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Die Welt ist am Arsch, doch Hans und Reja lieben sich. Gemeinsam fahren sie los. Sie treffen auf ausgehöhlte Landschaften, widersprüchliche Gründungsmythen und Geschichten, die sich um den Erdball spannen. Ein Mormone sucht den Schatz des Moctezuma in der Wüste Utahs. Ein mörderischer Apotheker baut eine Rutsche durch sein Haus. Eine Filmemacherin jagt einen flüchtigen Einbrecher. Und währenddessen rauscht der Wind ungestört, wie vor 40 000 Jahren schon, durch Pando, das größte Lebewesen der Welt.
Enis Maci und Pascal Richmann erzählen von Orten, die sich in die Erinnerung einschreiben, lang bevor man sie selbst betritt. Vom Strudel der Ereignisse, der an uns allen zerrt. Immer der Frage nach: Wie kommt die Gegenwart zustande, und was können wir ihr entgegensetzen?
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Seitenzahl: 213
Enis Maci & Pascal Richmann
PANDO
Roman
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2024
© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024
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Umschlaggestaltung: Studio Pandan, Berlin
Umschlagillustration: Anna Haifisch, Leipzig, "Enis und Pascal als Tumbleweed"
eISBN 978-3-518-78037-4
www.suhrkamp.de
I will go down with this shipAnd I won’t put my hands up and surrenderThere will be no white flag above my doorI’m in love and always will be
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Motto
BLENDE
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BRUCH
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SCHWEBE
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TAUB
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Zitate aus
Informationen zum Buch
PANDO
Kurz bevor wir uns kennenlernten, kaufte ich ein neues Telefon.
Und jetzt – erinner ich mich daran, das heißt: wieder, ich erinner mich wieder daran, weil es mir einen Rückblick zeigt, aus dem Jahr 2015.
Als wir uns das fünfte Mal trafen, fuhren wir ins Erzgebirge. Damals wusste ich noch nicht, dass die Maps-Funktion sich als unnötig erweisen würde, weil du immer den Weg nachhause findest, wie die Tauben, die Freds Vater hält.
Wir bogen ein auf die Straße nach Johanngeorgenstadt, und du erzähltest mir, wie ihr – Friedhelm war verreist – ein fußballgroßes Loch in das Gitter des Taubenschlags geschossen haben musstet, ohne es zu merken. Die geliehene, unermesslich teure Zuchttaube floh nicht. Tagelang verharrte sie, wo sie war, obwohl sie leicht hätte entkommen können. Als Fritti zurückkehrte, jagte er Fred mit einem Korkschlappen durchs Haus, treppauf, treppab, ich hab mir das immer wie im Zeichentrick vorgestellt, Fred, der auf dem obersten Treppenabsatz unter den Armen seines Vaters hindurchschlüpft, Frittis roter Kopf, die pochende Halsschlagader. Inzwischen ist Fred selbst Vater geworden, und Friedhelm alt, und ich habe heiße Tränen geweint, als ich jenes Communiqué las, mit dem er aus dem Taubensport ausschied. Es handelt von Fehlzüchtungen und Rückschlägen und von seinem geliebten Kompagnon, dessen Name hier unerwähnt bleiben soll, gerade weil er nicht vergessen ist.
Du jedenfalls, mit deinem Taubenhirn, von dem ich damals noch nichts wusste, lenktest den roten Cinquecento am Abgrund der Dörfer vorbei. Gerade erst hatte ich eine Doku über die Wismut gesehen. Sächsisches Uranerz in der ersten sowjetischen Atombombe. Ich hatte gelernt, dass es eine Farbe gibt, die Annagelb heißt, und eine andere namens Eleonorengrün.
