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Kriminalhauptkommissarin Verena Göbel wird gleich ins kalte Wasser geworfen, als sie zu ihrem Ermittlerteam in Reutlingen zurückkehrt. Denn es gilt, einen Serienmörder zu finden, der scheinbar leidende ältere Menschen erlöst und natürliche Tode vortäuscht. Nachts schleicht er in ihre Wohnungen und erstickt sie. Ausgerechnet ihre Praktikantin Mila Landenberger, die einen dieser Morde aufdeckt, gerät selbst in Lebensgefahr. Das Team um Verena Göbel muss eingreifen - doch die Zeit ist knapp. Jährlich bleiben etwa 1.200 Tötungen in Deutschland unentdeckt, weil das Leichenschausystem versagt. Eine kaum bekannte, bedrückende Problematik. Nach "Mit jeder Faser" und "Valeries Tod" ist dies der dritte Fall, der auf echten Kriminalfällen basierenden Kriminalromane von Frank Schröder.
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Seitenzahl: 255
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Frank Schröder
Jahrgang 1961, geboren in Ebingen, war bis zu seiner Pensionierung Erster Kriminalhauptkommissar. Nach fast dreißig Jahren Ermittlungsarbeit, schwerpunktmäßig im Bereich von nichtnatürlichen Todesfällen war er zuletzt Fachlehrer für Kriminalistik und Strafrecht und kommissarischer Leiter des Instituts für Ausbildung und Training der Hochschule für Polizei in Biberach an der Riß.
Frank Schröder
Kriminalroman
Oertel+Spörer
Dieser Kriminalroman spielt an realen Schauplätzen. Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden. Sollten sich dennoch Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen ergeben, so sind diese rein zufällig und nicht beabsichtigt.
© Oertel + Spörer Verlags-GmbH + Co. KG 2024Postfach 16 42 · 72706 ReutlingenAlle Rechte vorbehalten.Titelbild: AdobeStockGestaltung: PMP Agentur für Kommunikation, ReutlingenLektorat: Bernd StorzKorrektorat: Sabine TochtermannSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-96555-185-5
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Für alle Menschen,die anderen Menschendas Leben retten.
Ich war zwölf, als ich das erste Mal einen Menschen getötet habe. Ich hatte vorher schon Tiere getötet, aber noch nie einen Menschen.
Es war mein Halbbruder, als er ein Baby war. Er hatte wieder so laut geschrien und Mutter war so verzweifelt, dass sie wieder getrunken hatte und eingeschlafen war.
Mein Halbbruder war so laut.
Schon seit sechs Wochen ging das jeden Tag und jede Nacht so. Und wenn Edgar erst nach Hause kommen würde, und mein Halbbruder würde wieder so laut schreien, dann würde er Mutter wieder verprügeln und mich vermutlich später dann auch wieder.
Außerdem ging es meinem Halbbruder ja nicht gut, sonst hätte er ja nicht so laut geschrien. Bestimmt war er krank und hatte große Schmerzen, weswegen er so sehr schreien musste. Ich musste machen, dass er keine Schmerzen mehr hatte, so wie bei den kleinen Tieren, denen ich auch geholfen hatte.
Nun musste ich meinem Halbbruder helfen.
Es ging ganz einfach.
Nach wenigen Minuten war mein Halbbruder ruhig und er sah aus, als ob auch er schlafen würde, so wie Mutter, die im Wohnzimmer auf dem Sofa schlief. Schon in dem Moment, in dem ich ihm das Kissen auf seinen Mund legte, wurde er ruhiger, bis er irgendwann ganz still war.
Jetzt war alles ganz ruhig.
Jetzt hatte mein Halbbruder ganz bestimmt keine Schmerzen mehr.
Als meine Mutter meinen Halbbruder nicht wach bekam, begann auch sie laut zu schreien.
Sehr laut.
Damit hatte ich nicht gerechnet, denn so oft hatte sie doch gesagt »… wenn er doch nur endlich ruhig wäre …« und »… ich halte das nicht aus, ich werde noch wahnsinnig!«
Jetzt war mein Halbbruder doch ruhig. Und Mutter schien tatsächlich wahnsinnig zu werden. Denn nun schrie und schrie Mutter und schrie immer lauter und wollte nicht mehr aufhören zu schreien. Sie schrie so laut und sie schrie sogar auch noch, als Edgar endlich heimkam.
Ich bekam Angst, als Edgar heimkam, aber Edgar blieb ganz ruhig und verprügelte mich nicht. Er sah meine Mutter nur an.
Er verprügelte heute niemanden.
Er nahm das Telefon und telefonierte.
Dann kam die Polizei und hat meinen Halbbruder und meine Mutter mitgenommen.
Ich habe beide nie wiedergesehen. Das Jugendamt entschied, dass ich bei Edgar bleiben musste. Edgar hat mich noch oft verprügelt, bis ich mit sechzehn ein Freiwilliges Soziales Jahr begann.
In einem Altenheim, wo ich sehr vielen alten Menschen helfen konnte.
Es klingelte.
Verena wusste, wer das war.
