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Unfreiwillig strandet eine Düsseldorfer Reisegruppe in Kophusen. Der Bus ist defekt. Während die Gäste in dem kleinen Dorf festsitzen und auf den Ersatzbus warten, wird die Leiche eines jungen Mannes gefunden. Das Kophusener Ermittler-Trio gerät auf die Spur eines mysteriösen Geocachers, an dessen Verstecken immer wieder ein weißer Kastenwagen auftaucht. Kommissar Goldberg ahnt, dass die kuriosen Funde nicht Teil einer gewöhnlichen Schatzsuche sind. Hinter den Kulissen der harmlos wirkenden Reisegruppe entspinnt sich ein perfides Versteckspiel, das zu eskalieren droht.
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Seitenzahl: 271
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Ein Düsseldorfer Reisebus strandet wegen eines Motorschadens kurz vor Kophusen. Kommissar Philip Goldberg und sein Kollege Peter Brandt werden zum Ort des Geschehens gerufen. Als ein weißer Kastenwagen mit Dortmunder Kennzeichen auftaucht, wird Goldberg misstrauisch. Ein Sabotageakt? Wenig später wird die Leiche eines Mannes gefunden. Während die bunt zusammengewürfelte Reisegruppe auf einen Ersatzbus wartet, führt die Spur die Ermittler in die Geo-Cache-Szene. Hauke Thomsen glaubt an einen Zufall. Doch als die Beamten bei einem Cache erneut auf den Kastenwagen stoßen, wird ihnen klar, dass sie es nicht mit einer harmlosen Schatzsuche zu tun haben und die Verantwortlichen selbst vor Mord nicht zurückschrecken.
Nicole Wollschlaeger, 1974 in Pinneberg geboren, absolvierte zunächst eine Ausbildung zur Buchhändlerin. 2004 schloss sie ihr Schauspielstudium in Hamburg ab. Sieben Jahre lieh sie ihre Stimme der Kinderbuchreihe Das magische Baumhaus und tourte mit ihren Lesungen durch ganz Deutschland. 2013 erschien ihr erster Roman Schatten über Nargon im Carlsen Verlag. Mit ELBSCHULD startete 2016 die Krimireihe um das Kophusener Ermittler-Trio.
Ausführliche Informationen finden Sie
unter: www.nicolewollschlaeger.de
Der Titel ist auch als Paperback und Hörbuch erschienen.
Weitere Titel der Autorin:
ELBSCHULD
ELBSCHMERZ
ELBSPIEL
ELBGIFT
ELBFANG
ELBTIER
ELBPAKT
Schatten über Nargon
Kinderbuch ab 10 Jahren
»Es irrt der Mensch, solang er strebt.«
Johann Wolfgang von Goethe
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Zwei von drei Computern waren besetzt. Für einen Samstagvormittag war nicht viel los. Der Mann hinter dem Tresen reichte ihm das Stück Papier mit dem zehnstelligen Code und wies ihm den letzten freien Stuhl zu. In diesem Viertel war er noch nie gewesen. Das Internetcafé hatte er bei seinen Streifzügen durch die Stadt entdeckt. Die Tastatur war fleckig. Einige Buchstaben waren kaum noch zu erkennen. Links neben ihm saß eine ältere Frau. Ihre Augen glitten konzentriert über den Bildschirm. Auf der anderen Seite saß ein junger Mann, der in einer fremden Sprache lautstark übers Internet telefonierte. Keiner der beiden würde ihn beschreiben können. Dazu waren sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
Er zog die Tastatur heran und gab die Zahlenkombination ein. Die Startseite öffnete sich. Ohne Umschweife tippte er die Adresse in die Zeile des Browsers ein. Eine Suchmaschine würde nur unnötige Daten sammeln. Ein Bekannter hatte ihm die Seite empfohlen. Er selbst hatte davon nur am Rande gehört und hielt es für pure Zeitverschwendung. Dinge in der Landschaft zu verstecken, damit wildfremde Menschen sie fanden, würde ihm jedenfalls kein Vergnügen bereiten. Er hatte ein Unternehmen zu leiten und damit Wichtigeres zu tun. Doch für seine Zwecke erschien es ihm perfekt. Anonym und nicht zurückzuverfolgen. Eine geheime Sprache, die nur er und seine Kontaktperson verstanden. Ohne jegliche Verbindung zueinander. Er würde in der Masse untergehen. Einer von vielen, der sich auf der Seite tummelte, um vermeintliche Schätze zu suchen. Die Gefahr, dass Unbeteiligte ihre Nachrichten entdecken würden, war zwar nicht gering, aber ungefährlich. Sie hatten ein ausgeklügeltes Kommunikationssystem entwickelt, das nur sie verstanden. Die perfekte Tarnung jenseits von Handydaten und Funkmasten-Ortung. Ein System, das auch über große Distanz funktionierte. Das war wichtig. Schließlich stand sein Lebenswerk auf dem Spiel. Niemand würde ihm das kaputtmachen. Jegliches Risiko würde notfalls beseitigt werden. Natürlich nicht von ihm persönlich. Es gab Menschen, die das für ihn erledigten. Doch vor der Entscheidung schreckte er nicht zurück.
