Emanzipation im Islam - Eine Abrechnung mit ihren Feinden - Sineb El Masrar - E-Book

Emanzipation im Islam - Eine Abrechnung mit ihren Feinden E-Book

Sineb El Masrar

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Beschreibung

Wie selbstbestimmt leben Muslimas heute in Deutschland? Mit welchen Herausforderungen und mit welchem Islamverständnis sind sie konfrontiert? Faktenreich und leidenschaftlich zeigt Sineb El Masrar: Furchtlose muslimische Mädchen und Frauen kämpfen mit großen Widerständen – und mit Feinden, die sich einer ganzen Generation manipulativ in den Weg stellen. Damit muss Schluss sein. "Habt endlich den Mut, eure Rechte für ein gleichberechtigtes Leben einzufordern", ruft El Masrar ihren Glaubensschwestern und uns allen zu. Ohne Kompromisse – jetzt!

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Sineb El Masrar

Emanzipation im Islam – eine Abrechnung mit ihren Feinden

Titel der Originalausgabe: Emanzipation im Islam – Eine Abrechnung mit ihren Feinden

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2016

ISBN 978-3-451-37825-6

 

Aktualisierte Neuausgabe

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2018

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

 

Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal

Umschlagmotiv: © Verlag Herder

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern

 

ISBN E-Book 978-3-451-81407-5

ISBN Print 978-3-451-03148-9

Selbst denken ist der höchste Mut

(Bettina von Arnim)

 

O Frauen des Propheten, ihr seid nicht wie irgendeine von den (übrigen) Frauen. Wenn ihr gottesfürchtig seid, dann seid nicht unterwürfig im Reden, damit nicht derjenige, in dessen Herzen Krankheit ist, begehrlich wird, sondern sagt geziemende Worte.

(Koran, Sure 33 Vers 32)

Inhalt

1. Warten auf die Prophetin?

Berlin …

Früh übt sich. Leider!

Aufwachen!

Be Happy Or Not

Auf die Pausentaste drücken

Meine Familie, der Islam und ich

Marokko, Land meiner Wurzeln

Die männliche Arroganz

Die Frage nach der Deutungshoheit

Machtspiele auf Kosten der Frau

2. Ein Islamverständnis richtet sich ein

Es waren einmal Hinterhöfe

Im Fokus: Die muslimische Jugend

Ein Hauch rechts inklusive Männerrechte

Best of Islamismus

Islam – das Geschäft

3. Schluss mit falschen Komplimenten!

Gehorsam macht’s möglich!

Was war zuerst da? Kopf oder Tuch?

Aus Denkverbot wird Gehorsam

Torschlusspanik und religiöse Parameter

Die Sache mit dem Feminismus

Überlegenheit? Nein, danke!

Das Phänomen Muslimschwestern

Zwei-Klassen-Muslime

4. Wieder übergehen lassen? Nein, danke!

Gute Aussichten! Eigentlich

Selbst denken lohnt!

Aus Reformation wird Islamismus

Die ersten Schritte der Emanzipation

Scheidewege der Reformer

Setzlinge des Extremismus

Endstation Terror

Islamistische Vorkämpferin

Achtung Frauengeschichte

Herrscherinnen

Aischa oder das Recht auf Theologie

5. Traut euch! – Ein Strauß Tabus

Glossar

Personenregister

Sachregister

Die Autorin

1. Warten auf die Prophetin?

Berlin …

Seit beinahe zehn Jahren lebe ich nun in diesem sonderbaren Berlin, das wie keine andere Stadt damit wirbt, arm und sexy zu sein. Der Slogan verfehlt seinen Zweck offenbar nicht. Jährlich pilgern Scharen von Touristen aus aller Welt in diese einstmals geteilte Stadt, die ich heute mein Zuhause nenne.

Ein Zuhause, das vor der Wende für viele eine Insel war. Welche Stadt kann das schon von sich behaupten? Dazu brauchte es gerade einmal einen Weltkrieg, diverse Siegermächte und unterschiedliche Herrschaftssysteme. Wozu Erdplatten, die sich über Jahrtausende hinweg verschieben? Sozialismus und Kapitalismus machten es möglich, und nicht nur das. Das muss Mensch Berlin also lassen, dieser schmuddeligen, launischen und wandelbaren Stadt, die sich nach der Wende noch einen provinziellen Charme zugelegt hat, den man wohl eher in Reutlingen oder Oldenburg anzutreffen vermutet, weniger in einer Weltmetropole.

Aber vielleicht sind meine Erinnerungen an dieses alte Berlin auch einfach nur von meinem kindlichen Blick getrübt. Von einem Kind, das aus der niedersächsischen Provinz ihre Tante in dieser aufregenden Stadt West-Berlin besuchte und damit einen Hauch vom großen Abenteuer Sozialismus tapfer und mit noch größeren Augen erlebte. Ein zugegebenermaßen überschaubares Abenteuer. Auf der Durchfahrt zwischen Niedersachsen, dem heutigen Sachsen-Anhalt und Brandenburg gab es auf dem Rücksitz im Wagen meiner Eltern nicht viel zu erleben. Mehr als sich den Popo plattzusitzen, die Nasenspitze ans Seitenfenster zu drücken und DDR-Grenzbeamte schüchtern anzustarren, bis sie zurückstarrten, um mich dann in meinen Pulli, mein Kleidchen oder der dicken Winterjacke eingeschüchtert zu verstecken, war nicht drin. Und in noch jüngeren Jahren, als ich nicht mal in der Lage war, eigenständig zu stehen, und auch nicht ansatzweise begriff, dass wir als vermeintliche Klassenfeinde der DDR deren Straßen befuhren, schlummerte ich die gesamte Strecke über friedlich vor mich hin. Denn im Auto zu schlafen, so meine Mutter, darin war ich als Baby Meisterin. Nichts brachte mich besser zum Einschlafen und vor allem zum Durchschlafen als das Gerüttel und monotone Gesumme unseres Mercedes Einspritzers.

