Elbgift - Nicole Wollschlaeger - E-Book + Hörbuch

Elbgift E-Book und Hörbuch

Nicole Wollschlaeger

5,0

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Beschreibung

Herzversagen, attestiert der medizinische Direktor, als in Kophusens exklusiver Seniorenresidenz eine kerngesunde Bewohnerin zusammenbricht und stirbt. Doch Polizeiobermeister Peter Brandt hegt Zweifel an der natürlichen Todesursache. Gemeinsam mit seinen Kollegen Philip Goldberg und Hauke Thomsen stellt er heimlich Nachforschungen an. Wenig später wird in dem Seniorenstift eingebrochen, und der Hausarzt der Verstorbenen ist spurlos verschwunden. Spätestens als tatsächlich ein Mord geschieht, liegt auf der Hand: In der noblen Seniorenresidenz ist etwas faul. Die Kripo aus Itzehoe übernimmt, doch die drei Kophusener Polizisten lassen sich den Fall nicht so einfach wegnehmen und ermitteln auf eigene Faust weiter.

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Seitenzahl: 285

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Zeit:6 Std. 21 min

Sprecher:Nicole Wollschlaeger
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Als in der neuen Seniorenresidenz Kophusens plötzlich die kerngesunde Henriette Stein zusammenbricht und stirbt, ist Polizeiobermeister Peter Brandt alarmiert. Professor Weber, Leiter des exklusiven Stifts, stellt den Totenschein aus. Ursache: Herzversagen.

Doch Peter spürt, dass da etwas nicht stimmen kann. Gemeinsam mit seinen beiden Kollegen Philip Goldberg und Hauke Thomsen nimmt er diskret die Ermittlungen auf. Kurz darauf entdecken sie eine Überwachungskamera in Henriettes Appartement, in deren Aufzeichnungen ein unbekannter Mann auftaucht. Zeitgleich verschwindet ihr Hausarzt spurlos. Nach einem Einbruch in der ELB-Residenz wird eine Leiche im Schweinestall des Bio-Bauern aufgefunden. Obgleich die drei Kophusener Polizisten den Fall an die Beamten aus Itzehoe abgeben müssen, setzen sie alles daran, ihn selbst aufzuklären. Mit dem Ergebnis, dass der kleine beschauliche Ort an der Elbe wieder einmal in die Schlagzeilen gelangt.

ELBGIFT ist Philip Goldbergs vierter Fall.

Nicole Wollschlaeger, 1974 in Pinneberg geboren, absolvierte zunächst eine Ausbildung zur Buchhändlerin. 2004 schloss sie ihr Schauspielstudium in Hamburg ab. Bis 2016 lieh sie ihre Stimme der Kinderbuchreihe „Das magische Baumhaus" und tourte mit ihren Lesungen durch ganz Deutschland. 2013 erschien ihr erster Roman „Schatten über Nargon" im Carlsen Verlag. Mit „ELBSCHULD" startete 2016 die Krimireihe um das Kophusener Ermittler-Trio.

Ausführliche Informationen finden Sie unter: www.nicolewollschlaeger.de

Der Titel ist auch als Paperback erschienen.

Weitere Titel der Autorin: ELBSCHULD ELBSCHMERZ ELBSPIEL

Schatten über Nargon Kinderbuch

Für Hellmuth Voigt und Anni Jungklas

»Es ist der Geist, der sich den Körper baut.«

Friedrich Schiller

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

1

Henriette Stein saß mit vorgebeugtem Oberkörper auf der Kante ihres Bettes. In der einen Hand hielt sie die Spritze. Mit der anderen schob sie die vordersten Zehen ihres rechten Fußes auseinander. Der Stich kostete sie jedes Mal Überwindung. Aber falls sie diese Geschichte nicht überlebte, musste sie dafür sorgen, dass ihr Leichnam rechtsmedizinisch untersucht werden würde, und dafür brauchte es einen triftigen Grund.

Sie atmete tief durch. Dann setzte sie die Kanüle an und stach sie durch die Haut. Die farblose Flüssigkeit in der Spritze wich dem Druck und verschwand in ihrem Fuß. Geschafft. Vorsichtig entfernte sie die Nadel und presste das Wattepad auf das Einstichloch. Kurz spürte sie, wie die Flüssigkeit ihren Mittelfuß entlanglief, oder bildete sie sich das nur ein? Nein, sie war sich sicher, dass sie es fühlen konnte. Henriette legte die Spritze zur Seite. Gedanklich ging sie noch einmal alles durch. Prüfend zog sie die Schublade ihres Nachttischs auf und tastete nach dem Bogen. Das transparente Stück Papier lag noch dort. Ganz hinten. Sie hoffte, dass man es bei der Räumung ihrer Wohnung nicht achtlos entsorgen würde, sondern die richtigen Schlüsse zog. Nur für den Fall, dass Bärbel sie heute für verrückt erklärte. Die Vorstellung, dass man ihre Nachricht nicht rechtzeitig erkannte, bereitete ihr Kopfzerbrechen. Sicher, es war umständlich so, aber ihre letzte Hoffnung ruhte auf Bärbel und mit ihr auf der örtlichen Polizei. Der Kommissar schien klug genug, ihr Manöver zu durchschauen. Eine von vielen Maßnahmen, falls ihre alte Freundin ihr heute keinen Glauben schenken würde. Niemand glaubte diese skandalösen Vorfälle. Sie ahnte, dass sie erst sterben musste, bevor man ihre Geschichte ernst nahm.

Sie schloss die Lade und warf einen kritischen Blick auf ihre Zehen. Es blutete nie. Vorsichtig schlüpfte sie in den schwarzen Keilpumps. Mit dem Wattepad und der Spritze in der Hand erhob sie sich vom Bett und kehrte ins Wohnzimmer zurück.