Es sollten noch Jahre vergehen, bis ich erlebte, dass du dich verliefst. Wir waren in Gjirokastër. Ein Balken nur am Bildschirmrand, kein Empfang. Schneeregen über der steilen Stadt. Was wir für Nachtschwärze hielten, war in Wahrheit der Berg, der den Weg zur einen Seite hin begrenzte, während es zur anderen senkrecht in die Tiefe ging, aus der vereinzelt Dächer ragten. Du warst dir sicher, das Hotel finden zu können, in dem du vor langer Zeit schon einmal geschlafen hattest. Wir spürten unsere Füße nicht mehr. Mit letzter Kraft wehrte ich einen Greis ab, der uns bloß zu helfen versuchte. Du wolltest ja nicht in irgendein Hotel, sondern in DIESES EINE zurückkehren, wie um dir zu beweisen, dass du überhaupt einmal dort gewesen warst. Du schlittertest auf dem nassen Kopfsteinpflaster, fingst dich, fingst dich nicht, und stiertest in die Schlucht unter uns, als glaubtest du, dort könne, wie im Film, eine Leuchtschrift erscheinen: MOTEL. VACANCIES. Als wir endlich in einem barock ausgestatteten Neubauzimmer saßen, risst du dir die nassen Kleider vom Leib und wähltest dich, nackt, ins WLAN ein. Wir waren so nah dran gewesen. Einmal nur hätten wir anders abbiegen müssen. Das Hotel existierte. Und dann begannst du zu weinen, und ich tröstete dich.
Von der Möglichkeit dieser Zukunft aber hatte ich im Erzgebirge nichts geahnt. Wir besichtigten die niedrigen Plattenbauten. Sie sahen aus wie Ferienheime, oder wie Pappspielzeug. Auf einem Parkplatz stand eine mit Blumen geschmückte Lore, den Bergleuten zu Ehren. Wie vor dem Eingang des Bottroper Movie Parks. Du erzähltest mir vom Freifallturm, und ich dir auch. Das seltsame Gefühl, Erinnerung zu teilen.
An die Revolverhelden auf Kabel Eins zum Beispiel. Samstagnachmittag. Tumbleweed, das über den konvexen Bildschirm kriecht, und du oder ich, als Kind, das – einen Moment unbeobachtet – so nah rangeht, bis es die pinken und blauen und gelben Punkte ausmacht, die das Bild ergeben. Bücher, die brennen, und Menschen. Holiday Inn, Sniper Alley. Die hintere Hälfte eines roten Busses, aufgerissen, wie das Modell eines Bühnenbilds. Wo müsste man ziehen, damit der Vorhang sich schlösse? Leere Stühle, wo einmal Mädchen saßen. Der Abdruck des Schwamms, wie fossiliert an der Tafel. Und wieder Samstag. Das Jahr 2018. Im Livestream singt der Attentäter: Karadžić, führe deine Serben. Er sagt: Subscribe to PewDiePew. Zweihundert User schauen zu. Er parkt. Let’s get this party started. Die Betenden fallen wie Pappaufsteller, und keiner richtet sie auf. Die einzige Kraft, die hier waltet, filmt. Point of view. Überreste von losem HD-Puder am Kiefer der Reporterin, als habe jemand versucht, Fingerabdrücke von ihrem Gesicht zu nehmen. Schüler tanzen ein haka für die Ermordeten. Der Vorsänger brüllt ein Wort, und die anderen stimmen ein. Sie schlagen sich auf die Schenkel und die Brust und die Arme und wippen, mit breit aufgestellten Beinen, vor und zurück. Und ich – erinner mich dunkel, das schon einmal gesehen zu haben. Sie reißen die Augen auf. Sie strecken die Zungen raus. Und du – bist ganz still, als wärst du nicht auf diesem Sofa hier, sondern versteckt, hinter einem Strauch oder Pfeiler, als wolltest du unter keinen Umständen stören. Sie werfen sich zu Boden und reiben ihre Wangen an der Erde, und da weiß ichs wieder. Wie hinter Nebel seh ich sie, die Alten, die die gjâma tanzen, nicht in Neuseeland, sondern in Albanien. Sie machen nach, was sie als Kinder sahen. Was fast vergessen ist, und trotzdem da. Sie reiben ihre Wangen an der Erde und schließen ihr die Augen. Sie danken ihr, dass sie die Toten aufnimmt.
Der Zusammenhang, den wir packen wollen, bevor er uns entwischt, den wir vorsichtig in der hohlen Hand halten, durch leicht gespreizte Finger betrachten wollen wie eine Libelle, dieser Zusammenhang scheint in solchen Momenten auf. Heute bestimmt er mein Leben, das unseres ist, aber damals, auf dem Weg nach Tschechien, hatte ich nur eine Ahnung.
