Eiscafé Europa - Enis Maci - E-Book

Eiscafé Europa E-Book

Enis Maci

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Beschreibung

Wie könnte Widerstand heute aussehen? Auf der Suche nach einer Antwort zieht Enis Maci eine Linie von Jeanne D'Arc über Sophie Scholl zu den albanischen Schwurjungfrauen. Sie entlarvt die medialen Strategien der Identitären als Travestie, befragt Muttersprache und Herkunft, reist nach Walhalla und blickt dort auf die Büste der in Auschwitz ermordeten Nonne Edith Stein. Sie verweilt in den sozialen Randzonen und verwebt die losen Zipfel erzählens-notwendiger Dinge zu einem dichten Panorama europäischer Gegenwart. Das Außerordentliche überkreuzt sich in ihren Essays mit dem Alltäglichen, das Private mit dem Politischen.

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3Enis Maci

Eiscafé Europa

Essays

Suhrkamp

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

7Inhalt

Cover

Titel

Inhalt

Jungfrauen

Der Autor irrt sich

Über Geheimnisse (Plädoyer)

Über das Beichten

to blend in / into sth (Nachruf)

Götterdämmerung

Der Literatur ihr Theremin

Inseln

Die Offenlegung der Quellen bedeutet noch lange nicht die Offenlegung der Geheimnisse

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

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9Jungfrauen

Ein paar relevante Axiome:

1) Die Befreiung der Frau findet an der Waffe statt.

2) Die Waffe ist eine Weigerung.

3) Virginity means refusing to be fucked.

4) Die Waffe ist ein Paar Hosen, sie ist kein freundliches Gesicht, sie ist: eine AK 47.

5) Die Waffe ist dein Wille: hart wie Kruppstahl, weich wie deine Fotze.

6) Die Waffe ist die Fanfare, die bläst zum Gefecht, und das Gefecht ist die Folge der Weigerungen, die unweigerliche.

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Meine Mutter kann ein Maschinengewehr in sechzig Sekunden auseinanderbauen, ölen und wieder zusammensetzen. Mein Vater natürlich auch.

Von Zeit zu Zeit seufzt meine Mutter, sagt, die Zeiten hätten sich geändert, es sei nicht mehr wie früher, als 10mein Vater ihr klaglos die Kalaschnikow den Berg hochgetragen habe, wenn sie keuchte. Heute trage er sie zwar noch, doch auch er keuchend.

Als ich jünger war, schlugen wir die Sommer tot, indem wir uns Fotoalben anschauten. 1968 bis 1991: Die Schwarzweißfotos, wellig ausgestanzt, leicht vergilbt, wirkten wie aus Weltkriegszeiten. In meinem Ohr ein Satz: Opa war kein Mörder. Und ich ergänze: Er war ein fotogener Wehrmachtssoldat. Dass globale Modetrends hier dreißig Jahre später eintrafen, tat sein Übriges, noch 1989 konnte mein Onkel durch das Wachsenlassen der Haare über die oberen Ränder der Ohren seiner Ablehnung Ausdruck verleihen, und auf den illegalen Partys in den Studentenwohnheimen wirbelten die Petticoats.

Auf den Fotos also lächelten pausbäckige Studentinnen und Studenten in kastigen Uniformen in die Kamera (man konnte leider nicht Hugo Boss verpflichten), das Gewehr lässig über die Schulter geworfen oder vor sich aufgestellt. Ich erkannte ein paar Leute: meine Eltern, ihre Trauzeugen, eine Frau, die im Sommer davor zum Kaffeetrinken da gewesen war und mir einen Banana-Republic-Lipgloss geschenkt hatte. Meine Mutter zeigte auf jeden Einzelnen, sie sagte: Die wohnt jetzt in Kanada, die auch, die ist letztes Jahr aus Italien zurückgekommen, der ist Professor in Japan und mit einer Japanerin verheiratet — Pause, das ist ungewöhnlich —, der ist jetzt Matheprofessor, die hat ein 11Café im Bllok, die wohnt in England, die wurde von ihrem Mann halb totgeprügelt, das ist er, er wohnt wieder bei seiner Mutter, sie da hat ihre Verlobung mit dem da gelöst, um dann ihn da zu heiraten, und ich stellte mir vor, wie in einer anderen Wohnung in der Stadt ein anderes Teenagegirl mit seiner Mutter über das Album gebeugt saß, und die Mutter sagte: Und die ist jetzt in Deutschland, und nickte langsam, von unten nach oben, als wollte sie nein sagen oder Maß nehmen.