Sie hatte es ihrer Freundin Bekki zu verdanken. Bekki hatte ihr diesen Besuch eingebrockt. Ihr Anruf kam vorgestern und dieses Mal war Verena dummerweise sogar rangegangen.
Sie hatte keine Kraft gehabt, Bekki zu widersprechen, damit dieser Besuch heute ausbleiben würde. Dann hätte sie weiterhin ihre Ruhe gehabt und niemand hätte sie gestört. »Ich lasse es nicht zu, dass du dich so eingräbst«, hatte Bekki gesagt. »Komm endlich raus aus deiner Höhle. Lass dich nicht so gehen! Reiß dich endlich mal zusammen … Oder geh zum Arzt!«
Als ob man sich einfach so zusammenreißen könnte.
Es klingelte wieder.
Verena war klar, sie konnte die junge Kollegin, die unten stand, nicht länger warten lassen. Also stand sie langsam auf und schleppte sich durch ihr unaufgeräumtes Zimmer zur Wohnungstür.
Unterwegs bemerkte sie mit einem flüchtigen, ungewollten Blick in den Spiegel an der Garderobe, dass sie alt geworden war.
Alt und müde.
Sie blieb stehen und betrachtete sich. In ihrem zerknitterten T-Shirt und der ausgebeulten Jogginghose sah sie genauso aus, wie sie sich fühlte.
Schlaff, leer und überflüssig.
Ihre Frisur tat ein Übriges. Seit dem Aufstehen hatte sie sich nicht gekämmt. Ihre blonden Haare standen in alle Richtungen.
Kurz überlegte sie, was die junge Kollegin wohl von ihr denken würde, wenn sie sie so sehen würde, aber es war ihr eigentlich auch egal.
Schließlich zwang sie sich weiterzugehen, drückte den Türöffner der Haustür und öffnete die Wohnungstür.
Dann ging sie zurück ins Wohnzimmer.
Sie wusste, dass es unhöflich war, ihren Besuch nicht vorne an der Wohnungstür zu empfangen, aber auch das war ihr egal.
Eigentlich war ihr der ganze Besuch egal.
Während sie wartete, bis ihre Besucherin die zwei Stockwerke zu ihrer Wohnung heraufgekommen war, stand sie am Fenster und schaute durch den Vorhang auf die jungen Blätter der Kastanienbäume an der Straße. Durch den Vorhang wirkten sie blass und milchig grün, als sei der Frühling dieses Jahr ausgeblieben.
Seit der Krankheit gab es keine Jahreszeiten mehr für sie. Ihr ganzes Leben schien ihr gleichförmig, gleichgültig, eben egal geworden zu sein.
Und vor allem ihre Arbeit und das Kriminalkommissariat waren so weit weg.
Aus dem Sabbatjahr nach Rolfs Tod war anschließend ein unbezahlter Langzeiturlaub geworden, den sie sich wegen des Erbes gut leisten konnte. Bekki war es, die sie andauernd drängte, endlich wieder ins Berufsleben einer Kriminalhauptkommissarin zurückzukehren. Aber Verena konnte sich nicht aufraffen. Ihr fehlte einfach die Kraft dazu.
Sie wusste, dass ihre Gefühlslage, ihre Lustlosigkeit, dieses Durcheinander in ihr, dass das alles nichts anderes als eine ausgewachsene Depression war. Und sie wusste ebenso, dass sie eigentlich etwas dagegen unternehmen musste. Sie brachte einfach nicht die Energie auf, endlich etwas dagegen zu tun.
»Guten Tag, Frau Göbel. Die Tür war offen. Da bin ich einfach …«, hörte Verena und wusste, dass die junge Kollegin nun hinter ihr in der Wohnzimmertür stand. Wenn sie sich jetzt umdrehen würde, würde dies der allererste direkte Kontakt zu einem fremden Menschen seit der Krankheit sein. Zu einem Menschen, den sie vorher noch nie gesehen hatte.
Langsam drehte sie sich um.
Vor ihr stand nun also Bekkis Praktikantin, die Kriminalkommissar-Anwärterin Mila Landenberger.
Mila lächelte sie freundlich an und schien etwas verlegen.
»Ich … also, die Tür war ja offen und da war ich so frei und bin einfach …« Die Praktikantin blickte sie etwas schüchtern an und schien zu spüren, dass sie nicht besonders willkommen zu sein schien, zumindest, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. »Ich habe die Wohnungstür wieder zugemacht.«
»Schon gut, setz dich.« Verena wollte diesen Besuch so schnell wie möglich hinter sich bringen. »Weshalb bist du gekommen? Was kann ich für dich tun?«
»Also, Bekki, ich meine Frau Schmid, schickt mich zu Ihnen. Sie hat gemeint, Sie würden … «
»Hör auf mit dem Sie, Mila! Mein Name ist Verena.«
Verena hörte sich selbst und merkte, wie unfreundlich und schroff sie wirkte. Eigentlich war unhöflich und schroff zu sein überhaupt nicht ihre Art. Das Vorgefallene und die lange Zeit der Einsamkeit mussten sie verändert haben.
Sie war geworden, wie sie eigentlich nie sein wollte.
