Schatten über Nargon - Nicole Wollschlaeger - E-Book

Schatten über Nargon E-Book

Nicole Wollschlaeger

4,7

Beschreibung

Eigentlich wollte sich Daniel auf dem Jungsklo nur vor Matze und seiner Gang verstecken. Als jedoch plötzlich ein kleiner buckliger Mann namens Marvinius in der Toilettenkabine auftaucht, wartet eine ganz andere Herausforderung auf ihn: Marvinius nimmt ihn mit ins Land Nargon, wo Daniel die Kugel des Kummers zurückholen soll, die der teuflische Burbas Bittermund gestohlen hat. Ehe er sichs versieht, steckt Daniel mitten in einem haarsträubenden Abenteuer. Doch zumindest steht ihm mit Herrn Tasso ein ausgewachsener Drache zur Seite. Das ist schon mal ein Anfang

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Eigentlich wollte sich Daniel auf dem Jungsklo nur vor Matze und seiner Gang verstecken. Als jedoch plötzlich ein kleiner buckliger Mann namens Marvinius in der Toilettenkabine auftaucht, wartet eine ganz andere Herausforderung auf ihn: Marvinius nimmt ihn mit ins Land Nargon, wo Daniel die Kugel des Kummers zurückholen soll, die der teuflische Burbas Bittermund gestohlen hat. Ehe er sichs versieht, steckt Daniel mitten in einem haarsträubenden Abenteuer. Doch zumindest steht ihm mit Herrn Tasso ein ausgewachsener Drache zur Seite. Das ist schon mal ein Anfang.

Nicole Wollschlaeger, 1974 in Pinneberg geboren, absolvierte zunächst eine Ausbildung zur Buchhändlerin. 2004 schloss sie dann ihr Schauspielstudium in Hamburg ab. Bis 2016 lieh sie ihre Stimme der Kinderbuchreihe „Das magische Baumhaus“ und tourte mit ihren Lesungen durch ganz Deutschland. Bereits 2013 erschien „Schatten über Nargon“ im Carlsen Verlag.

Mit „ELBSCHULD“ startete 2016 die Krimireihe um das Ermittlertrio in Kophusen. Der zweite Band der Goldberg-Reihe „ELBSCHMERZ“ erschien 2017.

Ausführliche Informationen finden Sie unter:

www.nicolewollschlaeger.de

Dieser Titel ist auch als E-Book erschienen.

Weitere Titel der Autorin:

Aus der Goldberg-Krimireihe

ELBSCHULD

ELBSCHMERZ

Für alle, denen eine gefährliche Reise bevorsteht

...

Inhaltsverzeichnis

Nach Ihnen, Herr Schuler

Warum gerade ich?

Dies werden Ihre Begleiter sein

Es wird Zeit

Der Spiegel der Wahrheit

Die Sonne geht am Morgen auf

Sie sind Daniel Schuler

Riechen Sie das nicht?

Gestatten, Herr Gregor Granit

So, so

Teufelskerl

Auf sie

Was für eine nette Überraschung

Ein tolles Gefühl

Die Zeit heilt so manches

Wir sind da

Marangebirge

Ist das wahr?

Mein Eid

Ich laufe jetzt nicht weg

Ich bin Daniel Schuler

Nach Ihnen, Herr Schuler

Daniel schaute auf die Uhr. Noch zehn Minuten. Er versuchte, sich auf den Unterricht zu konzentrieren. Mathe war nicht gerade sein Lieblingsfach und er durfte nicht noch eine Fünf schreiben. Seine Versetzung war ohnehin schon gefährdet. Ohne die Hausaufgaben zu verstehen, schrieb er sie von der Tafel ab. Dann warf er Matze einen kurzen Blick zu und wusste, sie würden ihn nicht in Ruhe lassen. Nervös rutschte er auf seinem Stuhl hin und her.

»Ich möchte, dass ihr bis morgen die Aufgaben erledigt habt. Und nun ab mit euch in die Pause«, sagte Frau Siemer.

