Elbfang - Nicole Wollschlaeger - E-Book + Hörbuch

Elbfang E-Book und Hörbuch

Nicole Wollschlaeger

4,5

Der Titel, der als Synchrobook® erhältlich ist, ermöglicht es Ihnen, jederzeit zwischen den Formaten E-Book und Hörbuch zu wechseln.
Beschreibung

»Hol över!«, hallt es durch die nächtliche Stille, als Moritz und Hanna bei einem romantischen Picknick an der Krückau sitzen. Gefährlich nah schippert eine unheimliche Gestalt an ihnen vorbei und jagt den beiden eine Höllenangst ein. Als die Kophusener Beamten Hauke Thomsen und Peter Brandt den scheinbar scherzhaften Vorfall untersuchen sollen, passt ihnen das gar nicht in den Kram. Schließlich müssen sie gerade ohne ihren Chef Philip Goldberg auskommen, der Kophusen fluchtartig verlassen hat. Notgedrungen beginnen die beiden Beamten ohne Goldberg mit ihren Ermittlungen und erkennen schon bald, dass sie es nicht mit einem Dummejungenstreich zu tun haben. Sondern mit einem Sensenmann aus Fleisch und Blut, der nur auf den richtigen Augenblick wartet, um sein erstes Todesurteil zu vollstrecken.

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Seitenzahl: 314

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Zeit:6 Std. 52 min

Sprecher:Nicole Wollschlaeger
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Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

spannend von Anfang bis Ende, Figuren sehr gut charakterisiert, hervorragend gesprochen
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Bei einem romantischen Picknick am Fluss will Moritz Hanna einen Heiratsantrag machen. Doch in dieser Nacht taucht auf der Krückau eine geheimnisvolle Gestalt in einem Boot auf, die seinen Plan durchkreuzt. Als das Paar der Polizei von dem nächtlichen Sensenmann berichtet, geben die zuständigen Kollegen den scheinbar albernen Fall an Hauke Thomsen und Peter Brandt ab. Und das ausgerechnet jetzt, wo Philip Goldberg, ihr Dienststellenleiter, seinen gesamten Jahresurlaub genommen und Kophusen Hals über Kopf verlassen hat.

Auf sich allein gestellt, entdecken sie wenig später einen mysteriösen Scheiterhaufen, der auf seinen Einsatz zu warten scheint, und im Fährverein werden zwei Männer vermisst. Bislang fehlt jede Spur von ihnen. Zufall oder gibt es da Zusammenhänge? Als sie kurz darauf zu einem brennenden Floß gerufen werden, stoßen sie auf einen Abschiedsbrief, der sie tiefer in das Rätsel um die verschwundenen Fährmänner führt, als ihnen lieb ist. Spätestens jetzt ist klar, dass sie sich einem Jäger gegenübersehen, der nach dem nächsten Opfer trachtet.

Nicole Wollschlaeger, 1974 in Pinneberg geboren, absolvierte zunächst eine Ausbildung zur Buchhändlerin. 2004 schloss sie ihr Schauspielstudium in Hamburg ab. Bis 2016 lieh sie ihre Stimme der Kinderbuchreihe Das magische Baumhaus und tourte mit ihren Lesungen durch ganz Deutschland. 2013 erschien ihr erster Roman Schatten über Nargon im Carlsen Verlag.

Mit ELBSCHULD startete 2016 die Krimireihe um das Kophusener Ermittler-Trio.

Ausführliche Informationen finden Sie

unter: www.nicolewollschlaeger.de

Der Titel ist auch als Paperback und Hörbuch erschienen.

Weitere Titel der Autorin:

ELBSCHULD

ELBSCHMERZ

ELBSPIEL

ELBGIFT

Schatten über Nargon

Für Dana und Willy Jungklas

»Sie wissen nicht, dass sie nur die Jagd und nicht die

Beute suchen.« Blaise Pascal

Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen und

an realen Schauplätzen. Doch bleiben die Geschehnisse reine

Fiktion. Alle Handlungen und Figuren sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht

gewollt und rein zufällig.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

1

Moritz küsste sie. Es war nicht das erste Mal, aber es fühlte sich beinahe so an. Sie kannten sich jetzt gut sechs Monate und er hatte sich mächtig ins Zeug gelegt, um sie für sich zu gewinnen. Nach fünf langen Jahren der Einsamkeit wollte er alles richtig machen und sie nicht verschrecken. Er hatte sich vorgenommen, sie ganz altmodisch zu umwerben. War es nicht das, was sich jede Frau wünschte? Ihre Zunge erwiderte sanft seine Bewegungen. Das Kribbeln in der Magengegend verstärkte sich. Dieses Gefühl hatte er vermisst. Es war ihm wie ein kleines Wunder vorgekommen, als er Hanna auf der Hochzeit seines Bruders Anfang Dezember kennengelernt hatte. Seitdem hatten sie viel zusammen unternommen. Höhepunkt sollte heute Abend dieses romantische Picknick werden. Direkt am Deich an dem Fähranleger Kronsnest. Es war eine für die Jahreszeit ungewöhnlich laue Nacht, die sanften Wellen der Krückau schwappten ans Ufer. Sie hatten es sich hinter dem Bauwagen gemütlich gemacht. Den braunen Holztisch mitsamt den Stühlen hatte er mit einem Meer aus Teelichtern geschmückt. Kurz, es war perfekt. Die Decke lag unter ihnen ausgebreitet. Moritz war gestern extra nach Elmshorn gefahren, um in dem exquisiten Feinkostladen einzukaufen. Aber es hatte sich gelohnt, der Champagner schmeckte ausgezeichnet und passte hervorragend zu den Delikatessen, die um sie herumdrapiert waren. Hanna war begeistert. Sie löste sich von seinen Lippen und streichelte ihm über die Wange.

»Das gefällt mir«, hauchte sie und küsste ihn erneut.

Moritz konnte sein Glück kaum fassen. Wieso hatte seine Schwägerin diese Frau so lange vor ihm versteckt?

»Nur für dich«, erwiderte er.

Ihr Lächeln setzte in ihm eine gewaltige Ladung Endorphine frei.

