Elena – Ein Leben für Pferde 7: In letzter Sekunde - Nele Neuhaus - E-Book

Elena – Ein Leben für Pferde 7: In letzter Sekunde E-Book

Nele Neuhaus

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Beschreibung

Der siebte Band der Pferdebuch-Erfolgsserie von Bestseller-Autorin Nele Neuhaus

Durch Zufall entdecken Elena und Melike bei einem Ausritt zwei völlig verwahrloste Pferde. In einer waghalsigen Aktion retten sie die beiden Tiere in letzter Sekunde vor dem Schlachter. Während Elena den Fuchswallach Priamos in ihr Herz schließt, erfährt sie den Grund für seinen schlechten Zustand: Sein Besitzer ist unter mysteriösen Umständen gestorben. Als Melike und Elena Hinweise auf ein Verbrechen entdecken, beginnen sie auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen und geraten dabei in größte Gefahr. Doch das ist nicht das einzige Problem, das Elena beschäftigt: Farid bekommt von einem großen Fußballverein ein Angebot, das er nicht ausschlagen kann – dafür muss er allerdings in eine andere Stadt ziehen. Kann ihre Beziehung über diese Distanz hinweg überhaupt bestehen?

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Das Buch

Durch Zufall entdecken Elena und Melike bei einem Ausritt zwei völlig verwahrloste Pferde. In einer waghalsigen Aktion retten sie die beiden Tiere in letzter Sekunde vor dem Schlachter. Während Elena den Fuchswallach Priamos in ihr Herz schließt und ihn auf dem Amselhof aufpäppelt, erfährt sie den Grund für seinen schlechten Zustand: Sein Besitzer ist unter mysteriösen Umständen gestorben. Als Melike und Elena Hinweise auf ein Verbrechen entdecken, beginnen sie mithilfe von Farid und Tim auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen und geraten dabei in größte Gefahr. Doch das ist nicht das einzige Problem, das Elena beschäftigt, denn Farid bekommt von einem großen Fußballverein ein Angebot, das er nicht ausschlagen kann – dafür muss er allerdings in eine andere Stadt ziehen. Kann ihre Beziehung über diese Distanz hinweg überhaupt bestehen?

Die Autorin

© privat

Nele Neuhaus, geboren 1967 in Münster/Westfalen, lebt heute im Taunus. Sie reitet seit ihrer Kindheit und schreibt bereits ebenso lange. Nach ihrem Jurastudium arbeitete sie zunächst in einer Werbeagentur, bevor sie begann, Erwachsenenkrimis zu schreiben. Mit diesen schaffte sie es auf die Bestsellerlisten und verbindet nun ihre zwei größten Leidenschaften: Schreiben und Pferde. Ihre eigenen Pferde Fritzi und Won Da Pie standen dabei Pate für die gleichnamigen vierbeinigen Romanfiguren. Von Nele Neuhaus ist auch die Reihe »Charlottes Traumpferd« bei Planet! erhältlich.

Mehr über Nele Neuhaus: www.neleneuhaus.de

Der Verlag

Du liebst Geschichten? Wir bei Planet! in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH auch!

Wir wählen unsere Geschichten sorgfältig aus, überarbeiten sie gründlich mit Autoren und Übersetzern, gestalten sie gemeinsam mit Illustratoren und produzieren sie als Bücher in bester Qualität für euch.

Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

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Viel Spaß beim Lesen!

In Gedenken an Priamos,das großartigste und wunderbarste Pferd, das ich jemals besessen habe. 1986 – 2016

1. Kapitel

Der Regen prasselte auf das Dach der großen Reithalle und vor den Fenstern war es so düster, als ob die Welt untergehen würde. Es war halb neun Uhr morgens und ich war mit meinem Pferd Lancelot, genannt Lenzi, ganz allein in der Halle. Noch vorgestern, am Ostersonntag, war es fast so warm gewesen wie im Sommer. Auf dem Turnier in Bischofsheim waren wir mit kurzen Ärmeln herumgelaufen und ich hatte mir sogar einen leichten Sonnenbrand auf den Armen geholt. Mitten in der Nacht hatte es ein heftiges Gewitter gegeben und seitdem schüttete es aus tief hängenden Wolken wie aus Kübeln. Laut meiner Wetter-App sollte es eigentlich heute Vormittag schon wieder trocken und sonnig sein, so bestand immerhin die Chance, dass die zweite Woche der Osterferien nicht komplett ins Wasser fallen würde.

Für Lenzi und meinen Hengst Fritzi stand heute nur leichte Arbeit auf dem Programm. Beide waren am Wochenende auf dem Turnier supertoll gegangen und ich hatte unter anderem mit Fritzi ein M**-Springen gewonnen. Mit Lenzi hätte ich am Sonntagnachmittag sogar noch um ein Haar meinen zweiten Sieg in einem S-Springen errungen, wenn wir nicht ausgerechnet am letzten Hindernis einen blöden Flüchtigkeitsfehler kassiert hätten! Unsere Zeit hatte keiner der anderen Teilnehmer des Stechens geholt. So hatte Niklas, der Freund meiner besten Freundin Melike, mit seinem erfahrenen Fuchswallach Palais de Danse gewonnen, knapp vor meinem Exfreund Tim Jungblut. Aber mein vierter Platz im S* hatte ausgereicht, um als erfolgreichste Reiterin des gesamten Turniers mit einem Sonderehrenpreis ausgezeichnet zu werden, über den sich unser Bereiter Jens, dem ich vor vielen Jahren den Spitznamen »Aknefrosch« verpasst hatte, lustig machte. Bei dem Preis, der von einem Reisebüro gestiftet worden war, handelte es sich nämlich um einen Gutschein für einen einwöchigen Urlaub in einem Fünf-Sterne-Wellness-Hotel auf Mallorca für zwei Personen, inklusive Flug.

»Tür frei, bitte!«, rief jemand in diesem Moment.

»Ist frei«, erwiderte ich und ließ Lenzi ganze Bahn galoppieren.

Der Aknefrosch öffnete die Bandentür und führte Pokerface, einen fünfjährigen braunen Wallach, in die Bahn. Pfeifend zog er die Steigbügel hinunter, gurtete nach und schwang sich in den Sattel, obwohl Pokerface tänzelte und unruhig mit dem Kopf schlug. Der junge Wallach machte ein paar Bocksprünge, doch so etwas beeindruckte den Aknefrosch nicht.