Im spärlichen Licht, das der Cinquecento auf die Landstraße warf, betrachtete ich dieses eine Haar in deiner linken Braue, das waagerecht nach vorn absteht. Es ist drahtig und heller als die anderen. Wie eine Antenne. Was für Signale empfängst du? Auf der anderen Seite der Grenze standen Wohnwagen zwischen Fichten. Ein Wald, der ein Wahrzeichen ist, zerfressen und schön. Hier müssen einmal Bauernaufstände stattgefunden haben und später dann Fluchten. Hier kehren die Bürger Johanngeorgenstadts bei Prostituierten ein. Ich erzählte dir, dass ich einen Beruf erlernen wollte. Etwas, das auch anderswo einen Wert hätte. Eine greifbare, eine globale Tätigkeit, Arzt oder Friseur zum Beispiel.
In Karlovy Vary angekommen, tauschten wir Geld im Casino. Auf einer Münze stand: Lass uns und die Künftigen nicht untergehen. Mit gesenkten Stimmen besprachen wir, was wir gesehen hatten, und meinten das, was wir noch sehen würden. Brokattapete an den Wänden. Überm Bett ein Spiegel, und als ich mich dagegenstützte, sah ich meinen Hinterkopf durch die offene Badezimmertür. Du schältest mir eine Pampelmuse, eine von den grünen. Flecken auf dem gestärkten Laken. Ich sog das Fleisch aus der Haut, und ich las dir vor.
Das schwerste, sagte ich, das schwerste und größte und älteste Lebewesen der Welt ist ein Wald. Ein Wald in Utah. Tausende von Bäumen, unterirdisch miteinander verbunden. Sie sind identisch, auch wenn sie andere sind. Und wenn einer fällt, düngt er die übrigen. Seit der letzten Eiszeit. Ich hielt dir das Bild hin. Schmale, weiße Stämme und ihre Schatten. Wie ein einziger, belaubter Barcode.
Pando, sagtest du, ich breite mich aus.
Bei unserem nächsten Treffen gestand ich dir meine große Angst vorm Untergang. Heute glaube ich manchmal, mit ihr leben gelernt zu haben.
Wir fassten damals eine Bank ins Auge, an einem Ort, wo das Land zu Inseln zerfällt und trotzdem noch eingefasst ist von Stadt. Wir haben eine Bank ins Auge gefasst, und da treffen wir uns, wenn alles den Bach runtergeht, hast du gesagt, oder vielleicht ich, es wurde ausgemacht, dass das der Treffpunkt ist, und ich zweifle nicht daran, dass du ihn auch mit verbundenen Augen finden würdest. Was mich selbst angeht, bin ich mir nicht so sicher.
Als Hans und Reja zu heiraten beschließen, in einer Eckkneipe, die Destille heißt, jubeln die Spieler an den Automaten ihnen zu. Und plötzlich – drei Kirschenpaare. Manni mit den Tränensäcken ist außer sich. Die Groschen prasseln nur so, und er wirft sich zu Boden und beschreibt einen Halbkreis mit seinem Körper, als wolle er sie schützen, und so ist es ja auch. Das ist der Moment, auf den er täglich wartet, obwohl er nicht an ihn glaubt. Die Umstehenden verziehen sich diskret ins Dunkel. Vom Display leuchtet ein Aztekentempel. Nur der Schädelturm fehlt. Wo werden sie unterkommen, die Geister der Besiegten, bei ihrer jährlichen Rückkehr in unsere Welt? Welches sind die Opfer, die Manni hierhergebracht haben?
Noch am selben Abend bucht Reja zwei Flüge nach Amerika.
Das Jahr 1520. Dass seine letzte Reise bereits eine Weile zurückliegt, spürt Dürer, als er in Würzburg an Bord geht. Venedig hat ihm gut gefallen, der Dogenpalast, das gotische Maßwerk und außerdem die Gondeln. Daran erinnert sich der Tourist Albrecht Dürer, beim Einsteigen, als er vor und zurück wankt, auf dem Main, aufgeregt, dass es jetzt endlich ablegt, das Schiff, stromabwärts, immer weiter, in den Rhein hinein. Er zeigt seine Zollpapiere. Er döst unter Deck. Und plötzlich ist er da, in Köln, von wo aus er zum Schatz des Moctezuma will, mit der Kutsche durch den Wald. Doch schon kurz vor Jülich wird ihm eine Blutwurst serviert. Dass sie verdorben ist, merkt Dürer nicht, weil der Wirt sie mit Apfelmus garniert. Dass etwas fehlt, das satt macht, stört ihn nicht. Der Gourmet Albrecht Dürer hat genug Roggenbrote gegessen. Morgens Brot, mittags Brot, Brot zum Abendbrot. Nie wird er Pommes probieren, Rösti, Reibekuchen, Gratin und Krokette.