Die Registrierung war kinderleicht. Er hatte den Klassiker gewählt: Max Mustermann aus Musterstadt. Er musste lächeln. Es fühlte sich an wie ein Abenteuer. Als wandelte er auf den Spuren seiner Jugend und würde mit seinen Freunden durch die Vorstadt stromern, in der er aufgewachsen war. Er hatte lange nicht mehr daran gedacht.
Auf die mobile Version des Anbieters würden sie verzichten. Seine Kontaktperson musste ohne Smartphone auskommen. Das war ihre Abmachung. Falls das Eingreifen seinerseits notwendig werden sollte, würde er es auf diesem Wege erfahren und alle Vorkehrungen treffen. Ebenso würde er sich um die Beseitigung der Leichen kümmern. Lautlos und unauffällig. Diese Abgebrühtheit war neu für ihn. Sie hatte sich in den letzten Wochen in ihm manifestiert. Als er begriffen hatte, dass sein Leben aus den Fugen zu geraten drohte. Und das nur, weil jemand anderes den Hals nicht vollkriegte. Seine berufliche Existenz stand auf dem Spiel. Das hatte ihn zum Handeln gezwungen. Er würde nicht kampflos zusehen, wie alles, wofür er gearbeitet hatte, den Bach runterging. Wer mit dem Feuer spielte, musste damit rechnen, sich zu verbrennen. Da kannte er kein Mitleid. Freund oder nicht, das war ihm egal.
Der Deckname gefiel ihm: Cacheoftheday. Es war nicht ihre erste Zusammenarbeit. Doch dieses Mal würde seine Kontaktperson ihm Augen und Ohren leihen. Bisher hatte sich ihre Zusammenarbeit ausschließlich auf legale Projekte beschränkt und war immer reibungslos vonstattengegangen. Es gab keinen Grund, an ihrer Loyalität zu zweifeln. Er hoffte, dass es bei dieser Operation nicht zu der befürchteten Eskalation kommen würde. Das wäre nicht gut für sein Image. Dieses Problem musste, wenn möglich, auf elegante Weise gelöst werden. Zumal es gar nicht seine Schuld war. Er musste nur dafür sorgen, dass es ein Geheimnis blieb, den Schlamassel beseitigen, den andere angerichtet hatten. Seine Wut hatte er im Griff. Sie würde ihn nur unvorsichtig machen. Es ging nicht um Rache oder Bestrafung. Es ging um Schadensbegrenzung. Er war auf alles vorbereitet. Und wenn die Situation es erforderte, würde er Unterstützung schicken. Was auch immer notwendig war, er würde sich darum kümmern. Es war sein Job, für seine Schäfchen zu sorgen. Dass sie wieder auf Linie gebracht wurden. Er würde sein Lebenswerk zu schützen wissen. Der Preis spielte dabei keine Rolle.
Wie verabredet war cacheoftheday bereits online gegangen. Er klickte das Profil an. Noch waren keine Schätze verzeichnet. Keine Nachrichten waren gute Nachrichten. Zufrieden loggte er sich aus. Danach löschte er seinen Browserverlauf. Er wusste, dass es im Ernstfall nicht viel bringen würde, aber es gab ihm ein besseres Gefühl. Am Tresen bezahlte er seinen kurzen Ausflug in die virtuelle Welt und verließ das Internetcafé. Morgen würde er sich ein anderes suchen. Lächelnd spazierte er in Richtung Bahnhof zurück. Sein Plan war genial. Niemand würde je erfahren, was wirklich geschehen war.
Das kleine Mädchen weinte. Die Mutter kniete vor dem Kind und strich ihm eine Strähne aus dem Gesicht. Mit sanften Worten versuchte sie, ihre Tochter zu beruhigen. Sie schloss das Kind in die Arme. Über die Schulter der Mutter hinweg blickte das Mädchen zu ihm auf. Philip Goldberg spürte einen Stich. Die Bilder seines eigenen Unfalls fluteten sein Gehirn. Er konnte es nicht verhindern. Für einen Augenblick fühlte der Kommissar sich an die Kreuzung zurückversetzt, an der sein Wagen in Flammen aufgegangen und seine Stieftochter vor seinen Augen verbrannt war. Das alles lag jetzt fast zehn Jahre zurück. Und noch immer konnte er ihr Weinen hören. Er versuchte ein Lächeln. Doch es wollte ihm nicht gelingen. Der Kommissar wandte den Blick ab. Dieser Unfall hatte nichts mit seinem zu tun. Es gab weder ein Feuer noch Verletzte, geschweige denn Tote. Nur eine kleine, etwa zwanzigköpfige Reisegruppe, die auf dem Weg von Düsseldorf nach Sylt kurz vor Kophusen gestrandet war. Goldberg schüttelte seine Erinnerungsfetzen ab.
Die beiden Busfahrer, die mit verschränkten Armen vor der zerborstenen Frontscheibe standen, kamen ihm gerade recht. Der ältere schien dem jüngeren Kollegen Vorwürfe zu machen. Eine blonde Frau mit Pferdeschwanz und im grünen Kostüm, offenbar die Reiseleiterin, bemühte sich, zwischen den Männern zu schlichten. Goldberg steuerte auf die Dreiergruppe zu, vorbei an Peter Brandt, seinem Freund und Kollegen, der bereits mit der Befragung zweier gut gekleideter Herren begonnen hatte. Ihr Kollege Hauke Thomsen hatte frei. Peters besorgter Blick entging Goldberg nicht. Sein ältester Kollege schien zu ahnen, welchen Bildern der Kommissar auszuweichen versuchte. Goldberg signalisierte ihm mit einem knappen Nicken, dass er alles im Griff hatte. Peter wirkte zwar nicht überzeugt, ließ ihn aber ohne Einwände den verunfallten Bus passieren, der auf dem Seitenstreifen an einem Baum zum Stillstand gekommen war. Der Kommissar zwang sich, sein Kopfkino unter Kontrolle zu bringen und sich auf die Unfallaufnahme zu fokussieren.