Eine DDR und Bundeshauptstadt später ist Berlin so vielfältig wie damals schon. Daran hat sich nichts geändert, und wer die Wendezeit schmecken möchte, geht einfach in den nächsten Supermarkt und gönnt sich Halloren-Kugeln und ­Rotkäppchensekt. Wohl bekomm’s! Für mich als Alkohol-Verschmäherin und Halloren-Kugel-Verächterin – es sei denn, ich zerbrösle die Kugeln im Muffin-Kirsch-Teig – geht’s für ein bisschen Orientfieber in den nächstgelegenen arabischen oder türkischen Supermarkt, an dem außer einigen Produkten und der Halalfleischtheke nur die Musik und die gesprochenen Worte arabisch oder türkisch sind. Aber was tun so kleine Großstadtabenteurerinnen wie ich nicht alles für ein bisschen Selbstbetrug. Also schlendere ich zwischen den Regalen und lausche der Supermarktmusik, die nicht wie bei den großen Handelsketten zwischen den Milch- und Tierfutterregalen auf das Super-Duper-Angebot der Woche hinweist, sondern einfach so funktioniert wie der dauereingeschaltete Fernseher in vielen arabisch- oder türkischstämmigen Haushalten: als Nebengeräuschkulisse. Und wenn die Musik für die Käse- und Sucukregale auffüllenden Angestelltinnen nicht genug Laune macht, dann wird schon mal das Smartphone ausgepackt und der neuste Turkish-Pop-Hit abgespielt. Unerwartet schreckt meine Wenigkeit zwischen Datteln, Zupfkäse und American Cookies auf. Aber kein Grund, das Weite zu suchen. Ganz im Gegenteil: einmal mehr ein Beweis dafür, wie Mädchen und Frauen aus muslimischen Familien das Beste aus ihrer Situation machen – sofern sie einen Raum hierfür finden. Für mich als Kundin gilt es währenddessen, noch eine Packung Halloumi in den Einkaufskorb zu werfen, und ab zur Kasse. Das nächste Spektakel lässt auch nicht lange auf sich warten.

Früh übt sich. Leider!

Vor mir in der Kassenschlange stehen wie ich zwei arabischsprachige Frauen samt pubertierendem Sohn. Ihre Einkaufsmethode ist mir neu und beweist wieder einmal, dass es im Leben nichts gibt, was es nicht gibt. Sie scheren aus der Schlange aus, lassen ihren mit Dosenprodukten halbgefüllten Korb vor mir stehen und verschwinden irgendwo im Supermarkt zum Weitersuchen von Nahrungsmitteln. Der Sohnemann hat sich derweil zum Süßwarenregal Nähe Kassenbereich verdrückt und brüllt durch den Laden, ob er Halalgummibären und Co. haben darf, während ich den schweren Korb mit meinen Füßen vor mir herschiebe. Nicht das schlechteste Beinmuskeltraining. Drei Meter Herumschieben später kehren die beiden Frauen mit vollen Händen zurück. Um mich gleich forsch zu ermahnen, dass es sich bei dem Korb am Boden um den ihrigen handele. Was ich mir da bloß erlaube! Und als wäre das nicht genug, erscheint plötzlich die junge Tochter mit einer Tüte von der Fleischtheke. Ich hatte sie vorher nicht bemerkt, sie musste wohl schon länger dort angestanden haben. Auch dem Mädchen bleibt nichts erspart, auch sie erhält einen deftigen Anschiss. Wo sie denn die ganze Zeit geblieben sei und warum das alles so lange gedauert habe? Schließlich seien sie gleich mit Bezahlen dran. Das Mädchen blickt beschämt erst ihre Mutter an, dann mich. Während seine Schwester unter den mahnenden Worten ihrer Mutter noch dabei ist, die Waren erst aufs Band und dann in die Einkaufstüten zu packen, reißt der Sohn seine vielen Süß­warenpackungen an sich und öffnet sie umgehend nach dem Abkassieren. Was zwar keifendes Schimpfen seitens der Mutter zur Folge hat, aber zu keinen weiteren Konsequenzen führt. Multitasking ist eben nicht jederMANNS Sache. So versorgt er seine Freunde Karius und Baktus mit Nachschub, während seine Schwester sich weiter mit den Einkaufstüten abmüht.

Eine Szene, wie ich sie sehr häufig schon beobachtet habe, egal ob im Ausland oder in Deutschland. Ich weiß nicht, ob ­dieses Mädchen ein Jahr jünger oder älter war als ihr Bruder. Im Grunde spielt das auch keine Rolle. Denn eigentlich ist beiden Geschlechtern zuzumuten, im Haushalt und beim Einkaufen mitzuhelfen. Dass es kleine Jungs nach dem dritten Lebensjahr nicht mehr mit derselben Verve tun wie vielleicht zuvor, bedeutet nicht, dass es nur den Mädchen zugemutet werden muss. Nicht selten wird kleinen und interessierten Jungs gar untersagt, sogenannter Mädchen- und Frauenarbeit nachzugehen. Kein Wunder, dass sich dieser Junge lieber um Treibstoff für den nächsten Hyperaktivitätsschub kümmerte.

Mit zweierlei Maß zu messen, hat noch keinem gut getan. Egal, ob die unterschiedliche Behandlung aufgrund des sozialen Standes, der Herkunft oder, wie hier, aufgrund des Geschlechts erfolgt. Dass wir Mädchen und Frauen Belastungen immer wieder meistern, bedeutet nicht, dass es deshalb gerecht ist oder gar unsere Bestimmung. Vielmehr stemmen wir diese Herausforderungen oder geben nach, um den Familien- oder Partnerschaftsfrieden zu wahren. Es bleibt nicht nur beim unterwürfigen Handeln, sondern äußert sich häufig auch in der Kleidung der Mädchen und Frauen. Der Junge tat nicht nur, wonach ihm der Kopf stand, er kleidete sich auch so, wie Jungs sich in diesem Alter gerne kleiden. Jeans, wild bedrucktes T-Shirt und ein Lederjacken-Imitat aus Polyamid. Das Mädchen dagegen war eingehüllt in ein weißes Kopftuch. Und trotz ihrer himmelblauen Hose und der hellen Daunenjacke wirkte sie alles andere als fröhlich und bestätigte unfreiwillig jedes Klischee über traurige muslimische Mädchen. Doch dafür war mitnichten das weiße Tuch auf ihrem Kopf verantwortlich, eher schon die Bedeutung, die diesem Tuch beigemessen wird. Von allen Seiten, sei es von der Trägerin, denjenigen, die als Außenstehende darauf blicken, oder vom Umfeld des Mädchens, die es zu einer obligatorischen und religiösen Regel erklären. Es steht niemandem zu, einem Menschen zu sagen, wie er sich zu kleiden hat. Es zählt allein, worin er oder sie sich wohlfühlt und gefällt. Gleichzeitig ist es nicht von der Hand zu weisen, dass dem Konzept des als religiös erklärten Kopftuchs oder Schleiers ein mehr als fragwürdiges Fundament zugrunde liegt: nämlich das der gesellschaftlichen Geschlechtertrennung. Je nach religiöser Auslegung gilt es obendrein, Männer sexuell nicht zu verwirren oder Frauen und Mädchen in den heimischen Raum zu verweisen oder sie als die Unterstützerin für die Sache des Mannes und der Familie zu definieren.