Eigentlich mochte Daniel seine Mathelehrerin, aber plötzlich hasste er sie. Frau Siemer hatte noch nie ihren Unterricht vorzeitig beendet. Was jetzt? Die Flure waren leer. So konnte Daniel unmöglich in der Masse seiner Mitschüler untertauchen. Boris war der schnellste Läufer der Schule, er würde ihn problemlos einholen. Die Wahrscheinlichkeit, dass er die Tür zum Jungsklo noch heil erreichte, war soeben dramatisch gesunken. Ebenso gut konnte er sich freiwillig auf den Boden legen und warten, bis sie sich auf ihn stürzten. Seine einzige Chance war es, als Erster aus dem Klassenzimmer zu kommen. Er warf seine Sachen in den Rucksack. Matze beobachtete ihn dabei und gab unauffällig ein Zeichen. Boris nickte grinsend. Daniel riss die Jacke vom Stuhl, warf sich den Rucksack über die rechte Schulter und rannte los.

»Hinterher«, rief Matze.

»Der entkommt uns nicht«, sagte Boris und nahm die Verfolgung auf.

Daniel rannte so schnell er konnte. Seine Angst trieb ihn zu Höchstleistungen an. Auf der Treppe nach unten, stolperte er. In Sekundenschnelle fing er seinen Sturz ab und erreichte den langen Flur. Noch ein paar Meter und er hatte es geschafft. Doch kurz vor der rettenden Tür holte Boris ihn ein. Er griff nach Daniels Arm und zog ihn zu Boden. Seine Knie schlugen mit solcher Wucht auf, dass er beinahe aufgeschrien hätte. Aber er biss sich auf die Zunge. Boris kniete auf seinem Rücken und drückte mit einer Hand Daniels Kopf auf den Boden.

»Na, du hast gedacht, du schaffst das, was?«, raunte er.

Daniel spürte den warmen Atem dicht an seinem Ohr. Er antwortete nicht. Das tat er nie. Stattdessen starrte er auf den grünen Linoleumboden. Er hatte keine Chance mehr. Er würde nie eine haben. Es stand fünf zu eins. Gegen solche Typen konnte man sich nicht wehren. Davon war Daniel überzeugt.

»Hab ihn, Matze«, brüllte Boris den anderen zu, die mit schnellen Schritten auf sie zukamen. Kurz vor ihm blieben sie stehen. Ihre abgewetzten Turnschuhe traten in sein Blickfeld. Einen Halbkreis bildend, bauten sie sich vor Daniel auf.

»Gut gemacht, Boris!«, sagte Matze.

»Was machen wir heute mit ihm?«, fragte Frank.

Matze grinste. So hatte er Daniel am liebsten. Ihnen völlig ausgeliefert und am Boden liegend. Er genoss den Anblick, während die anderen ihn erwartungsvoll ansahen. Matze drehte sich zu Frank.

»Du wartest hier und passt auf, dass uns keiner erwischt«, befahl er.

»Warum immer ich? Nie darf ich dabei sein«, protestierte Frank.

»Weil ich es sage!«, antwortete Matze schroff.

Frank verstummte augenblicklich. Er wusste, dass man sich Matzes Befehlen besser nicht widersetzte. Einmal hatte er es gewagt und sie hatten ihn eine Nacht lang an einen Baum im Park angebunden. Die Lektion hatte gesessen.

»Vielleicht hat er ja Lust auf einen kleinen Tauchgang«, überlegte Matze.

Seine Untergebenen sahen ihn fragend an. Keiner von ihnen begriff, was Matze vorhatte. Daniel aber begriff es sofort. Und anstatt sich zu wehren, schluckte er seinen Ekel und seine Angst erneut hinunter. Irgendwann hören sie auf, dachte er. Aber das sagte er sich schon seit einem Jahr. Seitdem er auf diese Schule gekommen war, redete er sich ein, dass sie irgendwann den Spaß daran verlieren würden. Anfangs war es harmlos gewesen. Ein dummer Spruch über seinen Vater, der als Hausmeister an der Schule arbeitete. Irgendwann fingen sie an, ihm das Pausenbrot zu stehlen. Plötzlich wollten sie sein Taschengeld haben. Und seit einigen Wochen taten sie ihm weh. Nicht etwa, weil er sich wehrte. Nein, weil es ihnen Spaß machte.