Die Reiseleiterin hieß Freija Nørgaard. Eine Dänin, die akzentfrei Deutsch sprach. Goldberg schätzte sie auf Anfang vierzig. Die Busfahrer stellten sich als Benno Kramer und Dimitri Petrov vor. Sie konnten unterschiedlicher kaum sein. Petrov hatte pechschwarze Haare und trug ein weißes Hemd, das in einer grauen Stoffhose steckte. Er war der Ältere der beiden. Kramer hingegen war blond und spielte andauernd an seinem eindrucksvollen Schnurrbart herum. Entweder eine Marotte oder aber ein Zeichen von Nervosität. Seine ausgeblichene Jeans passte zu dem ausgebeulten Sweatshirt.
Goldberg nahm ihre Personalien auf. Dann ließ er sich den Unfallhergang schildern. In Niebüll wollten sie den Autozug nach Westerland nehmen. Doch auf der A23 kurz vor der Ausfahrt Hohenfelde war einem Passagier Rauch aufgefallen. Benno Kramer war abgefahren, um die nahe Tankstelle in Steinburg anzusteuern, als plötzlich die Bremsen streikten. Zum Glück war das Tempo nicht sonderlich hoch gewesen. Kramer hatte den Reisebus auf den breiten Seitenstreifen gelenkt, wo er unsanft gegen den Baum geprallt war. Das hatte ihn schließlich zum Stehen gebracht. Die Straße wurde nicht blockiert. Der Verkehr floss zügig an ihnen vorbei. Wie durch ein Wunder war niemand verletzt worden. Vorsichtshalber hatten sie einen Rettungswagen angefordert. Peter hatte darauf bestanden, nachdem eine Frau über Nackenschmerzen geklagt hatte. Die Unfallstelle hatten sie gleich zu Beginn gesichert. Freija Nørgaard hatte eine Schramme über dem linken Auge. Kramer schien noch unter Schock zu stehen. Petrov war die Ruhe selbst.
»Sie haben Glück gehabt«, sagte Goldberg.
Petrov nickte.
»Hatten Sie unterwegs schon Probleme?«
»Nein«, entgegnete Kramer.
»Die Unfallursache muss geklärt werden. Wir kümmern uns darum, dass der Bus in eine Werkstatt abgeschleppt wird.«
»Meine Chefin wird nicht erfreut über die damit verbundene Verspätung sein«, sagte Nørgaard.
»Darauf kann ich leider keine Rücksicht nehmen.« Goldberg entging der kurze Blick, den die beiden Männer sich zuwarfen, nicht. Ihr Bericht über die versagenden Bremsen hatte den Kommissar stutzig gemacht. Goldberg fragte sich, ob sie es hier möglicherweise mit einem Sabotage-Akt zu tun hatten. Irgendetwas war hier nicht koscher.
Sören würde ihm Auskunft darüber geben können. Dem Kfz-Meister gehörte die Werkstatt in Herzhorn.
Nørgaard seufzte ergeben. »Okay. Aber dann brauchen wir eine Unterkunft.«
»Wir kümmern uns auch darum«, versicherte Goldberg.
Ein Ehepaar in wasserabweisenden Outdoorjacken machte seinem Ärger Luft. Lautstark ließen sie sich über den mangelnden Service aus, und der Mann verkündete, sich schriftlich beschweren zu wollen. Nørgaard entschuldigte sich lächelnd beim Kommissar und ging, um die Wogen zu glätten.
Goldberg erreichte Sören auf seinem Mobiltelefon. Sie verabredeten, den Bus auf den Werkhof zu bringen. Sörens Mitarbeiter würden ihn gleich am Montag inspizieren.
»Gibt es hier ein Hotel in der Nähe?«, fragte Petrov, nachdem Goldberg das Gespräch beendet hatte.
»Ja, eine kleine Pension. Allerdings hat sie nicht genug Zimmer für die ganze Reisegruppe.«
»Egal, wir müssen irgendwo unterkommen, bis wir Ersatz haben oder unser Bus repariert ist.«
Goldberg drehte sich zu Peter um, der immer noch im Gespräch mit den elegant gekleideten Herren war. »Warten Sie, ich frage mal nach.« Er ging am Bus vorbei. Das kleine Mädchen saß jetzt auf dem Schoß ihrer Mutter, die sich ins Gras gehockt hatte. Rasch wandte er den Blick ab.
»Peter, hast du kurz Zeit für mich?«
»Klar.« Er wandte sich zu seinen Gesprächspartnern:
»Entschuldigen Sie mich bitte. Ich bin gleich zurück.«
Peter folgte Goldberg ein paar Schritte zur Seite.
»Gott sei Dank, das halte ich nicht aus«, raunte er, als sie außer Hörweite waren.