Es gibt eine Selbstbestimmung mit Kopftuch. Diese Frauen lassen sich nicht für dumm verkaufen, sie schrecken nicht davor zurück, sich von ihrem Partner zu trennen und auch als Alleinerziehende ihren Weg zu gehen. Im Gegensatz zu manchem ihrer Brüder leben sie nicht mit über dreißig noch im Hotel Mama. Sie sind berufstätig, studieren und arbeiten. Auch schon mal in anderen Städten oder Ländern. Sie geben nichts aufs Gerede von anderen Frauen oder religiösen Moralaposteln, die finden, dass sich ihr Verhalten für eine Tuch-tragende Frau nicht ziemt. Weil ihr Verhalten angeblich unislamisch sei. Weil sie Ketten- oder Shisharaucherinnen sind, Wein trinken und eine selbstbestimmte Sexualität haben. Weil sie lieben, wen sie lieben – und dazu gehört nicht immer nur das andere Geschlecht. Kurzum: Sie haben ihren eigenen Kopf, den sie auch fürs Selberdenken nutzen. Vielen anderen hingegen stehen fehlender Mut, Unsicherheit und Einschüchterung im Weg. Denn für Muslime, die fest im Sattel des Patriarchats sitzen, ist die Sache klar: Dieses weibliche Wesen muss so früh wie möglich in ihre gehorsame Rolle eingeführt werden. Nur dann ist sie ehrbar und eine gute Muslimin. Zahlreiche Ver-, Gebote und Forderungen, die nur für sie, nicht aber für ihn gelten, ebnen den Weg für das mentale Korsett, wo Selbstbestimmung nicht existiert. Wer so denkt, führt die Mädchen auch ans Kopftuch heran, was dann schon mal vor dem Eintreten der ersten Blutung erfolgt, wenn das Mädchen den Übergang zur Frau beinahe vollzogen hat. Frau wird es nach traditionellen Vorstellungen aller patriarchalen Gruppen erst durch die Heirat und den Vollzug der Ehe. Bis dahin hat das Mädchen von ihren weiblichen Familienmitgliedern alles zu erlernen, was eine gute Ehe- und Hausfrau einmal beherrschen muss. Und das kann nach sozialem Stand sehr unterschiedlich ausfallen. Die einen werden zur perfekten Hausfrau erzogen, die anderen nehmen sich diese zur Haushälterin, während sie selbst »islamkonforme« Karrieren als Ärztin, Anwältin oder Berufsaktivistin machen.

Zumindest dem Mädchen im Supermarkt wurde das ohne Umschweife sehr deutlich gemacht. Ihre Mutter war ihre beste Lehrerin, wenn sie auch für die Lektion »logisches Einkaufen« zugegebenermaßen nicht das passende Vorbild war. Doch sie war eine würdige Vertreterin jener Mütter, die tradierte Rollenmuster ohne Umwege an die Folgegeneration weitergeben. Allen Klischees von Frauen zum Trotz, die unter dem Patriarchat leben, war sie kein leises, unterwürfiges Muttchen. Sie war laut, dickköpfig und nicht anpassungswillig – gegenüber allem, was nicht mit der traditionellen Frauenrolle zu tun hat. Eigentlich nicht die schlechteste Voraussetzung, um sich Benachteiligungen entgegenzustellen. Doch offensichtlich nutzt sie diese Eigenschaften nicht, um Unterdrückung und schädliche Traditionen zu überdenken und zu bekämpfen. (Wo ginge das schließlich besser als in der eigenen Familie?) Stattdessen ist sie daran beteiligt, eine weitere unmündige Frauengeneration heranzuziehen, auf die die Menschheit heute und in Zukunft gut und gerne verzichten könnte. Und das in einem Land, wo es auch andere, positive Lebensmodelle gibt. Wo es Frauen möglich ist, sich weitgehend frei zu entfalten. Warum also begegnet uns dieses festgefahrene Denken auch noch im 21. Jahrhundert?

Schließlich hatte meine Einwanderergeneration beziehungsweise deren hier geborene Nachkommenschaft sich doch größtenteils schon mit Erfolg davon befreien können. Nicht wenige von uns Musliminnen in Deutschland hatten um ihre Freiheiten kämpfen müssen. Weil aus Sicht der Eltern an jeder Ecke Gefahren für uns lauerten, vor denen sie uns mit ihrer ängstlichen Eigenart bewahren wollten. Wir müssten es besser wissen. Gehen wir also gerade einen oder gleich mehrere Schritte zurück?

Diese Mutter vor mir im Supermarkt, die nicht einmal doppelt so alt war wie ich, erzog ihre Kinder, wie es vielleicht die Großelterngeneration getan hatte, die es meist nicht besser wusste. Warum? War nicht ausreichend Leid über die Mütter und Großmütter und die vorherigen Frauengenerationen hereingebrochen? Nicht ohne Grund kämpften Frauen weltweit für ihre Rechte und für ihre Emanzipation. Auch in zahlreichen muslimischen Ländern. Von Marokko über Ägypten bis in den Iran holten sich die Frauen zurück, was ihnen über Jahrhunderte schrittweise entzogen worden war: Würde, Respekt, Freiheit und Rechte. Je nachdem, wo Frau lebte, mal mehr, mal weniger erfolgreich oder nur von kurzer, befreiender Dauer. Heute aber, mitten in meinem Stammsupermarkt, reinkarniert vor meiner Nase in einem blutjungen Burschenkörper erneut ein Machopascha, dem die Mädchen als Dienerinnen alles hinterhertragen sollen und das wahrscheinlich auch tun werden. Wir sind erneut Zeuginnen davon, wie sich männliche Dominanz kontinuierlich behauptet. Es genügt ein schwacher Moment der Harmoniesehnsucht, und schon schmiegt sich die Schlinge der Männerdominanz langsam um unser Handgelenk und führt uns mal brutal, mal schmeichelnd zum Diktat. Viel zu oft wird die Herrschaft des Männlichen als natürlich und selbstverständlich wahrgenommen, die Frau hingegen als schwaches Geschlecht. Welches Geschlecht im wahren Leben überlebensfähiger ist, darüber sollte jede und jeder sich aufrichtig noch einmal eigene Gedanken machen.