»Na, dummes Kind«, neckte er mich, als ich an ihm vorbeitrabte, »wann geht’s nach Malle zum Wellnessen, hm?«

Früher hatte ich ihn nicht sonderlich leiden können, weil er entweder mürrisch war oder sich über mich lustig machte, aber in letzter Zeit war er gar nicht mehr so krass aknefroschig, sondern eigentlich ganz nett. Vielleicht lag es daran, dass er endlich eine Freundin hatte, denn seitdem er mit Gloria zusammen war, hatte er sich zu seinem Vorteil verändert.

»Keine Ahnung.« Ich hatte im Laufe der Jahre gelernt, mich nicht von Jens provozieren zu lassen. »Vielleicht gar nicht.«

»Wieso denn nicht?«, meinte der Aknefrosch. »Du könntest doch mit deinem Herzbuben zusammen in die Sauna gehen, im Infinitypool schwimmen, Yoga und Ayurveda machen und abends am Ballermann Sangria aus Eimern schlürfen.«

»Ganz sicher nicht!«, entgegnete ich. »Außerdem ist Farid an den nächsten Wochenenden sowieso immer unterwegs.«

Mein Freund Farid Belhedi war Fußballprofi und spielte bei Eintracht Frankfurt. Genau wie Tim und Christian hatte er vor den Osterferien schriftliches Abitur gemacht, dafür hatte sein Verein ihn freigestellt, aber für den Rest der Saison würde er an jedem Wochenende und manchmal sogar unter der Woche Spiele haben, meistens sogar in irgendwelchen anderen Städten. Farid spielte nicht nur in seinem Verein, sondern auch in der U19-Nationalmannschaft. Vor zwei Wochen war er achtzehn geworden, genau einen Tag vor meinem sechzehnten Geburtstag, und seitdem durfte er endlich selbst, ohne seine Mutter nebendran, Auto fahren, was ziemlich cool war. Auf einen Wellness-Urlaub auf Mallorca hatte er ebenso wenig Bock wie ich.

Ich parierte Lenzi zum Schritt durch, ließ ihn am langen Zügel gehen und checkte mein Smartphone. Melike hatte mir schon vor zwanzig Minuten eine Sprachnachricht geschickt. Sie war beim Zahnarzt früher fertig als gedacht und wollte um zehn Uhr im Stall sein. Das passte ja super, denn ich hatte Fritzi schon geritten und war damit fertig für heute.

Ich hielt Lenzi an und ließ mich aus dem Sattel gleiten. Als ich die Bandentür öffnete, kam Twix angewetzt. Mein braun-weißer Jack Russel Terrier folgte mir immer wie ein Schatten. Wenn ich ritt, saß er auf der Tribüne und schaute mir zu. Ich legte Lenzi die Abschwitzdecke über die Kruppe und kratzte ihm die Hufe aus. Hinter mir hörte ich den Aknefrosch singen. Die Tür ging auf und mein Exfreund Tim Jungblut betrat die Vorhalle. Er führte Acapulco, ein Pferd von Niklas, am Zügel. In den nächsten Wochen würde er jeden Tag Niklas’ Pferde reiten, denn Melikes Freund und mein Bruder Christian waren gestern Abend nach Boston geflogen, wo Niklas ab dem Sommer studieren würde. Meine Eltern hatten Christian die Reise zum Abitur geschenkt und für ihn war damit ein Traum in Erfüllung gegangen. Er und Niklas würden für vier lange Wochen in Amerika bleiben.

»Hi«, sagte Tim zu mir. »Alles klar?«

»Hi«, erwiderte ich und hängte den Hufkratzer an den Haken. »Ja. Und bei dir?«

»Auch.« Tim blickte mich aus seinen hellblauen Augen prüfend an. »Ist es eigentlich okay für dich, wenn ich jetzt öfter hier bin?«

»Ja, klar.«

Schon im Winter hatte Niklas beschlossen, vier seiner sechs Turnierpferde zu verkaufen und nur seine beiden besten Pferde Palais de Danse und No Doubt mit nach Amerika zu nehmen. Obwohl er einer der erfolgreichsten Nachwuchsspringreiter Deutschlands war und vor zwei Jahren Junioren-Europameister geworden war, hatte er nicht vor, das Reiten zu seinem Beruf zu machen. Viel mehr wollte er nach dem Studium in der Firma seines Vaters, einem internationalen Hoch- und Tiefbaukonzern, arbeiten und das Reiten nur noch als Hobby betreiben. Tims Vater Richard Jungblut hatte vorgeschlagen, Schützes sollten die vier Pferde zu ihm auf den Sonnenhof bringen, damit Tim sie dort reiten und er selbst sie vermarkten könne. Niklas’ Eltern waren von dieser Idee jedoch nicht begeistert gewesen und das nicht nur deshalb, weil Richard Jungblut anderthalb Jahre im Gefängnis gesessen hatte. In dieser Zeit hatte er den Sonnenhof an den Vater von Ariane Teichert verpachtet, was sich als großer Fehler erwiesen hatte. Teicherts hatten keinen blassen Schimmer davon, wie man eine Reitanlage führt, und sie hatten alles total herunterkommen lassen und dann vorzeitig den Pachtvertrag gekündigt. Die Böden in der Reithalle und auf dem Reitplatz waren eine Katastrophe, bei einem Wintersturm war ein Teil des Stalldachs weggeflogen, weil niemand daran gedacht hatte, die Dachluken zu schließen, außerdem waren durch den Frost alle Wasserleitungen aufgefroren, sodass der Stall wochenlang unter Wasser gestanden hatte und die automatischen Tränken in den Boxen nicht mehr funktionierten. Schützes waren mit meinen Eltern übereingekommen, dass Tim solange die Pferde auf dem Amselhof reiten sollte, bis sich passende Käufer fanden.

Noch vor ein paar Monaten hätte mich die Aussicht, Tim jeden Tag sehen zu müssen, ziemlich genervt, aber mittlerweile hatte ich kein Problem mehr damit. Zwischen Farid und mir lief alles super und Tim hatte kapiert, dass er bei mir keine Chance mehr hatte.

»Ich bin der König von Mallorca!«, trällerte der Aknefrosch in der Reithalle laut und falsch und grinste mir zu, als er an der Tür vorbeitrabte.

»Was ist denn in den gefahren?«, fragte Tim mich erstaunt.

»Er ärgert mich dauernd mit diesem Reisegutschein, den ich in Bischofsheim gewonnen habe«, erklärte ich meinem Exfreund und verdrehte die Augen.

Tim grinste nur kopfschüttelnd, dann nahm er dem Schimmel die Decke ab und ging mit dem Pferd in die Reitbahn.