»Was ist los?«
»Die beiden treiben mich in den Wahnsinn. Ständig fängt der eine einen Satz an und der andere beendet ihn. Wie ein altes Ehepaar. Wenn Greta und ich so werden, musst du mir das sagen.«
»Mach ich. Aber zuerst müssen wir uns um eine Unterkunft kümmern.«
»Ruf doch Rosi an.«
»Das könnte als Übervorteilung ausgelegt werden.«
»Du bist ja nicht Hauke. Sie ist nicht deine Schwester. Also ich sehe da kein Problem. Soll ich sie anrufen?«
»Schon gut, ich mache das selbst.«
»Aber die kriegt sie nicht alle unter.«
»Ich weiß, ich dachte an den Ferienhof.«
»Probier's. Vielleicht haben wir Glück und der hat noch etwas frei, um den Rest unterzubringen.«
Goldberg wollte sich schon abwenden, doch Peter hielt ihn am Arm zurück. »Ich übernehme deine nächsten drei Sonntagsdienste, wenn du dich um das Altherrenehepaar kümmerst.« Peter sah ihn flehend an. »Bitte!«
»Du klingst wie Hauke. Verbring nicht so viel Zeit mit ihm. Das färbt ab. Los, zurück an die Arbeit!«
Peter setzte ein gequältes Lächeln auf und trottete zu seinen unliebsamen Gesprächspartnern zurück.
Goldberg erreichte Rosi im Restaurant. Sie führte mit ihrer Mutter Bärbel die örtliche Gastwirtschaft, an der eine kleine Pension angeschlossen war. Über den Herbst hatten sie den Dachboden mit drei weiteren Zimmern ausbauen lassen. Sie hatte zwei Doppel- und ein Einzelzimmer frei. Für den Rest der Reisegruppe würde sie sich beim Ferienhof erkundigen. Goldberg bedankte sich und beendete das Gespräch. Ihm war nicht ganz wohl bei der Sache. Nach den internen Ermittlungen vorletztes Jahr gegen sie war es riskant, Rosi und Bärbel Gäste zu verschaffen. Andererseits gab es nicht viele Hotels in der Gegend. Und Peter hatte recht: Er war ja nicht direkt mit den beiden verwandt.
»Frau Nørgaard, können wir kurz sprechen?«, unterbrach er die hitzig gewordene Unterredung zwischen der Reiseleiterin und dem streitlustigen Ehepaar.
»Aber natürlich«, sagte sie und wandte sich ihm erleichtert zu.
»Ich würde Sie und Ihre Reisegruppe gern nach Kophusen bringen lassen. Wir haben eine kleine Pension, dort kommen schon mal einige Ihrer Reisegäste unter. Die Wirtin kümmert sich um eine weitere Unterkunft auf einem nahe gelegenen Ferienhof, ebenfalls in Kophusen. Vielleicht haben die genug Zimmer frei, sodass Sie alle in der Nähe untergebracht wären.«
»Oh, das ist ja fabelhaft.Vielen Dank. Unsere Reise werden wir heute sicher nicht fortsetzen können.«
»Aber das bezahlen Sie!«, ereiferte sich der Mann, der offenbar nicht viel von Diskretion hielt. »Ich komme jedenfalls nicht für eine zusätzliche Übernachtung auf, nur weil Ihre Busse schrottreif sind.«
Lächelnd versicherte Nørgaard ihm, dass das selbstverständlich auf Kosten des Reiseveranstalters ginge. Goldberg bewunderte die Ruhe, mit der die Frau sprach. Von ihrem Deeskalationstalent konnte sich Hauke eine Menge abgucken.
Nørgaard rief ihre bunte Truppe zusammen. Während die Reiseleiterin sie informierte, ließ Goldberg den Blick über die Reisegruppe schweifen. Eine Art Mikrokosmos bestehend aus den unterschiedlichsten Menschen. Er hatte noch nie verstanden, wie man bereit sein konnte, seinen kostbaren Urlaub ausgerechnet mit lauter Fremden in einem engen Bus zu verbringen. Doch offenbar gab es gute Gründe dafür, die sich ihm nicht erschlossen. Bis auf zwei Familien und drei augenscheinlich Alleinreisende bestand die Gruppe aus Paaren.
Die Sirenen des näherkommenden Rettungswagens ließen Nørgaard verstummen. Der RTW parkte hinter dem Bus auf dem Seitenstreifen. Peter nahm die Sanitäter in Empfang und führte sie zu der Frau, die über Nackenschmerzen geklagt hatte. Während die Sanitäter die Lage sondierten und entschieden, ob sie jemanden ins Krankenhaus mitnehmen mussten, bemerkte Goldberg einen weißen Kastenwagen, der sich auffällig langsam aus Richtung Westerhorn näherte. Kurz vor den rot-weißen Leitkegeln, die sie zur Absperrung rund um den Bus aufgestellt hatten, wurde der Wagen noch langsamer. Goldberg ging geradewegs auf das Fahrzeug zu. Dortmunder Kennzeichen. Ihr verunfallter Bus kam aus Düsseldorf. Jetzt im Juli war die Urlaubssaison bereits in vollem Gange und Schleswig-Holstein war bei Touristen aus Nordrhein-Westfalen besonders beliebt, aber Goldberg glaubte nicht an Zufälle. Diese Gegend war nicht gerade ein touristischer Hotspot. Er trat vom Seitenstreifen auf die Fahrbahn und hob den Arm. Der Fahrer stoppte den Wagen und ließ das Fenster hinunter.