Ihr gefiel die Wohnung. Vom ersten Augenblick an hatte sie sich in diesen Rohdiamanten verliebt. Der Stuck an den fast vier Meter hohen Decken verlief durch sämtliche Zimmer. Die smaragdgrünen Samtvorhänge mitsamt dem riesigen Lüster hatte sie aus ihrer Villa in Wewelsfleth mitgenommen. Alles war perfekt arrangiert. Obwohl sie wusste, dass sie nicht lange bleiben würde, hatte sie sich bei der Einrichtung Mühe gegeben. Ihr Aufenthalt hier sollte so angenehm wie möglich sein, egal wie lang er dauerte. Es war schade, aber langsam wurde es zu gefährlich. Sie fühlte sich nicht mehr sicher.

Zum Glück war die ELB-Residenz ein nobler und zugleich gepflegter Altersruhesitz, in dem man es wunderbar aushielt. Keines dieser scheußlichen Pflegeheime, in denen man sein Leben mit überlasteten Altenpflegern fristete, seine kostbare Lebenszeit womöglich mit Linsenbildern oder Kastanienmännchen vergeudete. Ein weiterer Vorzug dieses waghalsigen Unterfangens war die Nähe zu ihrer langjährigen Freundin. In ihrem Alter blieben nicht mehr viele übrig. Bärbel Thomsen war vor einiger Zeit zu ihren Kindern nach Kophusen zurückgekehrt. Sie beide kannten sich seit der Schulzeit. Vor ihrer Rückkehr hatten sie sich aus den Augen verloren gehabt. Jetzt verbrachten sie so viel Zeit wie möglich miteinander. Zusammen schwelgten sie in alten Erinnerungen, sprachen über das Weltgeschehen, und Bärbel wurde nicht müde, von ihren beiden Kindern zu erzählen. Es gefiel Henriette. Fast war es wie früher, aber eben nur fast.

Seit drei Monaten wohnte sie bereits in ihrem neuen Zuhause, dem privaten Seniorenstift am Rande von Kophusen. Vor ihrem Einzug hatte sie umfangreiche Recherchen betrieben, bis sie sich sicher war, dass es sich um das richtige Stift handelte. Als sie vor einigen Tagen Weber gegenüber eine Andeutung gemacht hatte, hatte er sie nur ausgelacht, was nicht bedeutete, dass er unschuldig war. Aber dadurch war der Punkt erreicht, an dem Vorkehrungen getroffen werden mussten. Unter keinen Umständen durften mit ihr alle Informationen verschwinden. Ihren alten Freund und Hausarzt hatte sie bereits eingeweiht, doch er glaubte ihr nicht so recht, also musste sie dafür sorgen, dass es jemand anders tat. Selbst auf die Gefahr hin, dass sie ihre beste Freundin in Schwierigkeiten brachte. Heute Nachmittag würde sie Bärbel einweihen. Nicht in ihrem Zimmer, aber später im Park, wenn sie spazieren gingen. Hier hatten die Wände Ohren und vielleicht sogar Augen, davon war Henriette überzeugt. Und falls es nötig sein würde, Bärbel zu überzeugen, würde sie ihr den Keller zeigen.

Kurz vor seinem Tod hatte ihr Ehemann ein Geständnis abgelegt, das sie bis ins Mark erschüttert hatte. Fünf Monate war das jetzt her und hatte sie seitdem nicht mehr losgelassen, verfolgte sie bis in ihre Träume. In ihr war der Entschluss gereift, diese himmelschreiende Ungerechtigkeit aufzudecken. Zugegeben, sie gefiel sich in der Rolle des Racheengels, der sie alle zur Rechenschaft zog, aber zuallererst ging es ihr um die Würde eines jeden Menschen. Und um das Recht auf Selbstbestimmung.

Richard und sie waren kinderlos geblieben. Verwandte gab es nicht. Sie hatte nichts zu verlieren. Ironischerweise hatte Richards Reichtum ihr den Platz in diesem noblen Etablissement verschafft. Um auf Nummer sicher zu gehen, hatte sie ihr Testament gemacht und es an der richtigen Stelle hinterlegt. Das war der einzige Makel ihres Plans, aber er hielt sie nicht davon ab, bis in letzter Konsequenz zu handeln.

Henriette warf einen letzten Blick auf den Tisch, wo die Karaffe mit dem Sherry bereitstand. Die beiden Gläser fügten sich perfekt in das Arrangement. Daneben lag das Buch. Sie musste dafür sorgen, dass Bärbel es an sich nahm. Den Bogen hatte sie bewusst an anderer Stelle deponiert. Falls man beides bei ihr fand, geriet es womöglich in die falschen Hände. War sie schon paranoid? Möglich, aber es gab nicht viele, denen sie hier trauen konnte. Vorsicht war oberstes Gebot. Nervös blickte sie auf die Uhr an ihrem Handgelenk. Beinahe hätte sie es vergessen. Das Spritzbesteck! Hastig huschte sie zu dem Mülleimer in der Küche und warf es hinein. Es klopfte. Henriette zuckte zusammen. Sie zupfte ihre Bluse zurecht. Plötzlich hielt sie inne. Henriette eilte zum Schrank und schaltete ihre nagelneue Errungenschaft ab. Eine weitere Maßnahme zu ihrem Schutz. Jetzt war alles bereit. Wenn das ihr letzter Tag werden würde, war sie mehr als zufrieden. Sie war glücklich. Strahlend öffnete sie die Tür.