Mein Bruder hatte erzählt, dass er einen Job bei einem Getränkegroßhandel in Hettenbach angenommen hatte, wo er acht Euro in der Stunde verdiente. Von Schützes bekam er natürlich auch Geld dafür, dass er ihre Pferde ritt. Früher, als wir noch zusammen gewesen waren, hatten wir davon geträumt, dass Tim Tiermedizin studieren und wir dann eines Tages gemeinsam den Amselhof leiten würden, aber ein Studium kam für Tim nicht mehr infrage, das hatte er mir selbst gesagt. Er hatte stattdessen das ehrgeizige Ziel, den Sonnenhof wieder auf Vordermann zu bringen und Profi-Springreiter zu werden. Das Talent dazu besaß er ganz sicher, aber ob er jemals genug Geld verdienen würde, um den hoch verschuldeten Sonnenhof zu retten, wagte ich zu bezweifeln. Nachdem sein Opa, der steinreiche Bauunternehmer Friedrich Gottschalk, im letzten Jahr erst in die Insolvenz geraten und Anfang des Jahres überraschend gestorben war, hatte Tim die Hoffnung auf finanzielle Unterstützung aufgeben müssen. Seine Mutter hatte einen neuen Mann kennengelernt und war vor ein paar Wochen überstürzt zu ihm gezogen, deshalb lebte Tims kleine Schwester Gina, die nicht mit nach Köln wollte, aber auch nicht bei ihrem vorbestraften Vater leben durfte, jetzt bei uns auf dem Amselhof. Alles in allem war Tims Situation nicht gerade rosig und nicht zuletzt deshalb war es für mich okay, wenn er nun wieder regelmäßig zu uns auf den Hof kam, um hier Geld zu verdienen.

Es war kurz nach zehn, als ich mit Lenzi hinüber zum Turnierstall lief. Die Sonne lugte zaghaft durch die Wolken und es sah ganz danach aus, als ob meine Wetter-App recht behalten würde.

»Elena!«

Ich wandte mich um und blieb stehen. Melike kam mit dem Fahrrad auf mich zugefahren und bremste atemlos neben mir ab. Twix sprang freudig an ihr hoch und sie stieg vom Rad und begrüßte meinen Hund.

»Hi!«, sagte ich. »Und? Hat Niklas sich schon gemeldet?«

»Klar! Mindestens zwanzig Mal!« Melike kicherte. »Ich glaube, ihm fällt es viel schwerer, vier Wochen ohne mich zu sein als umgekehrt.«

»Dann bin ich ja mal gespannt, wie er es aushält, in Amerika zu studieren!«

»Ihm wäre es am liebsten, wenn ich auch nach Boston käme«, sagte Melike. »Aber das kommt für mich nicht infrage. Mal für ein paar Tage hinfliegen, okay, aber mehr auch nicht.«

»Das kannst du mir auch gar nicht antun.« Ich grinste und ließ es scherzhaft klingen, doch in Wirklichkeit graute mir vor dem nächsten Jahr, wenn Melike Abitur machen und ich sie danach nicht mehr jeden Tag in der Schule und im Bus sehen würde.

»Mach ich auch nicht, keine Sorge!« Sie zwinkerte mir zu. »Ich gehe dann schon mal putzen und satteln. Bis gleich!«

Sie radelte Richtung Eichenstall, in dem ihr Buckskin-Wallach Smiley in einer der Paddockboxen stand, und ich betrat mit Lenzi den Turnierstall, der unseren eigenen und den Berittpferden vorbehalten war. Das Radio dudelte leise vor sich hin. Papa war gerade dabei, Le Yakimour zu satteln. Der dunkelbraune Wallach, den der Aknefrosch nur »Lolli« nannte, weil er sich den französischen Namen nicht merken konnte, gehörte Herrn Nötzli, dem Schweizer Pferdehändler, der auch der Besitzer von Lenzi war. Das Pferd war zu uns auf den Amselhof gekommen, weil es springsauer gewesen war. Mein Vater, der ein Händchen für schwierige Pferde hatte, hatte es mit viel Geduld geschafft, Lolli das Vertrauen zurückzugeben und mittlerweile sprang der Dunkelbraune wieder mit Freude. Ich nahm Lenzi die Trense ab, streifte ihm sein Halfter über und band ihn an seiner Box an. Dann nahm ich ihm den Sattel und die Gamaschen ab.

Melike und ich wollten heute die Strecke für die Reiterrallye abreiten, die an Christi Himmelfahrt stattfinden sollte. Seitdem Gloria auf dem Amselhof Westernreitunterricht anbot, konnte sie sich vor Anfragen kaum retten. Innerhalb weniger Monate hatte sie mehr Reitschüler als mein Großvater, der schon seit Jahrzehnten Reitstunden gab. Vor allen Dingen Erwachsene, die irgendwann aus Zeitgründen oder weil sie schlechte Erfahrungen gemacht hatten, mit dem Reiten aufgehört hatten, waren begeistert vom Westernreiten. Es war ursprünglich meine Idee gewesen, eine Reiterrallye zu veranstalten. Früher hatte Opa Hausturniere, Vereinsausritte, Reitjagden oder richtig große Turniere organisiert, aber er hatte die Lust daran verloren, weil es immer weniger Freiwillige gab, die ihm dabei halfen. Gloria hatte meinen Vorschlag aufgegriffen und meine Eltern waren auch damit einverstanden, deshalb würden wir nun an dem Feiertag im Mai die 1. Amselhofer Reiterrallye veranstalten. Zuerst mussten die Teilnehmer auf dem Reitplatz mit ihren Pferden einen Geschicklichkeitsparcours absolvieren, bevor sie paarweise auf die Strecke gingen. An mehreren Stopps waren Aufgaben zu bewältigen, außerdem mussten Fragen rund ums Pferd beantwortet werden und zum Schluss würde es eine Siegerehrung mit Preisen und Urkunden geben. Obwohl wir die Reiterrallye bisher nur auf unserer Webseite und bei Facebook angekündigt hatten, waren zu unserer Überraschung innerhalb von zwei Tagen alle fünfzig Startplätze reserviert und es gab sogar eine Warteliste.

»Hast du noch etwas für mich zu tun oder kann ich jetzt mit Melike ins Gelände reiten?«, fragte ich Papa. »Wir haben Gloria doch versprochen, die Strecke für die Reiterrallye abzureiten, weil sie sich nicht so gut in der Gegend auskennt.«

»Wenn du deine Pferde bewegt hast, könnt ihr losreiten«, erwiderte Papa. »Habt ihr euch denn schon eine Strecke überlegt?«

»Ich dachte, wir reiten zuerst zum Römerkastell und dann übers Naturfreundehaus zum Viergötterstein.«

»Da seid ihr aber ziemlich lange unterwegs«, gab mein Vater zu bedenken.