Umso bemerkenswerter ist, dass trotz oder gerade wegen all der Freiheiten, die jungen Männern im Gegensatz zu ihren Schwestern weltweit zur Verfügung stehen – egal welcher Konfession oder Ethnie –, ihnen noch viel zu oft nichts Besseres einfällt, als kriminell zu werden, ihren Frust in Alkoholkonsum zu ertränken oder Menschen auf verschiedene Arten zu terrorisieren.

All das Leid wahrzunehmen, das beispielsweise von Tausenden dschihadistischer Extremisten in Europa, den USA oder in muslimischen Ländern ausgeht, ist erschütternd. Aber auch rechte Gewalt hat Menschenleben in der Vergangenheit und in unserer Gegenwart massenhaft ausgelöscht. Das jüngste Zeugnis geben die sogenannten NSU-Morde. Das alles zu sehen, lässt einen nicht nur ratlos zurück, sondern wirft umso mehr die Frage auf: Wie kann es immer wieder zu solchen Attacken kommen? Worin könnten die Wurzeln liegen? Und welche Rolle spielen die Geschlechter in diesem Zusammenhang? Kaum zu glauben ist die Tatsache, dass sich auch junge Frauen, angezogen von Gewalt und Brutalität oder von den falschen, lieblichen Versprechungen eines Kämpfers, in diesen Krisenherd des sogenannten Islamischen Staats aufmachen. Und dabei wie ihre Meister nicht vor Gewalt und Unterdrückung zurückschrecken, wenn es darum geht, Andersgläubigen die Würde zu nehmen, wie es beispielsweise im Umgang mit den Ezidinnen der Fall ist. Offenkundig ist aber, dass physische Gewalt zumeist nicht von Frauen ausgeht, sondern von Männern. Sie sind es, die nicht nur aggressiv in ihrem Handeln sind, sondern auch in ihren Worten und ihrem Denken. Und sie sind es, die die islamischen Quellen auslegen, deuten und daraus Gesetze und Regeln ableiten. Ausgehend davon stellt sich unweigerlich auch die Frage: Was ist mit jenen Frauen, die hierzulande fernab von Krieg und Terror nicht die Klaviatur der Brutalität spielen? Frauen, die nicht um ihr Leben fürchten müssen? Was ist mit all jenen, die nicht von Terror, brutaler Unterdrückung und Angst betroffen sind? Welche Rolle wird den muslimischen Frauen im Islam und in muslimischen Gesellschaften zugewiesen, und warum lassen sie sich diese aufzwingen? All jene Muslime, die weltweit von Ungerechtigkeit betroffen sind, sind nicht zu Unrecht verzweifelt. Aber was bedeutet das für unsere Gegenwart und Zukunft? Was können wir Frauen und auch Männer ausrichten? Lassen sich Muslimas womöglich schon zu lange an der Nase herumführen? Oder glauben sie gar daran, dass all das Frauenfeindliche irgendwie zum Islam gehört und Leiden der Schlüssel zum Paradies ist? Oder hoffen sie sogar heimlich auf neu herabgesandte Suren oder auf eine Prophetin, die ihnen die Hand reicht auf ihrem Weg zu mehr Gleichbehandlung? Oder liegt das Problem nicht ganz woanders?

Aufwachen!

Der Prophet Mohammed gilt den Muslimen als der letzte und wichtigste Prophet, den Gott seinen Gläubigen gesandt hat. Darauf zu warten, dass noch jemand herabgesandt wird und neue, noch deutlichere Frauenrechte postuliert oder diktiert, wäre Zeitvergeudung. Es wäre obendrein auch viel zu bequem und feige. Warum sollten wir Frauen und vor allem die Männer es leichter haben als der Prophet selbst? Als Gott durch den Engel Gabriel die Offenbarungen auf ihn herabsandte, begann für ihn in Mekka nicht die Zeit der Free-Hugs-for-Muslims. Ganz im Gegenteil.

Die Zeit des Ausharrens und Wartens sollte daher schon lange vorbei sein. Muslimas werden sich endlich erheben müssen, wenn sie nicht weiter auf die Gunst und Milde des Mannes oder genauer gesagt des übermächtigen Vaters, des Patriarchen als Herrscher über alles Weltliche und über die Lehren hoffen wollen. Es ist an der Zeit, mutig und kompromisslos seine gottgegebenen Rechte einzufordern. Denn lang genug sind wir bescheiden einen Schritt zurückgetreten, um Männern nicht das Gefühl zu geben, sie seien von uns bedroht. Das ist allerdings ihr Problem, nicht unseres. Wer sich damit auseinandersetzen will, findet heutzutage sogar professionelle psychologische Hilfe. Bezahlt von Krankenkassen. Diesen Herren fehlt es eindeutig am Willen und uns zahlreichen Frauen an Mut. Warum nutzen wir das dritte Jahrtausend nicht dazu, um die Mutheldin in uns zu entfachen?!

Denn all die Ungerechtigkeit, die im Privaten ihren Lauf nimmt, breitet sich auch im öffentlichen Raum aus. Was sich nicht zu selten darin äußert, dass Frauen und Schwache zu Unterdrückten werden. Wann immer es möglich ist, wird nach unten getreten. Irgendeinen gesellschaftlich Niederen wird der Tritt schon treffen. Denn es findet sich fast immer jemand, an dem Mensch seinen Frust und seine Machtgelüste ausleben kann.