In der rechten Hand hielt Bärbel einen riesigen Strauß Blumen. Die Tulpen leuchteten in den Farben des Frühlings. Gerührt zählte Henriette mindestens dreißig Stück. Richard hatte sich nie halb so viel Mühe gemacht.

»Du siehst blendend aus«, sagte Bärbel.

»Danke. Komm herein.« Henriette schloss die Tür hinter ihnen und drehte sich zu ihr. »Sind die für mich?«

»Entschuldige, natürlich!« Bärbel streckte die Hand mit den Blumen aus. »Ich hoffe, sie gefallen dir.«

»Sie sind wunderhübsch.« Henriette nahm ihre Lieblingsvase aus dem Wohnzimmerschrank und füllte sie in der angrenzenden Küche mit Wasser. »Setz dich.«

»Du hast es dir hier wirklich schön gemacht. Obwohl ich immer noch nicht verstehe, was du als kerngesunde Frau hier eigentlich willst«, rief Bärbel. »Dein Haus in Wewelsfleth bietet alle Annehmlichkeiten, und du kommst doch noch allein zurecht. Oder gibt es da etwas, was du mir verschweigst?«

Ja, aber nicht mehr lange, dachte Henriette, als sie mit dem Strauß in der Vase in die Stube zurückkehrte. »Lass uns über etwas anderes reden.«

Bärbel hatte auf einem der ledernen Cocktailsessel Platz genommen. Die Sessel stammten aus den Sechzigerjahren. Eine kostbare Erinnerung an die Zeit, als Richard und sie noch glücklich verheiratet waren. Henriette stellte die Vase auf den Esstisch, der an der gegenüberliegenden Wand stand.

»Ich wage gar nicht zu fragen, was du für diese Wohnung bezahlst.«

Inzwischen war Henriette es gewohnt, auf derlei Bemerkungen nicht zu reagieren. Anfangs hatte sie das Gefühl gehabt, sich für den Reichtum ihres Mannes entschuldigen zu müssen. Doch im Laufe der Jahre wurde es weniger, bis es ihr schließlich gleichgültig war, was die anderen über sie dachten.

»Ich möchte dir etwas geben.« Henriette setzte sich ihrer Freundin gegenüber. Sie nahm das Buch vom Tisch. »Es ist mir sehr wichtig, dass du es an dich nimmst und sorgfältig aufbewahrst.« Bärbel sah sie irritiert an, doch Henriette ließ sich nicht beirren. »Bitte, mir zuliebe. Es ist eine Erinnerung an mich und vielleicht wird es dir irgendwann ebenso viel bedeuten wie mir.«

»Ein Buch?«

Henriette zuckte mit den Schultern und lächelte geheimnisvoll. Hier konnte sie nicht darüber sprechen. Obwohl Bärbel den Grund nicht zu verstehen schien, wie sollte sie auch, verstaute sie den Roman in ihrer Handtasche, die sie auf dem Boden neben dem Sessel abgestellt hatte. Sobald sie nach draußen gingen, würde sie es ihr erklären können.

»Und jetzt zum Aperitif.« Henriette füllte die Sherrygläser, ein altes Ritual, das sie immer noch pflegte. Vor dem Kaffee, der auf dem Esstisch auf sie wartete, gab es einen Aperitif. Sie reichte Bärbel ein Glas.

»Zum Wohl«, sagte diese und hob das ihre leicht an.

»Santé!« Henriette prostete ihr in der Luft zu und nahm den ersten Schluck. Der Sherry rann ihren Hals hinab und wärmte ihren Magen während Bärbel genüsslich an dem Glas roch.

»Ein guter Tropfen«, urteilte ihre beste Freundin.

Henriette war nervöser, als sie erwartet hatte. Sie nahm noch einen großen Schluck, auch wenn es nicht sehr damenhaft war, so hastig zu trinken. Als sie ihr Glas gerade wieder abstellen wollte, spürte sie einen brennenden Schmerz in der Magengegend. Im ersten Moment schob sie es auf den Alkohol, dann schien es ihr die Aufregung zu sein. Das bevorstehende Geständnis brachte sie zweifellos durcheinander. Als die Übelkeit einsetzte, wurde sie misstrauisch.

»Entschuldige«, sagte sie und versuchte aufzustehen. Doch ihr Körper gehorchte ihr nicht. Ihre Gliedmaßen versagten ihr den Dienst. Sie fiel zurück in den Sessel.

»Henriette, was ist mit dir?«

»Ich ... mir . . .« Ihr war schwindlig. Gleichzeitig hatte sie das Gefühl, jemand schnürte ihr die Kehle zu. Panik stieg in ihr auf. Die Schmerzen schossen ihr tief in den Brustkorb. Achtlos ließ sie das Glas fallen und griff sich ans Herz. »Ich glau ...« Ihre Stimme versagte.

Die Bilder vor ihren Augen verschwammen. Schemenhaft bekam sie mit, wie Bärbel aufsprang und ihr die Bluse öffnete. Sie wollte aufstehen, aber sie war zu schwach. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag auf den Hinterkopf. Sie würde nicht mehr mit ihrer besten Freundin sprechen können. Es war zu spät. »Das Buch ...«, hauchte sie, bevor sie leblos zusammensackte.

2

Fassungslos betrachtete Bärbel den erschlafften Körper ihrer besten Freundin. Bislang hatte sie nicht viele tote Menschen gesehen. Ihren verstorbenen Mann ausgenommen, waren es insgesamt drei. Er war der Einzige gewesen, den sie hatte sterben sehen. Bis jetzt. Sie riss sich von dem Anblick los. Wo war der Alarmknopf? Suchend schaute sie sich um, bis sie ihn neben dem Lichtschalter entdeckte. Hastig drückte sie den Knopf, und das rote Licht an der Wand blinkte auf. Unschlüssig blieb sie stehen. Die Gedanken schwirrten in ihrem Kopf.