»Kann ich irgendwie helfen?«
»Das ist sehr nett von Ihnen, aber wir kommen zurecht. Danke.«
»Ist jemand verletzt?«
Goldberg ließ sich einen Augenblick Zeit, bevor er antwortete. Das Alter des Mannes war schwer zu schätzen. Seine braune Schirmmütze hatte er tief ins Gesicht gezogen. Dazu trug er ein blaues Hemd.
»Sind Sie Arzt?«, fragte er.
Der Mann schüttelte den Kopf.
»Kennen Sie jemanden aus der Reisegruppe?«
Der Mann riss die Augen auf. »Nein«, rief er. »Wie kommen Sie denn darauf? Ich dachte nur, ich könnte vielleicht helfen. Aber Sie haben offenbar alles unter Kontrolle. Na dann, auf Wiedersehen.«
Ehe Goldberg etwas erwidern konnte, trat der Mann aufs Gas. Ganz plötzlich schien er es eilig zu haben. Der Kommissar prägte sich das Kennzeichen ein. Nein, das war definitiv kein Zufall gewesen.
Krachend fiel die Haustür ins Schloss. Hauke Thomsen zuckte zusammen. Er stand auf der letzten Treppenstufe und lauschte dem Stakkato ihrer Absätze auf dem Asphalt. Kein Zweifel, sie wollte weg von ihm. Ihre Schritte verstummten. Eine Autotür wurde zugeschlagen. Er hörte, wie sie den Motor startete, um schließlich mit quietschenden Reifen davonzubrausen. Seufzend ließ Hauke sich auf die Treppe sinken. Er schloss die Augen und atmete erleichtert aus. Die Stille senkte sich über ihn. Sein Puls beruhigte sich. So fühlte es sich also an, wenn man mit einer Cholerikerin zusammenlebte. Allmählich bekam Hauke eine Ahnung davon, wie es seiner Ex-Frau Hilke mit ihm ergangen sein musste. Das war verdammt anstrengend. Dass er seine Ehe einmal durch ihre Augen sehen würde, hatte er nicht für möglich gehalten. Ein Wunder, dass Hilke so viele Jahre bei ihm geblieben war. Er würde das nicht einmal im Ansatz so lange schaffen. Eine Ehe mit Olivia war völlig ausgeschlossen. Hauke hasste heftige Auseinandersetzungen. In letzter Zeit war es immer öfter vorgekommen, dass sie stritten. Meistens stürmte sie dann wutentbrannt aus dem Haus und ließ ihn frustriert zurück. Inzwischen glaubte Hauke, dass ihre Beziehung ein Irrtum war. Noch vor drei Monaten war er euphorisch vorgeprescht und hatte ihr bei einem romantischen Essen symbolisch den Schlüssel zu seinem Haus überreicht. Doch seine Freude währte nicht lange. Nachdem sie mehr oder weniger bei ihm eingezogen war, gingen die Streitereien erst richtig los. Meistens waren es Lappalien, aber aus Erfahrung wussten sie beide, dass diese Kleinigkeiten nur vordergründig der Anlass waren. Sie passten einfach nicht zusammen, und das dämmerte ihm schon seit einiger Zeit. Peter hatte es mit der Kontaktanzeige gut gemeint. Und Olivia schien anfangs perfekt zu sein, doch sie waren sich zu ähnlich. Haukes Wutausbrüche triggerten sie geradezu und sie beantwortete diese mit einem noch heftigeren Ausbruch ihrerseits. Sein derber Humor, den sie anfangs noch süß gefunden hatte, entpuppte sich als andauerndes Ärgernis für sie. Es war ihr peinlich gegenüber ihren Freunden. Bald trafen sie sich nur noch allein, doch auch das half nichts. Er musste diese Beziehung beenden. Je früher, desto besser. Peters drohende Trauermiene ließ ihn das unausweichliche Ende jedoch hinauszögern.
Normalerweise trank er keinen Alkohol mitten am Tag, doch jetzt war ihm nach einem Bier zumute. Heute war sein freier Sonntag und morgen würde er auch nicht losmüssen. Eigentlich hatte er ein verlängertes Wochenende mit Olivia verbringen wollen. Er entschied, sich eine Ausnahme zu genehmigen. Mit einer eisgekühlten Flasche setzte er sich aufs Sofa und starrte missmutig in den Garten hinaus. Es war ein lächerlich schöner Tag. Die Sonne strahlte höhnisch vom wolkenlosen Himmel hinab. Sollte er Olivia anrufen? Am Telefon Schluss zu machen war nicht gerade die feine Art. Er wollte das mit Würde und Anstand tun. Ihm graute viel mehr davor, Peter die Wahrheit sagen zu müssen. Sein bester Freund und Kollege hatte sich letztes Jahr so viel Mühe gegeben, eine Frau für ihn zu finden. Noch wusste Peter nichts von dem drohenden Beziehungsaus. Es würde ihn schwer treffen. Am besten, er erledigte es während der Arbeit, dann ersparte er sich einen von Peters sentimentalen Gefühlsausbrüchen. Die waren wirklich schwer zu ertragen. Ein erwachsener Mann, der weinte, gehörte nicht zu den Situationen, denen Hauke gern beiwohnte. Er leerte das Bier und widerstand dem Impuls, sich die zweite Flasche zu holen. Stattdessen ging er auf die Terrasse hinaus und ließ sich in den Gartenstuhl fallen.