»Insgesamt sind drei bis vier Stunden geplant«, bestätigte ich. »Auf der Strecke soll es ja mindestens fünf Stopps geben und dafür müssen wir geeignete Plätze finden. Den letzten Stopp könnten wir auf dem Parkplatz am Steinernen Kreuz machen, aber um dorthin zu kommen, muss man vom Viergötterstein aus zwei Mal über die Bundesstraße und durchs Steinauer Moor reiten. Das ist nicht so toll.«

»Warum reitet ihr nicht vom Naturfreundehaus zum Kapellenberg hinüber?«, schlug Papa vor. »In der Nähe der Kapelle gibt es einen Parkplatz und eine Möglichkeit, die Pferde anzubinden. Und man muss keine einzige Straße überqueren.«

»Stimmt, daran habe ich gar nicht gedacht«, sagte ich erfreut. »Damit würde die Strecke dann tatsächlich einmal rund um den Amselhof führen.«

»Genau.« Papa lächelte. »Viel Vergnügen! Nehmt euch am besten ein bisschen Proviant mit.«

Twix ließ enttäuscht die Ohren hängen, als er kapierte, dass er bei Oma bleiben musste. Beleidigt verzog er sich in sein Tagsüber-Körbchen, das im Flur zwischen der Gaststätte und der Wohnung meiner Großeltern stand. Oma packte uns ein paar leckere Frikadellen, zwei Schnitzel-Brötchen, Äpfel und Bananen ein, und ich nahm mir noch zwei Flaschen Wasser mit. Damit sollten wir für unseren Ausritt gerüstet sein.

2. Kapitel

Ein leichter Wind hatte die grauen Wolken vertrieben und die Sonne lachte vom hellblauen Himmel, als Melike und ich vom Hof in Richtung Wald ritten. Mit aller Macht erwachte die Natur zu neuem Leben. Überall grünte und blühte es, die sattgrünen Wiesen ringsum waren voller Schlüsselblumen. Jedes Jahr nach dem langen, dunklen Winter fürchtete ich insgeheim, es würde niemals wieder Frühling werden. Aber wenn dann die ersten Krokusse und Schneeglöckchen ihre Köpfe aus dem Boden der Sonne entgegenstreckten und Zehntausende von Kranichen und Wildgänsen aus dem Süden zurückkehrten und in V-Formation Richtung Norden flogen, wusste ich, dass meine Sorge unbegründet gewesen war.

Wir trabten die Wege entlang durch den Wald und ließen unsere Pferde die »Autobahn«, den schnurgeraden, leicht ansteigenden Weg, der zum Römerkastell führte, hochgaloppieren. Als wir losgeritten waren, hatte Melike auf ihrem Smartphone eine App aktiviert, um unsere Reitstrecke aufzuzeichnen. Um es den Teilnehmern der Rallye nicht zu leicht zu machen, blieben wir nicht nur auf den Wegen, sondern ritten den einen oder anderen Umweg. Von den Überresten des römischen Kastells ging es steil bergauf, bis wir den Gipfel des Eichkopfs erreicht hatten. Das Naturfreundehaus war nur ein paar Hundert Meter entfernt.

»Jeweils genau vierundzwanzig Minuten zwischen den beiden Stopps«, verkündete Melike zufrieden, als wir auf einer kleinen Lichtung anhielten und den Proviant aus unseren Satteltaschen holten. »Das ist perfekt.«

Hilda und Smiley knabberten am Gras, während wir uns die Brötchen mit Schnitzel und hart gekochte Eier schmecken ließen. Die Fernsicht von hier oben aus war großartig, man konnte sogar die Skyline von Frankfurt erkennen. Die Sonne war richtig warm, sodass wir unsere Jacken auszogen und in unsere Satteltaschen stopften, bevor wir weiterritten.

Unterwegs dachten wir uns Fragen aus, die die Teilnehmer der Rallye beantworten mussten, und Aufgaben, die man an den Stopps zu lösen hatte.

»Bandagen aufwickeln in einer vorgegebenen Zeit«, schlug ich vor. »Eine Trense auseinander- und wieder zusammenschnallen.«

»Unterwegs irgendwelche Sachen sammeln«, ergänzte Melike. »Verschiedene Blätter, einen Stein, eine Vogelfeder … oder irgendetwas dichten, in dem bestimmte Wörter vorkommen!«

»Pferderassen aufzählen!«

»Berühmte Reiter und Pferde!«

»Slalomreiten!«

»Utensilien ertasten!«

»Sackhüpfen mit Pferd!«

Die Ideen sprudelten nur so aus uns heraus und wir lachten uns kaputt.

Auf dem Weg zum Kapellenberg fanden wir noch einen weiteren Platz unterhalb eines Aussichtsturms an einer Schutzhütte für Wanderer, der sich gut für einen dritten Stopp eignete.

Melike machte ein paar Fotos, dann ritten wir weiter. Dumpf erklang der Hufschlag unserer Pferde auf dem Waldboden. Ein Kuckuck rief, irgendwo plätscherte und gluckerte ein Bächlein. Ich machte ein Selfie von mir und schickte es Farid, den ich seit vier Tagen nicht mehr gesehen hatte.

»Ich liebe den Frühling!«, rief ich. »Ich könnte tagelang so reiten.«

»Ich auch!«, pflichtete Melike mir bei. »Ich bin so glücklich, dass ich Smiley habe! Früher hat mir das Ausreiten nie so richtig Spaß gemacht, weil Dickie dauernd gestolpert ist.«

Dickie, der eigentlich Jasper hieß, war das Pferd von Melikes Mutter. Er war schon achtzehn und hatte dauernd irgendwelche gesundheitlichen Probleme, deshalb sollte er im Mai auf einen Gnadenhof umziehen, wo er in einer Herde mit anderen alten Pferden auf der Koppel stehen konnte.

Die Strecke bis zu unserem nächsten Zwischenziel war ziemlich anspruchsvoll, denn es ging zuerst steil bergab und danach wieder bergauf. Dass es ein Fehler war, die breiten, geschotterten Forstwege zu ignorieren und stattdessen auf schmalen Wanderpfaden zu reiten, bemerkten wir erst, als wir plötzlich an einer Straße standen.

»Eigentlich«, sagte ich zu Melike, »sollte hier keine Straße sein.«

»Warte mal, ich checke, wo wir gerade sind.« Melike zog ihr Smartphone hervor, stellte aber fest, dass sie kein Netz hatte.