Zur selben Zeit ist es Nacht in Mexiko. Zur selben Zeit kreuzen die Konquistadoren im Golf vor Yucatán. Unter ihnen bewegen sich Aale, Sardellen und Asseln, die fünfzigmal größer sind als eine gemeine Assel im Keller der Kathedrale von Sevilla. Diese Riesenassel kann Jahre ohne Nahrung überstehen. Sinkt aber mal ein toter Wal zu ihr hinab, hört sie nicht zu fressen auf. Wochenlang nagt sie am Tran, obwohl ihre Organe schon drohen ans Exoskelett zu stoßen, schwerer werden mit jedem Bissen, bis die eigene Brut von ihrem sich ausbreitenden Innern erdrückt worden ist. Da liegt sie also, die Riesenassel, hunderte von Metern unter den Konquistadoren, als randvoller Sarg ihrer Kinder. Und in noch tieferen Tiefen? Von Erdöl gespeiste Asphaltvulkane. Wo sie ausbrechen, siedeln sich Muscheln an, an ausgehärteten Hängen, als ruhten ihre Körper im Führerhaus eines Trucks. Chemosynthese, am Rasthof, am Grund der Bucht von Campeche. Ihr Schiff ist zwar mit Bitumen abgedichtet, aber die Konquistadoren haben keine Ahnung von Öl. Sie wissen auch nicht, dass sie gerade einen Krater überqueren, auf ihrem Weg nach Veracruz, wo Gold auf sie wartet. Diesen Krater wird erst PEMEX entdecken, einer Bohrung wegen, nach der Enteignung von Shell.
In ihrem einstigen Palais in der Hauptstadt amtieren jetzt Petroleos Mexicanos. Damit endete ein in der Sozialgeschichte einzigartiger Kampf; auf der einen Seite stand ein Land, auf der anderen Royal Dutch Shell, Standard Oil und California Sinclair – die allmächtige Dreifaltigkeit des Petroleum-Weltmonopols.
Bevor die Verhältnisse also in Bewegung geraten, bevor der sogenannte Westen zum Boykott aufruft gegen das bolschewistische Mexiko, lange bevor sich der erste Ölteppich auf den Golf legt, bewegt es sich in ihm, und unter den Konquistadoren –
The carpet, too, is moving under you
Das Jahr 2019. Blass geht der Mond auf Hans’ Schläfe unter. Reja öffnet die Tür und schleicht durchs Wohnzimmer. Auf dem Sofa liegen Alice und Jean, ineinander verschlungen, mit abgewandten Gesichtern, wie ein einziger schöner Götze.
Es ist Dezember und angenehm mild in Oakland, California. Von den Wänden der Gebäude lächeln Angela und Malcolm auf Reja herab, oder vielleicht doch eher auf die anderen Passanten, derer es wenige gibt. Auch wenn sie nicht gemeint ist, fühlt sie sich, wie immer, angesprochen.
Im Diner wird sie an den letzten freien Platz am Tresen geführt. Neben ihr sitzt ein magerer Mann in Bergsteigerkleidung. An seiner Hand leuchtet ein Ring, der Schlafqualität und Blutdruck misst. Das Silicon Valley liegt fünfzig Meilen entfernt, so weit wie die Quelle der Emscher, an deren Ufer Reja aufgewachsen ist, von ihrer Mündung. In Wahrheit aber frisst sich das Valley in die Gegend hinein, und seine Wirkung ist noch weit im Hinterland zu spüren. Während Reja die laminierte Speisekarte studiert, schlägt ein Mitarbeiter der Firma Facebook Alarm: Die Mieten in der Region sind so hoch, dass die Büros im Schmutz versinken. Niemand ist bereit, stundenlang zu pendeln, um die Kaugummis von den Schreibtischen jener Autoren zu kratzen, die mitschreiben an der Welt, die sie formen oder verformen, wer weiß das schon so genau.
Als sein Frühstück serviert wird, beginnt der Techie laut das Vaterunser zu beten. Reja hat Todesangst. Sie sieht ihn schon entsichern, laden, zielen. Sie hört ihn schon ein Naschid auf Chick-fil-A intonieren.