Bärbels Blick fiel auf das Glas am Boden. Es war heil geblieben. Der Sherry hatte eine kleine Pfütze auf dem Parkett gebildet. Die Polizistenmutter in ihr erwachte. Sie folgte dem Impuls und kniete sich nieder. Mithilfe des Stofftaschentuchs, das sie aus der Handtasche kramte, hob sie das Glas vorsichtig auf und schnupperte daran. Der Sherry roch nicht ungewöhnlich. Doch das bedeutete nichts, das wusste sie. Verstört schüttelte sie den Kopf und stellte das Glas auf dem Tisch ab. Warum sollte jemand Henriette vergiften? Das ergab überhaupt keinen Sinn. Die Situation verwirrte sie, womöglich stand sie unter Schock. Neben dem Glas stand die Karaffe, in der die braune Flüssigkeit schimmerte. Erneut kam ihr der Gedanke, eine Probe zu nehmen, aber sie hatte nichts dabei, das als Behälter dienen konnte. Gerade als sie auf dem Weg in die Küche war, sprang die Tür auf und eine Krankenschwester eilte herein.

»Was ist passiert?« Sie sah sich im Raum um.

Ehe Bärbel antworten konnte, entdeckte die Schwester Henriette am Boden und kniete sich neben sie. »Auf einmal hatte sie Schmerzen und dann ...«, Bärbel zögerte, »... war sie tot.«

Es laut auszusprechen, trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie konnte es noch immer nicht glauben. Henriette war tot. Beklommen beobachtete sie die Schwester, die routiniert nach dem Handgelenk ihrer Freundin griff. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass jede Hilfe zu spät kam, ließ sie ihre Hand über Henriettes Augen gleiten und schloss die Lider. Den Impuls, sie zu bitten, nichts anzufassen, unterdrückte Bärbel. Es kam ihr irrational vor. Und doch ließ sie der Gedanke nicht los, dass hier etwas nicht stimmte. Nicht stimmen konnte. Henriette starb nicht einfach so vor ihren Augen. Eine kerngesunde Frau.

Die Schwester hielt in der Bewegung inne und schwieg einen Moment, als wolle sie der Toten die letzte Ehre erweisen. Bärbel verspürte den Drang, etwas zu tun oder loszuschreien, auch wenn sie wusste, dass es nichts mehr gab, was sie für Henriette tun konnte. Die Erkenntnis erreichte ihr Gehirn und setzte sie schachmatt. Sie ließ sich in den Sessel fallen.

»Mein herzliches Beileid, Frau Thomsen.« Zwischen den Brauen der Schwester bildete sich eine Falte. »Ist mit Ihnen alles in Ordnung?«

Bärbel nickte stumm, ohne den Blick von Henriette zu nehmen. Sie hatte sich hübsch gemacht, sogar ein bisschen Rouge aufgelegt. Ihr Alter sah man ihr nicht unbedingt an. Statt Ende sechzig hätte sie genauso gut in den Fünfzigern sein können. Henriette war immer die Hübschere von ihnen beiden gewesen.

»Frau Stein klagte seit einigen Wochen über Herzbeschwerden«, erklärte die Schwester.

Bärbel sah sie ungläubig an. »Herzbeschwerden?«, fragte sie.

Der mitfühlende Blick dieser Frau ließ ihr die Tränen in die Augen schießen. Warum hatte Henriette nichts davon erwähnt? Das war unmöglich, sie sprachen doch über alles. Mit dem Handrücken wischte sie sich über die Wangen. Dabei fiel ihr Blick auf das aufgenähte Emblem des Stifts, das die unifarbene Bluse der Schwester zierte. Dazu trug sie eine schwarze Hose. Man legte Wert darauf, eine Pflegeheimatmosphäre zu vermeiden. Bärbel war es von Anfang an reichlich übertrieben erschienen, doch sie schob den unpassenden Gedanken beiseite.

»Kommen Sie, ich rufe den Arzt und begleite Sie in die Besucherlounge. Dort können Sie sich erholen.«

Vermutlich hatte die junge Frau recht, aber etwas in ihr sträubte sich gewaltig, Henriette einfach allein zurückzulassen. Die Schwester fasste sie am Arm. Unfähig, sich zu wehren, ließ sie sich von ihr aufrichten und kam mit wackligen Beinen zum Stehen. Behutsam löste sie sich aus dem Griff der Krankenschwester und wandte sich Henriettes Körper zu. Ihr Kopf wurde von der seitlichen Lehne des Sessels gestützt. Es sah fast so aus, als wäre sie erschöpft eingeschlafen. Wenn es doch nur so wäre! Bärbel beugte sich zu ihr und gab ihr einen sanften Kuss auf die Stirn.

»Leb wohl, mein Engel«, flüsterte sie. Zärtlich streichelte sie ihr über das Gesicht. Ihren Ehemann hatte sie damals auf die gleiche Art und Weise verabschiedet. Es war eine reflexhafte Geste, die ihr in dem Moment, in dem sie ihre Hand zurückzog, schmerzlich bewusst wurde. Sie fragte sich, ob man mit der Zeit Übung darin bekam, Menschen beim Sterben zu begleiten.