***

Die Fanfare bläst ein Lied, sie singt: Weh mir, ach!, sie singt: Noch ist Polen nicht verloren!, sie singt: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr, sie tobt.

Die Tobsucht ist das Wissen, dass Stillstand der Tod ist und im Wüten die Rettung liegt.

Ich trage meine Hosen mit Anmut, wie ein Engel, der sein Gewehr schultert.

This was not a puerile virginity defined by fear or effeminacy. This was a rebel virginity harmonious with the deepest values of resistance to any political despotism.

Andrea Dworkin,Intercourse

***

12Im Eiscafé Europa bekamen wir Mädchen wie immer jede zwei Kugeln oder einen Zitroneneistee. Ich verhielt mich unauffällig, grundlos eingeschüchtert, während meine Mutter Kaffee trank mit ihrer Freundin Bleta, die mit ihren dezenten Klamotten, mit ihren grabentiefen Augenringen auch eine ziemlich fertige Französin hätte abgeben können, die, fünfunddreißigjährig, erst ein paar Wochen zuvor bei Rewe an der Kasse, bei einem ihrer drei Jobs also, ein Schlaganfall ereilt hatte. Mit stoischer Gelassenheit, wie man so sagt, suchte sie wegen des seltsamen Kopfschmerzes erst nach Feierabend ihren Hausarzt auf, der sie umgehend ins Krankenhaus einliefern ließ, aus dem sie sich noch am selben Abend selbst entließ, weil sich die Brötchen nicht von allein verdienen, wie sie sagte, wobei sie natürlich etwas anderes sagte, wobei das alles natürlich eine freie Übersetzung ist, wie sie also sagte und an ihrer Zigarette sog, gierig und bestimmt, sog wie ein Säugling, sog, als hoffte sie, an deren anderem Ende etwas Wichtiges zu finden.

Bleta also und ihre Töchter und meine Mutter und ich saßen im Eiscafé Europa, im gelobten. Bleta löffelte den Milchschaum vom Cappuccino, rauchend, so wie sie alles rauchend tat, so wie schließlich sogar die Besitzerin — eine sehr große, sehr schlanke Jugoslawin mit sehr hohen Schuhen und sehr gut sitzendem Haar —, so wie sogar die Besitzerin beim Eis-ins-Hörnchen-Schaufeln rauchte und alle, die keine Stammgäste waren, abweisend anschaute. Wir waren Stammgäste, und 13wie immer raunten Bleta und meine Mutter sich anerkennende Worte über den Style der Langen zu, ganz als hielte sie irgendjemand davon ab, selbst unbequeme Schuhe zu tragen und böse zu gucken.

Im Eiscafé Europa also zeigte Bleta mit der flachen Hand, Handfläche nach oben, auf meine Mutter und rief: Schaut sie euch an, schaut sie euch genau an, und wir schauten, und sie weiter: Was für eine burrneshë.

Begeistert pries sie meine Mutter und wedelte dabei mit ihrer heruntergerauchten Kippe, bis ihre ältere Tochter sie ihr aus der Hand nahm und ausdrückte.

Natürlich gab meine Mutter das Kompliment zurück.

Und ich wusste sofort, ohne dass mir irgendjemand je erklärt hätte, was das war, eine Männin, wusste sofort, schon allein der Grammatik wegen, dass das nur Frauen sein konnten, dass es etwas war, das in seiner ganzen unausgesprochenen Drastik besser war als alles, was ein Mann sein konnte, deshalb also nickte ich andächtig, bevor ich mit meinem rosa Strohhalm die San-Benedetto-Dose leersog.

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Außerdem:

Das erste Lager, in das eine Frau interniert wird, ist das Schlaflager.