Die Kellnerin füllt ihr den restlichen Kaffee in einen Styroporbecher um. Deckel dazu? Der Techie kaut. Die anderen Gäste beachten ihn nicht. Ein Mädchen nimmt eine Sprachnachricht von epischer Länge auf. Es wendet sich, wenn es am Strohhalm saugt, vom Telefon ab, ohne die Aufnahme zu unterbrechen, und spricht, nach dem Schlucken, weiter.
Im Garten stehen Rejas Freunde mit verquollenen Augen auf dem Rollrasen und rauchen, während der Hund von Jeans Onkel, ein durch Generationen profitabler Inzucht entstellter Pitbull Terrier, an seinem Gummihuhn nagt. Diesiges Licht. Alice setzt ihre Sonnenbrille auf. Jean ist frisch rasiert. Auf seinem Hemd ein kleiner Ketchupfleck.
Das Jahr 2014. Jean und Hans sind Praktikanten einer Zeitung, die in die Karpaten verschickt wird, in Dörfer, in denen niemand mehr lebt, der sie liest. Die Redaktion sitzt in einem entlegenen Flügel des Bukarester Pressehauses. Gemeinsam irren die beiden durch die Korridore. Jean merkt, wie beunruhigt Hans ist. Hans liebt, wie leise Jean bei der Arbeit spricht und dass er abends, wenn sie auf den Dielen liegen, ganz anders ist. Im Erdgeschoss lassen sie sich die Haare schneiden und tragen fortan dieselbe Frisur. Wie viele der Festangestellten schreiben sie heimlich Gedichte. Ihre Chefin fürchtet den baldigen Einmarsch der Russen. Jean und Hans verstehen gar nichts.
Und als sie zurückkehren nach Bukarest, gemeinsam – Jeans Haare sind inzwischen schulterlang und die beiden Freunde –, da haben sie keine Aufgabe mehr in der Stadt. Jean erzählt vom Mittelrhein, seiner Heimat, von den Reisegruppen, die er vom Balkon aus beobachtet hat. Hans kennt Touristen nur als Tourist. Im Park kaufen sie einen Strauß Maiglöckchen. Sie spazieren an den Büsten berühmter Europäer vorbei und am Hard Rock Café. Sie queren die Ausfallstraße und verlaufen sich wieder im riesigen Gebäude. Endlich finden sie die Redaktion. Sie ist verlassen. Wo einmal Aktenschränke standen, heben sich jetzt helle Rechtecke von den vergilbten Wänden ab. Am Sekretariat klebt derselbe Sticker wie immer: Wir rauchen nicht. Hans knibbelt ihn ab. Jean legt die Blumen auf die Fensterbank. Kurz ist es, als wären sie einander nie begegnet.
Und weil wir die Nordkalifornische Meisterschaft gewonnen haben, schließt Jeans Onkel, haben wir diesen Ring bekommen. Ist jetzt auch schon fünfzig Jahre her. Noch hat die Austern-Happy-Hour nicht begonnen, doch er weiß, was zu tun ist. Er spricht die Kellnerin an, als würden sie sich ewig kennen, mit ihrem auf die Uniform gestickten Namen. Heute ist ein freudiger Tag, sagt er, mein Neffe ist aus Deutschland angereist, und da kommt Cindy ihm selbstverständlich gern entgegen, und sie lachen schallend. Jeans Onkel sieht genauso aus, wie Reja sich einen Highschool-Basketballcoach immer vorgestellt hat. Sie fragt ihn nach der Arbeit. Und er erzählt. Wer es geschafft hat und wer nicht. Wer es fast geschafft hätte, bloß um dann doch in den Strudel aus Scheiße gerissen zu werden, der Jungs in Oakland, California, bedroht, solange er denken kann.
Glenn zum Beispiel. Als Kinder spielten sie zusammen Basketball, erfolgreich aber wurde er als Baseballer. Er schaffte es bis in die Major League. Es gab nur ein Problem: Glenn war schwul und nicht besonders interessiert daran, das geheim zu halten. Der Coach bot ihm an, seine Flitterwochen zu bezahlen. Glenn lachte sich kaputt. Er war gut. Er spielte. Manchen aus dem Team war die Sache egal. Andere stichelten. Mieden die Dusche, wenn er drin war. Sowas. 1982 outete ihn ein Zeitungsartikel. Und so endete Glenns Karriere.