»Was hast du vor?«, fragte Olli.

»Mal sehen, wie lange Schuler die Luft anhalten kann«, antwortete Matze.

Boris kapierte es als Erster und grölte vor Lachen.

»Ja, cool!«, stimmte Frank mit ein.

Matze grinste, bis auch der Letzte lauthals in das Lachen einfiel. Daniels Ohren dröhnten. Dann spürte er, wie der Griff um seinen Arm fester wurde.

»Na los!«, rief Boris.

Er zog Daniel hoch und schubste ihn die paar Meter bis zum Klo und dann durch die Tür.

»Wartet hier«, befahl Matze und zog an ihnen vorbei.

Sie blieben gehorsam stehen und blickten ihrem Idol nach.

»Geile Idee«, rief Olli.

»Ja, echt geile Idee, Matze«, rief Timo zustimmend.

Ihr Anführer brummte nur. Schließlich hatte er nur gute Ideen. Deshalb war er ja der Kopf der Bande. Prüfend sah er in jede Kabine, um sicher zu gehen, dass keiner außer ihnen da war. Zeugen konnten sie nicht brauchen. Zwar hatten sie noch nie ernsthaft Ärger bekommen, aber Matze wollte es nicht darauf ankommen lassen. Die Lehrer ließen sie meistens in Ruhe und er wollte, dass das auch so blieb. Nur einmal hatte jeder von ihnen ein sogenanntes klärendes Gespräch über sich ergehen lassen müssen. Daniel hatte sich in seiner Not an den Vertrauenslehrer gewandt. Aber mehr als dieses Gespräch war nicht dabei rausgekommen. Es hatte ihnen sogar richtig Spaß gemacht, die Reumütigen zu spielen. Die Schwüre, die sie aufsagten, klangen in den Ohren des Vertrauenslehrers glaubwürdig und damit war die Sache für ihn erledigt gewesen. Nur für Daniel nicht.

»Die Luft ist rein. Los, bringt ihn her«, rief Matze.

Boris schubste Daniel in die Kabine. Alle anderen drängten sich durch die schmale Tür. Daniel wurde zu Boden gedrückt und fiel auf seine schmerzenden Knie.

»So, Schuler, dann halt mal die Luft an«, sagte Matze.

Die anderen lachten und feuerten ihren Anführer an. Daniel hatte gerade noch Zeit zum Luftholen, bevor er das kalte Nass in seinem Gesicht spürte. Sie drückten seinen Kopf tief unter Wasser und Boris zog an der Kette. Daniel hörte das dumpfe Rauschen der Spülung. Bei dem Gedanken an das Wasser, das gerade seinen Kopf umspülte, musste er würgen. Doch plötzlich riss Matze seinen Kopf wieder hoch.

»Los, weg hier!«, schrie er.

Daniel fiel zu Boden und schnappte nach Luft.

»Bis Morgen, Schuler«, sagte Matze und versetzte ihm zum Abschied einen Tritt in die Nieren. Dann liefen sie aus der Kabine.

Daniel blieb keuchend am Boden liegen. Mit den Händen wischte er sich das Wasser aus dem Gesicht. Was war passiert? Warum hatten sie so schnell von ihm abgelassen? Dann wurde es ihm klar. Er hörte, wie eine Tür ins Schloss fiel. Jemand war in die Toilette gekommen, deswegen waren sie so schnell abgehauen. Sein Atem beruhigte sich. Als er die Spülung nebenan rauschen hörte, rappelte er sich auf. Er schloss seine Tür von innen und ließ sich zurück auf den Boden sinken. Jetzt war er erst mal sicher. Mit einer Hand rieb er sich die Nieren. Es tat höllisch weh. Als er hörte, wie sein unbekannter Retter das Klo verließ, wollten ihm die Tränen in die Augen schießen, aber er zwang sich, nicht zu weinen.

»Scheiße«, flüsterte er.