»Aufwachen!«, möchte ich rufen. Es geht auch anders! Denn Jahrhunderte vor unserer Zeit war es auch anders möglich. ­Vorausgesetzt, wir lassen es zu. Wir müssen es nur endlich gesellschaftlich in muslimischen Familien und Institutionen breiter verankern, wir müssen das Recht auf Gleichberechtigung und auf freie Entfaltung wirklich wollen, um es gegen alle Widerstände einfordern zu können. Zahlreichen Muslimen ist ein Mentalitätswechsel möglich – in ihrem eigenen Interesse und für ihr eigenes Seelenheil. Wem dafür das religiöse Fundament wichtig ist, wird genug Beispiele in der Historie des Islam, in der Prophetentradition und im Koran vorfinden. Vorausgesetzt, wir verschieben das nicht auf morgen und warten nicht auf Wunder, die uns unserer Verantwortung entziehen können.

Vor allem wir Frauen dürfen nicht darauf warten, dass man uns unsere Rechte, die uns zustehen und einst geschenkt worden sind, einfach so zurückgibt. Von selbst wird das nicht geschehen! Geduldig darauf zu warten, hat noch keine Frau zu ihrem Recht geführt. Wir Musliminnen müssen mutiger werden, uns mehr zutrauen. Niemand kann uns dabei unseren Glauben oder unseren Platz im Paradies streitig machen. Wer einem das abspricht, erhebt sich über Allah. Denn das Tor zum Paradies liegt allein in Allahs Ermessen! Auf Gott vertrauen wir Muslime. Denn von Gott kommen wir, und zu Gott kehren wir zurück. Keine Muslimin darf sich etwas anderes einreden lassen! Werfen wir den Ballast der Feigheit über Bord und krempeln wir die Ärmel hoch. Es ist höchste Zeit für Mut. Schluss mit der Missachtung des weiblich-islamischen Erbes. Die Zeit für den Aufstand könnte kaum günstiger sein. Wir genießen Bildung, sind zum Teil unabhängig und global vertreten. Worauf warten wir also noch? Beschreiten wir den Pfad unseres weiblich-islamischen Erbes!

Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen. Lob sei Gott, dem Weltenherrn, Dem Erbarmer, dem Barmherzigen, Dem Herrscher am Tage des Gerichts. Dir dienen wir und zu Dir rufen wir um Hilfe.Leite uns den rechten Pfad, den Pfad derer, denen Du gnädig bist, nicht derer, denen Du zürnst, und nicht der Irrenden.

(Al-Fatiha – Die Eröffnungssure)

Be Happy Or Not

Es gibt viele Erwartungen gegenüber muslimischen Frauen, sie werden mit Vorgaben überhäuft, die sie erfüllen sollen. Und weil es sehr unterschiedliche Gruppen sind, die dergleichen an sie herantragen, fallen die Erwartungen vielfältig aus. Sie stammen nicht ausschließlich von Muslimen selbst, sondern auch von Nichtmuslimen.

Als ich mit der Arbeit an diesem Buch begann, stolperte ich bei einem meiner täglichen Facebook-Besuche über einen beschämenden Kommentar. Die selbstzentrierte Ignoranz des Kommentators ließ mich den Kopf schütteln. Eine meiner türkischstämmigen Bekannten hatte anlässlich ihres Geburtstags zwei Schwarzweiß-Bilder veröffentlicht, die sie als Baby zusammen mit ihren Eltern zeigten. Auf einem Foto war ihre Mutter mit einem breiten Haarband zu sehen. Ein gemeinsamer Bekannter – deutsch, nichtmuslimisch, mittleren Alters und von Beruf Sohn – hatte für die äußerst hübschen und auch lustigen Bilder nur einen bitteren Kommentar übrig. Er bedaure sehr, schrieb er, dass nicht alle türkischen Frauen das Kopftuch so trügen wie diese Mutter. Dass ein Kopftuch kein Haarband ist – wie auf dem Foto zu sehen –, schien dem Fachmann in Kopfbedeckungsfragen entgangen zu sein.

Mich überraschte seine Äußerung nicht, er hatte sich schon des Öfteren abwertend über diverse Kulturen, schwarze Menschen oder Muslime geäußert. Er ist ein Paradebeispiel des westlichen, sich überlegen fühlenden Mannes. Selbst erfolglos im Leben, aber allwissend, was Völker und Lebensmodelle anderer angeht. Da darf die muslimische Frau im Belehrungskatalog nicht fehlen. Statt sich wie alle anderen an den kreativen Fotos zu erfreuen – auf dem einen Foto trägt der Vater meine Bekannte auf der Handfläche, während sie verschmitzt in die Kamera blinzelt –, blieb diesem Mann nichts anderes übrig, als deutlich zu machen, wie eine türkische Frau, ergo Muslimin, sich zu kleiden habe, um wertgeschätzt zu werden. In seinen Gedanken versteht er sich als aufgeklärt und als Freund der Frau, während er in Wirklichkeit genauso bevormundend und bestimmend ist wie manch einer der muslimischen Machos, den er selbstverständlich als despotisch und rückschrittlich kritisiert. Er steht dabei in der alten kolonialen Tradition des weißen Mannes, der die braune Frau vor dem braunen Mann retten will. Dass sein Gebaren genauso patriarchal ist, verdankt er seinem selbstherrlichen Blick auf die Welt.

Absurd geht es aber auch in den eigenen muslimischen Reihen zu. Vor allem für bekennende Musliminnen. Im Jahr 2013 schoss der amerikanische Hip-Hop- und R&B-Musiker und -Produzent Pharrell Williams mit einem ganz besonderen Song auf Platz eins der internationalen Charts, auch in Deutschland. Der Song ­Happy entwickelte sich nicht nur zu einem Ohrwurm, er geriet zu einem viralen Web-Phänomen, wie es sich ein Vermarkter nicht besser hätte wünschen können. Ob Mitarbeiter von Unternehmen, Schüler, Studenten oder Städtebewohner – sie alle ahmten nach, was Pharrell Williams im Video tat: modisch hip gekleidet fröhlich mit anderen stylischen Menschen durch die Straßen tanzen. Jeder imitierte das Video auf seine Weise und mit eigenen Videos – mal mehr, mal weniger professionell geschnitten, getanzt oder synchron gesungen. Aber die gute Laune, die war allen Beteiligten – ob jung oder alt, weiblich oder männlich – deutlich ins Gesicht geschrieben.