3

Die Besucherlounge befand sich im Erdgeschoss des Gebäudes, ein eleganter Salon, der von wuchtigen Bücherregalen dominiert wurde. Von der teuren, mit schlichten Ornamenten gemusterten Tapete war kaum noch etwas sichtbar. Bärbel saß in einem der Sessel, ihre Tasche auf dem Schoß, und schaute durch eine der weißen Flügeltüren, die einen Spalt offen stand. Man hatte ihr ein Glas Wasser und einen Schnaps gebracht. Doch Bärbel hatte beides nicht angerührt. Die ganze Zeit fragte sie sich, was in Henriettes Zimmer vor sich gehen mochte. Soweit ihr bekannt war, hatte sie keine Angehörigen. Jemand musste sich um die Bestattung kümmern, alles in die Wege leiten. Seltsamerweise hatten die beiden nie über ihren Tod gesprochen. Er schien ihnen noch zu weit weg. Sie waren noch nicht in dem Alter, in dem man den kalten Hauch des Todes spürte. Was sie wieder zu der Frage brachte, was Henriette überhaupt bewogen hatte hierherzuziehen. Sie hatte es ihr nie erzählt.

Wie lange sie bereits schon so dasaß und ihren zusammenhangslosen Gedanken nachhing, wusste sie nicht mehr. Ihr war jegliches Zeitgefühl abhandengekommen. Erst als die Schwester von eben hastig an den Flügeltüren Richtung Ausgang vorbeigehuscht war, holte sie das in die Gegenwart zurück. Bärbel stand auf und eilte zum Fenster, die Tasche noch immer umklammert, als wäre sie ein schützender Schild. Der Blick auf die Auffahrt ließ sie zugleich erschrecken und erstaunen. Sie hatte nie zuvor einen cremefarbenen Leichenwagen gesehen. Das hätte Henriette gefallen, dachte sie. Womöglich hatte sie sich das sogar gewünscht. Tränen bahnten sich ihren Weg. Zwei Männer stiegen aus dem Auto. In schwarzen Anzügen schritten sie über den Kies zu der Schwester, die auf der breiten Treppe auf sie wartete. Sie gaben sich die Hand, dann verschwanden sie aus Bärbels Blickfeld. Der Leichenwagen besaß ein Hamburger Nummernschild, demnach war es kein ortsansässiges Unternehmen. Kurz musste sie an Peters Schwager denken, der ein Beerdigungsinstitut in Wilster betrieb, drängte den Gedanken jedoch beiseite.

Noch bevor sie zu dem Sessel zurückkehren konnte, traten die beiden Männer ein. Sie nickten ihr zu und setzten sich schweigend. Aus der Nähe betrachtet wurde ihr klar, weshalb man nicht den Schwager von Peter, sondern diese Herren beauftragt hatte. Ihre dunklen Anzüge sahen aus wie maßgeschneidert. Bärbel war beeindruckt. Henriette hatte ein üppiges Vermögen von ihrem Mann geerbt, das ihr erlaubte, selbst nach dem Tod einen Fünf-Sterne-Service in Anspruch zu nehmen. Sie blieb neben dem Sessel stehen und beobachtete, wie die Schwester ihnen Kaffee sowie eine Schale mit Keksen brachte und wieder verschwand. Man schien sich zu kennen. Die Bestatter verzogen keine Miene. Schweigend nippten sie an den eleganten weißen Tassen. Die Kekse rührten sie nicht an. Auf Bärbel wirkte die Situation wie eine Szene aus einem Bühnenstück. Unwillkürlich musste sie an die Todesszene im Kophusener Jedermann denken, als ihr Sohn Hauke, der den Tod gespielt hatte, seinen Kollegen Peter als Jedermann abholte. Wie taktlos, tadelte sie sich und streifte die Erinnerung rasch ab.

Das Knarzen der alten Treppe in der Eingangshalle war so laut, dass man es bis in den angrenzenden Salon hören konnte. Einige Augenblicke später betrat ein Mann im dunkelbraunen Anzug den Raum. Darüber trug er einen weißen eleganten Arztkittel. Die drei gaben sich die Hand, bevor er sich ihr zuwandte.

»Frau Thomsen?«

Bärbel nickte.

»Mein Name ist Professor Marcus Weber. Ich leite die ELB-Residenz. Mein aufrichtiges Beileid.« Er streckte seine Hand aus, die Bärbel umständlich ergriff, um ihre Tasche nicht fallen zu lassen.

»Danke.« Sie versuchte, den Kloß in ihrer Kehle loszuwerden, allerdings ohne Erfolg. Ihr Blick fiel auf das Stethoskop, das um den Hals des Arztes hing, sicher hatte es vor wenigen Sekunden auf Henriettes Brustkorb gelegen. Eine weitere Flut von Tränen wollte aus ihre Augen treten, doch sie verbot es ihnen. Nicht jetzt, dafür war später noch genügend Zeit. Der Professor legte ihr sanft die Hand auf die Schulter.

»Es war Herzversagen. Sie hätten nichts tun können. In den letzten Tagen klagte sie über Herzbeschwerden. In Absprache mit ihrem Hamburger Hausarzt hatte ich ihr ein leichtes Präparat verschrieben.«

»So plötzlich?«, stieß sie hervor.

»Ja, leider viel zu früh.«

Der dicke Kloß in ihrem Hals hinderte sie am Sprechen.

»Ich werde Frau Stein gleich gründlich untersuchen, bevor ich alles Weitere veranlasse. Sie hatte keine lebenden Verwandten mehr, deshalb hatte sie uns vorsorglich mit ihren Angelegenheiten betraut. Es war ihr Wunsch, verbrannt und anschließend auf See bestattet zu werden. Wir haben einen genauen Ablauf für diese Fälle. Sie können sicher sein, dass wir uns strikt an die Wünsche von Frau Stein halten. Viele unserer Reisenden haben keine Angehörigen mehr, sodass wir uns um alles kümmern.«

Der Arzt sprach leise. Seine Hand war nicht von Bärbels Schulter gewichen. Sie konnte die Wärme durch das dünne Kleid spüren, doch irgendwie fühlte es sich unbehaglich an.