14Das Erzählen der Fabel ist prinzipiell ein gewalttätiges.

Die Feinde werden angelockt wie sonst nur die Beute, doch das Beute-Sein liegt in der Natur der Frau, das heißt: der kampfunfähig gemachten, das heißt: der unbewaffneten Frau.

Mehr noch als eine abgelegte Rüstung lockt den Feind: das freiwillige Hemmnis.

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Im Alter hat meine Großmutter den Feminismus für sich entdeckt. Unterm Sonnenschirm erklärte sie mir, dass sie die moderne Entwicklung, nicht sofort den ersten Mann, den man liebt, zum Kindsvater und Ehemann zu machen, durchaus begrüße, dass sie es gut finde, das Schwein im Zweifel in den Wind zu schießen, schließlich könne man aus seinen Fehlern lernen, man bekomme einen weiteren, zweiten Versuch. Aber Omma, sprach ich die offensichtlich offene Frage aus: Ab wie vielen Männern ist man denn dann ein Flittchen? Sie saß unterm Schirm, blinzelte in die untergehende Sonne, zuppelte an ihrem Bikini, sie dachte nach und antwortete: Drei. Ja, drei ist schon einer zu viel, ich meine, niemand macht denselben Fehler zweimal. Wenn du erst mal bei drei bist, sind vier, fünf, sechs ganz leicht, und irgendwann wirst du ganz Wahlurne, nur dass sie nicht Wahlurne sagte, sondern kuti votimi, 15und wer einmal gesehen hat, wie die ersten Wahlen dort abgehalten wurden, die weiß: Es gab ein Glas mit weißen Bällen und eine Wahlschachtel, stimmte man der Kandidatur zu, legte man einen Ball in die Schachtel, lehnte man die Kandidatur ab, legte man den Ball in den Mülleimer, die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen, ein öffentlicher Vorgang.

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Und weiter:

Because she found a way to bypass male desire, Joan [of Arc]'s story illuminates and clarifies to what degree male desire determines a woman's possibilities in life: how far, how fast, where, when, and how she can move; by what means; what activities she can engage in; how circumscribed her physical freedom is; the total subjugation of her physical form and freedom to what men want from her.

Steckt in der geschlossenen Abteilung nicht umsonst das Wort Abtei?

Wird die Welt geschützt vor den Insassinnen oder vielmehr die Insassinnen vor der Welt? Ist ihre Jungfräulichkeit das, was man ein gebrochenes Versprechen nennt? Was ist die Natur ihres Widerstands? An welche Grenzen haben sie sich gebunden?

16Einem veredelten Apfelbaum nicht unähnlich, scheinen diese Frauen ihre Autonomie beschnitten zu haben, auf dass sie besser gedeihe.

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Nur durch den symbolischen Übertritt zum männlichen Geschlecht konnte eine Frau in den Stammesgesellschaften Südosteuropas einer arrangierten Verheiratung entgehen [ich hätte gesagt, konnte eine Frau dem Patriarchat ein, wenn auch brutales, Schnippchen schlagen, wie es andernorts seinerzeit höchstens noch durch einen Eintritt ins — na? — Kloster möglich war]. Indem sie fortan als Mann Männin lebte, ersparte sie sich und ihrer Familie die Entehrung, die sonst durch den Bruch eines Eheversprechens unweigerlich eingetreten wäre. Der zweite wichtige Grund für das Leben als eingeschworene Jungfrau war das Fehlen eines männlichen Familienoberhaupts, wodurch die Frauen der Familie schutzlos waren und die betreffende Familie auch keinen Sitz im Rat der Gemeinde oder des Stammes hatte. Wenn kein Sohn die Nachfolge übernehmen konnte, trat eine ledige Tochter an diese Stelle, lebte als Mann und war Familienoberhaupt. Der Mangel an männlichen Familienmitgliedern rührte in den südosteuropäischen Stammesgesellschaften aus der weit verbreiteten Blutrache her, bei der oft alle männlichen Mitglieder einer Familie ausgerottet wurden. Indem eine eingeschworene Jungfrau an die Spitze der Familie 17trat, konnte das Problem zumindest für eine Generation gelöst werden. Der Fortbestand der Familie war aber nur gesichert, wenn noch minderjährige Jungen lebten, die später an die Stelle ihrer Tante treten konnten.