Verena blickte die junge Kollegin an und nahm sich vor, sich zusammenzureißen.
»Entschuldigung«, meinte sie leise, drehte sich um und blickte wieder durch die Vorhänge auf die bleichgrünen Blätter der Straßenbäume. »Mir geht’s gerade nicht so gut. Was gibt’s also?«
»Ich komme wegen meiner Bachelorarbeit«, hörte sie Mila sagen. »Frau Schmid, ich meine Bekki, meinte, dass Sie …, dass du …«
»Falls du eine Mentorin suchst, dafür habe ich ehrlich gesagt überhaupt keinen Kopf«, unterbrach Verena und wandte sich der Praktikantin zu. »Außerdem, ich bin sowieso beurlaubt.«
Die Kommissar-Anwärterin stand immer noch in der Wohnzimmertür, hielt eine blaue Schreibmappe der Gewerkschaft und eine dicke Akte unter dem Arm geklemmt und schien ein wenig erschrocken.
»Oh, ich meine … nein, nein, nicht als Mentorin!« Mila hob abwinkend die freie rechte Hand. »Mentorin ist sowieso Frau Schmid, ich meine Bekki. Bekki meinte nur wegen meines Bachelorthemas … Sie hat gesagt, Sie hätten … ähm, du hättest da einen passenden alten Fall, über den …«
Verena beschloss, sich nun endgültig zusammenzureißen. Diese junge, engagierte Praktikantin konnte nichts dafür und dachte hauptsächlich an ihre Arbeit. Irgendwie erinnerte sie Mila an sich selbst, wie sie vor vielen Jahren einmal gewesen war. Als sie studiert hatte, war sie auch so wissbegierig, voll Tatendrang und meinte, sie könnte die Welt verändern.
»Setz dich!« Sie stellte erneut fest, wie unordentlich es in ihrem Wohnzimmer war, stellte die Tassen und Teller auf dem Wohnzimmertisch ineinander und trug sie zusammen mit zwei leeren Pizzaschachteln hinaus in die Küche. Sie sah beim Hinausgehen, dass Mila den alten, verwelkten Blumenstrauß wegstellte, damit sie Platz für ihre Schreibmappe und den Aktenordner hatte. Braune, vertrocknete Blätter fielen auf die mit Krümeln übersäte Tischplatte.
»Hätten Sie … ähm … hättest du mir vielleicht einen feuchten Lappen?«, rief Mila ihr hinterher.
Okay, du hast recht, dachte Verena. Ich sollte tatsächlich ein bisschen aufräumen.
»Sorry«, sagte sie, als sie zurückgekommen war und mit dem Lappen den Tisch säuberte. »Wie gesagt, mir geht’s grad nicht so gut und …«
»Schon gut«, erwiderte Mila. »Bekki hat so etwas angedeutet. Wenn ich ungelegen gekommen sein sollte, können wir das auch gerne noch mal verschieben.«
»Nein, ist schon okay.« Verena fühlte plötzlich so etwas wie Verlegenheit. Sie wusste, die junge Praktikantin wollte in Wirklichkeit alles andere, als diesen Termin zu verschieben. Sie kam zu ihr voller Elan, tipptopp geschminkt, gut vorbereitet und mit einer Idee, um in ihrem Studium voranzukommen. Und sie, die depressive Verena, behandelte sie wie irgendeinen Vorwerk-Vertreter. »Ich weiß, ich benehme mich unmöglich – tut mir leid, Mila«, brach es aus Verena, ohne dass sie das zu sagen eigentlich gewollt hätte. »Ich versuche, nein ich verspreche, mich zu benehmen.«
Sie setzte sich jetzt aufrecht auf das Sofa und blickte Mila an.
»Schieß’ los, wie kann ich dir helfen?«
Mila schlug ihre Schreibmappe auf, zog einen Kugelschreiber aus der Innenseite, nahm ihn schreibbereit in ihre linke Hand.
»Erzähl mir von deinem Fall Trojan«, sagte Mila. Erwartungsvoll geöffnete blaue Augen blickten Verena an.
Wieso denn das? Es steht doch alles in deinem Aktenordner, dachte Verena, aber bevor sie es aussprach, fiel ihr ein, dass sie versprochen hatte, freundlich zu sein. Also stand sie wieder auf, um zwei Gläser und eine Flasche Mineralwasser aus der Küche zu holen.
»Ich nehme an«, hakte sie im Hinausgehen nach, »du hast die Akte Trojan schon gelesen. Was könnte ich dir also noch Neues erzählen? Worum geht es denn in deiner Bachelorarbeit eigentlich?«
Mit Gläsern und Flasche kehrte sie zurück.
»Auch ein Glas?«
»Ja, danke«, erwiderte Mila.
»Es geht um die Qualität der ärztlichen Leichenschau«, Mila schien jetzt völlig in ihrem Metier. »Ich untersuche Fälle, in denen bei der Leichenschau etwas falsch gelaufen ist. Mir will nicht in den Kopf, dass es in Deutschland einer Studie der Uni Münster zufolge jedes Jahr mehr unentdeckte als entdeckte Tötungsdelikte geben soll. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: Auf 1.000 erkannte vorsätzliche Tötungen sollen 1.200 unerkannte Tötungen kommen. Und das ist angeblich sogar noch niedrig geschätzt.«
Mila kam weiter in Fahrt.