»Na super, wir haben uns verirrt!« Ich versuchte mich zu orientieren. Wenn wir ins Gelände ritten, hielten wir uns so gut wie immer zwischen Steinau und Hettenbach auf. Dort war mir jeder Stein und jede Abzweigung vertraut, aber hier kannte ich mich nicht aus. Melike und ich rätselten, um welche Straße es sich wohl handeln könnte, während Autos an uns vorbeisausten.

»Ich glaube, das ist die Landstraße zwischen Königshofen und Braunshart«, sagte ich. »Dann müsste der Kapellenberg irgendwo dahinten liegen.« Ich deutete nach rechts.

»Zwei Stunden und siebzehn Minuten bis jetzt«, sagte Melike nach einem Blick auf die App. »Mist! Jetzt haben wir uns die ganze Strecke verdorben.« Meine Freundin verzog das Gesicht. »Hoffentlich kann ich das korrigieren. Sonst müssen wir die komplette Tour noch einmal reiten.«

Wir wendeten unsere Pferde und ritten den schmalen Pfad, den wir gekommen waren, ein Stück zurück. Nach ein paar Hundert Metern kamen wir an eine Abzweigung und bogen ab. Irgendwann erreichten wir einen Forstweg, der bergauf führte.

»Das müsste die richtige Richtung sein«, sagte ich, allerdings ohne echte Überzeugung. »Wenn man auf einen Berg will, muss man schließlich bergauf.«

Wir ritten und ritten und Melike fluchte vor sich hin, weil wir nicht aus dem Funkloch herauskamen. Irgendwann mündete der Forstweg hinter einer rot-weißen Schranke in eine schmale asphaltierte Straße. Wir sahen uns ratlos an.

»Ein Satz mit X, das war wohl nix«, sagte Melike.

»Egal jetzt«, entgegnete ich. »Wir reiten die Straße hoch. Vielleicht begegnen wir jemandem, den wir fragen können, wie wir zum Kapellenberg kommen.«

Es war ein blödes Gefühl, nicht zu wissen, wo man war. Umso größer war der Stein, der mir vom Herzen fiel, als ich zwischen den noch kahlen Bäumen ein verwinkeltes Fachwerkgebäude erblickte.

»Das ist das Waldrestaurant Hubertus!«, rief ich erleichtert. »So falsch sind wir also gar nicht geritten! Wir hätten nur viel früher irgendwo abbiegen müssen.«

Die Gaststätte lag am Waldrand mit Blick auf die weite grasbewachsene Hochebene des Kapellenbergs und war an Wochenenden ein beliebtes Ausflugsziel. Im Sommer lockten ein großer Biergarten, Kinderspielplätze und ein kleiner Streichelzoo wahre Menschenmassen von nah und fern an. Heute, am Dienstag nach Ostern, waren die Parkplätze allerdings leer, denn die Gaststätte hatte Ruhetag. Meine anfängliche Erleichterung wich jedoch schnell, als jeder unserer Versuche, an der Gaststätte vorbei zum Kapellenberg zu gelangen, vor einem Zaun endete.

»Und jetzt?«, fragte Melike, als wir wieder auf dem großen leeren Parkplatz standen.

»Ich kenne mich hier nicht aus.« Ich kaute nachdenklich auf meiner Unterlippe. »Vor ein paar Jahren bin ich mal mit Sirius eine Reitjagd mitgeritten, da fand das Halali auf dem Kapellenberg direkt unterhalb von dem Restaurant statt.«

»Hier geht’s auf jeden Fall nicht weiter.« Melike deutete auf ein Sackgassenschild. »Lass uns die Straße wieder runterreiten. Irgendwo wird’s schon eine Abzweigung Richtung Steinau geben.«

»Das wäre ein riesiger Umweg«, erwiderte ich. »Komm, wir gucken erst mal hier.«

In dem Augenblick kam ein schneeweißer SUV aus der Straße hinter der Gaststätte hervor, brauste am Parkplatz vorbei und verschwand mit hoher Geschwindigkeit. Obwohl das Verkehrsschild eine Sackgasse anzeigte, schien es dort noch weiterzugehen.

Wir ritten also in die Richtung, aus der der SUV gekommen war, und stellten fest, dass die Straße sogar noch ein ganzes Stück weiterführte. Sie wurde schmaler, dann machte sie einen scharfen Knick und endete abrupt vor einem hohen schmiedeeisernen Tor, in das kunstvoll der Name des Anwesens eingearbeitet worden war: Hubertushof. Auf einem der Torpfosten befand sich eine Überwachungskamera. »Privateigentum!«, warnte ein großes Schild. »Betreten streng verboten!« Daneben hing ein weiteres Warnschild, auf dem ein Rottweiler abgebildet war. »Vorsicht – gefährliche Hunde!«, stand darauf.

Hinter dem Tor lag ein großer gepflasterter Hof mit einem Blumenrondell in der Mitte. Zwischen weißen und gelben Narzissen und goldgelb blühenden Forsythienbüschen stand eine bronzene Pferdestatue.

»Endstation!«, sagte Melike genervt, aber dann lächelte sie. »Aber wenigstens habe ich hier wieder Empfang! Juhu!«

Während meine Freundin auf ihrer Karten-App unseren Standort überprüfte, blickte ich mich um. Das Grundstück des Hubertushofs war von einer zwei Meter hohen Kirschlorbeerhecke und einem Maschendrahtzaun umgeben.

»Da ist ein Weg.« Ich deutete nach links. »Da geht’s runter, direkt an der Hecke entlang. Ist zwar etwas steil, aber das schaffen wir schon.«

»Hm«, machte Melike ohne von ihrem Handy aufzublicken. »Wer hier wohl wohnt? Die haben sogar einen eigenen See und da unten, das sieht aus wie ein Reitplatz! Schau mal!«

Sie hielt mir ihr Smartphone hin.

»Nicht schlecht.« Ich nahm es und zog mit Daumen und Zeigefinger das Satellitenbild auf, wobei ich nicht nach See oder Reitplatz schaute, sondern nach einem Weg, der uns zu der Kapelle führen würde. »Komm, wir reiten jetzt hier an der Hecke entlang, auch wenn es ein bisschen steil bergab geht. Aber wir haben ja Quarterhorses.« Ich grinste und Melike zuckte die Schultern.