Wikipedia, Lemma: Eingeschworene Jungfrau

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Und noch:

No woman can want freedom and have it dignified. The clothes made [Joan's] life of high adventure and martial brilliance possible; she needed them, a sword, a horse, a banner, a king, a cause, all of which she got with an intransigence that is the mark of genius. The male clothing — the signifier and the enabler, signifying rebellion, enabling action — became the emblem of her distinct integrity for those who hated her.

[Joan's male clothing] characterized her virginity as militant: hostile to men who would want her for sex and hostile to female status altogether. The Inquisition did not honor Joan's virginity: it was barely mentioned at her trial, except by her. The Inquisition did not accept Joan's virginity as evidence of her love of God as it would indisputably accept virginity in feminine dress.

18Was hat die Norne der Nonne voraus? Wird nicht die Fähigkeit, das Schicksal zu kennen, stets den Jungfrauen zugeschrieben? Sieh!, Veleda, sieh!, Pythia, die auch heißt: Pytja, die Frage.

Das Verlieren der Jungfräulichkeit wird völlig zu Unrecht auch Verlust der Unschuld genannt. Wer erinnert sich an eine intakte Zeit?

Die Unschuld verlieren heißt: ganz unverliebt werden, den Dingen gegenüber.

Was ist Jungfräulichkeit? Am Anfang steht der Glaube, mit einem Mann zu schlafen würde eine Frau ändern, was viel zu ungenau ist. Genauer ist, dass die Veränderung eine ist, beziehungsweise, wenn alles korrekt abläuft, historischerweise zu sein hat, die der Frau angetan wird, die sie in einem Maße betrifft, in dem sie den Mann nicht betrifft. Genauer ist, dass die Anwesenheit des Mannes in ihr, in ihrem Körper, als Belagerung zu verstehen ist, dass sie, egal wie freiwillig sie erfolgt, immer als unfreiwillig zu verstehen ist, beziehungsweise historischerweise zu verstehen sein hat. Genauer ist, dass der Mann durch seine Anwesenheit in ihr eine irreparable Wunde in ihren Körper reißt, und diese Wunde heißt Fotze, denn das Geschlecht der Frau existiert ungefickt nicht. Es ist — und ich weiß, dass das nichts Neues ist, aber man kann es nicht oft genug aussprechen —, es ist eine Lücke, in die man sich ungefragt 19einnistet, nicht wie eine Schwalbe, sondern wie ein Parasit.

Die Waffe ist eine Maschine, die die Gebärfähigkeiten umverteilt. Sie wächst aus Körpern und Bäumen, aus Gleichungen und Zahlen, die ja auch Körper sind.

Solange sie, und nur sie, fähig ist zu gebären, steht die Frau unter dem Joch Gottes und des Mannes. Die Befreiung ist — und ob das wirklich tragisch ist, müssen andere entscheiden — nur in der Verantwortungslosigkeit zu erreichen, oder anders: im Verzicht auf die vorgesehene Verantwortung, in der Entscheidung für andere, nicht weniger alte Pflichten.

Mit Spannung erwarten wir also die globale Einführung desjenigen Polymergels, das unter lokaler Betäubung, nach einem kleinen Schnitt in den Hodensack, dem Mann oder allen anderen, die über einen solchen verfügen, in den Samenleiter injiziert wird und das den Fluss des Samens durch ebendiesen verhindert. Will sich die behandelte Person nun doch wieder fortpflanzen, wird das Prozedere wiederholt, nur dass statt des Polymers eine Kochsalzlösung injiziert wird, die den Samenleiter ausspült und die Zeugungsfähigkeit wiederherstellt. Durch sein grandioses Preis-Leistungs-Verhältnis und seinen überraschenden Mangel an Nebenwirkungen ist dieses Verfahren im ländlichen Indien bereits der Hit, nachdem der Arzt, der es erfunden hat, sich in einem erfrischend normalen, ethisch korrekten 20Schritt zuallererst selbst etwas Plaste in den Sack spritzen ließ.