»Ist das nicht der Hammer?«
Sie blätterte in ihren Unterlagen.
»Der Arbeitstitel meiner Arbeit heißt Nicht-repräsentative Erhebungen zur Qualität der ärztlichen Leichenschau im Landkreis Reutlingen oder halt so ähnlich. Ich weiß es noch nicht genau. Ich mache jetzt erst einmal Grund und habe damit angefangen, mir alte Fälle vorzunehmen und mich durch die kriminologische Fachliteratur zu quälen.«
Verena füllte die Gläser.
»Und was hat der Fall Trojan damit zu tun?«, fragte Verena. »Damals kam doch heraus, dass es Mord war. Ging doch alles glatt, wenn ich mich recht erinnere.«
»Schon«, entgegnete Mila. »Aber aus den Zwischentönen in den Berichten, also quasi zwischen den Zeilen, lese ich, dass damals der Fall Trojan genauso gut als natürlicher Tod in die Geschichte hätte eingehen können. Du hast den Fall doch damals aufgerollt, oder nicht?«
»Schon … ich hatte damals Bereitschaft …«, murmelte Verena. »Damals gab es noch keinen Kriminaldauerdienst …«
Verena dachte an den verregneten, kühlen Abend, als sie im Bereitschaftsdienst daheim von der Leitstelle angerufen wurde, weil in einem Reutlinger Teilort im Keller von Angehörigen die Leiche der damals 78-jährigen Elvira Trojan gefunden wurde.
Damals war sie noch Kriminaloberkommissarin.
Und sie war damals noch motiviert – wie diese Mila heute.
Und sie war noch allein.
Noch …
Diese plötzlichen Gedanken an bessere Zeiten trafen sie immer wieder wie ein Keulenschlag.
Es gelang ihr, die Gedanken zu verscheuchen und sie fragte Mila, ohne sie anzublicken.
»… und was brauchst du jetzt genau von mir?«
»Mir geht es darum zu erfahren«, antwortete Mila, »wie du damals den Verdacht entwickelt hast, dass da etwas nicht stimmen könnte. Der Arzt hat ja wohl erst überlegt, einen natürlichen Tod zu attestieren …«
»Na ja, ganz so krass war das nicht«, entgegnete Verena. »Aber gut. Von vorne.«
Sie nahm einen Schluck Mineralwasser und erzählte.
Wieder tauchte in ihren Gedanken der kühle, nasse Novemberabend vor mehr als zehn Jahren auf.
»Ich wurde so gegen zehn, halb elf am Abend angerufen. Es hieß, im Keller liege eine tote Frau. Alles würde danach aussehen, dass sie die Kellertreppe heruntergefallen wäre. Eigentlich Alltag, Routine, möglicherweise nur ein häuslicher Unfall …«
Mila hakte nach.
»Aber das wäre dann doch ganz klar ein nicht natürlicher Tod, ein Unfall, bei dem der Arzt sowieso die Polizei rufen müsste, oder nicht?«
»Eigentlich schon«, pflichtete Verena bei. »Aber der Arzt dachte anfangs wohl, dass die Frau erst aus medizinischen Gründen zusammengeklappt und dann die Kellertreppe hinuntergestürzt wäre. Damit wäre seiner Meinung nach eigentlich auch eine medizinische Todesursache vorgelegen. Für ihn war das eher eine medizinische Frage. Er meinte, es könnte vielleicht ein Schlaganfall oder ein Herzinfarkt oder so etwas in der Art gewesen sein. Nur, weil er diese Krankheiten nicht sicher unterscheiden konnte, hat er letztlich dann doch irgendwann die Polizei gerufen. Der Treppensturz wäre für ihn nur die Folge einer medizinischen Ursache.«
Verena nahm einen Schluck Mineralwasser, musste dann unwillkürlich schmunzeln und meinte weiter:
»Mir fällt gerade noch ein, vor dem Haus warteten zwei Kollegen vom Revier, um mich in die Örtlichkeit einzuweisen. Von dem einen Kollegen wurde ich damals sogar noch gefragt: ›Wie willst du das denn unterscheiden – Stolpern, Schlaganfall oder Herzinfarkt?‹ Ich habe noch geantwortet, dass mir das eigentlich egal wäre – ›Hauptsache, der Erbschleicher war da nicht im Spiel‹, habe ich noch geantwortet.«
»Krass. Aber genau so wars ja dann auch.« Mila wollte mehr erfahren und fragte gespannt: »Jetzt erzähl mal, wie bist du darauf gekommen? Ab wann wurdest du stutzig, ab wann ahntest du, dass da irgendetwas nicht stimmte?«
»Zunächst haben wir uns wie immer in Ruhe die Leiche angeschaut«, antwortete Verena. »Keine Voreingenommenheit – das weißt du ja schon.« Der Praktikantin hatte man sicher schon beigebracht, immer völlig neutral an Leichensachen heranzugehen. »Die Frau lag im Kellerflur auf dem Rücken. So hatte sie der Rettungsdienst, den die Leitstelle wie üblich sicherheitshalber geschickt hatte, liegen lassen. Der Notarzt hat nur den Tod festgestellt und das Rote Kreuz ist abgerückt, bevor ich eingetroffen bin.«
Verena erinnerte sich nun noch genauer und erzählte weiter.