Erleichtert vergrub er seinen Kopf in die Hände. Für den Moment war es vorbei und er wagte nicht, daran zu denken, was sie als Nächstes aushecken würden.

Ein plötzliches Geräusch ließ ihn aufhorchen. Daniel hob den Kopf und sah sich um. Er lauschte. Es klang wie ein Kratzen. Oder Moment, eher wie ein leises Klicken.

Der Boden fing an zu vibrieren. Daniel schoss hoch. Das Klicken wurde lauter. Was war das? Er presste sich an die Wand und starrte auf den Boden. Daniel traute seinen Augen nicht. Der Boden unter ihm bewegte sich. Es war, als würde er lebendig werden. Panisch versuchte er die Kabine zu verlassen, aber es war bereits zu spät. Er kam nicht mehr durch. Die Fliesen unter ihm bewegten sich nicht nur, sie verwandelten sich. Daniels Herz schlug ihm bis zum Hals. Was zum Teufel ging hier vor? Die Umrisse wurden deutlicher und Daniel erkannte eine Tür. Eine Tür im Boden. Direkt vor ihm.

Er schluckte trocken und wagte nicht zu atmen. Fassungslos starrte er auf die Tür. Sie sah so verdammt real aus. So selbstverständlich auf dem Boden dieser Toilette, als wäre sie schon immer dort gewesen. Sogar eine Klinke hatte sie. Da hatte jemand offensichtlich an alles gedacht. Aber sie war nicht nur sichtbar, sie bewegte sich auch noch. Daniel sah, wie die eiserne Klinke heruntergedrückt wurde, und mit einem Ruck öffnete sich die Tür.

»Ach, du Scheiße!«

Langsam schob sie sich vor ihm auf. Als sie bis zur Hälfte geöffnet war, blieb sie stehen. Daniel lauschte. Kein Geräusch. Nicht einmal Licht war zu sehen. Todesmutig beugte er sich zwei Millimeter vor und starrte in die Finsternis. Was um alles in der Welt sollte das? Wer kam durch eine Tür aus dem Toilettenboden?

»Herr Schuler?«

Erschrocken zog Daniel seinen Kopf zurück und donnerte gegen die Wand. »Aua!«

»Herr Schuler?«, rief die Stimme, dieses Mal etwas lauter.

Es gab keinen Zweifel. Irgendjemand redete mit ihm. Es gab auf dieser Toilette nicht viele, die Schuler mit Nachnamen hießen. Aber woher sollte dieser Jemand seinen Namen kennen?

»Herr Schuler, so antworten Sie doch bitte, wenn Sie dort sind!«

Die Stimme hallte, als käme sie von sehr weit her. Aber Daniel konnte keine Schritte oder andere Geräusche hören. Nur diese leicht verzerrte Stimme. Er fragte sich, ob er endlich antworten sollte. Aber er hatte nicht die geringste Ahnung, was da aus der Tür kommen würde. Die Angst kroch ihm in den Magen und ihm wurde übel. Tausend Gedanken rauschten ihm durch den Kopf.

»Hoffentlich bin ich hier überhaupt richtig. In dieser Dunkelheit sieht man die Hand vor Augen nicht. Ich werde hier nie herausfinden. Herr Schuler ist nicht da. Wer weiß, wo ich gelandet bin«, murmelte die Stimme.

»Hi- hier bin i- ich«, stammelte Daniel.

»Ach, so! Na kein Wunder, wenn ich die ganze Zeit in die falsche Richtung laufe.«

Einige Minuten lang passierte gar nichts, bis sich die Stimme plötzlich ganz nah anhörte.

»Herr Schuler, sind Sie allein?«

»Ähm, ja«, erwiderte Daniel unsicher.

Ohne weitere Vorwarnung trat eine Gestalt aus der Tür. Sie war nicht größer als einen Meter und reichte Daniel nur bis zur Hüfte. Sie hatte den Oberkörper leicht nach vorne geneigt, um das Gewicht eines monströsen Buckels auszugleichen, der ihr aus dem Rücken ragte. Daniels Mund öffnete sich wie von selbst. Starr ihn nicht so an, dachte er und tat genau das Gegenteil.

»Habe ich Sie endlich gefunden, Herr Schuler. Hätten Sie nichts gesagt, ich würde noch Jahrzehnte in dieser Dunkelheit herumirren«, sagte der Fremde.

Plötzlich schloss sich die Tür wie von Geisterhand und verschwand. Daniel hatte es die Sprache verschlagen. Für den Fremden schien das völlig normal zu sein, denn er blickte sich seelenruhig in der Kabine um. Es dauerte ein wenig, doch langsam dämmerte ihm, wo er sich hier befand.

»Herrje, so etwas musste ja passieren!«, rief er und sah Daniel hilfesuchend an.

Daniel war immer noch starr vor Schreck und brachte keinen Ton heraus. Daraufhin fing der Fremde an, sich zu entschuldigen. Wortreich und immer lauter. Seine Stimme hallte durch das ganze Klo, bis Daniel endlich aus seinem Schockzustand aufwachte und den Wortschwall unterbrach.

»Pst!«, zischte Daniel und presste dabei seinen Zeigefinger auf die Lippen »Nicht so laut. Sonst hört uns noch jemand. Und ich habe keine Ahnung, wie ich das hier erklären soll«.

Der Fremde schlug sich eine Hand vor den Mund und verstummte. Sie sahen sich an. In dem Augenblick wusste Daniel, was ihn so irritiert hatte. Es war diese tiefe Traurigkeit, die in den Augen des Fremden lag. Und die riesige Stirnfalte zwischen ihnen tat ihr Übriges. Dieser tiefe Ernst passte so gar nicht zu dem, was er sagte. Plötzlich nickte der Fremde. Er nahm die Hand vom Mund und bewegte die Lippen, als würde er sprechen. Sie hörten nicht auf, eine ganze Reihe von Wörtern zu formen. Dann machte er eine kurze Pause. Er schaute verschwörerisch nach links und rechts, als würde er sicher gehen wollen, dass ihn auch ja niemand hören konnte. Er beugte sich zu Daniel vor und fuhr genauso lautlos fort. Es sah aus, als würde er ihm etwas sehr Wichtiges sagen, nur leider verstand Daniel kein einziges Wort. Völlig irritiert blickte Daniel ihn an.

»Können Sie ein bisschen lauter sprechen? So verstehe ich Sie ja gar nicht«, unterbrach er ihn.

Der Fremde stockte und nickte wieder. Daniel fand das alles ganz schön seltsam.

»Sie haben völlig recht. So besser?«, fragte er leise.

»Ja, so ist es gut. Was haben Sie eben gesagt?«

»Verzeihen Sie, Herr Schuler, mein Benehmen muss Ihnen ja im höchsten Maße wunderlich vorkommen«, flüsterte er jetzt in einer angenehmen Lautstärke und fuhr fort: »Aber ich war so schockiert, dass ich Sie in einer derart intimen Situation gestört habe. Es tut mir schrecklich leid, ich hoffe, Sie verzeihen mir?«

Der Fremde verstummte wieder und sah ihn einige Sekunden erwartungsvoll an. Endlich begriff Daniel und nickte.

»Gut. Dann haben wir das geklärt. Nun kann ich mich ja endlich vorstellen. Mein Name ist Marvinius zu Kummerfels.«

Schon wieder machte er eine Pause. Doch dieses Mal lächelte er fast unmerklich, als würde sein Name alles erklären. Daniel waren die ganze Zeit tausend Fragen durch den Kopf geschossen, aber Wie heißen Sie, eigentlich? war nicht darunter gewesen. Ihn interessierte, was dieser Fremde von ihm wollte, wo er überhaupt herkam. So, wie er sich vorstellte, klang es, als wäre es das Normalste der Welt, dass sich plötzlich eine Tür unter einem öffnet und ein Irgendetwas von Irgendwoher auftaucht.

»Was wollen Sie von mir?«, fragte Daniel vorsichtig.

»Eine gute Frage, Herr Schuler«, begann Marvinius. Und dann sprudelte es aus ihm heraus: »Mein Zuhause ist die Burg Kummerfels. Dieser Ort ist in Nargon von großer Bedeutung. Aber jetzt, zu unserer aller Bestürzung, hat Burbas Bittermund die Kummerkugel gestohlen. Wenn nicht bald etwas geschieht, wird Nargon von sämtlichen Kummergedanken überschwemmt werden. Nargon steht somit kurz vor einer Katastrophe, die selbst wir nicht aufhalten können. Verstehen Sie?«

Marvinius sah ihn flehend an.

Natürlich hatte Daniel nicht die geringste Ahnung, wovon diese Kreatur sprach. Und außerdem fragte er sich, warum dieser Fremde ihn die ganze Zeit siezte.

»Kummergedanken? Burras Littermund? Ich versteh kein Wort!«, brachte Daniel hervor.

»Ich kann mir vorstellen, dass Sie viele Fragen haben, aber ich habe im Augenblick nicht die Zeit, Ihnen alles ausführlich zu erklären. Wir können nur eine begrenzte Zeit durch die Welten wandern. Deshalb muss ich bald zurück. Kommen Sie, Herr Schuler, lassen Sie uns gehen!«

»Gehen? Wohin?«, stotterte Daniel.

»Sie werden uns doch helfen?«

»Ich weiß ja gar nicht, was ich machen soll. Ich besitze keine magischen Kräfte oder so was«, antwortete Daniel.

Das Gesicht des Fremden veränderte sich plötzlich. Seine Mundwinkel zogen sich nach unten und seine Augen wurden schmal. Auf der Stirn bildeten sich tiefe Furchen. Daniel war erstaunt, dass das überhaupt noch möglich war.

»Hören Sie, ich kann nichts außer mittelmäßig Fußball spielen. Und ich glaube nicht, dass ich Ihnen damit helfen kann«, stammelte Daniel.

Marvinius seufzte laut und sah ihm in die Augen.

»Sie wissen gar nicht, was Ihre Entscheidung für unsere Welt bedeutet. Herr Tasso hat Sie ausgesucht. Er war der Meinung Sie würden es schaffen.«

Daniel runzelte die Stirn. Wer war jetzt schon wieder Herr Tasso? Und wieso hatte er sich ausgerechnet ihn ausgesucht? Daniel schüttelte den Kopf. Das war ausgeschlossen.

»Herr Schuler, ich mache Ihnen einen Vorschlag.« Marvinius’ Gesicht verzog sich und bekam noch mehr Falten. »Kommen Sie mit mir. Schauen Sie sich unsere Welt an und treffen Sie vor Ort Ihre Entscheidung. Wenn Sie dann immer noch nicht möchten, bringe ich Sie wieder hierhin zurück. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«

Sein Gesichtsausdruck bekam nun etwas tief Verzweifeltes und Drängendes. Daniel wollte natürlich ablehnen, aber der Blick des Fremden versetzte ihm einen Stich.

»Dabei verlieren Sie nichts. Solange Sie bei uns in Nargon sind, vergeht in Ihrer Welt nur wenig Zeit. Man wird nicht einmal bemerken, dass Sie weg waren. Bitte Herr Schuler, wir brauchen Sie.«

Daniel hielt dem Blick von Marvinius nicht stand. Was sollte er tun? Er konnte doch nicht mit einem völlig Fremden mitgehen. Schon als Kleinkind hatte man ihm das eingebläut. Und da handelte es sich immerhin um Menschen und nicht wie hier um ein sonderbares Lebewesen aus einer ominösen Welt namens Nargon. Was Daniel im Übrigen noch viel gefährlicher fand.

»Okay.«

Was? Wieso hatte er das gesagt? War er nicht mehr ganz bei Trost? Am liebsten hätte er alles wieder rückgängig gemacht. Aber dann blickte er in das Gesicht von diesem Marvinius. Ein Lächeln hatte sich ausgebreitet, das ihm in Verbindung mit den traurigen Augen und den Falten ein leicht wahnsinniges Aussehen verlieh. Daniel konnte sich gegen die Rührung, die er spürte, nicht wehren.

»Ich schaue mir Nargon an.«

»Gut, dann wird es höchste Zeit, dass wir aus diesem schauderhaften Raum kommen«, sagte Marvinius und hatte plötzlich einen bestimmenden Tonfall.

Daniel sah ihn ungläubig an. Die Gefühlsschwankungen seines neuen Begleiters verunsicherten ihn ein wenig. Aber es blieb keine Zeit, darüber nachzudenken.

»Kommen Sie, Herr Schuler, wir müssen uns beeilen.«

Mit diesen Worten griff Marvinius geschäftig in die Innentasche seines braunen Mantels und kramte eine Art Sanduhr hervor.

»Ach nein, die brauche ich jetzt nicht«, murmelte er.

Er vergrub seine Hand wieder in den Untiefen seines Mantels und förderte den nächsten Gegenstand zu Tage. Dieses Mal sah er aus, wie ein dreckiger Putzlappen.

»Ach, nein, den nun wirklich nicht.«

Was hat der da bloß alles drin?, fragte sich Daniel. Aber dann zog Marvinius den richtigen Gegenstand hervor. Neugierig versuchte er, einen Blick drauf zu werfen. Das Ding sah aus wie ein Türgriff, nicht größer als ein Taschenmesser, und hatte die Form eines Papageienschnabels.

»Was ist das?«, fragte Daniel.

»Das ist der Weltenöffner. Damit kommen wir nach Nargon. Ich muss nur den richtigen Platz wiederfinden.«

Marvinius sah sich in der engen Kabine um. Dann quetschte er sich neben die Kloschüssel und hielt den Öffner über sich an die Kabinenwand. Gespannt starrten sie beide auf den weißen Schnabel, als würde er gleich explodieren. Aber nichts geschah.

»Hier ist es nicht«, murmelte Marvinius.

Ratlos schaute er sich um. Dann setzte er den Weltenöffner auf die Tür und wartete einige Sekunden. Wieder nichts.

»Wo war das noch? Darf ich mal, Herr Schuler?«

Marvinius zwängte seinen runden Körper an Daniel vorbei und stieß ihn unsanft gegen die Kabinenwand.

»Aua!«

»Verzeihen Sie, Herr Schuler. Aber es muss hier irgendwo sein«, entschuldigte Marvinius sich. »Sie müssen wissen, ich mache das noch nicht so lange. Oder besser gesagt, ich habe diesen Weltenöffner bisher noch nie benutzt.«

»Noch nie?«, rief Daniel ungläubig.

»Nein, leider nicht.«

»Aber wie können Sie dann wissen...«

»Da!«, unterbrach Marvinius ihn.

Er hatte den Türgriff auf den Boden gelegt und um ihn herum begannen sich die gleichen Umrisse wie vorhin abzuzeichnen. Staunend beobachtete Daniel, wie die Tür abermals auf dem Boden auftauchte.

»Cool«, flüsterte Daniel.

Marvinius zog sie mit einem kurzen Ruck am Türgriff auf.

»Nach Ihnen, Herr Schuler«, sagte er stolz.

Daniel blickte in das schwarze Nichts, das ihm aus der offenen Tür entgegen schrie.

»Bitte, haben Sie keine Angst, Herr Schuler. Vertrauen Sie mir, so wie wir Ihnen«, sagte Marvinius sanft.

»Ich weiß nicht.«

Daniel zögerte. War er sich wirklich sicher? Wer weiß, was am anderen Ende auf ihn wartete? In dem Moment wurde die Eingangstür der Toilette aufgestoßen.

»Bitte, Herr Schuler, mir bleibt nicht mehr viel Zeit«, flüsterte Marvinius.

»Ach, wer sagt's denn, Schuler ist ja immer noch hier!«, rief eine Stimme von draußen.

Es war Matze, der plötzlich mit der Faust gegen die Kabinentür schlug.

»Na, übst du tauchen? Oder sollen wir dir helfen?«, rief er.

Daniel blickte zur Tür und dann in das Loch im Boden. Das, was auf der anderen Seite auf ihn wartete, konnte nicht sehr viel schlimmer sein als das hier. Daniel hörte noch das fiese Lachen von Matze und Boris, als er mit einem Bein bereits im schwarzen Nichts versank.

Warum gerade ich?

»Was war das denn?«, rief Daniel entsetzt.

Taumelnd stand er vom Boden auf. Ihm war noch ganz schwindlig.

»Der Übergang ist wenig erfreulich, da muss ich Ihnen zustimmen«, antwortete Marvinius.

»Wenig erfreulich? Das war Wahnsinn!«

Daniel sah an sich herunter und tastete seine Beine ab. Er war heilfroh, den Wirbel überlebt zu haben.

»Das fühlte sich an, als ob ich mit zweihundert Sachen durch die Luft gewirbelt wurde.«

»Ich denke, man gewöhnt sich daran«, sagte Marvinius ruhig.

Daniel klopfte seine Arme ab und befühlte sein Gesicht, um sicher zu gehen, dass auch wirklich alles an seinem Platz war. Trotz des finsteren Strudels, war die Landung überraschend sanft gewesen. Wie ein Blatt, das vom lauen Wind zu Boden geleitet wird. Und Marvinius hatte wider Erwarten sofort den Ausgang gefunden.

»Herr Schuler, darf ich vorstellen: Burg Kummerfels, mein Zuhause.«

Erst jetzt fiel Daniel ein, dass er ja in Nargon war. Er war so mit sich beschäftigt gewesen, das er das eigentlich Aufregende völlig vergessen hatte. Daniel hob den Kopf und sein Blick folgte der Hand seines Begleiters, die auf ein riesiges Tor zeigte. Zwei steinerne Flügeltüren verweigerten ihnen den Einlass. Daniel blickte an den Türen entlang nach oben. Ein mächtiger Turm war das Herzstück der Burg.

»Dort oben ist die Kummerkammer. In ihr befindet sich die Öffnung zum Felsen, in dem die Kummergedanken ruhen«, erklärte Marvinius.

»Wow«, raunte Daniel.

Tief beeindruckt ließ er seinen Blick schweifen. Über die Mauern zum Himmel und über den weiten Horizont. Bis er begriff, dass nichts um ihn herum war außer Himmel.

»Oh Scheiße!«

Langsam ging er zu dem Felsvorsprung hinüber, auf dem sie gelandet waren.

»Ja, es ist ziemlich hoch«, gab Marvinius zu.

»Ziemlich hoch? Das sind bestimmt einige hundert Meter«, erwiderte Daniel und spähte vorsichtig hinunter.

»Der höchste Berg in ganz Nargon«, sagte Marvinius.

Obwohl Daniel eine Heidenangst hatte, zog ihn die Tiefe magisch an. Er verspürte das heftige Verlangen, hinunter zu springen. Ein Kribbeln breitete sich in seinem Nacken aus.

»Hammer!«

Daniel machte noch einen Schritt und war damit nur noch wenige Zentimeter vom Abgrund entfernt. Gebannt sah er nach unten und erkannte Bäume. Der Felsen ragte wie ein einsamer Zuckerkegel aus einem Wald empor.

»Kommen Sie, Herr Schuler, Brifus Kummerfels erwartet uns«, drängte Marvinius.

Daniel riss sich von dem Anblick los und machte ein paar Schritte auf das Tor zu. Für einen kurzen Augenblick dachte Daniel daran, einfach umzukehren. Aber wie? Alleine kam er von hier nicht weg. Er war gefangen. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Unsicher blickte er sich um.

»Ich hoffe, es wird Ihnen bei uns gefallen, Herr Schuler«, sagte Marvinius.

Dann berührte er das Tor, und nach wenigen Sekunden öffneten sich die beiden Türen. Daniel ging einen großen Schritt zurück, um den Türen auszuweichen. Langsam und geräuschvoll schoben sie sich ihnen entgegen.

»Willkommen, Herr Marvinius zu Kummerfels. Willkommen, Herr Daniel Schuler«, begrüßte sie eine freundliche Stimme.

Daniel zuckte zusammen. Wer war das schon wieder? Verwirrt sah er sich um. Aber er konnte niemanden entdecken.