So war es nur eine Frage der Zeit, dass auch Menschen in muslimischen Ländern sich der Happiness hingaben und das Tanz­bein schwangen. Auch wenn die Schlagzeilen oftmals ein anderes Zeugnis geben, die Bevölkerung in diesem Teil der Erde ist der Freude ebenso zugewandt wie andernorts. Ob Marokko, Gaza, Pakistan und Ägypten – es wurde sogar eine ägyptisch-arabische Version eingesungen –, viele muslimische Länder sind mit ihrer Happy-Version auf dem Youtube-Kanal vertreten. Selbst im selbsternannten Gottesstaat Iran ließen es sich sechs junge Leute nicht nehmen, happy zu sein. Allerdings mussten sie für ihren unschuldigen Ausdruckstanz einen hohen Preis zahlen. Weil beide Geschlechter miteinander tanzend im Video zu sehen waren und die Frauen zu allem Überfluss auch noch ohne Kopftuch und in farbenfroher Kleidung und Make-up-Montur ihre helle Freude hatten, wurden Sassan Soleimani, Neda Motameni, Afshin Sohrabi, Bardia Moradi und Roham Shamekhi zu 91 Peitschenhieben und sechs Monaten auf Bewährung verurteilt, wie auf Iran Human Rights Blog zu lesen ist. Reyhaneh Taravati, die das Video auf die Plattform hochlud, wurde zudem zu einem Jahr Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Zur Vollstreckung der Urteile kam es bislang nicht. Denn das Gericht knüpfte das Urteil an eine ermahnende Bedingung: Zur Vollstreckung komme es nur, wenn innerhalb der nächsten drei Jahre eine ähnliche Straftat wiederholt würde, so die Richter. Glück im Unglück, könnte Mensch meinen. Saudi-Arabien hielt die Frauen hingegen gleich von vornherein außer Reichweite der Kameras und spülte dafür mehrere Versionen der männlichen Happiness auf den Youtube-Markt. Die einzige weibliche Ausnahme ist das Video Happy in Jeddah, KSA. Austrian Version.1 Hier hält eine österreichische Studentinnengruppe, bei einem zweiwöchigen Uni-Trip im Ursprungsland des Islam, ein zaghaftes Happy-Video in der landestypischen Abaya fest, einem traditionellen Kleidungsstück der arabischen Halbinsel. Sollen die Westlerinnen doch treiben, was sie ohnehin nicht lassen können. Solange die eigenen Töchter und Frauen sittsam den Schein wahrten, gab es keinen Grund zur Aufregung.

Nicht wenige werden den Kopf schütteln über diese Art der Repression und Unterdrückung von weiblichen Existenzen, die allerorten und vor allem in so restriktiven Staaten wie Saudi-Arabien oder Iran eine Bedrohung für das männliche Herrschaftssystem darzustellen scheinen. Umso erschreckender, wenn gerade junge Muslime in westlichen, nichtislamischen Staatsgebilden beginnen, im weiblichen Geschlecht eine potenzielle Sündenquelle zu erkennen, vor der Mann sich selbst schützen muss und Frau am besten gleich mit. Zum eigenständigen Denken und Handeln scheint sie manchem männlichen Zeitgenossen ohnehin nur bedingt fähig. Selbst Denken könnte zu Unabhängigkeit führen – dann lieber sie dahingehend lenken, dass sie ihre Fähigkeiten in den Dienst der vermeintlich islamischen Sache stellt.

Wie so etwas in der Praxis in Europa aussehen kann, zeigten die Reaktionen auf das Happy British Muslims-Video2 aus Großbritannien.

Im April 2014 machten sich einige Muslime daran, ihre fröhliche und freundliche Seite zu zeigen. Die Initiatoren und ­Macher des Videos nennen sich The Honesty Policy und präsentieren sich auf ihrer Facebook-Seite mit anonymisierenden Masken vor einem abendlich beleuchteten, modernen Gebäude. Auf der Webseite der Projektmacher werden zwar eine Vielzahl an fröhlich dreinblickenden Kindern und Erwachsenen abgebildet, die Macherinnen und Macher selbst aber bleiben unbekannt. Unter der Rubrik Meet the Team präsentieren sie sich in Form von kreisförmigen Ornamenten mit spielerischen und geheimnisvollen Namen. Sie heißen Robin Hud, Radio Rahma, Omar Gosh, Oprah Essed’ und Who’Jabi.

Wozu all das Versteckspiel bei einem so harmlosen Projekt gut sein soll, lässt sich nur erahnen. Mensch muss sich offenbar nicht gleich mit Karikaturen in Charlie-Hebdo-Manier hervortun, um nervös zu werden. Denn so viel westliche Popkultur in Zusammenhang mit Islam ist manchem salafistischen Muslim zu viel Anbiederung an Nichtmuslime. Entsprechend fielen die Reaktionen auf das Video aus. Ob die Queen über die Happy British Muslims amused war, wissen wir nicht. Engstirnige Muslime waren es jedenfalls nicht. Und obwohl eine Vielzahl an Muslimen das eigene schlechte Image leid ist, zeigen jene Reaktionen leider, dass an so manchem Vorurteil wie etwa fehlendem Humor und mangelnder Entspanntheit auch etwas Wahres dran ist. Denn selbst ein so harmloses und fröhliches Video sorgte für aufgeregte Reaktionen in den sozialen Medien. In wenigen Tagen wurde das Video über eine halbe Million Mal angeklickt – von Muslimen und Nichtmuslimen gleichermaßen. Es wurde positiv bewertet, kommentiert und geteilt. Doch so sehr sich die eine Seite daran erfreute, so sehr erzürnte es die andere. Und zwar aus unterschiedlichen Gründen. Während vor allem jene Muslime, die sich weniger über ihre Religion definieren, darin eine Zwangskollektivierung sahen und sich vereinnahmt fühlten, kritisierten andere eine angeblich fehlende Sittsamkeit. Für manche stellte das Video gar eine Sünde dar, weil aus ihrer Sicht Musik im Islam haram, also nicht erlaubt ist. Wohlgemerkt, diese Wahrnehmung kam von jungen Muslimen.

Nicht jeder muss allem zustimmen, und auch so manche gut gemeinte Idee erfüllt nicht immer den geplanten Zweck. Selbstredend kommt so etwas in jeder Bevölkerungsgruppe vor. Doch statt sich im eigenen Leben einfach wichtigeren Dingen zuzuwenden, wenn solch eine Aktion nicht begeistert, werden aufwendige Gegenvideos gefilmt, um Kritik zu äußern. So bemüht sich beispielsweise ein junger britischer Hobbyprediger namens Abu Ibraheem in seinem durchaus ansprechend gefilmten Video Pharrell – Happy British Muslims RESPONSE 3 darum, dass Muslime um jeden Preis ihre »islamische Identität« bewahren müssen. Weil der Koran es Muslimen untersage, Juden oder Christen gefallen zu wollen. Das sollten Muslime begreifen!

Aber was ist mit den Musliminnen?, fragen Sie sich vielleicht. Nun, bei einigen von ihnen steht noch der salafistisch-theologische Diskurs im Raum, ob nicht etwa auch die Stimme der Frau awrah, verhüllungswürdig, sei. Wie es etwa die vollverschleierte Umm Sufyan in ihrem Video behandelt. Wer sich diesem inhaltlichen Niveau zuwendet, findet sich logischerweise nicht vor der Kamera und vor dem Mikrofon wieder. Und wenn doch, dann, wie in ihrem Fall, nur vollverschleiert. Frauen aus diesen Kreisen treten verständlicherweise nur so in Erscheinung, um ihre Meinung kund zu tun, wenn eine Wiedererkennung unmöglich ist. Selbst der Name ist kein Klarname. Denn Umm Sufyan bedeutet nichts weiter als die Mutter von Sufyan. Was wiederum nichts über ihre Identität verrät, sondern nur eine andere Form der Lobpreisung des Maskulinen ist. Diese Frau hat einen Sohn geboren. Welchen Namen sie selbst trägt, wer sie ist, was sie ausmacht, das hat keine Bedeutung. Nur die Geburt eines Sohnes wertet sie auf. Ohne besondere Bedeutung und vor allem ohne eigenen Namen lebt sie ihr Leben und wartet auf das Ewige im Paradies.

Andere Musliminnen hingegen lassen sich weder ihre gottgegebene Stimme noch ihre Meinung verbieten. Wie zum Beispiel die Videobloggerin Daniela M Biah,die neben ihren klassischen Beautyvideos auch offensiv über das Ablegen des Kopftuchs und der Jungfräulichkeit spricht und sich großer Beliebtheit erfreut – bei Muslimen und Nichtmuslimen. Im deutschsprachigen Raum fehlt dergleichen Selbstbewusstsein noch. Es geht also auch anders, und Daniela M Biah findet, dass die ganze negative Aufregung über das Happy British Muslim-Video unberechtigt sei. Auffällig ist allerdings, dass dort vornehmlich die Männer ausgelassener das Tanzbein schwingen.

All diese Reaktionen zeigen, wie groß die Kluft zwischen den jungen Geschlechtern in muslimischen Gemeinschaften ist. Und wie sehr eine ausgelassene Öffnung und Freude am Leben als eine bedrohliche Verwestlichung wahrgenommen wird – von jungen Menschen, die nicht nur Teil des Westens sind, sondern es auch sein wollen. Mal davon abgesehen, dass damit selbst die Freude in das ebenso starre wie unergiebige Schema »Der Westen vs. Islam« gepresst wird, ist das schon eine kuriose Sicht auf die Welt. Die zu einer Selbst-Marginalisierung führt. Das alles hat weitreichende Folgen und erreicht ohne Umwege auch junge Muslime in Deutschland. Denn die Vorsicht und Vorsorge, die beim Happy German Muslims-Video4 einen Monat später erfolgte, stellt alles andere als eine entspannte und freie Happiness dar. Die im Vorfeld an den tanzenden Mädchen und Frauen des britischen Vorbilds geäußerte Kritik wurde umgehend in der deutschen Konzeption und Durchsetzung berücksichtigt. Männer und Frauen finden seltener zusammen. Während in der britischen Version viele nicht tuchtragende Mädchen und Frauen gezeigt werden, sind nun die nicht tuchtragenden Mädchen nur in sehr kurzen Sequenzen zu sehen. Zudem werden auch eher ausgelassene und hippe Dancemoves von jungen, stylish gekleideten Männern gezeigt. Die Sequenzen mit Männern sind deutlich länger als die mit Frauen und Mädchen. Nicht zu vergessen die Vielzahl der Kinder, denen offenbar noch zugestanden wird, etwas wilder aufzutreten. Nichtsdestotrotz sind all diese Videos Versuche, sich selbst auszudrücken, sich selbst wahrzunehmen und dabei die eigene Identität zu finden, zu sortieren und zu einer Gesamtidentität zu formen. Es bleibt spannend, welche Schlüsse die jungen Mädchen daraus noch ziehen werden. Lassen sie sich weiter an den Rand drängen, wo sie die Rolle der Sittsamen einnehmen sollen? Sittsam und gehorsam vor allem dem männlichen Geschlecht gegenüber? Oder beginnen sie, diese Reaktionen auf ihr Geschlecht neu zu bewerten und sich davon nicht weiter vereinnahmen zu lassen?