»Ursprünglich soll die Frau laut Notarzt auf der Kellertreppe ganz unten gelegen sein, und zwar kopfüber mit dem Gesicht nach unten. Ihr Kopf war komplett blutgestaut. Als wir den Kopf untersucht haben, fanden wir dezente Verletzungen, die auf den ersten Blick seltsam aussahen, was einen Treppensturz anging. Verletzungen, die wir uns nicht so richtig erklären konnten. Schwer zu beurteilen bei einem Treppensturz und dem massiven Blutstau im Kopf … sie soll ja wie gesagt kopfüber nach unten aufgefunden worden sein. Ohne Obduktion war das kaum zu unterscheiden. Also …«
»Volles Programm …«, ergänzte Mila.
»Ja, zumindest mal an der Leiche«, fuhr Verena fort. »Fotodokumentation, Abtasten, Entkleiden, Rektaltemperatur und so weiter. Der Kriminaltechniker, der mit mir im Einsatz war, arbeitete sehr gründlich und machte alles richtig. Alles, was notwendig war, wurde gesichert. Wie gesagt, es war klar, dass wir zur Klärung der genauen Todesursache beim Staatsanwalt eine Obduktion anregen würden. Dass da was oberfaul war, ahnte ich aber erst nach dem Gespräch mit den Angehörigen.«
»Die Sache mit dem Tresor?«, fragte Mila, die von ihren Notizen aufblickte.
»Stimmt. Ich fragte den Sohn, der die Leiche seiner Mutter gefunden hatte, routinemäßig, ob alle Wertsachen vorhanden wären oder ob irgendetwas fehlte. Er meinte daraufhin, dass er den Tresorschlüssel nicht finden könnte. Wir suchten gemeinsam alle in Frage kommenden Stellen ab, aber der Schlüssel war weg.«
Verena trank einen Schluck und erzählte dann weiter.
»Der Sohn wollte sich am gleichen Tag nachmittags noch mit Elvira beim Weihnachtsmarkt treffen und seine Frau hätte deswegen gegen elf noch mit ihr telefoniert. Es ginge ihr nicht gut, hätte sie gesagt und das Treffen auf dem Weihnachtmarkt abgesagt. Das Telefonat sei aber – ihre Stimme – irgendwie komisch gewesen. Als ob irgendjemand bei ihr gewesen wäre.«
Verena schwieg eine Weile. Sie fühlte sich plötzlich wieder in das Haus von Elvira Trojan versetzt.
»Jetzt, wo ich dir alles so erzähle, ist mir, als wäre es gestern gewesen. Dann war da noch dieser Nachbar. Weißt du, Mila, es ist üblich, dass sich die Polizei bei der Familie und bei Nachbarn erkundigt und so versucht herauszufinden, wer die verstorbene Person zuletzt lebend gesehen hat und wann das gewesen ist.«
Mila nickte.
»Klar, um die Todeszeit einzugrenzen.«
»Stimmt«, fuhr Verena fort. »Im linken Haus meinte ein Bewohner bei dieser Nachbarschaftsbefragung, Elvira hätte noch Besuch gehabt. Gegen elf Uhr vormittags hätte sich irgendjemand winkend im Vorgarten von ihr verabschiedet. Das wäre dann ungefähr um die Zeit gewesen, als die Schwiegertochter mit ihr telefoniert hatte. Und als er genauer nachdachte, fiel ihm ein, dass Elvira bei diesem Abschied nicht zurückgewunken habe. Elvira stand wohl bei Besuchen sonst immer in der Tür und winkte. Diesmal aber nicht.«
Verena stellte ihr Glas ab und lehnte sich zurück. Sie sah Mila an.
»Bei solchen Dingen muss man genauer nachfragen. Und je genauer du nachfragst, umso mehr fällt den Leuten meistens ein.«
»Und?«, fragte Mila und blickte sie neugierig an.
»Bei noch genauerem Nachfragen«, erinnerte sich Verena, »wurde diesem Nachbarn dann erst richtig bewusst, dass er Elvira überhaupt nicht gesehen hatte. Er hatte nur den unbekannten Besucher gesehen, der gewunken hat, als ob Elvira an der Haustür stünde – aber da stand gar keine Elvira …«
»Der Täter!«, folgerte Mila. Sie schien ganz bei der Sache zu sein. »Bestimmt war sie zu dem Zeitpunkt schon tot!«
»Na ja, so klar war das anfangs natürlich noch nicht. Erst, als die Schwiegertochter murmelte – so, als würde sie laut nachdenken – ›der wird doch nicht … der wird doch nicht …‹ und ich vehement nachfragen musste, wen und was sie meinte, da kam der erste konkrete Hinweis auf Benno Trojan, den Enkel von Elvira. Übrigens nicht der Sohn des Leichenfinders, Elvira hatte mehrere Kinder. Die Tochter meinte, der Sohn ihres Bruders hätte Elvira schon einmal beklaut und hätte deswegen Hausverbot. Die Beschreibung des Nachbarn passte auf Benno und damit war klar, dass Benno am nächsten Morgen Besuch von uns bekommen würde.«
»Nicht sofort?«, fragte Mila.