»Sie hat viel von Ihnen erzählt, Frau Thomsen. Sie haben ihr am nächsten gestanden. Über den Termin der Seebestattung werde ich Sie informieren. Erfahrungsgemäß dauert das etwas. Ich werde den Totenschein ausstellen, und die Kollegen überführen sie dann ins Krematorium.«

Bärbel biss sich auf die Unterlippe. Sie konnte die Tränen kaum noch unterdrücken.

»Jetzt möchte ich Sie nicht weiter unnötig mit Formalitäten belästigen. Frau Thomsen, Sie können natürlich bleiben, solange Sie wollen. Wenn Sie etwas brauchen, sagen Sie meinen Mitarbeitern bitte Bescheid.«

»Kann ich noch einmal hoch in die Wohnung?«

»Im Moment nicht. Wenn Sie einen Augenblick Geduld haben, dann können Sie sie noch einmal sehen, bevor die Kollegen sie mitnehmen.«

»Verstehe.« Bärbel schluckte trocken.

Professor Weber drückte ihr die Hand zum Abschied. Dann wandte er sich an die Männer neben ihr, die noch immer in den Sesseln saßen. »Meine Herren, Sie können schon mitkommen.«

»Dürfen wir den Sarg gleich hochbringen?«

Bärbel spürte den Stich. Aus verschwommenen Augen sah sie, wie Weber das Gesicht verzog. »Ja, aber bitte seien Sie diskret.« Er wandte sich zum Abschied um: »Entschuldigen Sie uns bitte, Frau Thomsen.«

Bärbel blieb allein zurück. Sie versuchte, sich klarzumachen, dass das alles gerade tatsächlich passierte, dass Henriette vor ihren Augen gestorben war. Es fühlte sich unwirklich an. Auf einmal sehnte sie sich nach einem anderen Menschen. Sie zog ihr Mobiltelefon aus der Handtasche und rief einem spontanen Einfall folgend Peter Brandt an. In den letzten Wochen hatten Peter und Henriette sich angefreundet. Insgeheim hatte Bärbel schon auf ein Happy End zwischen den beiden gehofft, aber die zwei ließen es sehr langsam angehen. Viel zu langsam für Bärbels Geschmack. Aber sie wusste, dass Peter Henriette sehr gemocht hatte. Außerdem war er Polizist, genau das, was sie jetzt brauchte. Das Gespräch dauerte nicht lange, er versprach, sich sofort ins Auto zu setzen.

Während sie auf Haukes Freund und Kollegen wartete, verstärkte sich das ungute Gefühl. Ihr Drang, oben im Appartement nach dem Rechten zu sehen, wurde spürbar größer. Doch Bärbel hatte keinerlei Befugnis. Es war ausgesprochen zuvorkommend gewesen, dass der Professor sie in die Abläufe eingeweiht hatte. Dazu bestand keinerlei Verpflichtung. Bärbel ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie froh über die gesetzliche Untersuchung des Amtsarztes war. Vor jeder Einäscherung wurde der Leichnam nochmals von einem unabhängigen Sachverständigen überprüft, das wusste sie von der Bestattung ihrer Mutter. Nicht dass sie Fremdverschulden ernsthaft in Betracht zog, aber es gab ihr ein besseres Gefühl. Die Erinnerungen an den Tod ihres Mannes vor einigen Jahren holten sie plötzlich ein. Die Zeit im Hospiz war für sie am schlimmsten gewesen. Zu sehen, wie es dem Ende entgegenging, ohne dass sie etwas tun konnte. Der Krebs war langsam gekommen, doch umso schneller hatte er zugeschlagen.

»O Gott, Bärbel, was ist passiert?«

Sie schreckte aus ihren Gedanken auf. Peter stand in der Tür zum Salon. Er musste die Strecke zum Stift gerast sein.

»Setz dich«, sagte sie um Fassung bemüht und deutete mit einer fahrigen Handbewegung auf den Sessel neben sich. Die Handtasche war dabei zu Boden gefallen. Achtlos ließ sie sie dort liegen.

»Wie geht es dir?«, fragte Peter.

Bärbel ignorierte seine Frage. »Sie war kerngesund, wie ist das möglich?«

»Herzversagen kommt überraschend.«

»Aber nicht bei Henriette. Ihr Herz war stark wie das eines Elefanten. Sie hatte nie Herzprobleme. Angeblich klagte sie in letzter Zeit über Herzbeschwerden, hat mir die Schwester gesagt. Aber das ist doch Quatsch! Das hätte sie mir erzählt.«

»Vielleicht wollte sie dich nicht beunruhigen?«

Bärbel schüttelte vehement den Kopf. »Da stimmt was nicht.«

»Was willst du damit sagen?«

Bärbel biss sich auf die Unterlippe. »Nicht hier ..«

Peter sah sie irritiert an. »Sie wird in jedem Fall von einem zweiten Arzt angeschaut, bevor sie verbrannt wird«, versuchte er sie zu besänftigen.

»Gut so.« Bärbel stutzte kurz. »Woher weißt du, dass sie verbrannt werden wollte?«

»Sie hat es mir erzählt.«

»Darüber habt ihr gesprochen?«

»Bärbel, beruhige dich! Ich weiß, es ist sehr schmerzhaft für dich.«

Sie räusperte sich. »Sie ist noch oben in ihrer Wohnung. Kannst du mal hochgehen und schauen, ob wirklich alles seine Richtigkeit hat?«

Bärbel war hin- und hergerissen. Ihre Gedanken wirbelten in ihrem Kopf.