Gehorsam zwängten sich Hilda und Smiley durch dichtes Unterholz, Brombeerranken und Tannengestrüpp, immer in der Nähe des übermannshohen Maschendrahtzauns und der dichten Kirschlorbeerhecke. Wir mussten uns im Sattel nach hinten lehnen und das eine oder andere Mal die Luft anhalten, wenn unsere Pferde auf ein Stück Fels traten, das heimtückisch unter dem Laub verborgen war, und ins Rutschen kamen.

»Boah, ich hasse das!«, beschwerte sich Melike, die hinter mir ritt. »Hoffentlich sind wir gleich unten, sonst krieg ich die Krise!«

Ganz plötzlich blieb Hilda stehen und riss den Kopf hoch. Sie blähte die Nüstern und wieherte.

»Was ist los?«, wollte Melike wissen.

»Keine Ahnung.« Ich stellte mich in den Steigbügeln auf, um über die Hecke zu gucken, konnte aber nichts sehen. »Hier riecht es nach Pferden.«

Ich kitzelte Hilda mit den Sporen und die Fuchsstute setzte sich wieder in Bewegung, aber sie hatte die Ohren aufmerksam gespitzt und den Kopf hoch erhoben. Noch ein paar Meter, dann hatten wir das steilste Stück des Abhangs hinter uns. Die Hecke lichtete sich etwas und gab den Blick auf eine wunderschöne weiße Villa frei, die in einem parkähnlichen Garten oberhalb eines kleinen Sees lag. Wir ritten weiter und der Geruch nach Pferden und Mist wurde intensiver. Ich sah ein flaches weiß getünchtes Gebäude, hinter dem sich ein kleiner Paddock befand. Aber dessen Boden bestand nicht etwa aus Sand oder Gummiplatten, sondern aus Schlamm und Pferdemist! In dem Paddock stand ein Pferd, ein Brauner mit einer breiten Blesse, mit gesenktem Kopf.

»Oh! Mein! Gott!«, murmelte Melike hinter mir und ich dachte genau dasselbe. Noch nie in meinem Leben hatte ich ein derart heruntergekommenes Pferd gesehen!

Schockiert starrten wir das bemitleidenswerte Tier an. Es war schon Mitte April, aber das Pferd hatte noch sein dickes Winterfell, das so aussah, als hätten die Motten darin gehaust, außerdem war es schrecklich schmutzig und so klapperdürr, dass trotz des dicken Fells Hüftknochen und Rippen deutlich zu sehen waren. Mähne und Schweif hingen zottelig und verfilzt herunter. Pferde sind neugierige Geschöpfe und spitzen normalerweise die Ohren, wenn sich ihnen jemand nähert, besonders dann, wenn es sich um Artgenossen handelt, aber dem Braunen war alles egal. Er hob nur kurz den Kopf und ließ ihn uninteressiert wieder sinken.

Ich hörte ein leises Ticken und bemerkte die weiße Litze, die an der Innenseite des Paddockzauns angebracht war. Wahrscheinlich deshalb, damit das Pferd den weißen Holzzaun nicht anknabberte.

Wir ritten ein Stück weiter, damit wir durch die geöffneten Türen in die Boxen schauen konnten. Nirgendwo ein Hälmchen Stroh oder Heu – nur Dreck und Pferdescheiße!

»Schau mal, Melike! Da drin ist noch ein Pferd!«, rief ich leise. »Es liegt in der Box!«

»Sag mal, was sind denn das für Idioten?«, regte sich Melike auf. »Ich könnte keine Nacht ruhig schlafen, wenn ich wüsste, dass meine Pferde in so einem Dreck stehen müssen!«

»Das ist echt eine Sauerei!«, pflichtete ich ihr bei und kramte mein Handy hervor. Ich war nicht weniger wütend als meine Freundin. »Solche Menschen muss man beim Tierschutzverein anzeigen!«

Ich fotografierte das elende Pferd. Der Gegensatz zwischen ihm und der schönen weißen Villa oben am Hang war gewaltig!

»Wir müssen etwas unternehmen«, sagte ich entschlossen. »Und zwar sofort!«

»Was willst du machen?«, fragte Melike.

»Ich rufe meinen Vater an«, erwiderte ich und suchte seine Nummer raus, aber ich hatte schon wieder kein Netz! Dann betrachtete ich das braune Pferd genauer. Irgendetwas an ihm schien mir vertraut.

»Irgendwie kommt mir das Pferd bekannt vor«, sagte ich zu Melike. »Ich weiß nur nicht, woher ich es kenne …«

Angestrengt dachte ich nach. Auf einmal stiegen Erinnerungsfetzen in mir auf. Ein Mann namens Peter. Eine rothaarige Frau, die Anne hieß. Zwei Jack Russel Terrier. Herr Nötzli. Ein großer Fuchswallach mit einem länglichen Stern. Wie gehörte das alles zusammen? Erinnerungen fluteten mein Gehirn. Mein Herz begann zu klopfen, als es in meinem Kopf »Klick« machte.

»Dieses Pferd hat mal bei uns im Stall gestanden!«, rief ich aufgeregt. »Ja, natürlich!«

Ganz plötzlich setzten sich die Puzzlestücke zu einem vollständigen Bild zusammen.

Melike war nicht besonders überrascht. Sie wusste, dass ich ein gutes Auge für Pferde besaß.

»Priamos und Tokka Willow!«, rief ich und der Kopf des braunen Pferdes zuckte prompt hoch. Ich ließ mich von Hildas Rücken gleiten, kramte in meinen Satteltaschen und fand einen Beutel mit Leckerliwürfel.

»Hey, Tokka, komm her«, lockte ich die braune Stute und schob meine Hand durch den Zaun.

Sie machte den Hals lang, dann zog sie einen Huf aus dem Schlamm, um zu mir zu kommen.

»Was ist das denn?«, stieß Melike entsetzt hervor. Die Hufe der Stute sahen schrecklich aus. Es musste Monate her sein, seitdem sie zuletzt bei einem Hufschmied gewesen war. Wie konnte man Tiere bloß derart herunterkommen lassen?

Tokka Willow flehmte, um meinen Geruch aufzunehmen. Dann schnappte sie gierig nach dem Leckerli und zerkaute es mit angelegten Ohren. Bestimmt war es fünf oder sechs Jahre her, seit die Stute auf dem Amselhof gestanden hatte, aber ich konnte mich nun wieder gut an sie erinnern. Ich gab ihr noch einen zweiten Leckerliwürfel, dann reichte ich Melike Hildas Zügel.

»Was hast du vor?«, wollte meine Freundin wissen.

»Ich gucke mich da drin mal um«, erwiderte ich und kletterte über den Maschendrahtzaun.