»Wir haben uns das gut überlegt. Als wir mit dem Verdacht so weit waren, war es schon tief in der Nacht. Wenn wir jetzt den ›Buzzer‹ gedrückt, Alarm geschlagen und via Leitstelle die Kolleginnen und Kollegen aus dem Bett geworfen hätten, wäre nichts wirklich gewonnen gewesen. Du weißt ja, Durchsuchungen zur Nachtzeit haben besondere Anforderungen und bei Dunkelheit passieren mehr Fehler als zur Tageszeit. Wir sagten also nur der Leitstelle, dem damaligen Chef und dem Bereitschaftsstaatsanwalt Bescheid. Alle waren einverstanden, dass wir bis zum Morgen warten. Um sieben traf sich dann die ausgeschlafene Mannschaft zur Einweisung und zur Planung und Vorbereitung von Bennos Festnahme und Durchsuchung seiner Wohnung. Um zehn war er in Handschellen und um halb zwölf hatten wir sein Geständnis.«
Mila blätterte in der Akte.
»Stimmt. Ihr habt ja blutige Kleidung bei ihm gefunden und das Geld aus dem Tresor.«
Verena ergänzte:
»Ja, Benno Trojan hat sich widerstandlos festnehmen lassen. Er hatte seine Oma aufgesucht, um sie um Geld anzubetteln, weil er sich verzockt hatte. Als sie ihm nichts geben wollte, hat er sie zu Boden geschlagen, sich auf ihren Brustkorb gesetzt und gewartet, bis sie erstickt ist. Vermutlich hat er sie auch noch auf dem Boden liegend verprügelt, um zu erfahren, wo der Tresorschlüssel versteckt ist.«
»Oh Mann, wie brutal! Die eigene Oma zu verprügeln …« Mila schüttelte angewidert den Kopf.
»Als sie tot war«, fuhr Verena fort, »hat er die Leiche vom Wohnzimmer in den Flur gezerrt, sie auf den oberen Absatz der Kellertreppe gesetzt und dann hinuntergestoßen, damit es wie ein Treppensturz aussieht. «
»Wahnsinn. Lebenslänglich … bringt seine Oma um, wegen nicht einmal zweitausend Euro …«, sinnierte Mila und blätterte weiter in den Akten. »Wenn ihr nicht genauer hingeschaut und nachgebohrt hättet, hätte der Arzt vielleicht doch einen natürlichen Tod angekreuzt und …«
»Kann sein, glaub ich aber nicht«, unterbrach Verena sie. »Benno hat wahrscheinlich hauptsächlich versucht, der Polizei einen Unfall vorzutäuschen. Wahrscheinlich hätten sich die Angehörigen sowieso noch gemeldet, weil der Tresorschlüssel fehlte. Benno Trojan ist nicht die hellste Kerze auf der Torte. Er ist damals ein enorm großes Risiko eingegangen. Hätte er sie im Schlaf erstickt, dann wäre seine Chance, unentdeckt zu bleiben, vermutlich viel, viel größer gewesen.«
»Stimmt«, meinte Mila. »Das ist der Punkt. Den kriminologischen Studien zufolge ist bei betagten Menschen, die im Bett gefunden werden, die Wahrscheinlichkeit am größten, dass von den Ärzten bei der Leichenschau etwas übersehen wird. Genau darum geht es mir in meiner Bachelorarbeit.« Mila blickte auf. »Hattest du denn auch mal einen Fall, bei dem ein betagter Mensch in seinem Bett erstickt worden ist?«
»Nein, Mila, damit kann ich leider – oder besser zum Glück – nicht dienen«, antwortete Verena.
»Trotzdem vielen Dank, Verena. Das alles war für mich sehr aufschlussreich. Dein Fall ist ein guter Einstieg in mein Thema.«
»Na, dann bin ich mal gespannt, was du in unserem Bezirk so alles herausfindest«, meinte Verena.
Die Praktikantin Mila trank ihr Glas leer und stand auf, offenbar um zu gehen.
Verena war erstaunt, denn plötzlich fand sie es schade, dass ihr Gespräch nun zu Ende war und Mila gehen wollte. Sie glaubte fast, es hätte ihr gutgetan, noch weiter mit Mila reden zu können.
Aber gleichzeitig war sie jetzt auch wieder unendlich müde.
Verena mochte Mila und sie spürte, dass Mila sie ebenfalls mochte.
Mila sah sie an.
»Es wäre schön, wenn ich noch mehr von dir lernen könnte«, meinte sie. »Ich hoffe, es geht dir bald wieder besser und wir sehen uns mal im Kommissariat.«
»Mal sehen …«, antwortete Verena und blieb sitzen, als Mila aufstand und ihre Unterlagen einsammelte.