Er hatte Olivia wirklich gemocht. Gleich auf den ersten Blick am Elbstrand in Bielenberg hatte es zwischen ihnen gefunkt. Ein Strohfeuer, wie ihm jetzt klar wurde. Kurz und heftig. Nun waren die Flammen erloschen und übrig blieben die verkohlten Reste ihrer Leidenschaft, wie die kläglichen Stümpfe eines abgeernteten Maisfeldes. Olivia ging es sicher genauso. Sie war klug und ihre Unstimmigkeiten waren nicht zu übersehen. Doch das L-Wort war bereits gefallen, das machte die Sache zwischen ihnen so kompliziert. Selbst wenn ihre Gefühle ins Gegenteil umgeschlagen waren, ließ es sich nicht einfach wegwischen. Hauke fragte sich, warum sie den fetten, rosafarbenen Elefanten, der meistens mit ihnen im Raum war, so konsequent ignorierte, geradezu totschwieg. Immer wenn es unvermeidlich schien, über das Ende zu sprechen, rannte sie einfach davon. Kein besonders erwachsenes Verhalten, dachte er. Konnte sie ihm nicht einfach in einer ihrer hitzigen Auseinandersetzungen den Laufpass geben? Dann läge die Schuld bei ihr und er könnte Peters strafenden Blick mitsamt seiner Gardinenpredigt abwenden. Vielleicht wollte sie nicht voreilig handeln. Sie waren beide Ende vierzig. Die Aussicht, allein zu sterben, ließ Olivia offenbar an ihrer zweifelhaften Beziehung festhalten. Hauke war es egal, ob er allein starb oder nicht. Alles war besser als diese nervenaufreibenden Streitereien.
Das Signal einer eingehenden SMS lenkte Hauke ab. Beim Aufstehen betete er, dass es die erlösende Nachricht war.
Sein Telefon stand in der Ladevorrichtung auf der Anrichte im Flur. Es wäre auch zu schön gewesen. Statt des erhofften Beziehungsaus, las er eine Nachricht von seiner Mutter Bärbel.
Alle untergebracht!
Hauke hatte keine Ahnung, was das bedeuten sollte. Wen hatte sie bitte untergebracht und warum zum Teufel sollte ihn das interessieren? Er überlegte, sie anzurufen, doch er entschied sich dagegen. Sie würde seine düstere Stimmung sofort bemerken und analysieren wollen. Und das würde seinen Zustand nur weiter verschlechtern. Allem Anschein nach war es eine gute Nachricht, die sie ihm mitteilte. Also schickte er ihr einen Daumen hoch und legte das Smartphone zurück auf die Ladestation.
Unentschlossen blieb er im Flur stehen. Olivia war sicherlich auf dem Heimweg nach Elmshorn. Wenn er sie jetzt anrief, würde er sie vermutlich auf der Autobahn erwischen. Keine gute Idee. Eigentlich hatten sie heute vorgehabt, gemeinsam zu kochen und sich einen Film anzuschauen. Die sündhaft teuren Steaks lagen im Kühlschrank. Sie waren gestern extra auf dem Markt in Elmshorn gewesen und hatten frisches Gemüse dazu eingekauft. Doch der Appetit war ihm gründlich vergangen.
Er gab seinen Widerstand auf und schlich in die Küche. Die Notfallschachtel Zigaretten im hintersten Winkel des obersten Küchenschranks hatte er bereits vor drei Tagen geplündert, als sie sich wegen der Waschmaschine gestritten hatten. Olivia hatte eine Ladung Wäsche in der Trommel vergessen. Einen ganzen Tag lang. Hauke hatte sie freundlich darauf aufmerksam gemacht, dass die Klamotten bereits anfingen zu miefen und er die Maschine noch mal anstellen müsse. Sie hatte ihn mit einem verächtlichen Schnauben bestraft und ihn einen »peniblen Putzteufel« genannt. Eine derartig explosive Reaktion war bisher sein Part gewesen. Nun stand er sich gewissermaßen selbst gegenüber. Das war kein Vergnügen. In ihrer Beziehung war nur Platz für einen Querulanten. Und er hatte nicht vor, seine Persönlichkeit wegen einer Frau aufzugeben.
Mit einer zweiten Flasche Bier zog er sich auf die Terrasse zurück. Diesen Nachmittag würde er nüchtern nicht überstehen.