Glorreich wird die Zukunft, wenn wir es nur zulassen.

***

Als Spross einer reichen Bauernfamilie, eben einer der im Osmanischen Reich mit dem herrschaftlichen Titel Bey bedachten Großgrundbesitzer, die nach dem Krieg systematisch enteignet, verbannt und von Bildungs- und Aufstiegschancen ferngehalten wurden, hat mein Großvater trotz bürgerlichem Selbstverständnis nicht studiert, sondern eine Lehre als Landvermesser abgeschlossen. Dem Arbeitslager entgingen viele Teile seiner weit verzweigten Familie und damit auch er, das Kind, vor allem dank Cousin Meleq, dem Engel. Meleqi und sein Bruder Zini hatten sich während des Kriegs — zum Leidwesen ihrer mit der Nationalen Front sympathisierenden, einer Kollaboration mit den Nazis zum Zwecke der Schaffung eines »ethnischen« albanischen Nationalstaats, der Verhinderung des Kommunismus und dem Behalten ihres Reichtums nicht ganz abgeneigten Familie, zum Leidwesen ihrer unangenehmen Familie also — schon früh den Partisanen angeschlossen. Ein halbes Jahr vor der Befreiung wurde Meleqis Trupp von der Wehrmacht eingekesselt. Um die Flucht der meisten zu ermöglichen, war es notwendig — so wurde es meinem Großvater überliefert und uns durch 21ihn, möglicherweise geschönt, andererseits aber von anderen Familienmitgliedern, einschließlich meiner Großmutter, die sich stets gegen Heldenfolklore stemmt, bestätigt; vielleicht ist es also doch wahr oder in Teilen wahr oder prinzipiell wahr, und das ist es ja, worum es geht — es war jedenfalls notwendig, dass ein Partisan in Deckung blieb, auf die Feinde schoss und dabei selbst zugrunde ging. In meiner Vorstellung hatte er dabei keine schnöde Mannlicher, sondern ein monumentales, auf einem riesigen Stativ befestigtes Maschinengewehr, von dem die Patronengurte nur so baumelten, wie bei Apokalypse Now, bloß dass es ein gerechter Krieg war. Die Wahl fiel auf Meleqi, der machte seinen Job gut, die anderen überlebten, er starb im deutschen Kugelhagel, wurde später zum Held des Volkes erklärt und war nun die historische Figur, auf die sich die ganze Sippe in Bittbriefen an die Partei berief, wenn es darum ging, in der Stadt bleiben oder eine Ausbildung beginnen zu dürfen.

Was dabei bis zu einem sehr frühen Sommermorgen, ich muss ungefähr zehn gewesen sein, unter den Tisch fiel: Zwei Tage nach Meleqis Tod war auch Zini gefallen, übrig blieben bloß ihre Schwestern, die nacheinander heirateten. Der Vater war tot, die Mutter alt, altmodisch und vor allem doch zu jung, um hinter einer geschlossenen Haustüre (wie man so sagt, ein weiterer dieser Begriffe, die keiner erklärte, die sich zwangsweise von selbst verstanden) weiterzuleben. Also zog sich die jüngste der Schwestern »die Hosen an«, wie mir 22meine Großmutter später verschwörerisch zuflüsterte, als wäre damit alles gesagt.

An diesem frühen Morgen — es war vielleicht sieben Uhr, alles schlief noch, außer meine Großeltern, denn meine Großmutter hatte meinem Großvater um Punkt sechs sechs gebratene Eier serviert, die er wie jeden Morgen hinunterschlang, um danach aufzubrechen, in die Kafe Bar Diamant zu seinem gleichnamigen Kumpel und später dann ins Geschäft, das eine kleine Bude war, die er an eine Frau vermietete, die dort Frikadellen briet und verkaufte, und wo er, der Rentner, bloß schweigsam unterm Sonnenschirm saß, was er »sich um das Geschäft kümmern« nannte —, an diesem frühen Morgen also schlief ich auf dem Sofa im Empfangszimmer, das nur benutzt wurde, wenn Besuch kam. Plötzlich riss meine Großmutter die Tür auf und verkündete, ich müsse mir etwas Vernünftiges anziehen. Sie triumphierte, denn seit Jahren warnte sie mich schon, ich könne niemals, und sei es noch so heiß, in Unterwäsche schlafen, was, wenn jemand vorbeikomme?