Wisst ihr, sagt Jeans Onkel und schüttet Reja scharfen Essig auf ihre elfte Auster, plötzlich ging es ganz schnell. Er brach sich das Bein. Er fing mit dem Koks an. Auf einmal lebte er auf der Straße. Die ganze Scheiße halt. Als er zu seiner Schwester zog, dachten wir, jetzt gehts bergauf. Aber Glenn wurde krank, und sie ließen ihn sterben, und Tausende andere starben mit ihm.
Draußen rangiert ein fahrerloser Pick-up. Windböen rütteln an den Schirmen auf der verwaisten Terrasse. Im Fenster hängen Schädel aus Zucker.
Jean legt sein Telefon auf den Tisch. Die Freunde beugen sich übers Display. Glenn, mit erhobenem Schläger und entschlossenem Blick. Sparta. Die Ertüchtigung des Leibes. Die jährliche Jagd auf die Tapfersten unter den Sklaven. Hunger Games in Rechnitz. Rosa, das sich in Gischt verliert. Jungen, die zu Männern werden. Sie hätten dies aus Furcht vor der gärenden Masse getan, denn schon immer war ja in Sparta der Sinn fast aller Maßnahmen die Sicherheit vor den Unfreien.
Hat Glenn nicht auch das High Five erfunden? Alice trinkt einen Schluck Tequila.
Ja, sagt Jeans Onkel, aus Verlegenheit. Hans stellt sich vor, wie er mit acht Jahren ausgesehen hat. Die gelbe Latzhose, die Zahnlücke. Wie sie Körbe geworfen haben, auf dem Sportplatz. Eine Vorortstraße. Die Melodie des Schrotthändlers. Seine Bremslichter, ihr Zwinkern. Zum Abschied klatschen die Jungs sich ab. Den anderen jemand anderes werden sehen und es gut finden. Sich kennen. Jeans Onkel hebt die Hand. Der Ring, der ihn über den Tod hinaus mit Glenn verbindet, funkelt an seinem Finger, und Reja versteht, dass sie einschlagen soll, und sie tut es.
Warte mal, sagt Alice, als er anfängt, seine Kreditkarte zu suchen, bevor ichs vergesse, das Video vom Spiel, und sie zieht einen Stick aus ihrer Tasche.
Das Jahr 2016. Alice und Reja sitzen in einem fensterlosen Fischlokal und sprechen über die Firma George, Gina & Lucy. Als Mädchen träumten sie beide vergeblich von so einer Tasche, zu teuer, befanden ihre unterschiedlichen Mütter in unterschiedlichen Städten. Und jetzt, während die S-Bahn den ganzen Raum wackeln lässt, erzählt Alice, dass sie längst eine entsprechende Ebay-Suche gespeichert hat. Die George-Gina-&-Lucy-Tasche, sagt sie, wird zurückkehren. Und ich werde sie einer abkaufen, die sie sich schon damals leisten konnte. Das ist mein Exorzismus. Reja ist sich da nicht so sicher. Diese Schnallen. Diese Karabinerhaken. Vergeblich Halt suchen im Gelenk, das die zwei Hälften des 82ers miteinander verbindet. Nächste Haltestelle Walpurgisstraße. Bettina-Barty-Vanilledeo. Caro aus der Zehnten und ihre spermienförmigen Augenbrauen. Reja blinzelt benommen. Diese Tasche hat keine zweite Chance verdient. Ihre nutzlosen Riemen, sie sind böse.
Der physiker zeigt heute auf farben im sonnenspektrum, die bereits einen namen haben, deren erkenntnis aber dem kommenden menschen vorbehalten ist.
Alice, wie sie das Spiel filmt. Jeans Onkel stellt sie den Schülern als europäische Regisseurin vor. Dabei hat sie sich so viel Mühe gegeben mit ihrem amerikanischen Outfit. Sie steigt auf den obersten Rang der Zuschauertribüne. Die Enttäuschung in den Augen der Jungs, als sie ihren alten Camcorder auspackt. Und dann geht es los. Sternschritt. Korbleger. Der Geruch heller Hallenschuhsohlen. Gummi. Alice zoomt raus, und sie sieht es schon vor sich, wie die Jungs dasitzen werden, später, mit ihren deformierten Teenagerkörpern, und Doritos essen, und Jeans Onkel wird mit seinem Laserpointer auf die Leinwand zeigen, und ihr Leben wird davon abhängen, und Alice – wird da schon über die Bay Bridge gefahren sein, in ihrem goldenen Honda Accord, immer weiter, auf die 101, und als Kanye singt: My life is his, I’m no longer my own, da stimmen die Freunde lauthals ein. Bei den Stanford Hills biegt Alice auf den Junipero Serra Boulevard. Serra, ein mallorquinischer Franziskaner, hat in ganz Kalifornien Missionen errichtet, die einer einzigen untergeordnet waren: unterordnen und vernichten, was sich nicht unterordnen lässt.