»Pass bloß auf!«, warnte Melike mich. »Denk an die Rottweiler!«

»Ja, klar! Ich will ja nur ganz kurz schauen, ob ich irgendwo Heu finde.« Ich duckte mich vorsichtig unter dem Elektroband hindurch und watete durch den stinkenden Matsch zu Tokka Willow hin. In meiner Erinnerung war sie ein kräftiges Pferd gewesen, aber jetzt stand ein jämmerliches Skelett vor mir. Wann hatte sie wohl das letzte Mal etwas zu fressen bekommen? Ich bemerkte die großen Löcher in den Boxentüren und schauderte bei der Vorstellung, dass die beiden Pferde vor lauter Hunger das Holz angenagt hatten.

Das andere Pferd erkannte ich sofort: Es war der Fuchs mit dem länglichen Stern und den weißen Stichelhaaren auf dem Nasenrücken.

»Oh nein! Priamos«, flüsterte ich fassungslos. »Du armer, armer Kerl!«

Der Wallach lag in einer der beiden Boxen direkt an einer Wand auf der Seite und hob mühsam den Kopf, als ich mich neben ihn hinhockte. Mit Entsetzen bemerkte ich offene und verkrustete Wunden und Bissverletzungen an seinem Körper. Vor Mitleid sprangen mir die Tränen in die Augen. Nie zuvor in meinem Leben hatte ich etwas Elenderes gesehen als diese beiden Pferde!

Priamos hatte damals in der Box neben Lagunas im Turnierstall gestanden und ich hatte ihn immer sehr gerngehabt, denn er war sehr freundlich und verschmust gewesen und nie so grob, wie es junge Pferde oft sind. Papa hatte ihn ausgebildet und auf Turnieren geritten. Es tat mir in der Seele weh, dieses stolze, schöne Pferd, dessen Fell wie Kupfer geglänzt hatte, so krank und zerstört hier vor mir liegen zu sehen. Er hatte goldbraune Augen, was ungewöhnlich war, denn die meisten Pferde haben dunkle Augen. Früher hatten sie geglänzt, aber jetzt waren sie stumpf und erloschen, so als hätte Priamos sich schon aufgegeben. Ich zog mit Daumen und Zeigefinger eine Hautfalte an seinem Hals hoch und ließ sie wieder los. Sie blieb stehen, anstatt sich sofort zurückzubilden, und das war ein deutliches Zeichen dafür, dass das Pferd stark dehydriert war.

»Halt durch, Priamos! Wir holen dich hier raus«, flüsterte ich heiser und strich zärtlich über seine verfilzte Mähne. »Das verspreche ich dir!«

Tokka Willow kam mit angelegten Ohren in die Box getrottet. Ich sprang auf und trieb sie energisch zurück auf den Paddock, dann schloss ich die Tür, damit sie Priamos nicht noch schlimmer verletzen konnte. Die Bisswunden an seinem Körper konnten ja nur von ihr stammen.

In dem kleinen Stall gab es drei große helle Boxen, die alle einen direkten Zugang zum Paddock hatten, aber die dritte Box war unbenutzt. Ein paar staubige Strohhalme auf dem Boden zeigten, dass früher dort einmal Stroh gelagert worden war. Mehrere Tonnen standen in einer Ecke, alle waren leer. Ich schlich zur Stalltür hinaus und behielt dabei das Wohnhaus im Auge, aber dort regte sich nichts. Neben dem Stall entdeckte ich einen Anbau. Ein Haufen schimmeliges Heu war alles, was noch da war, und das konnte ich den Pferden nicht füttern.

Ich machte ein paar Fotos und wollte gerade wieder zurückschleichen, als urplötzlich ein Mann vor mir auftauchte. Mir blieb vor Schreck beinahe das Herz stehen, denn ich blickte direkt in den Lauf eines Gewehrs.

3. Kapitel

»Was hast du hier zu suchen?«, fuhr der Mann mich an. Er wirkte fast genauso erschrocken, wie ich es war. »Hier hängen überall Schilder! Kannst du nicht lesen? Das ist Privatbesitz!«

»Ich … ich … ich«, stotterte ich panisch und starrte wie hypnotisiert auf die Gewehrmündung. »Ich bin nur … äh … ich habe … die … die Pferde …«

»Wie bist du hier reingekommen?«, unterbrach er mich.

»Ich … ich … bin ü…über den Zaun geklettert«, gab ich zu.

Der Typ sah genauso aus, wie ich mir einen Gangster vorstellte: Die Haare hatte er mit viel Gel aus dem Gesicht frisiert, er trug eine Sonnenbrille und einen schwarzen Anzug.

»Würden Sie bitte das Gewehr wegtun?« Ich versuchte, meine Stimme fest klingen zu lassen, dabei zitterte ich am ganzen Leib vor Angst und mein Mund war staubtrocken. Schritt für Schritt schob ich mich an der Stallmauer entlang. Ich musste Melike warnen! Vielleicht konnte sie irgendwohin reiten und Hilfe holen.

»Bleib gefälligst stehen!«, schnauzte mich der Typ an und ich gehorchte. »Also, was willst du hier? Wieso bist du hier unbefugt eingedrungen?«

Ob er wirklich auf mich schießen würde, wenn ich versuchte, wegzurennen? Sollte ich es wagen? Mit seinen schicken Lackschuhen würde er mir kaum in den Matsch folgen.

»Ich … äh … wir … sind hier zufällig vorbeigekommen und haben …«, begann ich, doch er fiel mir wieder unhöflich ins Wort.

»Wir?«

»Äh, ja, meine Freundin und ich«, sagte ich. »Sie wartet auf der anderen Seite vom Zaun auf mich.«

»Blödsinn! Du bluffst doch nur.« Der Typ fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen und wedelte mit dem Gewehr herum wie ein Bösewicht in einem Westernfilm. »Los, komm mit! Und denk nicht mal dran abzuhauen!«

Was hatte er mit mir vor? Meine Gedanken überschlugen sich. Im Geiste sah ich mich schon gefesselt in irgendeinem dunklen Kellerloch liegen. Die Angst davor war größer als meine Vernunft.

»Meliiiike! Hilfe!!!«, kreischte ich deshalb, so laut ich konnte.

Der Mann zuckte erschrocken zusammen.

»Hilf mir, Melike! Schnell! Ich werde mit einer Waffe bedroht!«

»Mensch, schrei doch nicht so rum!«, zischte der Typ verunsichert. Er nahm seine Sonnenbrille ab, ließ das Gewehr sinken und machte einen Schritt auf mich zu.