Vor der Haustür stand, die Schuhe abstreifend, mit hochgestecktem grauen Haar und einer Brille à la Helmut Kohl, in schwarzem Hemd und schwarzer Anzughose, mit der mir so vertrauten stabilen Statur meines Großvaters und ungewohnter als alles, was ich je gesehen hatte, Meleqis unverheiratete Schwester Gano.

Meine Großmutter war ganz aus dem Häuschen. Mit sanfter Gewalt hinderte Gano sie daran, alle sofort zu wecken. Ich saß mit geradem Rücken auf dem schwar23zen Ledersofa, meine Großmutter schrie, so könne ich Gano nicht unter die Augen treten. Nicht Tante Gano, was nur logisch gewesen wäre, sie war schließlich nicht nur mindestens achtzig, sondern tatsächlich meine Großtante. Wasch dein Gesicht, befahl meine Großmutter, und ich ging und wusch und brachte Gano den schweren Kristallbehälter mit den Süßigkeiten, die sie mehrfach ablehnte, um dann natürlich doch ein Karamell zu nehmen, als hätte Gano jemals irgendeine Etikette verletzt, sie war schließlich eine Frau, die, ganz der Etikette verschrieben, seit Jahrzehnten keine mehr war. An Zeichen dafür mangelte es nicht. Das Offensichtlichste: die Hose. Dann: Sie bot keine Hilfe an. Sie schaute nicht in die Küche zu meiner Großmutter. Sie sagte nichts von den Dingen, die eine Frau zu einer anderen sagt. Sie saß bloß da, breitbeinig, beide Arme auf den Lehnen des Sessels, auf dem sonst nur mein Großvater saß. Ihre Stimme war laut, es tat sich ein Riss auf im Raum, der erst Spalte war, dann Graben, schließlich aber: ein Schlund, eine Senke, und Ganos Sprechen Treibsand.

Keine Frau klang so, wie Gano klang, und auch kein Mann, und doch saß sie da wie einer und gebarte sich wie einer, und das Verblüffendste war, dass meine Großmutter auch mit ihr sprach, als sei sie einer.

Trotz allem war es ihr langes Haar, das mich am meisten irritierte. Es war, als könne Gano sich nicht entscheiden, und das imponierte mir enorm.

Sie setzte sich und sprach über die beschwerliche Bus24fahrt, deretwegen sie auch, die Mittagshitze in ihrem Alter vermeidend, so früh gekommen war, sprach über den Verkehr, über ihren Cousin, meinen Großvater, und griff sich nach einiger Zeit an die Herzgegend, um eine Schachtel Zigaretten aus der Hemdtasche zu ziehen. Die Marke habe ich vergessen. Als meine Großmutter das Klicken des Feuerzeugs hörte, kam sie wie mechanisch aufgezogen mit einem Aschenbecher aus der Küche. Ich war fassungslos. Noch nie hatte ich eine so alte Frau rauchen sehen. Überhaupt wagte es niemand, in dieser Wohnung zu rauchen und den Zorn meiner Großmutter auf sich zu ziehen. Vielleicht war das der Moment, in dem sich entschied, dass auch ich Raucherin werden würde. Das Universum, wie ich es kannte, und seine Subkategorie, das Universum der Sommerferien, wie ich es kannte, verschoben sich um einen halben Meter. Ich starrte völlig unverhohlen, bis Gano meinte, ich solle mich etwas zur Seite setzen, Rauch sei nicht gut für Kinder, und ich stumm gehorchte.

25Der Autor irrt sich

Thema

Ich bin Dichter. Das macht mich interessant.

Darüber schreibe ich.

Über den Rest auch — soweit wortgeworden.

