke. Kein Kaffee, aber ein Glas Wasser wäre sehr freundlich.« Die Frau räusperte sich leise, als sie den Wunsch aussprach. Ganz so, als ob sie erst einen Frosch im Hals hinunterwürgen musste. Es war nicht leicht für sie hierherzukommen. Sie blickte ihren Mann an, der geradeaus starrte und kaum merkbar nickte. »Für ihn auch ein Wasser, bitte«, fügte sie hinzu.
Betty griff zu der bereitstehenden Karaffe und füllte drei Gläser möglichst geräuscharm mit Wasser.
Sie wählte ihre Worte sorgsam: »Es ist immer sehr schlimm, wenn ein junger Mensch stirbt.« Sie machte eine Pause. »Darf ich fragen, was die Denise …«
Das Ehepaar zuckte bei der Nennung des Namens unmerklich zusammen.
Betty sah die beiden mitfühlend an und vollendete dann den Satz: »… was die Denise gehabt hat?«
Die Frau blickte Betty mit schmerzerfüllten Augen an. »Ihr Herz. Es hat aufgehört zu schlagen.« Die Frau war klein und knochig. Ihr kurzes, dünnes Haar erinnerte an den Flaum eines jungen Vögelchens. Tränen purzelten über ihre Wangen, die mit einem Spinnennetz aus geplatzten Äderchen überzogen waren.
»Mit 26 Jahren. Ein Herzinfarkt. Das ist doch nicht zu glauben. Das kann doch nicht sein. Wie gibt es so was? Sie war doch noch so jung.« Betty schob die Box mit den Taschentüchern in Richtung ihrer Besucherin. Es war immer gut, wenn man die Leute reden ließ. Erst sollte alles heraussprudeln. Dann war es für sie später leichter, sich auf die Fakten zu konzentrieren.
»Mein aufrichtiges Beileid, Frau …«, Betty räusperte sich und schaute verstohlen auf ihre Notizen, wo der Name notiert war, »Frau Csmarits. Darf ich fragen: Wo liegt denn die Denise jetzt?«
»Im Oberwarter Spital.« Herr Csmarits meldete sich mit sonorer Stimme zu Wort. Er straffte seinen Rücken. »Man hat sie mit der Rettung dorthin gebracht. Wir waren bei einer Geburtstagsfeier in Jabing. Und auf einmal ging es der Denise nicht gut. Sie wollte auf die Toilette, und dann ist sie einfach umgekippt. Wir dachten erst, es wäre der Kreislauf. Es ist ja so heiß diesen Sommer.« Sein Blick wanderte zum Fenster, hinter dem die Sonne erbarmungslos vom südburgenländischen Himmel brannte. »Sie ist noch im Rettungswagen gestorben.« Frau Csmarits formte das mit Tränen durchtränkte Kleenex in der Faust zu einem Ball. »Wir konnten uns nicht einmal von ihr verabschieden.«
Betty schielte auf ihre Checkliste. Es war eine lange Liste, die sie abarbeiten musste.
Und Frau Csmarits hatte ihr unbewusst ein passendes Stichwort gegeben.
»Wir haben in unseren Räumlichkeiten auch einen Verabschiedungsraum«, erklärte Betty. »Wenn Sie möchten, können wir hier eine private Verabschiedung für Denise ausrichten. Viele unserer Kunden finden einen neutralen Ort angenehmer als …«
»… als eine Leichenhalle«, beendete Herr Csmarits bitter den Satz. »Ja, das ist eine gute Idee.« Er war groß und kräftig, hatte wulstige Tränensäcke und eine Bürstenfrisur. Die Schultern seines schwarzen Kurzarmhemdes aus bügelfreier Kunstfaser waren mit feinen weißen Schuppen bedeckt.
Betty überlegte, wie alt das Ehepaar wohl war. Denise war 26 gewesen. Wenn die beiden, wie so viele hier am Land, mit Anfang 20 Eltern geworden waren, mussten sie um die 50 sein. Dieselbe Generation wie Bettys neuer Freund, der Leo. Im Vergleich mit dem Leo kamen ihr die beiden aber uralt vor.
Betty machte neben dem Wort »Verabschiedung« auf ihrer Liste ein Hakerl.
»An welche Art von Bestattung haben Sie denn gedacht?«
»Wie meinen Sie, welche Art?« Das Vögelchen blickte verwirrt auf.
»Nun, es gibt eine Sargbestattung, eine Urnenbestattung. Es gibt religiöse und nicht religiöse Zeremonien, ja sogar Baumfriedhöfe.«
»Normal. Wir wollen es normal«, brauste Herr Csmarits auf. »Katholisch. Mit einem Pfarrer. Die Leute reden eh schon genug. Da brauchen wir nicht noch irgend so ein ausgefallenes Brimborium.« Eine ungesunde Röte überzog sein Gesicht.
Seine Frau legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm.
»Ein traditionelles kirchliches Begräbnis mit Sargbestattung also. Das leiten wir gerne in die Wege«, sagte Betty professionell. »Ich gebe Ihnen hier eine Liste zum Ausfüllen, in der Sie Ihre Wünsche deponieren können.«
»Mein einziger Wunsch ist, dass meine Tochter wieder lebt«, sagte Herr Csmarits bitter.
»Jetzt lass gut sein, Egon, die Dame will uns doch nur helfen«, beschwichtigte ihn seine Gattin.
Betty wechselte das Thema. »Ich schlage vor, wir sprechen als Nächstes über die Parte. Dann kann mein Mitarbeiter diese gestalten, während wir hinübergehen und die weiteren Dinge aussuchen.«
Drüben, dort war das Sarglager, in dem eine Entscheidung über Sarg, Pölster und Stoffbezug zu treffen war. Aber Betty wusste, dass es manchmal besser war, Dinge nicht beim Namen zu nennen.
Sie trank noch einen Schluck Wasser. Es schmeckte warm und schal. Der Lilienduft war unerträglich. Sie ärgerte sich, dass sie vergessen hatte, die Staubgefäße der Blumen abzuschneiden. Kurz überlegte sie, das Fenster zu öffnen, aber da würde nur heiße Luft hereinströmen. »Sie entschuldigen mich bitte kurz.« Betty stand auf und trug die Vase mit den Lilien aus dem Raum. Orangefarbener Blütenstaub fiel dabei auf den Ärmel ihres Kleides.
»Max?« Sie rief den Namen ihres Kollegen Richtung Büro. Die Tür war nur angelehnt. »Kannst du uns bitte die Mappe mit den Vorlagen für die Traueranzeigen bringen?«
Ein schlaksiger Mann mit tief liegenden Augen und einer ausgeprägten Nase erschien. Er war auf eine anziehende und gleichzeitig abstoßende Art attraktiv. Alles andere als durchschnittlich, auch wenn sein Name dies vermuten ließe. Max hieß mit Nachnamen Mustermann. »Meine Eltern haben in der Brotdose neben dem Scherzerl geschlafen, bevor sie mich getauft haben«, pflegte er zu sagen. Max Mustermann. Der Platzhaltername auf Drucksorten. Und jetzt gestaltete er Drucksorten in einer Bestattung. Was für eine Ironie.
Max war freier Fotograf beim »Burgenländischen Boten«, der lokalen Bezirkszeitung, und half stundenweise im Büro von Bettys Bestattung mit. Dank seiner fotografischen Künste hatte sich das Repertoire in der Mappe mit den Vorlagen für Traueranzeigen deutlich erweitert. Waren dort früher vor allem Himmelsleitern, Engel und Dürers betende Hände zu finden gewesen, standen nun auch von Max angefertigte burgenländische Landschaftsaufnahmen zur Auswahl.