»Hier ist es wunderschön. Und dann dieses Essen, die Kerzen, das Wasser. So etwas hat noch nie jemand für mich gemacht.«

Hanna blickte auf den schmalen Fluss, auf dem sich das Mondlicht spiegelte. Eine glückliche Fügung, der Vollmond war goldwert. Moritz griff nach den Gläsern und reichte Hanna das ihre. Sie prosteten sich zu. Er nahm einen kräftigen Schluck. Für das, was er gleich sagen wollte, musste er sich ein wenig Mut antrinken. Sie bemerkte seine Nervosität und schaute ihn über den Rand ihrer Sektflöte an.

»Was ist los mit dir?«, fragte sie.

In diesen Lichtverhältnissen fand er sie noch schöner. Ihre helle Haut leuchtete, und ihre grünen Augen sahen ihn verschmitzt an. Das dunkle Haar schimmerte im Schein der Kerzen. Moritz biss sich auf die Unterlippe. Zu Hause hatte er den Text auswendig gelernt und hundertmal vor dem Spiegel geübt. Doch live vor Ort war alles anders. Die plötzliche Unsicherheit hielt ihn zurück. Seine Gedanken rasten. Die Angst, sie könne seinen Antrag ablehnen oder, schlimmer noch, ihn auslachen, ließ ihn zögern. Falls ihm diese Peinlichkeit nicht erspart bliebe, würde er vermutlich ins Wasser gehen. Es war Flut, das konnte klappen.

»Ich, ähm, wollte …«, begann er und brach ab.

Scheiße, war das schwer, dachte er. Wo war seine Schlagfertigkeit abgeblieben? Der Text, den er vorbereitet hatte, war verschwunden, sein Kopf wie leer gefegt. Komm schon, Mann, reiß dich zusammen, ermahnte er sich und begann von Neuem.

»Hanna, ich weiß, wir kennen uns noch nicht so lange, aber du bist die Frau, auf die ich mein ganzes Leben gewartet habe.« Er machte eine Pause und versuchte in ihrem Gesicht zu lesen. Sie sah ihn erwartungsvoll an. Keine Spur von Ablehnung. Also weiter im Text.

»Es mag dir vielleicht überstürzt vorkommen, aber ich bin felsenfest davon überzeugt, dass wir füreinander bestimmt sind.«

Er hielt ihrem Blick stand. Ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. Jetzt sag es, forderte er sich innerlich auf.

»Hanna«, er stockte.

Ihr Gesichtsausdruck hatte sich plötzlich verändert. Den Blick hatte sie von ihm gelöst und schaute geradeaus an ihm vorbei aufs Wasser. Ihre Nase kräuselte sich; das machte sie nur dann, wenn sie etwas nicht verstand. Zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine Falte.

»Was ist?«, fragte er, völlig aus dem Konzept gebracht.

Sie antwortete nicht. Stattdessen nickte sie stumm in Richtung Krückau. Moritz drehte sich um.

»Was zum Teufel …«

Seine Stimme versagte ihm den Dienst.

Die beiden starrten ungläubig flussaufwärts. Mitten auf der Krückau schwamm ein kleines Boot, etwa hundert Meter von ihnen entfernt. Beleuchtet von zwei Fackeln, die steuerbords festgemacht waren. An Bord konnte Moritz die Umrisse einer Gestalt ausmachen, die sich wie ein Gondoliere bewegte. Er musste an den Venedig-Urlaub mit seiner Ex-Freundin vor einigen Jahren denken. Allerdings waren die Männer weitaus weniger gespenstisch gekleidet gewesen als dieser hier. Hastig ergriff Moritz die Hand seiner Freundin.

»Komm, weg hier«, flüsterte er.

Geduckt schlichen sie am Bauwagen vorbei über das Kopfsteinpflaster. Moritz betete, dass sie nicht die Aufmerksamkeit der Schafe erregten und sie durch ihr Blöken entdeckt würden. Er verfluchte den Vollmond und das Meer aus Teelichtern. Was eben noch romantisch gewesen war, verursachte nun ein mulmiges Gefühl in ihm. Es war nicht so sehr das nächtliche Boot, das ihm Angst einjagte, sondern vielmehr die Person, die es führte. An dem alten Schuppen angekommen, drehte er sich um. Büsche versperrten ihm die Sicht.

»In Deckung«, sagte er.

Hanna ließ sich bereitwillig hinter dem Bretterhäuschen zu Boden drücken. In seinem Kopf herrschte Chaos. Er fragte sich, ob die Person sie bemerkt hatte, und wenn ja, konnte das für sie gefährlich werden? Plötzlich gellte ein Schrei durch die nächtliche Stille. Nein, kein Schrei, es war mehr ein Ruf, den Moritz nicht verstand. Er beugte sich vor und spähte zum Wasser. Das Boot war inzwischen deutlich näher gekommen. Es bewegte sich mit der Strömung Richtung Elbmündung.

»Sei vorsichtig!«, raunte Hanna neben ihm.

Moritz drückte ihre Hand zum Zeichen, dass er verstanden hatte. Er versuchte die Angst zu unterdrücken, sein Herz raste.

»Hol över.«

Erneut ertönte die Stimme, sie klang dunkel und tief. Moritz begriff, was die seltsame Gestalt von sich gab. Es war der traditionelle Ruf der Fährmänner, die zwischen Seester und Neuendorf übersetzten. Aber seines Wissens taten die das nie nachts. Moritz sah, wie sich der Mann auf dem Boot hinabbeugte. Was hatte er vor? Wollte er anlegen? Dann richtete sich die Gestalt wieder auf, in der Hand eine große Glocke. Das Läuten des Ungetüms zerriss die Stille und fuhr ihm in sämtliche Glieder. Vor Schreck wich er zurück. Hanna drückte seine Hand. Er legte seinen Arm um ihre Schulter und presste sie an sich. Die Glocke verstummte und der Mann begann zu rudern. Moritz meinte sich zu erinnern, dass es dafür einen Fachbegriff gab, aber er fiel ihm nicht ein.

Als das Boot die Höhe des Schuppens erreichte, drängten sie sich instinktiv dicht an die Bretterwand und hielten den Atem an. In Gedanken zählte Moritz bis zehn. Er lauschte dem Plätschern der Wellen. Wriggen, das war es, das Wort, wonach er eben gesucht hatte.

»Ist er vorbei?«, wisperte Hanna.

»Ich seh nach«, flüsterte er und löste sich behutsam von ihr. »Bleib du hier.«

Vorsichtig lugte er um die Ecke des Schuppens. Als die Luft rein war, schlich er auf allen vieren auf die andere Seite und spähte in Richtung Elbmündung. Das Boot glitt vorbei. Im Licht der Fackeln erhaschte er einen kurzen Blick auf das Profil der Gestalt, die gekonnt durch die Strömung wriggte. Das Gesicht wurde von einer Kapuze verdeckt. Der Fährmann trug einen schwarzen Umhang. Vom Körper des Mannes war nichts zu sehen. Selbst die Hände waren unter langen Ärmeln verborgen. Es sah gespenstisch aus, gerade so, als würde ein Geist an ihnen vorüberfahren. Moritz’ Blick fiel auf den weißen Schriftzug am Rand des Bootes, als die dunkle Stimme ihn erneut zusammenzucken ließ.

»Hol över.«

Wieder beugte sich der Mann hinab. Doch dieses Mal war es keine Glocke, die zum Vorschein kam. Über den Rand des Bootes ragte etwas, das Moritz unweigerlich an den Tod denken ließ. Nicht an den Tod als solchen, sondern den Tod als Person. Kurz flammte eine alte Erinnerung in ihm auf. Seine Lateinlehrerin hatte ein Faible für Mythologie gehabt. In einer Unterrichtsstunde hatte sie ihnen von Charon, dem Fährmann der Griechen, erzählt, der die Toten über den Fluss zum Eingang des Hades brachte. In dem Moment blitzte im flackernden Schein der Fackeln die Klinge auf. Als er die roten Flecken auf dem Blatt der Sense erblickte, brach Moritz der kalte Schweiß aus. Fassungslos starrte er dem Fährmann hinterher. Majestätisch trieb er die Krückau flussabwärts. Moritz fragte sich, ob er soeben einen Menschen getötet hatte oder ob das Ganze nur ein schlechter Scherz war. Aber was auch immer das hier sein mochte, diese Nacht würde er so schnell nicht vergessen.

2

»Ich bitte dich, ja? Ein Sensenmann in einem Boot. Die zwei haben zu viel getrunken, wenn du mich fragst.«

Polizeiobermeister Hauke Thomsen stand neben seinem älteren Kollegen Peter Brandt, die Hände in die Hüften gestemmt, und ließ den Blick über die Krückau schweifen.

»Ich gebe ja zu, es klingt ein bisschen verrückt, aber auf mich machten die beiden einen durchaus glaubwürdigen Eindruck«, erwiderte Peter.

Die Elmshorner Kollegen hatten heute Morgen darum gebeten, dass die zwei Polizisten sich um einen nächtlichen Vorfall kümmerten, da der Fähranleger Kronsnest im Kreis Steinburg und ganz in der Nähe von Kophusen lag. Außerdem wohnten die vermeintlichen Zeugen in Kophusen. Es war offensichtlich, dass die Elmshorner die Geschichte von Moritz Kath und Hanna Pohl nicht besonders ernst nahmen. Nach einem kurzen Besuch bei dem jungen Pärchen ahnten Hauke und Peter auch warum. Letzte Nacht hatten sich die beiden Turteltauben hier am Deich zu einem romantischen Picknick eingefunden. Moritz hatte vorgehabt, seiner Freundin einen außergewöhnlichen Heiratsantrag zu machen. Peter war gerührt gewesen, doch Hauke ließ das alles kalt.

Bei ihrem nächtlichen Tête-à-Tête wollten sie einen Mann in einer dunklen Kutte auf einem Boot gesehen haben. Und als wäre das nicht schon aberwitzig genug, sollte er eine blutige Sense dabeigehabt haben. Daraufhin hatte Moritz den Polizeinotruf gewählt, und die Kollegen aus Elmshorn waren hier rausgekommen, hatten allerdings nichts Sachdienliches gefunden. Was ’n Wunder. Weder ein Boot, noch einen Sensenmann. Um die Gegend abzusuchen, war es zu dunkel gewesen, also hatten sie die Personalien der beiden aufgenommen und waren wenig später unverrichteter Dinge wieder abgezogen.

»Wir hätten einen Bluttest machen sollen. Wenn es kein Alkohol war, haben die sich vielleicht einen Joint reingezogen. Da sieht man schon mal schräge Sachen.«

Hauke kassierte einen vorwurfsvollen Blick von Peter, der nicht nur sein Kollege, sondern auch sein bester Freund war. Hauke schnaubte, entschied sich aber, den Mund zu halten. An einem vernieselten Sonntag hatte er keine Lust auf eine endlose Diskussion. Die Sonne hatte sich hinter eine dicke Wolkenschicht zurückgezogen und erholte sich von ihrem Dauereinsatz der letzten Wochen. Der Wind pfiff ihnen um die Nase, was Haukes Laune nicht gerade steigerte. Jetzt waren sie schon über eine halbe Stunde hier und sahen den wenigen hartgesottenen Radfahrern dabei zu, wie sie sich in den winzigen Kahn quetschten und die paar Meter nach Seester übersetzen ließen. Es herrschte Ebbe. Man konnte praktisch zu Fuß rübergehen, was sicher schneller gewesen wäre, aber die angeblich kleinste Fähre Deutschlands war eine Attraktion. Mitsamt der Fahrradraststätte der Sööten Eck und dem Mini-Museum Stöpenkieker war das hier ein Highlight der Region.

»Komm, wir setzen über«, schlug Peter vor.

»Ist das dein Ernst?«

»Natürlich. Womöglich finden wir Spuren auf der anderen Seite.«

»Glaubst du, der Knabe hat einen Zettel mit einer mysteriösen Nachricht hinterlassen?«

Peter schüttelte den Kopf. »Wir haben den Deich auf dieser Seite abgesucht, und ich werde das der Vollständigkeit halber auch auf der anderen Seite tun. Ich lasse mir nicht nachsagen, dass ich schlampig ermittle.«

Sein Kollege machte eine bedeutungsschwangere Pause. Hauke ahnte, was jetzt kommen würde.

»Philip hätte das so gewollt.«

Natürlich vermisste Hauke ihren Dienststellenleiter auch, aber er musste das nicht ständig raushängen lassen. Die tiefen Seufzer und traurigen Blicke seines Kollegen gingen ihm auf die Nerven. Und zwar gewaltig.

»Ja, ist ja schon gut, du brauchst nicht gleich wieder diesen Hundeblick aufzusetzen.«

»Im Gegensatz zu dir zeige ich meine Gefühle und bin nicht so kalt wie ein Fisch.«

Jetzt wischte der sich doch tatsächlich eine Träne von der Wange. Nach dem Tod von Peters Freundin Henriette im letzten Frühjahr hatte es Hauke reichlich Zeit und Mühe gekostet, seinen alten Freund wieder aufzurichten. Irgendwann hatte er aufgehört zu zählen, wie oft sie in der Gaststätte seiner Schwester Rosi gehockt und geredet hatten. Nachdem der Fall abgeschlossen war, war Peter in ein tiefes Loch gefallen. Und als er einigermaßen wieder auf dem Damm gewesen war, folgte die Sache mit Philip. Seitdem war Peter ein Trauerkloß. Kein Vergnügen. Für keinen von beiden.

Hauke verbot sich das Augenrollen, das hinter seiner Stirn lauerte. Es wurde wirklich Zeit, dass sich die Lage wieder normalisierte. Er hatte nicht die geringste Lust, länger auf rohen Eiern zu laufen und auf nett und verständnisvoll zu machen.

»Na gut, dann schauen wir uns da um. Aber danach fahren wir zurück. Ich kann keine ergonomisch geformten Fahrradhelme mehr sehen.«

Er setzte sich auf eine der Bänke am Ufer und wartete, dass der Fährkahn anlegte. Peter blieb demonstrativ stehen und starrte aufs Wasser. Bei ihrer kleinen Inspektion vor Ort hatten sie nichts entdeckt, was auf einen nächtlichen Sensenmann hindeutete, der über die Krückau schipperte und mit einem Hol över auf den Geisterlippen die Leute verschreckte. Ganz zu schweigen von einer riesigen Glocke und einer blutüberströmten Sense. Weder auf dem Deich noch am grün gestrichenen Bauwagen, der ein wenig abseits des Fähranlegers stand. Warum sollten sie auch? Außer einer leeren Flasche Wein, die vermutlich ihr liebestolles Pärchen vergessen hatte. Hauke war heilfroh, dass er gestern keine Bereitschaft gehabt hatten, sonst hätte man nämlich ihn wegen so eines Schwachsinns aus dem Bett geholt. Nachts war es hier stockfinster, dieser Einsatz wäre so nützlich wie eine Gürtelrose gewesen. Selbst bei Tageslicht war das hier pure Zeitverschwendung.

Der Kahn erreichte das Steinufer, und mit vereinten Kräften halfen die beiden Fährmänner zwei älteren Damen mitsamt ihren Elektrorädern aus dem niedrigen Gefährt heraus. Der Fährmeister, der am Riemen stand, trug traditionell ein weißes Hemd und Weste. Lustlos erhob sich Hauke und stapfte auf das Boot zu. Peter saß bereits, als er fluchend das wacklige Ding bestieg. Was zur Hölle tat er hier bloß? Hauke verstand nicht, was die Leute an dieser sogenannten Attraktion fanden. Ein Boot, ein Fluss, ein Deich. Mehr war das nicht. Aber gut. Zehn Minuten später erreichten sie das andere Ufer. Auch hier standen freiwillige Helfer bereit und reichten ihnen eine Hand. Bei Ebbe war es gar nicht so leicht, das Boot den Anleger hinaufzubugsieren. Peter stieg als Erster aus und steuerte den Pavillon links vor ihnen an. Hauke erhob sich stöhnend. Hastig sprang er aus dem schwankenden Kahn. So ein Mistding, dachte er und folgte seinem Kollegen.

Wie erwartet fanden sie nichts, was ihr polizeiliches Interesse weckte. Keine Sense, keine schwarze Kutte und natürlich kein Boot, das versteckt unter einer Decke an Land lag und auf den nächsten Einsatz wartete.

»Hab ich es dir nicht gesagt?«

»Du nervst.« Peter stapfte einige Schritte den Pfad hinauf Richtung Deich.

Hauke blieb stehen und schaute auf die andere Seite. Er musste an Sophie denken. Einmal war er mit ihr hier gewesen. Doch es hatte ihr nicht gefallen. Hilke, seine Ex-Frau, dagegen hatte es hier geliebt, besonders die Suppen im Sööten Eck. Warum hatte er bloß immer Pech mit den Frauen? Sophie hatte ihn eiskalt abserviert und Hilke war nach Hamburg abgehauen. Vielleicht sollte er Kophusen auch den Rücken kehren. Er lebte hier schon sein ganzes Leben, das waren immerhin fast fünfzig Jahre. So viel Zeit, die er hatte verstreichen lassen ohne nennenswerte Erfolge. Keine Frau, keine Kinder, nicht einmal eine Karriere konnte er vorweisen. Wenigstens ein Haus hatte er gekauft. Aber ohne die dazugehörige Familie zählte das nicht viel, fand er.

»Hauke, komm mal her.«

Peters Ruf ließ ihn zusammenzucken. Er kannte diesen Tonfall. Zähneknirschend wandte er sich um. Sein Kollege stand so ziemlich am Ende des Weges, der den Deich hinaufführte, und winkte hektisch. Das hieß nichts Gutes.

»Beeil dich!«

Hauke setzte sich seufzend in Bewegung. Bei Peter angekommen, schwang der sich bereits über den Elektrozaun vor ihnen.

»Da«, sagte Peter und deutete auf die Wiese, die sich entlang des Deiches erstreckte.

»Was soll das? Wo zum Teufel willst du hin?«

»Siehst du das denn nicht?«

Haukes Blick folgte Peters Arm. »Da liegt ein Haufen Holz, na und?«

Augenrollend gab er seinen Widerstand auf. Sein übereifriger Kollege hatte die Fährte aufgenommen und ließ sich nicht davon abbringen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich auf dieses dämliche Spiel einzulassen. Mit einer unwirschen Bewegung hob er sein rechtes Bein an und hangelte sich vorsichtig über die elektrisch geladene Schnur auf die andere Seite. Wenn seinen kostbaren Juwelen hier irgendetwas passierte, konnte sich Peter warm anziehen. Auf dem unebenen Grund ragten überall riesige Büschel Gras und Schilf hervor. Er musste aufpassen, nicht darüber zu stolpern. Peter war etwa fünfzig Meter entfernt stehen geblieben. Als Hauke ihn erreicht hatte, präsentierte sein Kollege ihm seinen Fund, als wäre er soeben auf außerirdisches Leben gestoßen. Aus der Nähe betrachtet sah es tatsächlich etwas seltsam aus. Erst hatte Hauke angenommen, dass jemand den Holzschnitt der umliegenden Bäume und Sträucher einfach angehäuft und vergessen hatte. Vom Weg aus sah es wie einer dieser stinknormalen Holzhaufen aus, die im Frühjahr zu Dutzenden auf den Wiesen zu finden waren. Doch nun musste Hauke zugeben, dass es nicht ganz so harmlos wirkte. Der einzelne Holzbalken, der aus der Mitte ragte, war mit einigen Ästen verdeckt worden. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn.

»Ich denke, wir haben einen neuen Fall«, sagte Peter.

»Das kann alles Mögliche sein«, erwiderte Hauke halbherzig.

»Das ist ja wohl offensichtlich, dass dies ein Scheiterhaufen sein soll.«

»Diese Elbseite fällt gar nicht in unser Revier.«

»Dein Ernst?« Peter warf ihm einen missbilligenden Blick zu. »Warum ist das niemandem aufgefallen? Die Kollegen hätten doch was am Telefon gesagt, oder?«

»Schau dir das ganze Gestrüpp an. Da hat jemand sich alle Mühe gegeben, dass man es vom Deich aus nicht sofort sehen kann.«

»Ja. Der Besitzer war vielleicht noch gar nicht hier. Die Wiese wirkt auf mich nicht gerade bewirtschaftet.«

»Der weiß wahrscheinlich von nichts. Und von Weitem sieht es wie einer dieser unzähligen Holzhaufen aus. Wir sollten die Kollegen in Elmshorn verständigen. Das ist schließlich deren Sache.«

Hauke sah wie Peter ein Geistesblitz durchfuhr.

»Erinnerst du dich noch an die Vermisstenanzeige?«

»Was?«

»Vor zwei Monaten ungefähr. Der alte Fritz. Fritz Jessen aus Kophusen.«

»Was ist mit dem?«

»Der war Fährmann. Hier in Kronsnest. Da bin ich mir sicher.«

»Na und? Was hat das hiermit zu tun?«

»Das fragst du noch? Ein Sensenmann, der sich offensichtlich mit den Gepflogenheiten und dem Boot auskennt, und ein vermisster Fährmann? Na, klingelt was bei dir?«

Hauke seufzte. Seine Bemühungen, die polizeilichen Zuständigkeiten zu wahren, würden ins Leere laufen. Peter hatte Witterung aufgenommen und ließ sich nicht mehr abhalten. Dieses Gebilde vor ihnen bedeutete jede Menge Arbeit und vermutlich wieder einen abgedrehten Fall, der sie Tage, wenn nicht Wochen auf Trab hielt. Warum wollte er Kophusen noch gleich verlassen? Weil es ihm zu langweilig war? Von wegen. Hätte dieser Verrückte nicht warten können? Ausgerechnet jetzt, wo sie ohne Dienststellenleiter waren. Schöne Scheiße, dachte Hauke und wünschte sich für einen kurzen Moment, der Sensenmann würde ihn heute Nacht erwischen.

3

Liebe Judith,

nun habe ich Dir unzählige Briefe geschrieben und bisher keinen einzigen abgeschickt. Vielleicht wird es mit diesem anders sein.

Mich haben unsere Treffen gründlich durcheinandergebracht, und es ist schwierig, das in angemessenen Worten auszudrücken. Die Tatsache, dass ich einen winzigen Augenblick nicht aufgepasst habe, werde ich mein Leben lang bereuen, doch ich kann es nicht rückgängig machen. Ich weiß, dass ich Dir damit das Wertvollste auf der Welt genommen habe, und auch das wird mir für immer unendlich leidtun. Muriel war wie meine eigene Tochter und genauso habe ich sie geliebt. Natürlich bist Du die leibliche Mutter und damit ist Dein Schmerz ungleich größer und tiefer. Ich habe nicht gewollt, dass es passiert, und doch ist es geschehen. Die Bilder verfolgen mich bis in die Nacht und spielen sich wieder und wieder vor meinen Augen ab, ohne dass ich darauf Einfluss hätte. Vermutlich werden sie ewig bleiben. Aber damit komme ich zurecht, ich habe gelernt, die Schuld anzunehmen und sie zu tragen. Wenn es stimmt, dass alles aus einem bestimmten Grund geschieht, weiß ich immer noch nicht, warum es ausgerechnet uns getroffen hat. Vielleicht waren wir zu glücklich, zu stark? Oder halten wir dieses Unglück einfach nur besser aus als andere?

Wenn man bedenkt, wie es Dir jetzt geht im Vergleich zu vor fünf Jahren, bin ich erstaunt und freue mich darüber. Die Zeit, die wir in den letzten Wochen zusammen verbracht haben, hat mir vor Augen geführt, wie nah wir uns einmal standen und wie groß die Liebe war und immer noch ist. Ich habe mich auf dieses Experiment eingelassen, weil ich hoffte, Klarheit über meine Gefühle zu bekommen. Und weil ich glaubte, Dir helfen zu können. Allerdings wird die Situation zunehmend verwirrender für mich.

Dich wiederzusehen hat in mir die Sehnsucht nach unserem früheren Leben geweckt. Sehnsucht nach Dir. Nach Muriel. Ich wünsche mir plötzlich die Vergangenheit zurück. Dabei war ich hier glücklich. In Kophusen. Mit Magda. Doch nun ist alles anders.

4

Die Entdeckung des Scheiterhaufens hatte Peter bis in die kleinste Faser seines Körpers alarmiert. Es gab einen Menschen, der verkleidet als Tod nachts auf ihren Flüssen herumschipperte. Und, allem Anschein nach, einen getarnten Scheiterhaufen, von dem Peter hoffte, dass es nur ein schlechter Scherz war. Sie mussten so schnell wie möglich herausfinden, was hinter dieser Sache steckte. Sobald Peter am Rechner auf der Wache saß, hatte er sich mit dem Fährverein in Verbindung gesetzt und sich sämtliche Namen und Kontaktdaten der Mitglieder geben lassen. Insgesamt waren es dreiundvierzig, wovon neun als aktive Fährmänner über die Krückau wriggten. Frauen gab es gegenwärtig nicht im Team. Peter hatte nie so richtig verstanden, dass man für diesen kleinen Kahn einen Fährführerschein haben musste, den man nur bei erfolgreich abgelegter Prüfung ausgehändigt bekam. Moritz hatte ausgesagt, dass der Sensenmann sehr versiert in seinen Bewegungen schien. Auch wenn er in der Dunkelheit nicht viel erkannt hatte, so glaubte er, dass der Mann im Wriggen ausgebildet sein musste. Meistens wriggten die Fährmänner den Kahn über die Krückau, was im Grunde so funktionierte wie das Gondolieren in Venedig. Das Staken diente dazu, das Boot in Schwung zu bringen, und das Gieren, um gegen die Strömung ans andere Ufer zu treiben. Peter hatte sich das vor etlichen Jahren einmal zeigen lassen, weil er mit dem Gedanken gespielt hatte, auch einer von ihnen zu werden. Aber aufgrund seiner wechselnden Dienstzeiten hatte er davon Abstand genommen.

Ihr nächtlicher Fährmann musste diese Technik beherrschen, sonst würde er es kaum über den Fluss schaffen. Das schränkte ihren Täterkreis beträchtlich ein. Trotzdem war es möglich, dass sich jemand das alles selbst angeeignet hatte und gar keinen Fährführerschein besaß. Peter musste zugeben, dass das die wahrscheinlichere Variante darstellte. Er konnte sich kaum vorstellen, dass ein Mitglied des Fährvereins nachts als Sensenmann verkleidet auf der Krückau herumgeisterte. Es sei denn, er wollte Aufsehen erregen und damit die Besucherzahlen steigern. Peter musste an Arno Menzinger denken. Der Mann hatte genau das getan, um seine Inszenierung des Kophusener Jedermanns in die Presse zu bringen. Peter schüttelte den Gedanken ab und betrachtete die Namen auf der Liste.

Fritz Jessen stand auch drauf. Allerdings galt er als passives Mitglied. Nicht etwa weil er vermisst wurde, sondern aufgrund seines Alters nicht mehr aktiv am Fährbetrieb teilnehmen konnte. So viel hatte man ihm bereits am Telefon sagen können. Einige von ihnen kannte er persönlich. Im Laufe seiner Dienstzeit hatte er sie kennengelernt und schloss sie im Geiste aus. Wobei er sie natürlich trotzdem überprüfen würde. Schließlich konnte man den Menschen nur vor die Stirn gucken. Er hatte sich schon einige Male getäuscht, mehr oder weniger schmerzhaft.

»Und?«, fragte Hauke, der wie gewohnt ihm gegenüber am Schreibtisch saß. »Dein Jessen dabei?«

»Ja. Volltreffer.«

»Du glaubst doch nicht, dass der alte Knacker nachts über die Krückau schippert? Der ist vermutlich längst Fischfutter.«

»Es geht nicht darum, was wir glauben, Hauke. Es geht darum, alle Eventualitäten auszuschließen.«

»Die letzten Monate waren so schön ruhig, und jetzt diese Scheiße.«

»Hör auf zu meckern und hilf mir lieber.«

»Ja, dann gib schon her.«

Peter notierte sich die Hälfte der Mitglieder auf seiner Schreibtischunterlage und strich die entsprechenden Namen auf der Liste durch.

»Hier.« Er reichte sie Hauke.

»Was ist, wenn unsere beiden Turteltauben sich das Ganze nur ausgedacht haben?«

»Und den Scheiterhaufen? Den haben sie selbst gebaut?«

Hauke verzog das Gesicht und vertiefte sich schweigend in die Namen vor ihm. Peter tat es ihm gleich und tippte sie nacheinander zuerst in das polizeiinterne System ein und dann in die ökologische Suchmaschine Ecosia, um nebenbei noch ein paar Bäume zu pflanzen. Doch es war hoffnungslos. Er fand nichts, das sie in irgendeiner Form weitergebracht hätte. Nachdem er ungefähr die Hälfte der Liste abgearbeitet hatte, brauchte er eine Pause. Er nahm sich einen Haferkeks vom Teller und rief die Akte Fritz Jessen auf. Es fühlte sich an, als wäre das bereits eine Ewigkeit her, dabei waren es gerade mal zwei Monate. Nach der Suchaktion in Kophusen und der Nordoer Heide waren die Ermittlungen auf Eis gelegt worden. Seitdem hatten sich keine neuen Hinweise ergeben. Der Mann blieb spurlos verschwunden. Haukes Seufzer riss ihn aus der Konzentration.

»Willst du auch noch?«, fragte er und erhob sich vom Stuhl.

Peter schüttelte den Kopf. Er hatte genug Kaffee für heute getrunken. Wehmütig sah er zum Tresen hinüber. Philips Stammplatz war leer. Die letzte Zeit war eine Herausforderung für Peter gewesen. Henriettes Tod hatte ihm schwer zugesetzt. Ohne Hauke und dessen Familie hätte er sich bestimmt immer noch in seinem leeren Haus verkrochen und würde sich überlegen, wie er sich am besten umbrachte. So viele Trennungen in Folge hauten selbst den fröhlichsten Mann um.

Hauke kam aus der Küche zurück und ließ sich wieder auf den Schreibtischstuhl fallen, den Kaffeebecher vor sich.

»Das bringt doch nichts«, unterbrach Hauke die Stille.

»Ich habe mir Jessens Akte noch mal angesehen. Lydia, seine Frau, hat ihn am achtundzwanzigsten Februar diesen Jahres als vermisst gemeldet. Die Kripo hat danach eine groß angelegte Suchaktion in der Nordoer Heide veranlasst.«

»Ja, ich erinnere mich. Die haben ganz schön aufgefahren. So einen Einsatz hat Kremperheide wahrscheinlich noch nie gesehen.«

»Ich finde, die haben das richtig gemacht. Jessen war schließlich alt und auf Medikamente angewiesen. Wenn das keine Gefahr für Leib und Leben ist, was dann?«

»Ich sage dir, der ist beim Angeln in die Deckmannsche Kuhle gefallen.«

»Die Taucher haben aber nichts gefunden.«

»Den Fischen hat es bestimmt geschmeckt.«

Peter ignorierte Haukes geschmacklose Bemerkung. »Und was ist, wenn er unser Sensenmann ist?«

»Selbst wenn er noch leben würde, ist der Mann viel zu klapprig für so etwas. Oder glaubst du etwa an einen Zombie-Fährmann? Von den Toten auferstanden, um nachts sein Unwesen zu treiben?«

»Ach Quatsch. Aber merkwürdig ist das schon, findest du nicht?«, warf Peter ein.

»Ein dummer Zufall, mehr nicht.«

»Du weißt, was Philip immer sagt: Zufälle gibt es nicht.«

»Ja, ja.«

»Was würde er wohl jetzt tun?«

»Vor sich hinstarren oder seine Strichmännchen malen.«

Peter lächelte traurig. Wie hatte es nur so weit kommen können? Sie hatten nicht genug aufgepasst, die Anzeichen nicht ernst genommen. Wären sie aufmerksamer gewesen, hätten sie ihrem Chef möglicherweise helfen können. Am meisten tat ihm Magda leid. Schließlich wusste niemand besser als er, wie es sich anfühlte, allein gelassen zu werden. Marion, seine vor zehn Jahren verstorbene Frau, vermisste er immer noch schmerzlich. Er beschloss, Magda heute Abend anzurufen und sie auf ein Bier bei Rosi einzuladen. Abwechslung war jetzt genau das Richtige. Für ihn und für sie.

»Was ist eigentlich mit Zeugen?«, fragte Peter und zwang sich, zu ihrem Fall zurückzukehren.

Hauke sah ihn an. »Wen willst du denn bitte schön befragen? Die Schafe auf dem Deich?«

»Nein, ich dachte mehr an die Nachbarn rundherum. Die haben den nächtlichen Bootsmann vielleicht auch gesehen.«

»Das war mitten in der Nacht. Die sitzen doch nicht an ihren Fenstern und starren in die Dunkelheit hinaus.«

»Hast du herausgefunden, wem die Wiese gehört, auf dem der Scheiterhaufen steht?«

»Mutmaßlicher Scheiterhaufen, bitte, ja! Wenigstens einer von uns sollte sich um ein wenig Professionalität bemühen.« Hauke nahm einen Zettel vom Tisch und warf ihn Peter zu. »Da. Der Mann heißt Ulf Becker und wohnt in Kollmar.«

»Dann fahren wir da jetzt ganz professionell hin. Ich muss mal an die frische Luft.«

»Du?«

»Keine Widerrede. Immerhin bin ich der Dienstälteste hier.«

Hauke schnaubte demonstrativ. »Soll ich jetzt auch noch Chef zu dir sagen?«

»Nein, aber zur Abwechslung könntest du deine schlechte Laune mal an jemand anderem auslassen.«

Hauke blickte sich im Raum um. »Und an wem?«

»Hier, an der Pflanze, die ist eh schon hinüber.«

»Sehr witzig.«

Sie hatten Glück. Ulf Becker lag mit einer Grippe krank im Bett. Im Morgenmantel öffnete er ihnen die Tür.

»Ja?«, fragte er mit heiserer Stimme.

Peter zückte seinen Dienstausweis. Er stellte sich und Hauke kurz vor. Becker trat sichtlich erstaunt zur Seite und bat sie hinein. Das Innere des Hauses war schmucklos. Peter kam der Gedanke, dass er vermutlich als Junggeselle lebte. Viele Männer gaben sich keine Mühe mit ihrer Inneneinrichtung. Wobei Peter und sogar Hauke eine Ausnahme darstellten.

»Ist was passiert?«, fragte Becker, nachdem sie alle auf der abgewetzten Sofalandschaft Platz genommen hatten.

»Herr Becker, Sie besitzen ein Grundstück in Seester, ist das richtig?«, kam Hauke sofort zur Sache.

Der Mann nickte.

»Haben Sie es verpachtet?«

»Nein, im Moment nicht. Ich suche noch nach einem geeigneten Pächter. Der letzte Bauer hat seine Tiere verkauft und den Hof dichtgemacht. Die Wiese ist zu haben. Haben Sie Interesse?«

Die Beamten ignorierten seine Frage.

»Wann waren Sie das letzte Mal dort?«, wollte Hauke stattdessen wissen.

Während der Mann überlegte, musste Peter zugeben, dass sein Kollege sehr souverän wirkte. Er selbst konzentrierte sich lieber auf die Arbeit im Hintergrund und wühlte sich durch die Leben potenziell Verdächtiger. In Philips Abwesenheit konnte er Hauke allerdings schlecht allein auf Streife schicken oder wie hier Zeugen befragen lassen. Bei ihm konnte man sich ja nie sicher sein, was er anstellen würde.

»Neulich erst. Da hat sich einer für das Grundstück interessiert.«

»Wann war das genau?«

Ein plötzlicher Hustenanfall schüttelte Beckers Körper. Reflexartig wich Peter zurück, um sich aus der Gefahrenzone zu bringen.

»’tschuldigung«, sagte er, als er sich wieder beruhigt hatte. »Das muss letzte Woche Dienstag gewesen sein.«

»Wir brauchen den Namen und die Anschrift des Mannes«, erklärte Hauke.

»Was ist denn mit dem?«

»Ist Ihnen vergangene Woche etwas Seltsames an Ihrer Wiese aufgefallen?«, mischte sich Peter ein.

Ulf Becker runzelte die Stirn. »Was soll mir denn aufgefallen sein?« Er machte eine kurze Pause, doch als keiner der beiden Beamten antwortete, schüttelte er den Kopf. »Nein, alles war wie immer.«

Peter zog sein Smartphone aus der Tasche und wählte die Fotos des Scheiterhaufens aus.

»War das letzte Woche schon da?«

Becker blickte auf das Display. Seine Verwirrung schien echt zu sein.

»Was zum Henker ist das?«, rief er und unterdrückte einen Nieser.

»Vermutlich hat sich jemand einen Scherz erlaubt und dort einen Scheiterhaufen errichtet. Haben Sie eine Ahnung, wer das gewesen sein könnte?«, fragte Peter.

Beckers Miene veränderte sich. Angewidert sah er die beiden Polizisten an. Seine rote Nase war kein schöner Anblick.

»Ich kenne niemanden, der so etwas macht.«

Peters Telefon wanderte zurück in die Jackentasche seiner Uniform.

»Das war’s. Wir brauchen den Namen und die Anschrift des Mannes«, forderte Peter.

»Eine Anschrift habe ich nicht. Aber die Nummer müsste noch in meiner Anrufliste stehen. Moment, ich hole mein Handy.«

Sichtlich geschwächt stand er auf und verließ das Wohnzimmer.

»Dieser Mann fällt nicht in unseren Zuständigkeitsbereich. Genauso wenig wie dein mutmaßlicher Scheiterhaufen«, flüsterte Hauke und erhob sich aus dem Sofa.

Peter machte eine vage Geste, die Haukes Einwände wegwischen sollte. Ulf kam mit seinem Smartphone zurück.

»Hier, das müsste sie sein.« Er nannte die Ziffern einer Mobilfunknummer, die Peter in sein schmales Notizbuch schrieb. »Sein Name ist Sven Kranz.«

Auch den notierte sich Peter. »Hat er gesagt, wo er wohnt?«

Ulf dachte kurz nach. »Ich glaube, er kam aus der Nähe von Pinneberg.«

»Weshalb interessierte er sich für die Wiese?«, wollte Peter wissen.

»Er sagte, er hätte Schafe, die einen neuen Platz bräuchten.«

Peter schrieb die Nummer seines Diensthandys auf einen Zettel und händigte ihn Ulf aus. »Wenn Ihnen noch etwas einfällt oder Sie Hilfe brauchen, melden Sie sich bitte.«

Er wünschte Becker gute Besserung, bevor sie das Haus verließen und durch den ebenso schmucklosen Vorgarten zum Streifenwagen gingen. Kaum hatte Peter sich angeschnallt, fuhr Hauke auch schon los. Die Sonne hatte sich inzwischen ein paar Lücken in den Wolken erkämpft, aber sie blieb nicht lange. Schweigend legten sie den Weg zur Wache zurück. Peter spürte ein Kribbeln in seinem Nacken – ein untrügliches Zeichen, dass da irgendetwas faul war. Er würde Ulf Becker eingehend unter die Lupe nehmen. Der erste Eindruck konnte täuschen.

Kaum, dass sie die Polizeistation betreten hatten, machte sich Peter an die Arbeit, während Hauke frischen Kaffee aufsetzte. Der Mann war süchtig. Besonders, wenn er mal wieder das Rauchen aufgegeben hatte. Die erste Phase hatte er erfolgreich überstanden, aber das war ihm schon öfter gelungen. Peter griff nach dem Hörer und wählte Sven Kranz’ Nummer. Nach drei Freizeichen meldete sich eine Stimme.

»Kranz.«

Überrascht stellte Peter fest, dass es sich um eine Frau handelte. Für einen kurzen Moment war er irritiert.

»Ja, guten Tag. Ich wollte gerne mit Herrn Sven Kranz sprechen.«

»Wer ist denn da?«

»Entschuldigen Sie, hier spricht Peter Brandt, Polizei Kophusen. Ist Herr Kranz zu sprechen?«

Die Frau am anderen Ende schwieg einen Augenblick. Es war nicht unüblich, dass die Erwähnung der Polizei eine gewisse Verunsicherung auslöste, aber die Pause dauerte deutlich länger als erwartet.

»Sind Sie noch da?«, fragte Peter.

»Ja.«

Ihr unterdrückter Schluchzer war nicht zu überhören.

»Ist alles in Ordnung bei Ihnen?«

Kaum hatte er die Frage ausgesprochen, kam sie ihm dämlich vor. Offensichtlich war nicht alles in Ordnung. Die Frau am anderen Ende schniefte laut.

»Verzeihung, aber mein Mann liegt im Krankenhaus. Im Koma.«

Peter zuckte zusammen. Bevor er etwas erwidern konnte, redete sie weiter.

»Kümmern Sie sich nun doch um den versuchten Mord?«

»Mord?«, fragte Peter erstaunt.

»Niemand glaubt mir. Die Kripo hat die Ermittlungen eingestellt, weil sie von einem Unfall ausgeht. Aber ich weiß, dass das nicht stimmt. Jemand hat versucht, ihm etwas anzutun.«

Peter hörte, wie sie sich die Nase putzte.

»Frau Kranz, was halten Sie davon, wenn mein Kollege und ich bei Ihnen vorbeischauen?«

»Haben Sie den Fall denn neu aufgenommen?«, entgegnete sie.

»Nicht direkt, aber es gibt da eine Verbindung zu einem anderen Fall hier bei uns in Kophusen, das würden wir gerne mit Ihnen persönlich besprechen.«

Peter sah, wie Hauke das Gesicht zu einer Grimasse verzog. Die Einwände seines Kollegen ignorierend, verabredete er sich für den nächsten Vormittag mit Frau Kranz und legte den Hörer auf.

»Echt jetzt?«, fragte Hauke, der in der offenen Tür zur Pantryküche stand und schnaubte.

»Sven Kranz liegt im Koma.«

Haukes Gesicht veränderte sich. Das schien nun doch seinen Polizeiinstinkt zu wecken. Zum Glück, Peter hatte schon befürchtet, er müsste dieser Sache alleine nachgehen.

»Ach nee«, entfuhr es Hauke unvermittelt.

»Vielleicht war der Scheiterhaufen ja für Sven Kranz bestimmt?«

»Oder für unseren vermissten Fährmann.«

»Ja, oder für beide.«

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Liebe Judith,