Gerrit Lange waren diese Ausflüge heilig. Kleine Fluchten in dem ansonsten so kräftezehrenden Alltag. Es war nicht nur die Tatsache, dass er dabei Zeit an der frischen Luft verbrachte und in Bewegung kam. Nein, das Beste war, dass er sie mit seinen beiden Töchtern verbringen konnte. Seine Ehe hatte nicht gehalten. Nach nur fünf Jahren fing es bereits an zu kriseln. Nach zwei weiteren zog er aus und drei Jahre später waren sie geschieden. Die Trennung war glimpflich verlaufen. Alles zum Wohl der Kinder. Auch wenn es ihn einiges an Überwindung gekostet hatte. Er hatte Klara geliebt. Aber Liebe war eben doch nicht alles. Seine Mädchen, wie er sie nannte, waren sein Ein und Alles. Zwar sah er sie fortan nur noch an den Wochenenden, aber sie waren der Grund, warum er jeden Morgen aufstand und in die Bank fuhr, Menschen Kredite aufschwatzte, die sie nicht brauchten, und ihnen ihre Ersparnisse abluchste, indem er sie in lukrative Anlageprodukte investierte. Lukrativ für die Bank, nicht für die Kunden. Er hatte sich damit abgefunden. Er tat es, um für seine Mädchen da zu sein, um ihnen eine gute Ausbildung zu finanzieren. Ein Studium mit Auslandssemestern. Fremdsprachen wurden ja immer wichtiger. Umso mehr liebte er diese Ausflüge ins Hamburger Umland, in denen er sich frei fühlte. Ein Ausgleich zu seiner Arbeit am Schreibtisch, in diesem albernen Anzug und dem aufgesetzten Lächeln.
Marie und Lina saßen auf dem Rücksitz. Ganz in ihre Fachsimpelei versunken. Gerrit betrachtete die beiden durch den Rückspiegel, in ihren gelben Regenjacken, die fast so aussahen wie seine eigene, die er damals als Kind so geliebt hatte. Aber sie waren nicht original. Retro-Look hatte seine Ex-Frau Klara es genannt. Die Gummistiefel ragten gerade eben über den Sitz. Maries zierten grüne Herzen und Linas rosafarbene Einhörner. Die Jeans steckten tief in den Schäften. Seine Ex-Frau achtete streng darauf, dass sie wettertaugliche Kleidung trugen. Die Mützen hatten sie sich sofort vom Kopf gerissen, sobald sein Auto um die Ecke außer Sichtweite gebogen war. Ihr lautes Kichern hatte Gerrits Herz erwärmt. Diese Tage waren alles, was ihm geblieben war. Nichts und niemand durfte es wagen, sich zwischen ihn und seine Mädchen zu stellen. Seine Liebe zu ihnen wurde nur von der Angst um sie übertroffen. Seit ihrer Geburt begleitete ihn die übermäßige Sorge, dass ihnen etwas zustoßen konnte. Etwas Monströses, vor dem er sie nicht beschützen könnte. Diese Gedanken behielt er allerdings für sich. Nicht einmal Klara hatte er jemals davon erzählt. Es kam ihm peinlich und übertrieben vor. Er wollte nicht wie ein Helikoptervater rüberkommen. Vermutlich war seine Heimlichkeit der Grund dafür, dass sich die anfänglich diffuse Sorge in ihm verfestigt hatte und zu einer fixen Idee ausgewachsen war. Immer dann, wenn seine Töchter einen weiteren Schritt zum Erwachsenwerden unternahmen, musste er diese Angst regelrecht bekämpfen. Zuletzt war das der Fall gewesen, als sie auf die weiterführende Schule wechselten und neuerdings allein mit dem Bus zur Schule fuhren. Klara und er arbeiteten beide. Außerdem war seine Ex-Frau der Meinung, dass ihnen Selbstständigkeit guttun würde. Gerrit fühlte sich nicht wohl bei der Vorstellung, dass seine Mädchen von nun an unbeaufsichtigt und ohne jeglichen Schutz mit den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs waren, aber er fügte sich. Er hielt seine Angst in Schach, indem er stichprobenartig den Bus verfolgte, in dem seine Mädchen saßen. Natürlich tat er das heimlich. In der Bank hatte er jedes Mal einen Arzttermin vorgeschoben. Bisher hatte es funktioniert, doch ihm gingen so langsam die Gründe aus.
Im Sommer bereiteten ihnen diese Ausflüge am meisten Spaß. Ausgerechnet heute hatten sie nicht so viel Glück. Es war der erste Ferientag. Passend zu einem Montag schlug sich der Nieselregen auf der Frontscheibe nieder. Es war bereits nach dreizehn Uhr. Eigentlich hatte es sich inzwischen aufklaren sollen, das hatte jedenfalls seine Wetter-App heute Morgen behauptet. Die Mädchen ließen sich jedoch nicht die Laune verderben. Hauptsache, sie waren zusammen. Alles andere war nebensächlich.
Gerrit bremste den Wagen und kam vor der Ampel zum Stehen. Sie waren nach Kophusen unterwegs. Ein kleines Dorf bei Glückstadt hinterm Elbdeich. Langsam mussten sie auf die umliegenden Gemeinden ausweichen. Ein Kollege hatte ihm von dem verlassenen Bauernhof erzählt. Es war aufregend, sich ein neues Jagdgebiet zu erobern. Ihre erste Trophäe, die sie auf ihren GPS-Schnitzeljagden erbeutet hatten, thronte auf dem Armaturenbrett. Ein kleiner gelber Papproboter namens Gisbert. Sie hatten ihn gegen Linas Stoffhasen eingetauscht. Seitdem begleitete er sie auf ihren Unternehmungen.
Die App auf seinem Smartphone forderte ihn auf, links abzubiegen. Auf der Landstraße waren achtzig Stundenkilometer erlaubt. Mit seinen Mädchen im Auto hielt er sich konsequent an die vorgegebene Geschwindigkeitsbegrenzung. Er wollte kein Risiko eingehen. In dieser Hinsicht war er wie seine Kunden aus der Bank. Risiko war ein Wort, das er in Zusammenhang mit seinen Töchtern mied. Es waren noch sieben Kilometer bis zu ihrem Ziel.
»Papa, wann sind wir da?«, rief Marie.
»Gleich, mein Schatz. Es dauert nicht mehr lange und dann kann es losgehen.«
»Au ja!«
Gerrits Blick blieb am Rückspiegel hängen. Er lächelte. Wie zerbrechlich die Menschen doch waren, dachte er. Seitdem er Vater war, liebte er den Song Fragile von Sting. In Gedanken summte er die Melodie, während er seinen Mädchen zusah, wie sie Pläne für den Tag schmiedeten. Gerrit richtete seine Aufmerksamkeit zurück auf die Fahrbahn. Den Anweisungen seines Navigationsgerätes folgend, bog er erneut ab und kam auf einen landwirtschaftlich betriebenen Weg. Die beiden Betonstreifen hatten ihre besten Tage bereits hinter sich und ließen nur Schritttempo zu.
Ihr heutiges Ziel versprach etwas ganz Besonderes zu sein. Ein geheimnisvoller Ort, an dem angeblich schon ein Mord geschehen war. So jedenfalls hieß es in der Beschreibung. Gerrit wusste, dass solche Informationen mit Vorsicht zu genießen waren, und trotzdem hatte es seine Neugier geweckt. Sie hatten das schon oft erlebt. Am Ende stellten sich diese Beschreibungen als hoffnungslos übertrieben heraus, aber sie waren auch schon auf echte Perlen gestoßen.
Nach hundert Metern kam eine Haarnadelkurve. Gerrit trat auf die Bremse. Bei ihren Ausflügen aufs Land waren ihm schon einige Male Tiere vor sein Auto gelaufen. Bis jetzt war es noch nie zu einem Unfall gekommen, und er wollte, dass das so blieb. Ein angefahrenes Tier konnte er seinen Mädchen nicht zumuten. Sie waren zartbesaitet. Das hatten sie von ihm. Klara war in dieser Hinsicht deutlich robuster und vor allem pragmatischer. In ihrer Ehe hatte sie ihm mehr als einmal zu verstehen gegeben, dass er ihr nicht männlich genug sei.
Er bog um die Kurve, als ihm ein roter Pkw entgegenkam. Für diese Straßenverhältnisse hatte er ein Mordstempo drauf. Gerrit riss das Steuer herum und kam halb in den Büschen zum Stehen. Der rote Wagen scherte ebenfalls aus und fuhr auf der angrenzenden Wiese an ihnen vorbei.
»Idiot«, fluchte Gerrit. Er drehte sich zu seinen Töchtern um. »Alles klar bei euch?«
Sie lagen aneinandergedrückt auf der rechten Seite. Lina hatte sich den Kopf an der Türverkleidung gestoßen.
»Papa, wer war das?«, fragte Marie.
Gerrit musste seine Wut zügeln. Er durfte vor den Kindern nicht ausfällig werden. Nicht noch einmal.
»Ein sehr rücksichtsloser Autofahrer«, erwiderte er. »Lina, hast du dir wehgetan?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Nein, geht schon.« Sie rieb sich die Stirn.
Gerrit schnallte sich ab und stieg aus dem Wagen. Als er die hintere Tür öffnete, saßen seine Mädchen schon wieder aufrecht. »Ist wirklich alles in Ordnung?«
Marie besah sich fachmännisch die Stelle, an der sich ihre Schwester gestoßen hatte, und bestätigte, dass es nichts Schlimmes sei. Gerrit kontrollierte sicherheitshalber den Kopf seiner Tochter. Vermutlich würde es nur eine kleine Beule geben.
»Können wir endlich weiterfahren?«, fragte Lina ungeduldig.
»Ja, weiterfahren«, bekräftigte Marie lautstark ihre Forderung.
Zurück hinter dem Lenkrad startete Gerrit den Motor und fuhr im Schneckentempo weiter. Immer wieder überprüfte er kurz den Zustand seiner Töchter durch den Rückspiegel. Ansonsten heftete er seine Augen auf den Weg vor sich.
Allmählich erholte sich Gerrit von dem Schreck. Er konnte nur froh sein, dass er so umsichtig gefahren war. Wer um Himmels willen preschte in so einem Tempo um die enge Kurve? Aufs Kennzeichen hatte er nicht geachtet. Den Mann hinterm Steuer hatte er nicht erkennen können. Dafür war dieser Idiot viel zu schnell an ihnen vorbeigeschossen. So ein Hornochse, dachte er. Sollte er umkehren? Womöglich war das ein schlechtes Omen für den heutigen Ausflug. Aber so kurz vor dem Ziel konnte er nicht einfach wieder umdrehen. Der Protest der Mädchen würde ihn ohnehin weichkochen.
»Ist es das?«, rief Marie plötzlich und zeigte auf das Stallgebäude, das rechterhand in Sichtweite gekommen war.
Mit einem Blick auf das Navi bejahte Gerrit. Das war es. Das Ziel ihres heutigen Abenteuers.
»Gibt es da auch Tiere?«, rief Lina, die ihr Gesicht neben Marie gegen die Scheibe drückte und hinausstarrte.