Sie verabschiedeten sich und Verena wartete, bis sie hörte, dass Mila die Wohnungstür geschlossen hatte.
Jetzt erst stand auch sie auf, ging ans Fenster und schob den Vorhang beiseite. Sie öffnete das Fenster und sog die frische Morgenluft ein. Durch die frühlingsgrünen Blätter der Straßenbäume hindurch schaute sie zu, wie Mila die Straße überquerte und Richtung Stadtmitte zum Kriminalkommissariat ging.
Fünf Tage später
Er hatte geduldig in seinem Škoda Fabia gesessen und gewartet. Immer wieder schaute er an den vom Straßenlicht fahl beleuchteten grauen Mauern hinauf, bis er sah, dass das Licht hinter dem Fenster im zweiten Stock ausging.
Noch eine Weile wartete er geduldig, um sicher zu sein, dass das Licht nicht wieder anging.
Henriette Melchior musste endlich erlöst werden. Sie war sterbenskrank, steinalt und litt an starken Schmerzen.
Er wartete noch einige Minuten.
Das Licht ging nicht wieder an.
Dann streifte er seine Handschuhe über und stieg aus.
Leise drückte er seine Fahrertür zu.
Er ging über die dunkle, leere Straße an der Haustür der Seniorenwohnanlage vorbei zu dem weiter unten gelegenen Nebeneingang der Garage. Die graue Stahltür war wie erwartet verschlossen.
Er schloss sie auf und bewegte sich langsam durch den Kellerflur ins Treppenhaus, von wo aus er in die Innenflure gelangte. Die Frau war in Wohnung 29, zweiter Stock, letzte Tür links – alles barrierefrei zu erreichen. Aber er nutzte nicht den Fahrstuhl, denn den Fahrstuhl hätte man vielleicht gehört.
Jetzt um diese Zeit, wenn alle schliefen, wenn alles ruhig war.
Er nahm das Treppenhaus nach oben.
Er hatte die guten Outdoorschuhe an, deren Sohlen so leise waren, dass ihn niemand hören konnte.
Schließlich stand er vor der Wohnungstür und lauschte.
Es war absolut ruhig.
Vorsichtig steckte er den Schlüssel ins Schloss, öffnete die breite, schwere Wohnungstür und trat ein.
Es roch nach alten Menschen.
Im trüben Licht, das von draußen durch die wenigen Rollladenschlitze ins Wohnzimmer schimmerte, fand er auf dem Wohnzimmersofa ein Kissen, das er mitnahm und das er später wieder dorthin zurücklegen würde. Im Schrank blinkte die Stand-by-LED des Fernsehers. Daneben leuchtete das große rote Licht des Hausnotrufs.
Er wusste, wo das Schlafzimmer war.
Im Bett fand er sie – wie erwartet – schlafend.
Er sah sie an.
Sie röchelte leise und schien zu träumen.
Diese Frau war schwerhörig, auch das wusste er. Sie litt an fortgeschrittener Demenz, hatte einen extrem krummen, äußerst schmerzhaften Rücken und konnte kaum noch gehen.
Ihre Angehörigen wohnten weiß Gott wo und wollten sie einfach ins Heim abschieben. Keiner kümmerte sich richtig um sie. Der Umzug ins Altersheim stand unmittelbar bevor. Dann wäre sie dem maroden System der völlig überlasteten Altenpflege hilflos ausgesetzt.
Davor musste man sie bewahren, sie vor diesem unmenschlichen, geldgeilen System schützen, das nur auf Gewinn ausgerichtet war.
Wie alle Menschen, so wollte auch diese Frau am liebsten zu Hause sterben, friedlich und schmerzfrei einschlafen und er würde dieser Frau ihren Wunsch erfüllen.
Es klappte problemlos.
Bevor er die Wohnung wieder verließ, schaute er sich noch um. Er fand nur wenig. Das Goldkettchen ließ er liegen. Im Portemonnaie waren einige kleinere Scheine. In einer Jacke im Flur fand er einen weiteren Geldbeutel mit etwas mehr als fünfhundert Euro und einem Führerschein.
Felix Melchior.
Wahrscheinlich der Enkel.
Wer weiß, dachte er, als er Geld und Führerschein einsteckte. Wer weiß, wann man einen solchen Führerschein mal gebrauchen könnte.
Und das Geld würde er wieder in die Schweiz bringen. Auf das Nummernkonto seines früheren Klienten Boris Jankowski, dessen Erbe er sozusagen seit acht Jahren »verwaltete«. Zudem lebte er sehr sparsam. Damit hatte sich mit den Jahren in der Schweiz ein erkleckliches Vermögen angesammelt.
Noch einmal ging er zu ihr zurück und betrachtete sie, wie sie dalag, als ob sie schlafen würde.
Friedlich.
So war es gut.
Er ging aus dem Zimmer.
Beim Hinausgehen drückte er den großen roten Knopf des Hausnotrufes. Noch vor der Wohnungstür hörte er die blecherne Stimme des Hausnotruf-Mitarbeiters, die mehrmals den Namen der Frau Melchior rief.