»Wir wissen schon, welches Bild wir auf der Parte wollen«, sagte Frau Csmarits und kramte in ihrer großen schwarzen Kunstlederhandtasche mit Krokoprägung. »Hier«, sie reichte Betty ein Foto. Es zeigte einen kleinen, beigefarbenen Hund mit hervorquellenden Augen und einer rosa Zunge, die schief aus seinem Maul hing. Sein üppiges, weiches Fell und seine Winzigkeit ließen ihn extrem niedlich wirken.
»Ach, wie entzückend«, log Betty höflich. Sie war gegen den Charme von Schoßhunden immun. »Ein Spitz?«
»Ein Zwergspitz, ein Pomeranian. The King of Toys«, sagte Frau Csmarits. Ein wehmütiges Lächeln machte sich in ihrem Gesicht breit. »Der Butzi war der Denise ihr Ein und Alles.«
»Wir könnten die Traueranzeige mit einem Bild von Butzi blass hinterlegen«, schlug Max vor. Denises Eltern nickten glücklich.
»Der Butzi soll auch namentlich bei den trauernden Hinterbliebenen stehen«, bestimmte Frau Csmarits: »Die Denise war so tierlieb. Wir haben deshalb gedacht … dieser Spruch von Franz von Assisi, der würde gut auf die Anzeige passen. Der war ja der Schutzheilige der Tiere. Wer stirbt, erwacht zur Ewigkeit …« Sie zögerte und sah ihren Mann an. »Wie ging der Spruch noch mal?«
»Wer stirbt, erwacht zum ewigen Leben«, zitierte dieser und wackelte dabei bedeutsam mit dem Kopf. Ein paar weiße Flöckchen rieselten dabei auf sein Kurzarmhemd.
»Ja«, wiederholte das Vögelchen beseelt: »Wer stirbt, erwacht zum ewigen Leben.«
Betty notierte den Spruch.
»Gibt es außer Ihnen beiden noch Angehörige, die wir namentlich erwähnen sollen? Geschwister?«
»Ja, den Lukas und den Marco, das sind ihre Brüder«, erklärte das Vögelchen und fuhr sich durch den Haarflaum. »Lukas mit K, Marco mit C.«
Max notierte die Namen.
»Gab es auch einen Partner, vielleicht einen Verlobten?«, fragte er weiter.
»Ja«, sagte Frau Csmarits zögernd.
»Nein«, sagte Herr Csmarits entschieden.
Betty blickte die beiden verwirrt an.
»Sie hatte einen Freund, aber das war nix G’scheites«, sagte Herr Csmarits verbittert. »Und der Neue, das ging erst ein paar Wochen, der hat auf der Parte nichts verloren, der … der war … der hat …«
»Ist schon gut«, beschwichtigte ihn seine Frau. »Das interessiert die Frau Bestatterin nicht.«
Betty sah Max an. Es kam öfters vor, dass sich die Hinterbliebenen in Details nicht einig waren oder sogar zu streiten begannen. Sie beschloss, diplomatisch das Thema zu wechseln.
»Während Max für Sie einen Erstentwurf der Traueranzeige auf dem Computer macht, könnten wir alle weiteren Dinge aussuchen. Wenn Sie mir folgen möchten.« Sie zeigte auf eine Tür.
Der Raum, der sich dahinter verbarg, war fensterlos und deutlich kühler als der Empfangsraum der Bestattung »Gut gebettet mit Betty«.
An der linken Wand lehnten zwei Särge aus unlackiertem Weichholz. Rötliche Lärche und beigegelbe Fichte. Die günstigsten und deshalb am häufigsten gekauften Modelle. Die teureren Exemplare waren auf Gestellen übereinander zu besichtigen. Edles Tropenholz, stattliche Eiche, weißer Schleiflack. An der gegenüberliegenden Wand befand sich das Regal mit den Urnen, aber eine Urne kam für die Csmarits ja nicht infrage.
Die beiden sahen sich unschlüssig um und wechselten dann einen sorgenvollen Blick.
Betty vermutete, dass sich die beiden Gedanken wegen des Budgets machten. Bis jetzt hatten sie noch gar keine Fragen zu den Preisen gestellt. Sie wusste aus Erfahrung, dass es vor allem die Reichen waren, die um jeden Cent feilschten. Die weniger betuchten Kunden vermieden es, das Thema anzusprechen, oft aus Angst, sich dabei eine Blöße zu geben.
Betty beschloss, es dem Ehepaar leichter zu machen, indem sie ihre Preise offenlegte.
»Unsere Standardsärge beginnen bei 800 Euro, dazu kommen noch Polster und Decke ab 170 Euro. Die Stoffe können Sie hier aussuchen.« Sie wies auf einen offenen Schrank, in dem Stoffmuster auf einem Ständer hingen wie Mustervorhänge in einem Möbelhaus.
Die Csmarits blickten betreten zu Boden.
»Wir bieten auch Ratenzahlung an«, erklärte Betty.
»Das ist es nicht«, sagte Herr Csmarits. »Das Geld ist nicht das Problem.«
Betty sah die beiden verwirrt an. Was war denn dann das Problem? Gefielen den beiden die Särge nicht? Sie war immer der Ansicht gewesen, ihr Repertoire würde alle Geschmäcker abdecken.
»Das Problem ist …« Frau Csmarits wirkte auf einmal verunsichert. Sie musste sich einen richtigen Ruck geben, bevor sie weitersprach.
Betty sah sie erwartungsvoll an.
»Das Problem ist, dass die Denise da nicht reinpasst.«
Betty holte tief Luft. »Ah, ich verstehe, Ihre Tochter war sehr groß. Das sind die Mädchen heutzutage alle. Da kann ich Sie beruhigen. Die Särge wirken hier in dem großen Raum kleiner, als sie sind. Aber das sind Standardmaße. Da passt man bis 1,85 Meter Größe locker hinein, und es gibt auch Überlängen.«
»Gibt es auch Überbreiten?«, platzte Frau Csmarits heraus. »Wissen Sie, recht groß war die Denise nicht, eher ein bisserl stärker.«
»Ein bisserl stärker«, echote Betty.
»Ja«, bekräftigte Herr Csmarits. »So 140, 150 Kilo wird sie schon gehabt haben. Sie hatte auch schwere Knochen, die hat sie von meiner Seite.«
Betty wusste aus Erfahrung, dass Herr Csmarits vermutlich untertrieb.
Beim Gewicht logen viele, sogar für die Toten.
»Wir haben auch Überbreiten«, sagte sie und malte ein kleines T auf ihre Liste. Das stand für Truhensarg in Übergröße mit zusätzlichen Verstärkungen im Boden.
»Wissen Sie was?«, sagte sie dann. »Die Auswahl ist bei den Sondermodellen nicht ganz so groß. Aber das nimmt Ihnen auch die Qual der Wahl. Sie entscheiden sich, ob Sie lieber Lärche oder Fichte haben wollen, und ich sorge dafür, dass die Denise einen Sarg bekommt, der ihr wie angegossen passt.«
Schweine erkennen sich im Spiegel. Sie gehören zu den wenigen Tieren, die den sogenannten »Spiegeltest« bestehen. Für Professor Donald Broom von der Cambridge University ein Beleg dafür, dass Schweine ein Ich-Bewusstsein haben, sich also ihrer selbst bewusst sind.
Betty verabschiedete das Ehepaar Csmarits. Die von Max entworfenen Traueranzeigen konnten die beiden mehrfach ausgedruckt mitnehmen. Der Hund hatte es auf die Parte geschafft, der ominöse Verlobte nicht.
»Brauchst du noch was von mir?«, fragte Max.
Betty nickte. »Du hast mir doch mal einen Anhänger voll alter Ausgaben eurer Zeitung versprochen, gilt das noch?«
Max nickte. »Ja, das wurde alles digitalisiert. Wir heben nur mehr je eine Ausgabe für die Jahresordner auf, der Rest wird entsorgt. Wozu brauchst du denn alte Zeitungen?«
»Füllmaterial«, sagte Betty lapidar.
»Füllmaterial?«
»Ja, Füllmaterial.« Betty wollte sich gedankenverloren durchs Haar fahren, weil sie aber dieses zu einem französischen Zopf geflochten hatte, blieben ihre Finger darin hängen und verursachten Unordnung in ihrer Frisur.
»Ich bestatte gerne traditionell. So eine Leiche im Sarg kann safteln«, erklärte sie. »Früher hatten Bestattungen häufig eine Tischlerei dabei, da fielen dann Sägespäne als Füllmaterial an. Die haben das gut aufgesaugt. Ich denke, wenn ich eure Zeitung schreddere, könnte das auch funktionieren.«
»Die Vera wird eine Freude haben, wenn du ihre Artikel zu Grabe trägst«, neckte Max sie.
Vera Horvath war die stellvertretende Chefredakteurin beim »Burgenländischen Boten«. Vera und Betty waren parallel in denselben Mann verliebt gewesen. Tom Dunkel, Wirt und Gin-Produzent am Csaterberg, war allerdings bekennender Langzeitsingle und wollte sich seine angebliche Freiheit weder von seiner langjährigen On-off-Freundin Vera noch von Kurzzeitflamme Betty nehmen lassen.
»Zwischen der Vera und mir ist alles klar. Erstens sind wir im selben Gartenklub«, sagte Betty, die Max’ Gedanken lesen konnte.
»Und zweitens: Den Dunkel, den schenk ich ihr ung’schauter.«
»Jetzt kannst leicht großzügig tun, wo du dir den Hacki gekrallt hast«, spottete Max.
Betty sah ihn scharf an. »Erstens hab ich ihn mir nicht gekrallt, und zweitens heißt er Leo und nicht Hacki.« Dieser dumme Spitzname nervte sie extrem. Hissi, Broudla, Schneck, Mööch, Wossamau. Es war ihr ein Rätsel, warum so viele gut aussehende Männer im Südburgenland so unattraktive Spitznamen trugen.
»Die Zeitungen kannst du mir nächste Woche auch bringen, aber jetzt sollten wir die Denise abholen. Ich hab gerade das Spital angerufen. Sie ist schon freigegeben. Da kann ich deine Hilfe auf alle Fälle gebrauchen.« Sie überlegte kurz. »Die Eltern haben gemeint, sie wäre ein bisschen stärker. Im Klartext heißt das: Wir brauchen einen Truhensarg. Ich hab noch einen im hinteren Lager. Der ist für den Abdecker aus Stoob bestellt worden, der dann doch verbrannt wurde, weil seine Witwe so einen großen Sarg unschick fand.«
»Klar komm ich mit«, sagte Max.
Er war ein absoluter Glücksgriff für die Bestattung »Gut gebettet mit Betty«. Insofern verzieh sie ihm auch, dass er sie oft auf der Schaufel hatte.
Max half Betty, den leeren Sarg in ihren zum Leichenwagen umgebauten Mercedes Vito zu laden, was mittels hydraulisch höhenverstellbaren Rollwagerls tadellos gelang. Dann nahm er neben ihr auf dem Beifahrersitz Platz. Bettys Bestattungwar nur wenige Minuten vom Oberwarter Spital entfernt.
»Sollen wir gleich nach hinten zum Einsargungsraum fahren?«, fragte Max.
Betty sah kurz auf die Uhr. »Das können wir machen. Aber ich würde noch gerne mit der Rosa reden.«
Rosa war Pathologin im Oberwarter Krankenhaus und durch das berufliche Naheverhältnis eine gute Freundin von Betty geworden. Diese Freundschaft bedeutete für Betty, dass sie neben einer Leiche auch ein Dessert bekommen würde. Rosa war nämlich einem Kaffeeplausch nie abgeneigt und buk außerdem hervorragende Mehlspeisen, die sie zur Freude ihrer Kollegen regelmäßig mit in die Arbeit brachte.
Tatsächlich wurden Bettys Erwartungen auch heute nicht enttäuscht. Rosa bat Max und Betty in ihr Büro und wartete sofort mit Kaffee und Kuchen auf.
»Hier, nehmt, es ist genug da«, sagte sie und hievte allen Anwesenden inklusive sich selbst ein Stück Ribiselschaumschnitte auf ihre Teller.
»Ihr kommt also wegen der Csmarits Denise. Traurige Sache, Herzinfarkt mit nur 26. Sie war sehr adipös.« Rosa schob sich ein Stück Mehlspeise in den Mund.
»War es sicher ein Herzinfarkt?«, fragte Betty.
»Ganz sicher. Die Schnittfläche des Herzens war lehmfarben. Ich habe sie selbst obduziert.«
»Obduziert ihr alle Toten?«, fragte Max.
Rosa nahm einen Schluck Filterkaffee und lächelte. Ein entzückendes Grübchen bildete sich dabei auf ihrer linken Wange. »Nein, nicht alle, aber bei so jungen Menschen ist ein Herzinfarkt ja eher selten. Und da will man sich schon mögliche Ursachen anschauen. Die Eltern haben auch darauf gedrängt. Ich glaube, sie wollten ausschließen, dass Drogen im Spiel waren. Wobei, wenn man die Adipositas mit einbezieht …« Rosa betrachtete versonnen ihre Ribiselschaumschnitte. »Zucker ist ja auch eine Droge.«
Sie schob den Teller resolut zur Seite und wischte sich die Hände an ihrem Arztkittel ab. »Wollen wir es angehen?« Sie sah erst auf die Uhr und dann auf eine Kinderzeichnung mit Kopffüßern, die prominent über ihrem Schreibtisch hing. »Ich muss um 16.30 Uhr meine Kleine vom Kindergarten abholen.«
Betty und Max erhoben sich. Der Weg zum Einsargungsraum, in dem Denise bereits auf sie wartete, führte durch den Kühlraum der Pathologie.
»Full House?«, fragte Max und deutete auf die Kühlfächer, deren Griffe so unverfänglich aussahen wie die im Kühlraum eines Nobelhotels.
»Full House und hoher Besuch«, sagte Rosa verschmitzt. »Heute ist sogar ein echter Graf anwesend.«
Betty und Max blickten Rosa neugierig an.
»Ich kann es euch nur sagen, weil es ohnehin schon in der Zeitung steht. Fritzgoli Hohenfelsen ist verstorben. Krebs. Traurig für die Gräfin. Ihr Mann, ihr Sohn, die Stiefkinder – alle tot.« Sie blickte Betty an. »Ist die Witwe ihres Sohns Ferdinand nicht in deinem Gartenklub?«
Betty nickte. »Ja, Isabella. Aber diesen Fritzgoli hat sie nie gemocht. Der war ein ziemliches Arschloch.«
»Hört, hört. Man soll nichts Schlechtes über die Toten sagen«, sagte Max halb scherzhaft, halb im Ernst.
»Na, wenn die Toten Arschlöcher waren, dann schon«, widersprach Betty.
Rosa sagte gar nichts, sie war mit den Gedanken im Feierabend.
»Ich muss gleich los. Die beiden Obduktionsgehilfen können euch beim Einladen zur Hand gehen. Das war die schwerste Frau, die ich je obduziert habe. Bis ich da zu den Organen vorgedrungen bin …«
Max hörte weg. Er fand dieses ganze Pathologengerede im wahrsten Sinne des Wortes aufschneiderisch.
»Ist sie das?«, fragte er. Eine rein rhetorische Frage, denn Denise war die einzige Leiche weit und breit, die vor ihrer Nase von den Obduktionsgehilfen in den Einsargungsraum geschoben wurde.
Betty lüftete das Tuch an der Kopfseite. Das Gesicht der jungen Frau wirkte grotesk, was einerseits an der bläulichroten Gesichtsfarbe lag, andererseits an der Tatsache, dass ein Auge weit geöffnet war. Auch wenn Denise schon seit Tagen tot war. Ihr blutunterlaufener Augapfel mit seiner stechend blauen Iris schien immer noch starr zur Decke zu blicken.
»Die Schwester hat ihr die Augenlider geschlossen, aber das linke wollt einfach nicht zubleiben«, sagte Rosa.
Max wurde leicht übel, was auch am ganz leichten Totengeruch lag, den er aber als Einziger wahrzunehmen schien. Unglaublich, wie abgebrüht die beiden Frauen waren.
»Können wir?«, drängte er. »Ich muss noch in die Redaktion.«
»Klar«, sagte Betty und öffnete die Tür des Einsargungsraumes, die zur Verladerampe führte, wo der Vito bereits geparkt war. »Ich hab ja heute auch noch was vor.«
*
Leo »Hacki« Liszt saß in seinem Büro und machte das, was er in seinem Leben am allermeisten hasste: die Buchhaltung. Die Zahlen, die da vor ihm in den Excel-Listen auf und ab schwirrten, bereiteten ihm latentes Unwohlsein. Eine Beklemmung, die ihm die Luft raubte. Er zerrte am Kragen seines Polohemdes und ließ seine verspannten Schultern rotieren. Dann schloss er das geöffnete Excel-Dokument, zog es in das Fenster einer Mailnachricht, fügte den Adressaten und eine kurze Grußformel ein und drückte auf Senden.
Bernd würde wissen, was zu tun war. Bernd war gut mit Zahlen, mit Betriebswirtschaft, mit dem Aufstellen neuer Kunden. Mit dem ganzen Kram, den Leo hasste und fürchtete.
Leo war froh, dass er diesen Teil des Geschäfts endlich abgeben konnte, um sich voll und ganz auf das zu konzentrieren, was er am besten konnte: den besten Wein des Burgenlandes zu machen. Ja, was heißt, des Burgenlandes? Sein Erfolg ging weit über die Landesgrenzen hinaus. Leos Vorzeigetropfen, der Cuvée Löwenwacht 2018, war erst kürzlich mit unglaublichen 99 Parker-Punkten ausgezeichnet worden und gehörte damit zu den besten Weinen der Welt.
Leo stand von seinem Schreibtischsessel auf. Seine braune Labradorhündin Tipsy erhob sich fast zeitgleich und blickte ihren Besitzer erwartungsfroh an.
»Zeit für einen Spaziergang«, sagte Leo. Tipsy antwortete mit einem freudigen Bellen.
Tipsy und Hacki. Man konnte glauben, Hund und Herrl trügen ihre Namen deswegen, weil sie ständig betrunken waren. Denn Tipsy ist Englisch und heißt zu Deutsch beschwipst, und bei Hacki kommt man leicht auf die Idee, dass sich hier gerne jemand umhackt, sprich sich ins Koma säuft. Tatsächlich hieß Tipsy so, weil ihr Züchter sie so genannt hatte. Tipsy vom Ulmengrund, und Hacki hieß schon seit der Schule Hacki. Eigentlich seit der Film »Vier Hochzeiten und ein Todesfall« im Oberwarter Kino gelaufen war. »Du siehst ein bisserl aus wie der Hugh Grant«, hatte ein Mädchen damals vor der ganzen Clique zu ihm gesagt. Weil sie nicht wusste, dass man Hugh wie »Juu« ausspricht, hatte sie »Hack« Grant gesagt. Insofern konnte sich Hacki glücklich schätzen, dass Hacki hängen geblieben war und nicht Granti, das man ja leicht mit einem Grantscherben, also einem grantigen Menschen, assoziieren konnte.
Tatsächlich war Hacki zumeist ein glücklicher Mensch. Außer wenn er Buchhaltung machen musste oder mit seiner mühsamen Ex-Frau zu tun hatte. Was zum Glück kaum mehr der Fall war, seit die gemeinsamen Kinder groß waren und ihre eigenen Wege gingen.
Hacki blickte sich um und merkte, wie sich die dunkle Wolke, die die Excel-Listen auf seinem Gemüt hinterlassen hatten, lichtete. Sein Csaterberg. Sein Zuhause. Das schönste Platzerl im Südburgenland. So idyllisch, dass es fast schon kitschig war.
Hacki und Tipsy spazierten vorbei an pittoresken Kellerstöckln, urigen Buschenschänken und einem windschiefen Marterl. Ab und zu wurden sie von Radfahrern überholt, die ihnen ein fröhliches »Guten Tag« zuriefen. Die Touristen hatten den Csaterberg entdeckt. Eine Entwicklung, die Hacki mit einem lachenden und einem weinenden Auge sah. Klar, das war potenzielle Kundschaft für seinen Weinbaubetrieb, aber wenn er sah, wie rasend schnell im Südburgenland Ferienunterkünfte und Chaletdörfer aus der Erde schossen und hier alles zugebaut und verhüttelt wurde, tat ihm das Herz weh.
Hacki bog nach links ab. Die Hitze störte ihn nicht im Geringsten. Die Sonne war gut für die Trauben. Und hier, am Südhang in bester Lage, befand sich einer seiner liebsten Weingärten. Er strahlte, als er seine Stöcke betrachtete. Seine Arbeiter hatten in den letzten Tagen das Laub ausgelichtet und die Trauben ausgedünnt, sodass die verbliebenen Beeren in der heißen Augustsonne ihre Reifephase beginnen konnten.
Es würde ein gutes Jahr werden, frohlockte Hacki. Nicht so ein Desaster wie damals 2016, als ein unerwarteter Spätfrost Anfang Mai 80 Prozent seines Ertrags in einer einzigen Nacht vernichtet hatte. Vor allem die frühen Sorten wie Blaufränkisch, Muskateller und Zweigelt hatte es damals erwischt. Heuer war zum Glück auch noch kein Hagel gekommen. Die Trauben der Sorte Welschriesling, die zwischen den mit Draht bespannten Stöcken wuchsen, waren prall, dicht und makellos. Hacki wusste, es würde ein guter Wein werden. Er tätschelte Tipsy den Kopf, bevor sich die beiden auf den Rückweg machten.
Der Spaziergang hatte Hacki hungrig gemacht. Also führte ihn sein erster Weg in die Küche. Dort schnitt er sich eine ziemlich windschiefe Scheibe Bauernbrot ab, die er erst mit Senf bestrich und dann mit luftgetrocknetem geselchtem Karree belegte. Tipsy sah ihn erwartungsvoll an. Die Hündin hatte – typisch Labrador – einen Hang zur Verfressenheit, aber Hacki brachte es nicht übers Herz, sie hungrig zusehen zu lassen, während er selber aß, also schüttete er etwas Trockenfutter in Tipsys Napf.
Er war eben dabei, sich ein Bier aus dem Kühlschrank zu nehmen, als es an der Tür läutete.
Hacki war überrascht. Er erwartete keinen Besuch, und der Postler kam immer schon zu Mittag. Vermutlich Touristen, die fragen, ob sie hier Wein kaufen können, dachte er und schlurfte zur Tür. Die Person, die geläutet hatte, hatte diese schon geöffnet, und sie sah keineswegs aus wie diese typischen Radfahrer in neonfarbenen Dressen und gepolsterten Hosen, die normalerweise an seiner Tür läuteten. Vor ihm stand eine Blondine, die ihm so exotisch erschien wie ein Wesen von einem anderen Stern. Das blondierte Haar hing ihr stufig bis zum Busen. Der breite Mund grinste ihn an. Die Nase hatte den perfekten Schwung einer Kinderskisprungschanze. Ein Hauch zu perfekt für Alter und Statur war der Busen, der sich unter dem knappen, grauen Top, das mit einem Totenschädel aus Strass-Steinen verziert war, ganz deutlich abzeichnete. Kein BH. Sie trug trotz der Hitze enge, schwarze Jeans und hochhackige, silberne Cowboyboots.
Über der Schulter hatte sie eine Gitarre, am Boden neben ihr stand ein Seesack.
Die Blondine ließ die Gitarre ganz vorsichtig zu Boden gleiten, machte einen Schritt auf Hacki zu und umarmte ihn. Eine Sekunde lang dachte er, sie würde ihn auf den Mund küssen, so nah war sie ihm, aber dann streiften ihre vollen Lippen doch nur seine Wangen.
»Zeigst du mir bitte, wo die Dusche ist?«, fragte sie. Ihre Stimme klang nach einem Packerl Tschick und einer Flasche Whisky am Tag. »I feel so dirty.«
*
Betty sah auf die Uhr ihres Smartphones. 18 Uhr. Zeit, Schluss zu machen und die Bestattung zuzusperren. Denise ruhte in ihrem Truhensarg in der Kühlkammer. Betty hatte dann noch aufgeräumt, die morbid duftenden Staubgefäße der Lilien entsorgt und ein paar Mails beantwortet. Aber jetzt war es genug. Sie hatte am Abend etwas vor und wollte unbedingt davor noch nach Hause zu Hacki, sich duschen … eigentlich mit Hacki duschen. Betty und Hacki waren noch immer in dieser köstlichen Phase der ersten Verliebtheit.
Sie sah, dass Hacki sie angerufen hatte, aber sie hatte den Anruf überhört. Der Empfang war in der Kühlkammer der Bestattung schlecht, und statt ihn zurückzurufen, wollte sie lieber gleich zu ihm fahren.
Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. Immer, wenn sie an Hacki dachte, stellte sie sich ihn nackt vor. Wenn sie an ihn dachte, störte sie auch der dumme Spitzname nicht, auch wenn sie Leo wirklich schöner fand.
Auf der Fahrt zum Csaterberg sang sie aus voller Kehle zu dem Song Because The Night von Patti Smith, der aus den Boxen ihres klapprigen Fiats dröhnte. Sie war sich ziemlich sicher, dass Patti Smith der streng geheim gehaltene Headliner beim picture on sein würde. Der Hauptact des kultigen Musik-Festivals im südburgenländischen Bildein, auf das sie sich schon das ganze Jahr freute. Und Betty dachte, wenn Patti wirklich käme, wäre es gut, auf jeden Fall textsicher zu sein.
Because the night belongs to lovers
Because the night belongs to lust
Because the night belongs to lovers
Because the night belongs to us
Betty und Patti grölten im Chor, während sich der Fiat die hügelige Straße auf den Csaterberg hinaufschraubte.
Betty wusste sofort, dass irgendetwas anders war als sonst, als sie die Haustür öffnete.
Laute Musik, Gläserklirren, Stimmen. Feierte Hacki eine Party?
»Hallo?« Verwirrt betrat sie das Wohnzimmer.
Aber es war keine Party. Es war schlimmer. Sie sah auf einen Blick, was hier los war.
Eine Frau saß da auf ihrer Couch. Sie war nur mit einem Stringtanga und einem knappen Top bekleidet. Ihre nassen blonden Haare fielen ihr wie ein Vorhang ins Gesicht. Sie war mit etwas beschäftigt. Die Frau lackierte sich die Zehennägel. Mit Bettys Nagellack. Genau gesagt, mit ihrem Lieblingsnagellack. Der Lack war feuerwehrautorot und hieß Spice it up. Wie seltsam, dass Betty genau in diesem Moment, als sie die Frau da sitzen sah, der Name des Nagellacks einfiel.
Die Zehen des linken Fußes, deren Nägel die Frau soeben lackierte, berührten die Kante des Couchtischs. Das rechte Bein war angewinkelt, wodurch die Blonde, die ja nur ein Schnürl zwischen den Beinen hatte, einen beeindruckenden Einblick in ihren Schritt gab. Der war eindeutig nicht blond, sondern haarlos, vermutlich gewaxt. Und Hacki, ihr Hacki, saß da genau gegenüber und konnte wohl auch nicht wegschauen.
»Was? Was zum Teufel?«, entfuhr es Betty wütend.
Der Kopf der Frau hob sich, der feuchte Haarvorhang teilte sich. Und als Betty sah, wer da saß, wurde die Wut in ihrem Bauch zu rasendem Zorn.
Im selben Moment war draußen auf der Terrasse ein ohrenbetäubender Lärm zu hören. Ein Grunzen, ein Röhren und Quieken. Die Blonde sah erschrocken zur Terrasse. Betty ging zur Terrassentür und öffnete diese. Ein Schwein stürmte herein und direkt auf die Blonde zu.
Diese sprang kreischend auf und stieß dabei das Fläschchen mit dem Nagellack um. Roter, zähflüssiger Lack tropfte erst auf den Couchtisch und dann auf den cremefarbenen, hochflorigen Teppich. Das Schwein sprang auf die Couch und nahm grunzend Platz.
»Das Schwein«, sagte Betty und versuchte, ihre Contenance zu bewahren, was ihr in ihrem schwarzen Bestatterinnenoutfit auch halbwegs gelang. »Das Schwein sitzt immer hier.«
Dann verließ sie den Raum und knallte die Tür hinter sich zu.
Durch den Klimawandel fühlen sich in unseren Breiten neuerdings auch tropische Gelsen wie die asiatische Tigermücke wohl. Tigermücken wachsen wie auch heimische Mücken und Gelsen beispielsweise in Wasserreservoirs in Kleingartenanlagen, in alten Autoreifen, auf Friedhöfen und auch im Gartenteich heran.
»Du hast wirklich ein Schwein auf Alex Woods gehetzt?« Mathilde starrte Betty mit großen Augen an.
»Ich hab es nicht auf sie gehetzt. Es wollte einfach auf seinen Platz, auf seine Couch. Es sitzt immer da!«
»Alex Woods? Die Sängerin Alex Woods? Was macht Alex Woods in eurem Wohnzimmer?«, fragte Vera.
»Ihr habt ein Schwein als Haustier? Ein echtes Schwein, ein Meerschwein oder ein Hängebauchschwein?«, forschte Johanna.
Eigentlich hatte sich der Klub der Grünen Daumen in Johannas Hofladen getroffen, um Maßnahmen zum Gärtnern im Klimawandel zu besprechen und umzusetzen, aber aktuell war Bettys Story viel spannender.
Betty holte tief Luft. »Also … das Schwein hat Leo beim Preisschnapsen gewonnen.«
»Welcher Leo?«, fragte Vera verwirrt.
»Der Hacki«, erklärte Mathilde.
»Der Hacki heißt Leo?«, wunderte sich Vera.
»Bitte, was ist jetzt mit dem Schwein?«, kam Johanna zurück zum Punkt, bevor die Diskussion komplett aus dem Ruder lief.
»Er hat es als Ferkel gewonnen, im Frühling, beim Kartenspielen im Wirtshaus. Und es war so süß. Er hat es nicht übers Herz gebracht, es schlachten zu lassen, also lebt es jetzt im Garten.«
»Wie groß ist dieses Schwein?«, wunderte sich Mathilde. »Bricht da nicht die Couch zusammen?«
»Genauso groß wie Tipsy, das ist der Labrador vom Le… also vom Hacki. Tipsy und Keks sind beste Freunde. Keks ist noch ein Teenager. Er wird natürlich noch größer, aber wir mästen ihn nicht, also wird er wohl kleiner und schlanker bleiben als andere Hausschweine«, erklärte Betty. »Hoffentlich. Er braucht jetzt schon jede Menge Sonnencreme.«
»Sonnencreme für ein Schwein!«, wunderte sich Johanna.
»Er hat eine sehr empfindliche Haut. Hausschweine sind ja nicht für die Outdoorhaltung gezüchtet«, sagte Betty.
»Drum sitzt er also lieber drinnen auf der Couch«, feixte Mathilde, »… mit Alex Woods, der Rocksängerin. Also echt jetzt, Betty. Ich glaub, du bindest uns allen einen riesengroßen Bären auf.«
Mathilde fächelte sich mit einer Serviette Luft zu. Ihr rundes Gesicht war mit einem feinen Schweißfilm überzogen und glänzte. Obwohl es bereits später Nachmittag war und die Klubmitglieder im Schatten der Uhudlerlaube saßen, war es drückend heiß.
»Ich lüg euch nicht an«, sagte Betty. »Und Alex Woods …«, sie machte eine Pause und zog scharf Luft ein, »Alex Woods ist meine Schwester.«
»Deine Schwester!!!«
»Meine Zwillingsschwester.«
»Ja, aber wie geht das?« Mathilde sah aus wie ein lebendes Fragezeichen.
»Ganz einfach. Wir haben dieselben Eltern«, sagte Betty trocken. »Wir sind zweieiige Zwillinge. Und sie hieß natürlich nicht immer Alex Woods. Sie wurde als Alexandra Elvira Pomper geboren. Elvira nach unserer Großtante. Und dass sie Elvira heißt, steht nicht auf Wikipedia. Das passt nicht zu ihrem coolen Rockstarimage.«
Betty wusste, dass es gehässig war, diese Information preiszugeben, noch dazu, wo Vera, die Journalistin, anwesend war, aber sie war immer noch stinksauer auf Alex. Dass diese halb nackt mit gespreizten Beinen vor ihrem Freund gesessen war, hatte sie dem Gartenklub im Detail verschwiegen. Aber das war so typisch Alex. Dieses narzisstische Biest. Immer den Marktwert testen. Immer schauen, was geht oder was gehen könnte.
Sie verzog verärgert die Stirn, als sie an den gestrigen Streit dachte, der auf die Schweine-Aktion gefolgt war. Alex hatte natürlich auf unschuldig getan. Sie hatte sich doch nur die Nägel lackiert, und Betty solle nicht so verklemmt sein. Dass man daheim im Kreis der Familie in Unterwäsche herumhängt, sei doch ganz normal. Vor allem, wenn es 30 Grad hat.
»Im Kreis der Familie, du hast Hacki gerade mal eine Stunde lang gekannt!«, hatte Betty gebrüllt.
»Du bist paranoid. Ich will nichts von deinem Hacki. Was ist das überhaupt für ein blöder Name? Und außerdem dachte ich, du freust dich, wenn ich ein paar Tage vor dem Festival bei euch einchecke, Sis.«
»Sis!!!« Betty hasste diese pseudocoole Anrede. Alex hatte immer schon gewusst, welche Knöpfe sie drücken musste, um Betty zur Weißglut zu treiben.
»Ich pack es nicht, dass Alex Woods deine Schwester ist«, sagte Mathilde verträumt. »Ich dachte, sie sei Amerikanerin.«
»Wir haben beide in Amerika gelebt«, sagte Betty. »Und sie hat geheiratet und ist dort geblieben. Wobei sie mittlerweile auch schon wieder geschieden ist. «
»Wos fir a Alexandra Wut? Wer is dei iwahaupt, i kenn dei nit1«, meldete sich Mitzi zu Wort, die Altbäuerin, die musikalisch eher bei den Edelseern beheimatet war.
»Alex Woods ist eine bekannte Sängerin, die am Samstag in Bildein beim Musikfestival picture on spielt«, klärte Mathilde sie auf.
»Du musst sie nicht kennen, Mitzi. Sie ist nicht soooo bekannt. Sie hatte einen Hit. 2003. Und das ist über 20 Jahre her«, mischte sich Betty ein.
»Aber was für einen Hit. Two Times a Fool.« Mathilde blickte verklärt drein. »Dieser Song hat mein Leben verändert! Den spielen sie im Radio immer noch rauf und runter.«
»Haben wir was verpasst?« Kräuterpädagogin Isabella, eine zierliche Frau mit dunklen, raspelkurzen Haaren und einem Baby im Tragtuch, näherte sich der Uhudlerlaube. »Entschuldigt bitte, dass ich zu spät bin, aber mit Kind dauert es immer ewig, bis man aus dem Haus kommt. Und Ivy war heute so unruhig. Ich glaube, das ist die Hitze.« Sie strich beruhigend über das verschwitzte Köpfchen des Säuglings.
»Nein, du hast nichts verpasst. Wir wollten gerade anfangen«, sagte Johanna. »Also los, Ladys, gehen wir nach hinten in den Garten.«
Johanna, die Gründerin des Klubs der Grünen Daumen, war eine kleine, praktisch veranlagte Frau mit feuerrotem lockigem Haar, das sie heute wegen der Hitze mit einem Tuch zusammengebunden hatte. Johanna hatte ihre Passion zum Beruf gemacht. Sie betrieb einen kleinen Hofladen, in dem es vom frisch gebackenen Bauernbrot über Emailletöpfe und selbst gesiedete Seifen bis zur Gartenkralle alles zu kaufen gab, was gut und nützlich war. Besucher bekamen von ihr nicht nur Kuchen und Kaffee serviert, sondern auch manch nützlichen Gartentipp. Denn das Garteln war Johannas absolute Leidenschaft. Niemand im ganzen Bezirk wusste so gut über Pflanzen und die Natur Bescheid wie Johanna.
Für Betty war Johannas Bauerngarten eine verzauberte Welt. Er lag gleich neben der Streuobstwiese, auf der um diese Jahreszeit die ersten Klaräpfel heranreiften. Hellgelb, knackig und zitronig frisch. Zumindest, wenn man sie frisch vom Baum verspeiste. In der Obstschale wurden Klaräpfel in wenigen Stunden mehlig. Vermutlich der Grund, warum sie nie in den Handel gelangten.
Johannas Gemüsegarten war von einem Staketenzaun umgeben, der von Duftwicken umrankt war. Sobald man eintrat, fühlte man sich in eine andere Welt, ja in eine andere Zeit versetzt. Kleine Wege aus Klinkertrittsteinen sorgten für eine geometrische Ordnung. Die Wege waren in der Form eines Kreuzes angelegt mit einem Rondell in der Mitte, in dem eine Rose namens Rose de Resht blühte. Eine betörende fuchsiafarbene Duftrose, aus der auch das berühmte bulgarische Rosenöl gewonnen wird. Johanna verwendete das Rosenöl für ihre Seifen. Zu Füßen der Rose reckte Lavendel seine blauen, duftenden Blüten der Sonne entgegen. Durch die kreuzförmige Aufteilung ergaben sich vier Beete, die mit circa 30 Zentimeter hohen Holzplanken eingefriedet waren. Die Planken waren mit Moos und einer grünen Kletterpflanze mit winzigen blauen Blümchen überwachsen. Zimbelkraut hieß das.
Hier in diesem Bauerngarten wuchs auf kleinem Raum eine große Vielfalt an Gemüse, Blumen und Beeren. So war das schon zu Zeiten von Johannas Großmutter gewesen. Wie diese war auch Johanna dank des Gartens in vielen Bereichen Selbstversorgerin. Das Gemüse und das Beerenobst, das sie dort anbaute, landete in der Küche und auf den Tellern und wurde für den Winter durch Einkochen, Einlegen, Einfrieren, Trocknen oder Fermentieren haltbar gemacht. Aus den selbst gezogenen Kräutern gewann sie Tees und Arzneien: Salben, Tropfen und Tinkturen. Und die dort angepflanzten Blumen und Blühstauden verwandelte Johanna in wunderschöne Sträuße. Diese schmückten ihren Hofladen, wurden verschenkt oder waren bei Hochzeiten und christlichen Festen auf Tafeln und Altären zu bewundern.
In diesem zauberhaften Garten gab es immer etwas zu sehen, zu entdecken und zu bestaunen. Sogar im Winter, wenn Vögel die letzten getrockneten Beeren von den Sträuchern zupften, Eichkatzerl nach zuvor vergrabenen Walnüssen suchten und die Stauden von Raureif überzogen waren.
Jetzt im Hochsommer lagen die Düfte von Gurken, Dill und der unverwechselbare Geruch der Tomatenblätter in der Luft. Und egal, wohin man sich wandte, überall fanden die Besucher etwas zu naschen. Süße, samtig rote Himbeeren, pfeffrige, knallorange Kapuzinerkresseblüten, die zwieblig scharfen, weißen Blüten vom Lauch und saftige, fruchtig süße Tomaten. Wer sich hier durchkostete, bemerkte: Alles schmeckte zwar ganz unterschiedlich, dennoch passte alles zusammen.
Johanna ging mit der Gruppe zu dem vom Eingang aus gesehen linken hinteren Beet, das mit einer Mulchschicht aus Rasenschnitt bedeckt war.
»Im Sinne der Klimaveränderung ist es wichtiger denn je, dass die Erde nie nackt ist«, erklärte Johanna. »Hier habe ich im Frühling Kohlrabi, Radieschen und Spinat angebaut, nach der Ernte habe ich gemulcht. Diese Mulchschicht können wir jetzt einfach in den Boden einarbeiten. Dort wird sie von den Regenwürmern in Humus verwandelt.«
»Und was willst du jetzt hier anbauen?«, fragte Mathilde neugierig.
»Das verrat ich euch gleich, aber erst einmal werden wir hier ein neues Beet anlegen.« Johanna blickte verheißungsvoll in die Runde. »Habt ihr schon mal von einem Trichterbeet gehört?«
Alle Anwesenden schüttelten den Kopf.
Johanna steckte in die Mitte des Beetes einen Holzpflock, an dem sich eine ein Meter lange Schnur befand. Mit diesen Hilfsmitteln und einem Säckchen Sand markierte sie einen regelmäßigen Kreis.
»Na, dann schnappt euch die Spaten. Wir graben jetzt eine kegelförmige Grube. Und wozu das Ganze gut ist, verrat ich danach.«
»Die Johanna ist schon arg, lädt uns ein, damit wir ihr Beet umgraben«, feixte Mathilde, als Johanna außer Hörweite war. Diese war mit Isabella, die wegen des Babys von der Gartenarbeit befreit war, zurück in den Hofladen gegangen, um selbst gemachte Kräuterlimonade und frisch gebackenen Heidelbeerkuchen für die Gruppe zu holen. Zuckerbrot und Peitsche, dachte Vera.
Mathilde, Vera und Betty, die fleißig am Graben waren, stand der Schweiß auf der Stirn. Mit der ausgehobenen Erde formten sie am Rand des Kraters einen Wall.
»Gartenhandschuhe habe ich auch vergessen, ich krieg sicher Blasen«, stimmte Vera in das Gejammere ein. »Wie tief soll das Ganze werden? Was hat Johanna gesagt? Ein halber Meter? Ist das schon ein halber Meter?«
Nur Mitzi, der Ältesten in der Runde, sah man die Anstrengung nicht an, aber die stammte auch noch aus einer Generation, die ganze Obstwiesen mit der Sense gemäht hatte.
»Hearts auf zum Sudern. Mir san jo eh scho firti2«, sagte sie nur lapidar.
»Perfekt«, freute sich Johanna, die ein Tablett mit Getränken und Kuchen balancierte.
Während die anderen im Schatten des Klarapfelbaumes auf mitgebrachten Picknickdecken Platz nahmen und sich stärkten, verteilte Johanna das Skript zum heutigen Thema.
Kraterbeete sind im Südburgenland noch recht unbekannt. In Gegenden, in denen es regelmäßig zu langen Trockenperioden im Sommer und vielen Regengüssen im Winter kommt, setzen die Menschen schon lange auf kraterförmige Beete, um trotz schwieriger Wetterbedingungen erfolgreich zu gärtnern, las Betty.
»Bei Star Wars Episode IV lebt Luke Skywalkers Familie in einem trichterförmigen Haus im Boden auf dem Wüstenplaneten Tatooine«, fiel Vera ein.
»Die Idee hat George Lucas von tunesischen Wüstenbewohnern«, erklärte Johanna.
»Vor zwei Jahren haben wir noch ein Hügelbeet gebaut, jetzt ein Kraterbeet, sind das nicht nur Moden so wie bei der Rocklänge? Von wegen einmal lang, einmal kurz. Einmal hoch, einmal tief«, meinte Vera zweifelnd.
»Unsere Sommer werden immer heißer und trockener«, dozierte Johanna. »Bei einem Hügelbeet rinnt das Wasser nach außen ab und versickert. Bei einem Trichter- oder Kraterbeet läuft es nach innen, dadurch sparen wir Gießwasser. Und vor Spätfrösten schützt so ein Kraterbeet auch. Man legt einfach ein altes Fenster oder eine Folie darüber, und die Jungpflanzen sind geschützt. Und was den Platzanspruch angeht, ist die Kraterbeetanlage gerade für Kleingärten eine echte Empfehlung.«
»Genial«, freute sich Betty, bevor sie laut weiterlas.
Kühle im Sommer und Wärme im Winter. Krater- oder Trichterbeete sind ideal im Klima-Garten. Sie speichern Wärme und Feuchtigkeit und schützen empfindliche Pflanzen vor Wind und Kälte. So können vor allem Gemüsepflanzen besser gedeihen.
»Klingt gut«, unterbrach Mathilde, die als Köchin essbaren Pflanzen immer den Vorzug gab.
Der umgebende Wall sollte etwa 30 bis 35 Zentimeter höher sein als der umliegende Untergrund und kann zusätzlich mit Steinen umfriedet werden, die die Wärme speichern. Als Tiefe sind etwa 0,4 – 0,5 Meter anzustreben. Wichtig ist, dass der Krater nicht zu steil wird. Unbedingt empfehlenswert ist, den Boden mit großzügiger Kompostgabe respektive Organdünger zu verbessern.
»Hör ich da Kompost?«, ertönte eine Männerstimme. »Redet ihr etwa von mir?«
Alle drehten sich um.
»Finz!«, schrie Vera auf. Und dann: »Eva!« Sie blickte zu dem Pärchen, das beschwingten Schrittes Hand in Hand näherkam. »Ich glaub es nicht! Seid ihr eine Fata Morgana? Bitte zwickts mich. So eine Freude!« Sie sprang auf und fiel ihren Freunden um den Hals. »Finz, Eva, ihr seid wieder da!«
1 Was für eine Alexandra Wut? Wer ist das überhaupt, ich kenn die nicht.
2 Hört auf zu sudern (jammern). Wir sind ja eh schon fertig.
Um 1900 zerstörte die Reblaus fast den ganzen Weinbau in Europa und wurde zu einem gefürchteten Schädling. In ihrer ursprünglichen Heimat Nordamerika blieb die Reblaus hingegen lange Zeit völlig unbeachtet, weil die dort heimischen Reben dagegen resistent sind. Diese sind evolutionär in der Lage, die Einstichstellen der Reblaus an den Wurzeln mit Korkgewebe zu verschließen, bevor es zu größeren Schäden kommt.
»Ich kann es noch immer nicht glauben, dass ihr wieder hier seid«, sagte Vera wohl zum sechsten oder siebenten Mal an diesem Abend. »Was für eine Freude!«
Vera, Eva und Finz hatten beschlossen, auf das Wiedersehen anzustoßen, und befanden sich nun im Il Sapore in Oberwart, einer beliebten italienischen Weinbar an der Hauptstraße.
Katrin, die Besitzerin, schien die Freude zu teilen. »Welcome home. Das geht aufs Haus«, sagte sie und stellte eine Runde Prosecco auf den Tisch.
»Man muss nur ein paar Monate weg sein, und die Menschen in Oberwart lieben einen«, feixte Finz.
»Erstens wart ihr nicht ein paar Monate weg, sondern über zwei Jahre, und zweitens haben dich die Frauen immer schon geliebt«, korrigierte ihn Vera.
Finz sah zwar objektiv betrachtet durchschnittlich aus, aber er hatte dieses gewisse Etwas. Außerdem – glaubte man den Oberwarter Buschtrommeln – war er ein wahnsinnig aufmerksamer Liebhaber. Gut für Eva, dachte Vera. Die hatte eh lange genug unter ihrem chauvinistischen und brutalen Ex-Mann gelitten. Wie glücklich ihre Freundin aussah!
Eva war immer schon hübsch gewesen, Typ Schneewittchen. Aber sie hatte früher immer so einen gehetzten, ängstlichen Blick gehabt. Damals, als Vera sie kennengelernt hatte.
Eva, die Zuagroaste, und Vera, die Rückkehrerin, hatten einander sofort sympathisch gefunden, als sie sich vor drei Jahren zum ersten Mal über den Weg gelaufen waren. Über ihre beiden Töchter, die dieselbe Tanzschule besuchten, hatten sie sich kennengelernt.
Die beiden Frauen teilten ein ähnliches Schicksal. Beide hatten damals ihr altes Leben mehr oder weniger freiwillig hinter sich lassen müssen.
Eva, weil ihr Ex-Mann, der in einen Bauskandal verwickelt gewesen war, beschlossen hatte, dass es klüger wäre, seine Zelte im Nordburgenland abzubrechen und im Südburgenland neu aufzuschlagen. Dort, wo ihm – so glaubte er – sein mieser Ruf nicht vorauseilte. Vera, weil sie ihren Job in Wien als Redakteurin bei der Fachzeitschrift »Lust aufs Land« verloren hatte und sich die teure Miete in der Großstadt nicht mehr hatte leisten können. Als Alleinerzieherin war ihr gar nichts anderes übrig geblieben, als ins Haus der verstorbenen Urlioma zu ziehen und das anfangs noch äußerst schlecht bezahlte Jobangebot als freie Mitarbeiterin beim »Burgenländischen Boten« anzunehmen. Inzwischen war viel Wasser die Donau – oder besser gesagt die Pinka – hinuntergeflossen.
Vera hatte sich in der Redaktion hochgearbeitet und neue Freundinnen im Klub der Grünen Daumen gefunden.
Und Eva, die war mit ihrer neuen Liebe Finz und ihrer Tochter Carla für einige Zeit nach Südamerika gegangen.
»Wie war es in Brasilien?«, fragte Vera.
»Toll«, sagte Finz. »Ich habe weiter an der Terra Preta forschen können. Die Schwarze Erde bietet großes Potenzial bei der Bekämpfung des Klimawandels.«
Vera wusste um Finz’ Leidenschaft für die ewig fruchtbare Erde, die Forscher im Amazonasbecken gefunden hatten. Indigene Ureinwohner hatten diese Erde aus Holz- und Pflanzenkohle, Tonscherben, Knochen, Fischgräten und tierischen und menschlichen Fäkalien über Jahrhunderte geschaffen, um den nährstoffarmen Boden am Amazonas fruchtbar zu machen. Finz besaß im Südburgenland ein Unternehmen, das schon vor ein paar Jahren begonnen hatte, diese Technik zu kopieren. Inkaerde hieß die Firma, die in seiner Abwesenheit von seinem Partner weitergeführt worden war.
»Ich bin mit ganz vielen neuen Ideen zurückgekommen«, sagte Finz. »Das Thema Mikroorganismen zur Bodenaktivierung beschäftigt mich momentan ganz stark.«
»Oh, kann ich dich dazu interviewen?« Als Lokaljournalistin war Vera immer auf der Suche nach neuen Storys für den »Burgenländischen Boten«.
»Ja klar, aber da haben wir noch einen aktuellen Aufhänger für dich«, wandte Eva ein.
»Und der wäre?«
»Komposttoiletten.«
»Komposttoiletten?«
»Ja, Komposttoiletten«, bekräftigte Finz. »Ich bin da in ein neues Business eingestiegen. Komposttoiletten für Festivals. Komposttoiletten arbeiten ohne Chemie und Wasser. Anstatt eine Wasserspülung zu betätigen, schüttest du einfach einen Becher Sägespäne über deine Notdurft. Das ist quasi die Basis für die Kompostierung. Zusammen mit dem Toilettenpapier und dem Fäkalienanteil entsteht Biomasse, die wenig fruchtbare Böden verbessern kann.«
»Stinken solche Klos nicht ganz schrecklich?«, wollte Vera wissen und rümpfte die Nase.
»Ganz und gar nicht. Es riecht total gut nach Holz und Sägespänen. Du kannst dich nächstes Wochenende in Bildein beim picture on selbst davon überzeugen«, lachte Eva.
»Finz wird dort seine Komposttoiletten aufstellen. Du bist doch dort, oder?«
»Natürlich bin ich dort!«, sagte Vera. »Nie würde ich mir das entgehen lassen. Ich habe gehört, Patti Smith spielt am Samstag. Sie ist der noch geheim gehaltene Headliner.«
Ein seliges Grinsen ging über ihr Gesicht, als sie an das kleinste und beliebteste Musik-Festival des Burgenlandes dachte.
Das picture onfestival im 350-Seelen-Dorf Bildein war jedes Jahr Garant für einmalige Gemütlichkeit, sensationelle Stimmung und einen absolut durchmischten Musikstilmix, der von Blasmusik bis Punk-Rock, von Rap bis Reggae, von Independent bis Jazz reichte.
picture on, das war Campen und Chillen, Rocken und Relaxen. picture on – das beinhaltete den legendären »musikalischen Dorfspaziergang« zu den schönsten Flecken des Dörfchens. Und es beinhaltete das Literaturprojekt »Anschiffen«, eine Lesung auf einem Floß, bei der sich die Literaten, gefolgt von ihren Zuhörern, gerne auch einmal in die Fluten des Flusses Pinka stürzten. picture on, das war das Festival, bei dem Pinkarocker Pinkawasser tranken. Nein, nicht das aus dem Fluss. Pinkawasser war der Codename für einen Uhudlerspritzer – ein Gemisch aus Uhudlerwein und Sodawasser.
»Katrin, ich hab Lust auf ein Glas Uhudler«, sagte Vera. »Wollt ihr auch? Dann bestell ich noch eine Runde.«
Die Tür ging auf, und zwei Männer und eine Frau betraten das kleine Lokal.
Sie gingen vorbei an Vera, Finz und Eva, die am Fenster saßen, hinauf auf die Galerie und nahmen an der kleinen Bar Platz.
»Ist das nicht die Frau, die vorher beim Gartenklubtreffen dabei war?«, fragte Eva.
»Ja«, sagte Vera und nickte den Ankömmlingen kurz zu. Die Blonde erwiderte den Gruß ebenso knapp. Dann wandte sich Vera zurück an Eva. »Das ist die Pomper Betty. Du hast sie noch nicht kennengelernt. Sie ist dem Klub beigetreten, als ihr schon in Brasilien wart. Sie ist Bestatterin.«