Wladimir Majakowski,Wie macht man Verse? Ich selbst

Wir saßen im Spreegold, Stargarder Ecke Schönhauser, und aßen veganen Nusskuchen. Ich trank einen Cappuccino, und Herr Scherstjanoi trank einen Americano, den er mit zusammengebissenen Zähnen bestellt hatte, nachdem die Kellnerin »einen normalen Kaffee« nicht hatte gelten lassen. Jeder Sitzplatz hatte seine eigene Steckdose. An jedem Platz lag außerdem eine papierne Platzmatte, auf der die Orte für »plate«, »first drink« und »second drink« eingekreist waren. Ich hatte gesagt, ich komme gern in den Prenzlauer Berg, und war noch außer Atem von der langen Fahrt, war irgendwo an der Siegessäule falsch abgebogen. Herr Scherstjanoi hatte sofort dieses Lokal vorgeschlagen, an dem er, wie mir nun klar wurde, ebenso wie ich nie zuvor gewesen war. Wir aßen. Herr Scherstjanoi hat sehr helle Augen, nicht blau, eher durchsichtig, wie Regenwetter. Als ich zugab, nicht mehr Medizin zu studieren, lehnte er sich zurück und schaute lang und traurig auf einen 26Punkt hinter meiner rechten Schulter. Dann sagte er: Aber denken Sie an Tschechow, Bulgakow. Ich versicherte ihm, dass ich nie an etwas anderes dächte. Wir hatten es eilig, das Café zu verlassen, wir liefen um den Block. Er erzählte von Jochen, »er war mein erster Freund in Berlin«, von Jochen, der eigentlich Joachim hieß, den manche auch Achim nannten und er, Scherstjanoi, Jaschka. Jochen, den er Anfang der Achtzigerjahre kennengelernt hatte, als Scherstjanoi aus dem erzgebirgischen Aue nach Ostberlin gezogen war, Jochen, der als Maler Mitglied im Verband der Bildenden Künstler der DDR gewesen war und als solches in jenen Tagen einen Antrag stellte, weil er sich in Westberlin die Bilder Max Beckmanns ansehen wollte. Zu aller Überraschung wurde der Antrag genehmigt, und Jochen machte sich auf zum Grenzübergang Friedrichstraße, auf dessen anderer Seite nicht nur Quappi mit ihrem Papagei auf ihn wartete, sondern auch der ganze goldene Westen — eine Gegend, die er noch nie betreten hatte. Am Abend kam Jochen wieder zurück, womit Scherstjanoi nicht unbedingt gerechnet hatte. Jochen war, wie man heute sagen würde, ganz und gar underwhelmed vom Westen. Er verlor nicht viele Worte darüber. Von Scherstjanoi gefragt, ob er nicht ans Weggehen, ans Dortbleiben gedacht hätte, meinte er: Ich will im Prenzlauer Berg leben und meine Mitmenschen malen. Enis, das hat er gesagt, Mitmenschen, verstehen Sie, sagte Scherstjanoi und weiter: Ich wäre sofort gegangen. Ich hatte die Schnauze voll vom Sozialismus, nicht aber 27Jochen, nein, und jetzt ist Jochen tot, und ich bin froh für ihn, dass er das hier nicht mehr erleben muss, fuhr Scherstjanoi fort und las ein paar Reklametafeln vor: Nguyen Sushi, Fitness First, Mexican Food, E-Zigarette 24 Berlin, Toner-Dumping, Sans Souci Parkett, Thomas-Mann-Grundschule, OiShii-Hotdogs, city-room Berlin Apartments undsoweiter. Ich fragte mich, ob auch Scherstjanoi die Geschichte der Buddenbrooks als eine Parabel auf die Degeneration einer bourgeoisen, von den Produktionsmitteln und den Arbeiterinnen gleichermaßen entfremdeten Familie kennengelernt hatte. Die Mauern der Thomas-Mann-Grundschule waren hellgelb, unwillkürlich tastete ich mit der Zunge nach meinen Backenzähnen, als sich zwei stupsnäsige Blondinen nölend an uns vorbeischoben, der Bezirk pulsierte aufs Vitalste, es war: die blanke Lebensfreude.