Er wusste, sie würde nicht antworten. Und er wusste, nachts würde es eine Weile dauern, bis jemand kam, um nachzusehen.
Ohne Eile ging er hinaus, den gleichen Weg, den er gekommen war, setzte er sich in seinen Škoda Fabia und wartete, bis der Krankenwagen eintraf.
Dann fuhr er los.
Er wusste auch: Ein Arzt würde später einen natürlichen Tod attestieren.
Wieder hatte er einen leidenden Menschen erlöst.
Er fühlte sich großartig.
Die grelle Nachmittagssonne drang durch die Fenster in Verenas Wohnung. Verena hatte nach Milas Besuch die Vorhänge offengelassen und überlegte, ob sie ganz auf die Vorhänge verzichten sollte. Sie saß an ihrem Esstisch und betrachtete gedankenverloren den Berg unerledigter Post vor sich, den sie nach Milas Besuch gestern bei ihrer Aufräumaktion zusammengetragen hatte.
Seit ein paar Tagen wartete sie auf eine Nachricht des mexikanischen Notariats, die sie aber immer noch nicht erhalten hatte. Rolfs Eltern hatten ihm in Yucatán, wohin sie vor Jahren ausgewandert waren, eine Finca hinterlassen.
Rolfs Finca sollte jetzt ihr gehören.
Was sollte sie mit einer Finca in Mexiko?
Dieser Papierkrieg zehrte nur an ihren Nerven und sie fühlte sich erschöpft von den Gedanken, die scheinbar unaufhörlich in ihrem Kopf kreisten.
Plötzlich durchbrach das Summen ihrer Gegensprechanlage die Stille. Obwohl sie den Postboten mit dem dringend erwarteten Einschreiben eigentlich erwartet hatte, zuckte sie unwillkürlich bei dem Geräusch zusammen.
»Was solls!«, sagte sie zu sich selbst und fürchtete sich fast davor, dass der unerwünschte Erbschein nun doch bei ihr angekommen war. Doch als sie die Tür öffnete, wurde ihre Erwartung rasch durch Verwunderung ersetzt.
Anstelle des Postboten stand ihre Kollegin Bekki vor der Tür, die sie mit einem strahlenden Lächeln begrüßte. Verena wusste, sie hätte sich eigentlich freuen müssen und es ärgerte sie, dass sie sicher sowohl überrascht als auch ein wenig enttäuscht wirkte, als sie ihre Freundin und langjährige Kollegin vor sich sah.
Bekki war über Verenas Körpersprache irritiert, aber sie kannte ihre Freundin gut genug, um zu wissen, dass etwas nicht stimmte.
»Hey Verena! Ist alles in Ordnung?«, fragte Bekki besorgt.
Verena versuchte, ihre Verwirrung über das Fehlen des Erbscheins beiseitezuschieben, aber ihre Miene verriet sie.
»Ähm, ja, alles in Ordnung, Bekki. Komm rein!«
Bekki betrat die Wohnung und schaute Verena mitfühlend an.
»Bist du sicher? Du wirkst irgendwie abwesend.«
Verena seufzte und gestand ihrer Freundin die Wahrheit.
»Ich habe auf ein Einschreiben gewartet, aber es ist nun doch noch nicht angekommen. Es ist nicht wichtig, aber ich muss irgendwann die Dinge, all das, was liegen geblieben ist, endlich mal sortieren. Und mit dem Erbschein aus Mexiko könnte ich das bürokratische Kapitel endlich schließen, alles andere bleibt eh, wie es ist … reines Chaos …«
Bekki legte eine Hand auf Verenas Schulter.
»Ich verstehe. Ich hoffe, der Erbschein kommt bald. Deswegen bin ich auch gekommen. Ich mache mir Sorgen um dich, Verena. Seit der Pandemie hat sich alles verändert. Die Sache mit Covid und der Wiedereingliederung im Büro … Unbezahlter Urlaub … das alles muss wirklich nicht einfach für dich sein.«
Verena nickte und fühlte, wie sich ihre innere Anspannung langsam löste.
»Ja, es ist nicht leicht. Ich habe das Wiedereingliederungsverfahren abgelehnt. Aber ich habe genug auf der hohen Kante. Ich komme zurecht und … ich weiß einfach nicht, ob ich schon wieder bereit bin, in den Job zurückzukehren.«
Bekki drückte Verenas Schulter sanft.
»Verena, ich mache mir echt Sorgen um dich. Ich glaube, da ist noch mehr als nur die Sache mit der Arbeit. Seit Rolf … nun ja, du hast dich stark zurückgezogen.«
Verena senkte den Blick und ihre Gedanken kehrten zurück zu den schmerzhaften Erinnerungen.
»Rolf …« Sie wurde leise, als sie an ihn dachte. »Er hat gegen Covid gekämpft und ich war bei ihm, als er wochenlang auf der Intensivstation um sein Leben rang. Es war so beängstigend und ich fühlte mich so … so hilflos … letztendlich haben wir den Kampf verloren.«