So hat es begonnen, denkt Hans, das sechste Massenaussterben. Das fünfte kam aus dem All. Dieser eine Asteroid. Fiel er nicht in so schiefem Winkel ins Meer, dass zuerst das Wasser verdampfte und dann, an Land, die Dinos? Schlug er nicht so heftig auf der Erde auf, dass ihre Kruste schmolz? Ist sie nicht besonders kalkhaltig in Mexiko? Heißt er denn nicht lime, dieser Stein? Klingt das nicht lecker, spritzig, irgendwie erfrischend?
The Yucatán was covered with a thick layer of limestone: nature’s way of storing carbon dioxide gas as a solid, by combining it with calcium. Shocked limestone suddenly releases its stored CO2, and in an impact as large as this, enormous quantities of this gas were almost instantaneously released like popping the cork on a colossal bottle of champagne.
Dieser eine Asteroid also, dessen Krater die Konquistadoren überquert haben, kurz vor Veracruz, wo sie anstoßen wollen, Plus Ultra, auf ihren Kaiser Karl.
Zur selben Zeit ist es Tag am Niederrhein. Zur selben Zeit reißt Dürer sich dort die venezianische Mode vom Po. Grad noch so hat er den Kutscher zum Halten bewegt, in allerhöchster Not. Über ihm raschelt das Eichenlaub. Spinnennetze funkeln, alles ist friedlich, im Gebüsch, als Albrecht Dürer sich erbricht.
Wie sie glimmern, die Zentralen. Google. Apple. Grindr. Körpernahe Dienstleistungen. Why are you hitting yourself? Neuralink-Fehlfunktion, Kurzschluss im Gehirn. Einmal angeklickt, wirst du geheilt, oder ausgeschaltet. Das Jahr 2050. Gar keine Verschwörung nötig, das erledigen die Feinheiten des Vertragsrechts, also eigentlich, eigentlich hast du dich selbst erledigt, du Geisel, du Kunde, du – bist Teil eines gigantischen Bioprozessors. So viele User, EIN Computer. Du, der zu schürfende Rohstoff, du, die erneuerbare Energiequelle, du – hoffst, der Antrag, deine Amygdala auszuschalten, wird genehmigt, weil: Du hast Angst. Und irgendwann – Wettlauf der Systeme. Ein Superquantencomputer gegen zehntausend internierte Waisenkinder. Sie können vielleicht noch nicht rechnen, doch Rechenleistung, die haben sie. Wer wirds als Erster schaffen? Wer wird es knacken, das Unknackbare, wer wirds zerspringen lassen, wie Eis vom Gletscher springt?
In Brüssel fühlt Dürer sich angegriffen vom grellen Glanz. Er spreizt die Finger zur Schneebrille und kneift das rechte Auge zu. Wie geht denn SOWAS, fragt sich der Schmied Albrecht Dürer, als er einen silbernen Fisch mit goldenen Schuppen sieht. Es ist der letzte seiner Art. Die anderen sind zu Barren geworden.
Zur selben Zeit ist es Nacht in Mexiko. Zur selben Zeit schmilzt dort nie wieder Gesehenes.
Die Freunde besichtigen das Geburtshaus des Internets. Ihre Schritte quietschen auf dem frischgeputzten Flur. Sie drücken –1. Gerahmte Gruppenfotos. Ein Mann in bauchfreiem Tanktop. Über ihm ein Fragezeichen, niemand scheint zu wissen, wer er war. Die Bibliothek von Alexandria, irgendwo brennt sie immer. Reja tippt mit der Turnschuhspitze auf die Fliesen. Hier wurde die allererste Chatnachricht empfangen, oder ein Teil von ihr. Nicht LOGIN, sondern LO, wie in lo and behold.
Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.
Das Jahr 2001. Microsoft Encarta. Reja fährt über den verspiegelten Kunststoff. Das Relief ihres Fingerabdrucks auf der trügerischen Glätte des Datenträgers. Höhen und Tiefen. Leere Umzugskartons stapeln sich im Wohnzimmer. Es ist das letzte Mal, dass sie diese CD