Gerade als er meinen Arm ergreifen wollte, schoss Melike um die Ecke des Pferdestalls. Ich hörte ein scharfes Zischen, dann einen Schmerzensschrei. Der Mann ließ Gewehr und Sonnenbrille fallen, presste die Hände vor die Augen und krümmte sich schreiend zusammen.

»Los, schnell, lass uns abhauen!« Melike packte mich am Handgelenk und zog mich mit sich. »Der ist erst mal für eine Weile schachmatt!«

»W…was hast du mit dem gemacht?«, stammelte ich verblüfft.

»Pfefferspray«, erwiderte meine Freundin und hielt mir eine kleine Sprühdose vor die Nase. »Hat Niklas mir mal besorgt.«

»Aua! Ich kann nichts mehr sehen!«, jaulte der Typ. »Ich bin blind! Oh, verdammt, tut das weh!«

Obwohl er mich eben noch bedroht hatte, tat er mir jetzt doch ein bisschen leid, wie er sich da auf dem Boden herumwälzte und schrie.

»Wir können ihn nicht einfach hier liegen lassen«, sagte ich.

»Mann, Elena, der stirbt schon nicht wegen etwas Pfeffer in den Augen.« Melike zerrte an meiner Hand. »Los, komm jetzt!«

»Nein, warte!« Ich blieb stehen. »Vielleicht gehören ihm die Pferde und wir können sie ihm … abkaufen.«

»Abkaufen? Spinnst du?« Melike schüttelte den Kopf, dann bückte sie sich und hob rasch das Gewehr auf, das der Mann fallen gelassen hatte.

»Nicht reiben!«, riet sie ihm. »Dann wird es nur noch schlimmer.«

»Na, vielen Dank für den Tipp!« Der Mann presste die Augen zusammen und verzog das Gesicht, Tränen liefen ihm über die Wangen.

»Am besten, Sie waschen sich den Pfeffer mit viel Wasser aus den Augen«, sagte Melike ungerührt. »Also gut, warten Sie, da vorne ist ein Schlauch. Elena, guck doch mal, ob du einen Eimer findest. Ich halte den Kerl solange in Schach!«

»Als ob ich abhauen könnte«, stöhnte der Mann. »Aua, uuuh! Beeil dich bitte mit dem Wasser, sonst spring ich in den See!«

Ich lief in den Stall und blickte mich um. Hinter einer Tür befand sich eine Sattelkammer und dort stieß ich auf ein paar Eimer. Ich schnappte mir das Handtuch, das neben dem Spülbecken der Küchenzeile hing. Dort ließ ich auch den Eimer volllaufen.

»So, hier, bitte schön!« Ich stellte den Eimer vor dem Mann auf den Boden und drückte ihm das nasse Handtuch in die Hände.

Melike und ich sahen zu, wie der Typ es sich auf die Augen drückte und dabei schmerzerfüllte Geräusche von sich gab.

»Weichei«, murmelte Melike verächtlich.

»Was hast du gerade gesagt?«, fuhr der Mann sie an und öffnete mühsam die Augen. Sie waren zwar stark gerötet und tränten, aber er konnte wohl immerhin wieder etwas sehen.

»Jetzt jammern Sie doch nicht hier rum, nur wegen so ein bisschen Pfeffer«, erwiderte meine Freundin.

»Du hast gut reden! Hat dir schon mal jemand Pfefferspray in die Augen gesprüht?« Das klang ziemlich selbstmitleidig.

»Nein«, antwortete Melike. »Aber ich habe auch noch nie jemanden mit einem Gewehr bedroht.«

»Das ist ja gar nicht geladen«, gab der Typ kleinlaut zu.

»Kann man nicht erkennen«, sagte Melike. »Ich fand, es sah ziemlich gefährlich aus.«

»Ja, ja, schon gut. Tut mir leid.« Der Mann wirkte ehrlich zerknirscht und nicht mehr besonders bedrohlich. »Ich dachte, ihr wärt … ähm … Einbrecher. Hier ist in letzter Zeit zwei Mal eingebrochen worden und ich hatte … ähm … nun ja … Schiss.«

Seine Ehrlichkeit verblüffte uns.

Er wrang das Handtuch aus, stand auf und klopfte sich den Staub von den Hosenbeinen. Die Gelfrisur war zerstört und nasses dunkles Haar hing ihm ins Gesicht. Aus der Nähe betrachtet sah er jünger aus, als ich zuerst angenommen hatte. Und eigentlich ziemlich harmlos.

»Geht’s wieder?«, erkundigte ich mich.

»Ja. Danke.« Er zog die Nase hoch und zwinkerte übertrieben mit den Augen.

»Wie heißen Sie?«, fragte Melike.

»Lennart. Sorry, wenn ich euch Angst eingejagt habe. Aber es ist ganz schön unheimlich, hier mitten im Wald zu leben.«

»Warum? Sie haben doch die Rottweiler«, sagte ich.

»Nee, die gibt’s gar nicht.« Lennart seufzte. »Die Kameras sind auch nur Attrappe. Und für das Gewehr hab ich nicht mal Munition!«

»Wenn ich’s mir genau überlege«, meinte Melike und wechselte vom »Sie« zum »Du«, »war das gerade eine gerechte Strafe für dich! Wie kannst du nur deine Pferde so schlecht behandeln? Sie brauchen beide dringend einen Tierarzt!«

»Die gehören mir nicht«, brummte Lennart.

»Sondern?«

»Meinem … äh … Schwager. Also dem Mann von meiner … äh … Schwester. Aber der ist letzte Woche gestorben. Keine Ahnung, wem die Viecher jetzt gehören.«

»Und warum hat sich deine Schwester nicht um die Pferde gekümmert?«, wollte ich wissen.

»Ich weiß auch nicht«, sagte Lennart schulterzuckend. »Wir haben beide mit Gäulen nichts am Hut. Und ich bin außerdem total allergisch! Ich kriege Asthma, wenn ich zu nahe an so ein Vieh rangehe.«

»Das heißt ›Pferde‹ und nicht ›Gäule‹ oder ›Viecher‹«, korrigierte ich ihn missbilligend.

»Wie auch immer. Sie kommen sowieso morgen oder übermorgen weg. Der Stall wird abgerissen. Meine … äh … Schwester will da lieber eine Orangerie für ihre Pflanzen bauen.«

»Wo kommen sie denn hin?«, fragte ich mit einem unguten Gefühl im Bauch, das sich bei Lennarts nächsten Worten verstärkte.

»Keine Ahnung. Ich glaube, der Schlachter holt sie ab.«

Melike und ich wechselten einen entsetzen Blick. Der Schlachter! Das mussten wir unter allen Umständen verhindern!