Behutsam legte Peter den Arm um sie. »Ich denke, sie wird gerade untersucht.«

»Ja, aber hoffentlich macht der Weber das ordentlich und verpfuscht nicht sämtliche Spuren.«

»Was denn für Spuren?«

»Du weißt genau, wovon ich rede.« Abrupt stand sie auf. »Na komm.«

»Wo willst du denn jetzt hin?«

»Nach oben in die Wohnung natürlich.« Bärbel spürte Wut in sich aufwallen.

»Dazu haben wir keine Berechtigung«, wandte er ein.

»Peter, du bist Polizist. Wie heißt das bei euch? Gefahr in Verzug?«

»Gefahr im Verzug.«

»Egal, du weißt, was ich meine.«

»Bärbel, das geht nicht«, insistierte er halbherzig. »Dann rufe ich eben Hauke an.«

»Das ändert nichts an der Gesetzeslage.«

»Dann kümmere ich mich eben selbst darum.« Sie griff nach der Handtasche, machte auf dem Absatz kehrt und marschierte aus dem Salon.

»Bärbel, bitte reiß dich zusammen!« Peter kam hinter ihr her.

Unbeirrt nahm sie die letzten Stufen und bog am Ende der Treppe links in den Flur ab. Es dauerte keine zwei Minuten, da standen sie vor der geschlossenen Tür.

»Du kannst da jetzt nicht einfach reingehen. Professor Weber ist vielleicht noch mitten in der Untersuchung.«

Bärbel ignorierte ihn. Sie klopfte, trat aber ein, ohne eine Antwort abzuwarten. Der Arzt war nicht mehr da. Die Bestatter hatten Henriette schon in den Sarg gebettet. Zögernd kam Bärbel einige Schritte näher. Der Anblick ihrer toten Freundin übermannte sie erneut. Nun konnte sie einen Schluchzer nicht länger unterdrücken. Sie spürte Peters unbeholfene Umarmung. Ihr Blick ruhte auf dem auch im Tode noch so vertrauten Gesicht ihrer besten Freundin. Was sie darin las, zerstreute den letzten Zweifel, dass Henriette eines natürlichen Todes gestorben war.

4

Peters Anruf erreichte Philip Goldberg auf seiner kleinen Terrasse, während er den dritten und letzten Espresso für heute trank. Drei Tassen gestattete er sich täglich. Es war später Nachmittag. Magda, seine Lebensgefährtin, hatte sich oben hingelegt. Sie waren vorhin von einem ausgiebigen Elbspaziergang zurückgekehrt, der sie ermüdet hatte.

»Das tut mir sehr leid«, hörte er sich sagen und schämte sich zugleich, dass ihm nichts Gescheiteres einfiel.

»Ja. Sie haben sie abgeholt. Gott sei Dank konnte ich Bärbel beruhigen. Ich habe sie zurück in die Pension gebracht und Hauke angerufen. Der kommt gleich vorbei.«

Die Stimme seines dienstältesten Mitarbeiters klang belegt. Goldberg hatte Mühe, die eigenen Emotionen unter Kontrolle zu halten. Er hatte vor einiger Zeit ebenfalls einen schweren Verlust erlitten und wusste, dass man sich nie vollständig davon erholte. Henriettes Tod ließ in Peter möglicherweise alte Erinnerungen aufkommen. In seiner Gegenwart hatte Peter nie über den Tod seiner Frau Marion gesprochen, was es für Goldberg schwierig machte, das Ausmaß seiner Trauer einzuschätzen. Er kannte Peter nur als aufgeschlossenen und lebensfrohen Menschen. Die Traurigkeit behielt er für sich. Da waren die beiden sich ausgesprochen ähnlich.

»Ich weiß, ihr mochtet euch sehr gern. Wie geht es dir damit?« Was für eine dumme Frage, dachte Goldberg, kaum, dass er sie ausgesprochen hatte. Aber in solchen Situationen gab es keine angemessenen Worte. Jedenfalls nicht in seiner Sprache. »Brauchst du etwas? Soll ich vorbeikommen?«

»Das ist nett von dir, Philip, aber es geht schon. Ich komme klar.«

Er glaubte Peter kein Wort. Die drei Polizisten waren über die Jahre Freunde geworden, und auch wenn er strenggenommen Peters und Haukes Vorgesetzter war, wirkte sich das nicht auf ihr Privatleben aus.

»Ich fahre jetzt zu dir. Keine Widerrede.«

»Nein, Philip, wirklich. Es ist alles o.k.«

»Möchtest du hierher kommen?«

»Ist Magda nicht da?«

»Sie schläft. Peter, ich finde, du solltest in einem solchen Moment nicht alleine sein.« Goldberg konnte förmlich hören, wie es in seinem Kollegen rumorte. »Du machst dich jetzt auf den Weg. Das ist eine dienstliche Anordnung.«

»Dann muss ich der wohl Folge leisten, oder?«

»Wenn du kein Disziplinarverfahren riskieren willst, solltest du das tun.«

»Ich sage Hauke Bescheid und komme bei euch vorbei. Außerdem möchte ich mit dir etwas besprechen. Unter vier Augen.«

»Gut, bis gleich.«

»Bis gleich.«

Dieser Sonntag würde anders ausklingen als erwartet. Das Drei-Tassen-Limit konnte er getrost vergessen. Goldberg erinnerte sich, wie er Henriette erst vor einigen Tagen bei Rosi, Haukes Schwester und Betreibern der örtlichen Gaststätte, kennengelernt hatte. Die Dame schien völlig gesund zu sein, jedenfalls wirkte sie nicht gerade herzkrank, aber was wusste er schon davon. Dass Bärbel sich so aufgeregt hatte, wunderte ihn nicht. Sie war ein impulsiver Mensch, ebenso wie ihr Sohn. Nur ihre Tochter schien dieses Gen nicht geerbt zu haben, oder aber die Stunden bei Sohanraj, dem Kophusener Yogi, brachten Rosi die entsprechende innere Ruhe ein.

Die noble ELB-Residenz hatte erst vor zwei Jahren eröffnet. Sie bot wohlhabenden Menschen die Möglichkeit, ihren Lebensabend würdevoll und mit jeglichem Komfort zu verbringen, auch wenn sie noch keiner Betreuung oder pflegerischer Versorgung bedurften. Es war mehr ein Hotel als ein Altenheim, fand Goldberg. Je nach Bedarf war es zusätzlich möglich, verschiedene Pflegegrade und Module dazuzubuchen, bis zum Rundum-Wohlfühl-Paket. Er hatte das Anwesen letzten Monat besichtigt. Seine Mutter wurde nicht jünger. Wenn es hart auf hart kam, wollte er sie in seiner Nähe wissen. Berlin war für so einen Fall zu weit weg.

An diesem Nachmittag hatte er einen perfekten Eindruck gewonnen. Die Appartements wirkten hell und großzügig. Das Personal war überaus freundlich und zuvorkommend gewesen. Doch Goldberg hatte bei seinem Besuch etwas Wesentliches vermisst: die Seele. Die Freundlichkeit war nicht Ausdruck einer inneren Haltung, sondern eher geschulte Praxis. Wie in einem erstklassigen Hotel, zu dessen Standard es gehörte, alle Gäste ständig mit Namen anzureden. Während des zweistündigen Rundgangs hatte er den Namen Goldberg mindestens dreißigmal gehört, und es war ihm auf die Nerven gegangen. Letztlich hatte er sich gegen das Haus entschieden. Seine Mutter, die Stil und Ästhetik durchaus zu schätzen wusste, würde diesen Laden mit ihrer berlinerischen Ruppigkeit ordentlich aufmischen. Außerdem hasste sie alles Aufgesetzte, und genau so erschien es Goldberg: aufgesetzt. Ihm fiel Professor Weber ein. Ein Mann vermutlich in den Fünfzigern, der ihm und Magda seine kostbare Zeit gewidmet hatte. Er brannte offenbar für das, was er tat, und es war ihm gelungen, Goldberg mit der Begeisterung anzustecken. Für die Dauer des Gesprächs war der Funke übergesprungen. Aber sobald er auf den Flur getreten war und die betont leger gekleideten Betreuer sah, verflog die Euphorie.

»Ein Haus des Grauens«, hatte es Magda genannt. Seine Freundin hatte ihn begleitet und ihren Besuch mit den knappen Worten: »Genau das Richtige für Hilde« kommentiert. Ihre Ex-Schwiegermutter lebte auf einem ehemaligen Obsthof. Allein, weil niemand mehr etwas mit ihr zu tun haben wollte. Am wenigsten Magda.

Goldberg erhob sich. Magdas Tablet-PC lag auf dem Küchentisch. Er schnappte sich das flache Ding. Obwohl er nicht sonderlich internetaffin war, mochte er dieses handliche Gerät. Er nutzte es für seine gelegentlichen Recherchen im Internet. Zurück im Gartenstuhl rief er die Website des Stifts auf. In gedeckten Farben gehalten wirkte sie schlicht und elegant. Das Foto von Weber weckte in ihm die Erinnerung an das Gespräch während der Besichtigung. Die Situation hatte etwas Bizarres an sich gehabt. Der Professor hatte die Bewohner des Stifts Reisende genannt, wobei er den Begriff geradezu inflationär benutzte. Die Residenz sei nur eine weitere Station auf ihrer aller Reise, so hatte er sich ausgedrückt. Und seinen Reisenden wolle er diese Rast so angenehm wie möglich machen.

Webers Vita las sich wie eine Gebrauchsanweisung für den ultimativen Erfolg. Er betreute seine Reisenden medizinisch wie psychologisch. Er hatte beides in den Staaten studiert und war danach in die Forschung für Geriatrie gegangen, bis er »... von dem Gedanken beseelt wurde, einen Ort zu schaffen, an dem die älteren Mitbürger unter optimalen Bedingungen zu voller Reife aufblühten«. Goldberg hob die linke Augenbraue. Das war definitiv kein Ort für seine Mutter. Er hörte Schritte.

»Klopf, klopf.« Peter lugte um die Hausecke.

»Hey. Setz dich.« Er legte das Tablet zur Seite. »Was möchtest du trinken?«

»Gar nichts, danke.«

Sein Freund sah mitgenommen aus. Mit Blick auf den Garten kam sein Kollege über die Terrasse geschlurft. In der Hand hielt er ein Buch.

»Du hast ganz schön Zeit investiert. Richtige Beete mit Gemüse und so, Respekt.«

»Um ehrlich zu sein, ist das Magdas Verdienst.«

Peter legte das Buch im Gras ab und setzte sich ihm gegenüber auf einen der alten Holzstühle.

»Was ist das?«, fragte Goldberg und deutete auf das in Leinen gebundene Hardcover. Einen Begriff, den er von Magda gelernt hatte. Sie war leidenschaftliche Buchhändlerin.

»Darüber wollte ich mit dir sprechen«, begann Peter. »Bärbel hat es mir gegeben. Ich soll es mir anschauen, weil Henriette kurz vor ihrem Tod darauf bestanden hat, dass sie es einstecken sollte.«

»Und?«

»Ich habe über Bärbels Verdacht nachgedacht«, sagte er und zögerte weiterzusprechen. »Sie hat nicht unrecht, weißt du?«