Jeden Morgen gehen sie an die Arbeit,

mischen Zement, schleppen Steine herbei,

sie bauen eine Stadt, doch es wird nie eine Stadt sein,

sie bauen ein Denkmal ihrer Einsamkeit.

Joseph Brodsky,Die Verben

Was visuelle Poesie ist, hatten wir bei Herrn Scherstjanoi lernen sollen. Was wir noch gelernt hatten: Was sie nicht ist. Wer seine Abgötter sind, wie er sagt, und warum. Wer Obsession bedeutet und was eine Abschweifung. Und wie man immer, und sei es noch so unwahr28scheinlich, die roten Fäden einer Geschichte in der Hand behalten kann, Scheherezade nicht ganz unähnlich. Es ging um Schwitters und Haussmann, Pound und Marinetti, Chlebnikow und Brodsky, Müller und Arp, Charms und Herrndorf, und immer immer wieder ging es um Majakowski, völlig zu Recht natürlich. Ich begriff zum ersten Mal die Fragen nach dem Wind und den Zeichen, die ihn ankündigen. Ich glaubte — vermessener geht es kaum — zu verstehen, was der Krieg in der Ukraine sollte, und ich verstand meine Eltern, viel besser zumindest. Wöchentlich war ich im Begriff, das Seminar abzubrechen, weil ich den Wust an Information und Raserei nicht länger aushalten wollte. Es wäre ein Fehler gewesen. Ich verstand den Ort, an dem ich studierte, endlich als historische Entität und sah Ronald M. Schernikau durch die Gänge spuken. Ich lieh mir Gedichte von Elke Erb und Helga M. Novak aus. Auf Sarah Kirsch bin ich noch immer schlecht zu sprechen, ich finde, sie hätte es bei Ingrid Hella Irmelinde belassen sollen, alles andere ist peinlich. Jede Woche erwähnte Scherstjanoi mindestens einmal den Künstler und Dichter Carlfriedrich Claus, aber ich hatte andere Probleme, ich konnte nicht alles lesen, was ich bereute, denn wenn man Scherstjanoi glauben konnte, und das musste man, dann war Claus einfach alles: Kommunist, Eremit, weise — ein Hundertzwanzigprozentiger.

29La parole est une hystérie qui relève de la frustration qui par ailleurs la compense. Vous êtes si loin. Soyez sage — planant — a bientôt —

Sophie Podolski,Le pays où tout est permis

Ich fuhr nach Hannover, um Darja zu besuchen. Sie ist meine älteste Freundin. Für gewöhnlich sitzen wir in der Küche, die dreckigen Teller stapeln sich im Ofen, die vollen Müllbeutel unter der Spüle, wir trinken Yogitee und lesen die Sprüche aufmerksam, wir rauchen und rauchen und verlassen die Wohnung für einen Einkauf und einen kurzen Spaziergang an der Leine. Vor dem Ihme-Zentrum setzen wir uns meist auf eine Bank, und Darja spricht über die Schönheit der Plattenbauten im Abendlicht, über Nachbarn, die einem beim Einzug die Möbel aus dem Fahrstuhl klauen und vorgeben, sie für Sperrmüll gehalten zu haben, über die obligatorischen Tischtennisplatten, an denen man sich trifft, wie sich einst, in einem Land vor unserer Zeit, Beate und die Uwes trafen, über die großen Tragödien, Solidarität und Freude und die riesigen Balkone im 17. Stock, und wir sitzen auf der Bank und trinken Rotkäppchen-Sekt und sehen dabei zu, wie im Ihme-Zentrum ein Licht nach dem anderen angemacht wird, gelbe Lampen und blaue Fernseher.

Auf dem Weg nach Hannover las ich in Roberto Bolaños Erzählungsband Mörderische Huren. In der Geschichte Vagabundieren in Frankreich und Belgien, in der Bolaños Alter Ego B, ein chilenischer Dichter aus 30Mexiko, französische und belgische Antiquariate auf der Suche nach den unbekannten Idolen seiner Jugend durchstreift, steht auf Seite 78: