Einzug in die Stille - Marko Ferst - E-Book

Einzug in die Stille E-Book

Marko Ferst

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Beschreibung

Nach der Wende von 1989 verschwindet Angelas Arbeitsstätte im Zuge der großen Pleitewellen ostdeutscher Betriebe. Arbeitslosenzeiten häufen sich über die Jahre. Ihr Beruf als Schneiderin verspricht für die Zukunft keine rosigen Aussichten. Seit ihrer Jugend interessiert sie sich für archäologische Funde und engagiert sich bei ehrenamtlichen Ausgrabungen. So entscheidet sie sich, in Köln Archäologie zu studieren. Unmittelbar nach ihrem Diplom wird sie jedoch zum Straßefegen verpflichtet durch die Hartz-IV-Bürokratie. Hier beginnt nun eine neue Odyssee. Ein gesundheitlicher Spätschaden bricht sich Bahn, der ersehnte berufliche Erfolg löst sich in Luft auf. Unzählige Ärzte wird sie konsultieren, die sich allzuoft in großer Ratlosigkeit üben. Da die Gefahr nicht erkannt wird, kann der Schmerz sich chronifizieren und eine Fibromyalgie ausbilden. Von den bizarren Folgen dieses medizinischen Versagens handelt die vorliegende Erzählung.

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Der Mensch liebt es, nur sein Unglück zu beachten, sein Glück aber zu übersehen. Würde er aber richtig sehen, so würde er erkennen, daß ihm beides beschert ist.

Fjodor Dostojewskij

Inhaltsverzeichnis

Angelika

Einleitung

Zur sekundären Fibromyalgie

Von der schwierigen Suche nach Heilmethoden bei Schmerzkrankheiten

Kursbuch Fibromyalgie: Schwierige Hilfe

Oktober 2015, Februar/März 2016

Sehr geehrter …,

Oktober 2017 bis März 2018

Sehr geehrter Prof. Johann Bauer

Schlußbetrachtung

Angelika lernte Schneiderin, einen Beruf den sie mehr ergriff, weil sie etwas auswählen mußte, als aus wirklichem Interesse. Sie konnte darin bestenfalls Mittelmaß an Geschick erreichen. Der Betrieb, in dem sie nach der Lehre arbeitete, stellte ein Sortiment an Bekleidung her, das sich nur schwer in die Lieferketten, die nun westdeutsch geprägt waren, plazieren ließ. Die technische Ausrüstung und der bauliche Zustand mußten veraltet genannt werden. Zuweilen munkelte die Chefin von Investoren, die vielleicht Interesse hätten, doch jede konkrete Absicht zerschlug sich binnen weniger Wochen. So schloß die Produktionsstätte anderthalb Jahre nach der 89er Wende ihre Tore für immer, und Angelika und alle anderen Kollegen wurden an die frische Luft der freien Marktwirtschaft gesetzt. Wie die Dinge lagen, blieb Schneiderei im allgemeinen ostdeutschen Niedergang ein wenig gefragter Job und zeigte sich überdies als uneinträglich. Arbeitsamtsflure lernte Angelika zur Genüge kennen. Geschleust wurde sie durch wenig sinnvolle ABM-Maßnahmen, Beschäftigungstherapie. Neue Arbeit fand sie später immer nur für ein, zwei Jahre, dann ging die Formularbürokratie von neuem los.

Während ihrer Lehre knüpfte sie Kontakt zu einer Arbeitsgruppe Archäologie. Zufälle spielten eine Rolle, ihr damaliger Freund kannte jemanden, der ihr den Kontakt vermittelte. Schon in der Schulzeit interessierte sie sich für frühe Grabanlagen und die Geheimnisse jahrhundertealter Gemäuer. Buch um Buch zu archäologischen Themen gesellte sich in ihrer kleinen Wohnung dazu, mit dem sie mehr Wissen über Ausgrabungen und ihre Ergebnisse anhäufte. Praktische Erfahrungen kamen durch die Hobby-Archäologen und ihre Kontakte wie Ausgrabungen vor Ort hinzu.

Da die Spur der Arbeitslosenzeiten über die Jahre nicht abreißen wollte und als ihr erneut eine Kündigung übermittelt wurde, wuchs der Zorn, aber auch die Einsicht, man müßte sich noch einmal anders einrichten in diesem Leben. Herbert, einer der ältesten und erfahrensten unter den Hobbyarchäologen, meinte: „Warum studierst du nicht in Köln, du bist intelligent, du kannst das!“

Dank seinem Rat und seiner Kontakte, stellte sie sich in der Fakultät vor, wurde angenommen und zog ein halbes Jahr später in die Rheinmetropole. Das Studium schaffte sie mit Bravour. Zuverdienste in Gastwirtschaften sicherten ihr neben dem Bafög die Existenz. Doch auch mit erfolgreichem Diplom flogen ihr Arbeitsmöglichkeiten nicht ohne weiteres zu. Sie zog zurück in die ostdeutsche Provinz, ein Fehler gewiß, aber sie wollte auch ihren Freund Henrik, den sie vor zwei Jahren im Ort ihrer Eltern kennengelernt hatte, nicht länger mit Wochenendbesuchen vertrösten. Sie zogen zusammen in eine eigene Mietwohnung, richteten sich ein und begannen ihr gemeinsames Leben.

Im Jobcenter hatte man nichts Besseres zu tun, als Archäologie mit Besenkenntnissen in Verbindung zu bringen. Man drückte ihr einen Ein-Euro-Job auf, verbunden mit der brieflichen Drohung die spärlichen Tantiemen zu streichen, wenn dem nicht Folge geleistet würde. Konnte man voraussetzen, daß Frau Pöhnl vom Hartz-IV-Amt Ahnung davon hatte, wozu ein Archäologie-Studium befähigte, gerade frisch diplomiert? Aber vielleicht hätte der Geist doch reichen können für ein persönliches Gespräch? Wozu die Mühe! So durfte sie den örtlichen Friedhof von Laubresten und anderem Unrat befreien und auch den einen oder anderen Straßenzug vom Winterstaub. Archäologische Funde ließen sich so eher nicht orten. Zu denken gab dagegen anderes. Dem festangestellten Mitarbeiter für technisch-praktische Arbeiten in der Gemeinde wurde mit den drei neuen Billigarbeitern die Arbeitszeit gekürzt. Dank Hartz IV durfte dieser nun nur noch sechs statt acht Stunden für die Gemeinde tätig sein und mußte mit weniger Geld für sich und seine Familie auskommen.

Die amtliche Rechnung ging für Angelika nicht auf, ging sogar so gründlich schief, wie sie es sich nicht hätte vorstellen können. Einst verfehlte sie auf der Leiter eine Sprosse und stürzte nach unten. Die Brüche am Fußknöchel heilten nicht gut und manches Zipperlein blieb dauerhaft Gast. Mitunter gerieten Wanderungen zu weit und zeitigten Folgen. Jetzt in Fegekünsten gefordert, meldeten sich diese unschönen Begleiter schmerzstark. Und sie verschwanden nicht wie sonst, sondern sie blieben. Irgend etwas riß in Knöchelhöhe tief innen. Sie hinkte und es hörte nicht auf, wurde von Tag zu Tag schlimmer. Erst in der Folgewoche, viel zu spät, reagierte sie auf diese innere Verletzung. So beendete sie ihre jüngste Karriere mit einem Krankenschein. Frohen Mutes wurde sie bei Orthopäden und Chirurgen vorstellig und als nach vielen Wochen ein erstes MRT vorlag, attestierte man ihr, alles sei in Ordnung, sie solle mal schön konservativ den Fuß beüben. Operation wozu? Ihr war längst klar, ohne operativen Eingriff konnte in dieser Situation nichts mehr ins Lot kommen.

Angelika suchte sich neue Heilkundige, doch immer wieder hörte sie nur ratlose oder gar wenig hilfreiche Auskünfte, währenddessen sie bereits an zwei Stützen ging. Sie hatte sich ihre uralten Stützen vom Dachboden der Eltern heruntergeholt. Ein Chirurg verstieg sich zu der Frage: „Warum gehen Sie nicht arbeiten?“

Einmal ging sie einkaufen, nur wenige Meter zu Fuß. Schon ein halbes Jahr zog sich ihre Schmerzodyssee hin. Unterwegs merkte sie währenddessen, sie schafft den Weg nicht mehr zurück. Sie rief zu Hause an und ihr Freund Henrik holte sie ab. Doch jetzt brach in ihrer gesundheitlichen Lage ein viel gewaltigerer Damm. Am Abend wollte sie einen Brief an eine Freundin weiterschreiben, doch sie konnte sich überhaupt nicht mehr konzentrieren. Schon nach wenigen Minuten brannte und glühte ihr Kopf, als ob sie in einen Fiberzustand hineinschriebe. In der Nacht zog sich etwas vom Fuß bis zu den Knien hinauf, etwas wie dünne heiße Stäbe auf beiden Seiten des Fußes, hinter den Knöcheln beginnend. Selbst Schlaftabletten konnten keine Nachtruhe anstoßen. So ging das drei, vier Tage, bis sich die Lage etwas entspannte. Doch der Vorfall webte sich in den ganzen Körper hinein. Die Konzentration blieb schwer gestört, ein Romméspiel zu Silvester im Kreise der Familie gab sie entnervt auf. Sie merkte, wie beim Lesen der regionalen Tageszeitung öfter die Hände zu zittern anfingen.

Über drei Jahre ihres Studiums hinweg besuchte Angelika in Köln wöchentlich einen Französisch-Sprachkurs. Auch nach ihrem Studium nahm sie noch einmal an einem Intensivkurs teil, eine komplette Woche lang. Einen weiteren Abendkurs brach sie kurz vor Ende ab. Sie konnte ihre Füße nicht mehr stillhalten, und gerade bei schwierigen Grammatikübungen hebelte ihr Nervensystem sie geradezu aus. Sie sah, wie sehr sie sich damit selbst schädigte. Mit der Lehrkraft sprach sie über das Problem, hielt noch ein paar Wochen durch und sah dann ein, so ging es nicht. Den Kurs fortzusetzen wäre ein Martyrium.

Einige Monate waren ins Land gezogen und es kam noch schlimmer. Es geschah während eines Krimis, er verlief ungewöhnlich spannend: Genau das schien das Verhängnis heraufzubeschwören. Plötzlich konnte sie weder sitzen noch stehen. Irgend etwas stach in einer Tour an der unteren Wirbelsäule. Spannungsketten zogen sich durch weite Teile des Körpers. Bei einem Gespräch im Einkaufszentrum tippte sie mit beiden Krücken ständig auf den Boden und hob sie wieder an, um sich überhaupt unterhalten zu können, die völlig unnatürlichen Reaktionen des Körpers zu entspannen. In der Notaufnahme des Krankenhauses wartete sie später drei lange Stunden lang. Mehr als Psychopharmaka fiel der Ärztin nicht ein. Zwar ergab das eine „Achterbahnfahrt“ besonderer Art, aber leider keine Hilfe. Die Fahrt zum Krankenhaus war sinnlos, überdies gefährlich in ihrem Zustand. Auf dem gelben Zettel las sie später die Diagnose Panikattacke, deren psychologische Hintergründe sie im Internetlexikon Wikipedia nachlas und zu dem Schluß kam, damit hat es ganz sicher nichts zu tun.

Der Vorfall engte ihren Spielraum weiter ein. Ein Rockkonzert, das sie mit ihrem Freund Henrik besuchte, mußte sie fluchtartig verlassen. Er zeigte sich wenig begeistert davon: „Das wird immer toller mit deiner ominösen Krankheit“, rief er ihr wütend hinterher. Noch Tage danach ließ er sie seinen Unmut über das geplatzte Konzert spüren. Keine drei Lieder konnte sie im Radio noch hören, dann fing ihr Nervensystem an, den Aufstand zu proben, und der ging jedesmal eindeutig zu Lasten der Delinquentin aus. Spannende Filme wurden nun vollends zum Problem. Bewerbungen schrieb sie längst nicht mehr, denn ihr war klar, in diesem Zustand ließ sich daran nicht im Traum denken. Wenn wir gerade von Träumen reden, selbst in diesem Zustand in der Nacht träumte sie sich mit Stützen inzwischen. So weit hatte sich das Problem bereits in die Schichten ihres Unbewußten eingelagert.

Von ihrer Hausärztin lieh sie sich in ihrer Not ein dickes Buch zur Anatomie des Fußes. Selbst Koryphäen in der Charité, die ihr im Netz empfohlen wurden, und die sie schon im ersten halben Jahr besuchte, erwiesen sich nicht als rettende Idee. In seiner ersten Untersuchung prüfte Dr. Boak gewissenhaft mit einem zweiten Arzt, wo sich die Ursache für ihre Beschwerden verbergen könnte. Es schien keine Anhaltspunkte zu geben. Nur die beiden Knochen des Unterschenkels waren durch den früheren Unfall über dem Gelenk ein stückweit mehr als üblich zusammengewachsen.

„Daran würde man nicht viel ändern können“, ließ der Arzt wissen. „Das wächst wieder zusammen, wenn man es trennt.“ Sie übten sich in Ahnungen, leiteten aber keine rettenden Schritte ein. Ein zweites MRT durchgeführt vom gleichen Krankenhaus wurde empfohlen. Dabei hatte sie so sehr gehofft, wenigstens hier könnte ihr geholfen werden. Nachdem sie die Klinik verlassen hatte, rollten ihr Tränen übers Gesicht. Doch welche Brücke zu ihrem früheren Leben damit zugleich einstürzen sollte, ahnte sie noch nicht. Die letzte Chance vor dem Showdown der Chronifizierung wurde vergeigt. Als sie beklommen mit dem zweiten MRT, ebenso befundlos, einige Monate später aufkreuzte, schmiß der Arzt sie kurzerhand aus seinem Untersuchungszimmer.

Unzählige Orthopäden hatte sie inzwischen konsultiert. Daß es keine Erklärung geben sollte dafür, warum sie bis zum Ende ihres Studiums noch laufen konnte, wenig später nach einschlägigem Einsatz am Ende nur noch der Gang an zwei Krücken blieb, und ein Chirurg und Orthopäde nach dem anderen an der Aufgabe scheiterte, kam ihr wie ein Alptraum vor. Noch unergiebiger verliefen Besuche bei Neurologen, dennoch wurde bei einem eine kleine neurogene Veränderung in einem der Fußnerven gemessen, viel später noch weitere Nervenabschnitte mit leichten Unregelmäßigkeiten lokalisiert. Nur wußte niemand dieser Weißkittel damit etwas anzufangen. In einer Reha-Einrichtung, in der ihre Tante zur Kur weilte, studierte sie den komplizierten Knochenaufbau des Fußes am plastischen Modell, einem Knochengerippe, eine Pflegerin verschaffte ihr Zutritt.

Immer klarer wurde ihr, selbst wenn sie schon viel früher ärztliche Hilfe konsultiert hätte, es wäre nichts zu retten gewesen. Der Raum ohne Erkenntnis, war selbst bei so dramatischer Zuspitzung der Lage, ausbruchssicher. Schon als der dreifache Bruch des Knöchels viele Jahre zuvor heilen sollte, tat er dies nicht so wie üblicherweise vorgesehen. Viel länger mußte sie sich krankschreiben lassen und auch danach schmerzte auf der Arbeit das Gelenk beständig. Jahre später bei einer Tageswanderung auf den Gipfelketten entlang des Gardasees in Italien schlackerte etwas im Knöchelbereich. Für rund 20 Minuten nahm sie das besonders deutlich wahr, es verlor sich und kam später wieder. In Köln, wo sie nebenher als Kellnerin arbeitete, drifteten ihr die Laufwege oft genug in schmerzrelevante Zonen. Einmal im Urlaub an der Ostsee unternahm sie eine lange Strandwanderung bis zum nächsten Ort. Im weichen Sand sackte der Hacken tief ein. Dieser Effekt sorgte dafür, daß sie in Graal-Müritz keine drei Schritte mehr schmerzfrei vorankam. Für die Rücktour mußte sie den Bus nehmen. Als sie zwei Tage später das Schiffahrtsmuseum in Rostock besuchte, kam sie kaum die Treppen hinauf, so schmerzte das Gelenk. Kurze Zeit später löste sich alles in Wohlgefallen auf. Doch längere Wanderungen stellten sich seitdem generell als Problem heraus. Was immer Angelika bewogen hatte, die Inlineskater ihrer Freundin Cindy auszuprobieren, die Folgen für das Gelenk machten ihr endgültig klar, irgend etwas war nicht in Ordnung.

Heute wurden ihr kleinste Hausarbeiten zu einer Anstrengung, die den ganzen Tag nachwirkten. Oft verbrachte sie den Tag lesend im Bett. Was sollte sie anderes tun? Die Kräfte reichten nicht für mehr. Henrik war genervt, weil sie sich nur um das Notwendigste kümmerte und alles andere liegen blieb. Noch weniger gefiel ihm, Angelika wohnte in den Nächten erotischen Ausflügen eher leidend als mit Leidenschaft bei. Sie schien nur noch ein Schatten der Frau zu sein, in die er sich vor drei Jahren verliebt hatte. Im Sommer entschwand er deshalb immer häufiger zu seinem Segelclub.

Der geplante Urlaub im Schwarzwald war zunächst um ein Jahr verschoben worden. Als im Folgejahr wiederum nicht daran zu denken war, fuhr Henrik mit einem Freund allein und wanderte mit ihm die geplanten Strecken, besuchte viele Ausflugsziele. Mummelsee, das Hochmoor der Hornisgrinde und der Bismarckturm standen an einem der Sonnentage auf dem Plan, so wie etliche andere Routen

Angelika hatte traurig gemeint: „Fahr nur mit Christoph, ich wäre für dich ohnehin nur Ballast. Was soll ich allein im Zimmer der Herberge? Ich könnte kaum die Brötchen am Morgen vom Bäcker holen. Das ergibt keinen Sinn, so gerne ich mitkommen wollen würde. Du weißt, wie sehr ich Wanderungen durch die Natur geliebt habe.“

Einmal nahm sie an einer wissenschaftlichen Tagung von Archäologen teil. Anstrengend genug, das durchzuhalten, jedoch am nächsten Tag litt sie unter einer infernalischen Erschöpfung, mußte im Bett bleiben und brauchte mehrere Tage, bis sie sich davon erholte. Ein anderes Mal stritt sie mit ihren Eltern, was nun werden solle, ein Wort steigerte das andere. Sie hätte es lassen sollen. Über Wochen hinweg glühte ihr Kopf, brannte mitunter wie Säure unter der Haut. Immer neue Schübe wurden ausgelöst, wenn sie glaubte, das Gröbste überstanden zu haben.

Sie wußte, wenn sie diesem Körperterror nicht auf die Spur kam, das konnte niemand zwei oder drei Jahre weiter durchhalten. Keiner kann verlangen, so meinte sie, daß man einer solchen Quälerei standhält. Wenn es ihr nicht gelänge, diesen Kokon aufzubrechen und endlich die richtigen medizinischen Schritte eingeleitet würden, dann war sie verloren. Sie fing an sich Bücher zu besorgen, die sie unbedingt noch lesen wollte, bevor die letzten Dinge erledigt waren. Immerhin, es waren noch etliche Bücher auf dem Stapel, die sie zu lesen gedachte, und tatsächlich würde keines von ihnen umsonst gekauft worden sein. Sie wollte mit sich versöhnt scheiden von dieser Welt. Sie konsultierte eine Psychologin, aber wie konnte sie ihr helfen, in einer so abgründigen Schieflage? Sicher vermochte die Aussprache, der Dialog, neue Sichten öffnen, doch änderte es nichts an der Quelle des Notstands. Immer öfter wurde das Bett ihr Refugium. Nein, ihr war klar, sie würde kämpfen, doch wenn auf Dauer keine Linderung erreichbar war, dann war es wohl besser zu gehen. Eine bittere, sehr schwierige, aber bei kritischer Zuspitzung vermutlich klare Entscheidung.

Den Pulsadern freien Blutlauf zu verschaffen, sie erschrak vor jenen Schnitten und den Folgen. Das kam nicht in Frage. In ein nahegelegenes Naturschutzgebiet mit fast ursprünglichem Wald, eine Insel, nur irrgartengleich mit dem Boot zu erreichen, das konnte sie sich schon viel eher vorstellen. Kein Spaziergänger würde hier Zeuge werden im Paradies für Füchse und Vögel. Der Strick an einem starken Ast würde ihr die Arbeit abnehmen. Doch will man gern so vorgefunden werden?

Zudem, Tod ist Tod und so leichten Fußes läßt es sich nicht ins Jenseits schweben. Überhaupt liebte Angelika Gewalt nicht und, wie sie in diesem Gedankenstrom kreisend feststellte, auch sich selbst gegenüber wollte sie möglichst keine anwenden. Ein Besuch im alpinen Nachbarland, gereicht ein Trunk, diese Variante ließ sie aufleben. Alles war geregelt, niemand müßte mit der unliebsamen Überraschung behelligt werden, über den Fakt an sich hinaus. Sie beschäftigte sich mit dem, was dort möglich war. Freilich, so sehr viel gaben die Webseiten nicht preis, und kostenintensiv ist so eine sanfte Form des Reisens ins Vergessen auch, speziell wenn eigene Kontostände stark limitiert sind. Überhaupt schien der Zugang dazu mehr einer Odyssee zu gleichen. Nur schwer würde sie beweisen können, wie sehr sie litt. So blieb desweiteren der Abzweig Schlaftabletten. Nur welche böten die Gewähr, auch dort anzukommen, wo die Route hinführen sollte? Sie würde keineswegs auf halbem Weg umkehren wollen. Angelika sah der Sache scharf ins Angesicht. Sie wollte kämpfen für sich, für ihre Gesundheit, ja sie wäre bereit, bis zum Alleräußersten zu gehen, um wieder in ein normales Leben zurückzufinden, doch einer endlosen, sinnlosen Quälerei wäre sie bereit, den Garaus zu bereiten, so ihr Fazit.

Am Ende des Sommers stellten sich dann kleine Erfolge ein im großen Desaster. Fast halbierte es den extremen Schmerz, der sich hinter dem Außenknöchel manifestierte und der wie in einem Strich von zwei Zentimeter Breite bis zur halben Wade hochzog, seitlich leicht nach außen gebogen. Zuvor konnte sie kaum noch auftreten, beim Schlafen legte sie den Fuß immer seitlich auf eine zusammengelegte Wolldecke, anders war es nicht aushaltbar. Mydocalm hieß das Medikament, Angelika war Frau Dr. Elsner sehr dankbar. Endlich etwas Taugliches. Alles, was sie zuvor bekommen hatte, erwies sich als völlig wirkungslos.

Amineurin, einige Monate später, warf sie zunächst völlig aus der Bahn, aber zwei, drei Monate darauf konnte sie wieder Briefe schreiben. Die Konzentration blieb gestört, doch das ganze Syndrom wurde etwas besser in Schach gehalten. Jene Tabletten wiesen nicht nur segensreiche Wirkungen auf, Angelika hatte sie zu hoch dosiert zu Beginn, nicht langsam die Dosis erhöht, sie wußte nicht, daß dies nötig sei. So schlief sie zwölf Stunden und mehr am Tag, gerade Linien bekamen plötzlich einen Knick. Mitunter nickte sie drei Stunden nach dem Aufstehen wieder ein, konnte sich nicht halten. Als sie später die Dosis deutlich senkte, blieb eine gewisse Müdigkeit erhalten, allein sie verschlief im Monat dennoch summiert zweieinhalb volle Tage, die vorher nicht nötig waren. Aber im Tagesalltag fiel dies nicht mehr auf, sie gewöhnte sich daran, so war es eben. Aber der gewonnene Spielraum gab ein Stück Lebensmut zurück. Wie immer Dr. Mosler darauf kam, es war die richtige Entscheidung. Oft waren es zufällige Tips von Leuten, die gute Ärzte kannten, die der Aufklärung zugute kamen.

Jedoch ihr Freund Henrik hatte von dem ganzen Theater so langsam die Nase voll. Er wollte eigentlich mit ihr eine Familie gründen, auf Kinder kam das Gespräch. Angelika wehrte ab: „In diesem Zustand ein Baby, bitte, wohin soll das führen? Ich habe doch schon Mühe, die Wäsche gewaschen zu bekommen.“

Irgendwann sah Henrik es ein, diese Mauer konnte er nicht überwinden. Als Angelika ein Wochenende bei ihren Eltern verbrachte, räumte er alle seine Utensilien aus der gemeinsamen Wohnung, ließ nichts zurück. Er wollte einen Neuanfang, aber nicht mit dieser Frau.

Schon zuvor flammten depressive Muster bei Angelika auf. Jetzt brannte ihr Kopf nur noch. Nichts half dagegen. Schutzlos war sie den aufreibenden Nervenkräften ausgeliefert. Die Krankheit und die brüchige Stimmung verwoben sich zu einem Teufelskreis. Wie sollte man auch leben mit einem Körper, der irregeleitete Schmerzsignale produzierte? Es war eine Erlösung, als sich die Situation nach vielen Wochen beruhigte.