Auf die Pausentaste drücken

So manche regionale Tradition hat überlebt, und dies nicht ohne die Beteiligung des weiblichen Geschlechts. Die aktive Weitergabe von Traditionen erfolgt erwartungsgemäß von mütterlicher und weiblicher Seite her. Vielleicht wäre es daher an der Zeit, die Pausentaste zu drücken, um sich ein paar vertiefende Gedanken zu diesen Traditionen und Erwartungshaltungen zu erlauben, bevor Frau sich weiter daran macht, wie die Generation vor uns einfach alles unbedacht von Neuem abzuspielen und zu verinnerlichen. Nur weil seit Generationen männliche Dominanz herrscht und das Patriarchat sich als hartnäckiges Konzept behauptet, bedeutet das nicht, dass es auch so gut ist. Frauen sind dabei immer die ersten Leittragenden, denn sie sind vom Mitgefühl des Mannes abhängig. Aber auch Männer, die nur dann als authentische Männer wahrgenommen werden, wenn sie dominant sind, leiden unter diesem autoritären Männlichkeitsbild. Keine Duldung gibt es für Homo- oder Intersexualität, die das Machtkonstrukt bedroht. Homosexuelle Frauen werden eher hingenommen als homosexuelle Männer, da sie im Patriarchat als weibliche Geschöpfe körperlich und psychisch leichter einzuschüchtern sind. Von der in diesen Kreisen eigenen Homoerotik, die als abstoßend und anziehend gleichermaßen empfunden wird, geht eine bedingte Gefahr aus. Am Ende steht der Mann immer über der Frau. Also ist auch die Solidarität mit ihm größer – vor allem, wenn er selbst einen Blick auf ihn geworfen hat. Ob bei rechten Gruppierungen oder salafistisch-wahhabistischen, die Homoerotik der Männergesellschaft ist allgegenwärtig und äußert sich in vielen Facetten. Vom Idealkörper des arischen Mannes bis hin zur Knabenliebe. Immer zwischen Abwehr und Anziehung schwebend – was sich in aggressiven Verhaltensweisen und Äußerungen spiegelt. Die Angst, schwul zu sein, lässt den ein oder anderen sprichwörtlich durchdrehen. Stärke liegt nicht in der Natur des Mannes, genauso wenig wie das Schwache in der Natur der Frau liegt. Zu Recht hat die französische Feministin Simone de Beauvoir festgestellt, dass Frau nicht als Frau im soziologischen Sinne geboren, sondern in der Gesellschaft zur Frau gemacht wird. Also muss das Konzept der männlichen Dominanz aufgrund der langen Vorherrschaft nicht gleichbedeutend mit einem gesellschaftlichen Gewinn sein. Unzufriedenheit und Unglück sind in patriarchal dominierten Gesellschaften weit stärker ausgeprägt. Zahlreiche Tabus, die mit diesem Konzept einhergehen, fördern darüber hinaus nicht unbedingt ausgeglichene Persönlichkeiten, im Gegenteil. Ein Teufelskreis. Ein erster Schritt heraus aus dem Konzept der männlichen Dominanz kann das Infragestellen der eigenen Rolle sein. Wobei dies für einige persönlich durchaus schmerzhaft sein mag, weil es das eigene Leben und die familiären Strukturen ins Wanken bringen kann. Sich dem aber nicht zu stellen oder nur oberflächliche Schönheitskorrekturen vorzunehmen, die sich in passenden Erklärungen für die eigene Unsicherheit und Benachteiligung äußern, ist nichts weiter als Selbstbetrug. Dies kann weder im Sinne der Frau noch im Sinne der Gesellschaft sein. Denn wer ehrlich zu sich selbst ist, wird erkennen, dass selbst jene Frauen, die um jeden Preis mit Unterwerfung gefallen wollen, die Qualen des Unglücks nicht ewig verdrängen können. Dabei geht es allzu oft gar nicht erst um die allseits bekannten Dramen rund um Zwangsehe und Mord im Namen der sogenannten Ehre. Schwarz und Weiß wäre auch hier viel zu kurz gegriffen. Die Sache der muslimischen Frau ist viel komplexer.

Meine Familie, der Islam und ich

Wie Muslime in Deutschland ihre Religion heute verstehen und praktizieren, hängt oftmals davon ab, wie sie die Religion des Islam in ihrer Familie kennengelernt und gelebt haben. Je nachdem, ob Muslime der sunnitischen oder schiitischen Glaubensgruppe angehören, wirken sich auch die Rechtsschulen, die ab dem 8. Jahrhundert n. Chr. in den Zentren der islamischen Gelehrsamkeit entstanden sind, auf die Glaubenspraxis und Wahrnehmung aus. Dies darf besonders heute, in Zeiten weitverbreiteter salafistischer Gruppen, nicht unberücksichtigt bleiben.

Der Islam ist geteilt in das Sunnitentum und das Schiitentum. Das Schiitentum kennt eine Rechtsschule: die der Ja’fariten oder Imamiten der Zwölferschiiten. Sie soll auf den 765 n. Chr. verstorbenen Imam Ja’far as-Sadiq zurückgehen. Diese Rechtsschule, die sich im Abbasidenreich im Gebiet des heutigen Irak entwickelte, ist im Iran, Pakistan, Indien, Irak, Libanon, Bahrain, Oman und Aserbaidschan verbreitet.

Im Sunnitentum gibt es vier Rechtsschulen, arabisch madhhab (Weg/Lehre): die schafiitische, die hanafitische, die malikitische und die hanbalitische. Weltweit stellen die Sunniten die größte islamische Glaubensrichtung dar.

Neben Sunniten und Schiiten gibt es weitere Gruppierungen, dazu zählen die Ismailiten, Drusen, die Ahmadiyya und, je nach Haltung zum Islam, auch die Aleviten. Diese Religionsgemeinschaften werden heute wegen ihrer Glaubensinhalte als Minderheit teilweise diskriminiert und verfolgt, was aufgrund der sich gegenseitig ablehnenden Haltung der Glaubensrichtungen der Sunniten und Schiiten nicht verwunderlich ist, da jede Seite glaubt, über das wahre Religionsverständnis zu verfügen, und durch die Existenz der anderen Seite seine Alleinmachtstellung bedroht sieht. Bis heute wird militärisch die jeweilige Vormachtstellung territorial verteidigt. Ein jahrhundertelanger Konflikt, der in den unterschiedlichsten Formen auch Einzug in das Familienleben in Deutschland lebender Muslime findet. Nicht ohne Grund sehen sich junge Männer und Frauen aufgrund der Minderheitenregierung der Alawiten in Syrien und der Schiiten im Irak berufen, Ordnung durch den »Islamischen Staat« zu schaffen – mit dem vermeintlich korrekten Islamverständnis des Salafismus. Finanziell und ideologisch weltweit befördert durch den saudischen Wahhabismus, der aus der hanbalitischen Rechtsschule hervorging. Damit ist der Salafismus, was so viel wie die Lehre der Altvorderen bedeutet, eigentlich eine eher jüngere Erscheinung.

Aber auch in heimischen Gefilden mitten in Deutschland machen sich die von regionalen Traditionen geprägten Islam­interpretationen bemerkbar. Sei es bei der Partnerwahl, Erziehung der Kinder oder der persönlichen Hinwendung einer anderen islamischen Glaubensrichtung, wie wir es derzeit oft bei jungen Menschen und dem Salafismus beobachten.

Als Tochter zweier praktizierender Muslime aus Marokko gehöre ich wie die Mehrheit in Marokko zu den malikitischen Sunniten, die vor allem in Nord-, West- und Zentralafrika beheimatet sind – mit Ausnahme von Ägypten, das zum größten Teil hanafitisch und schafiitisch geprägt ist.

In meiner Familie war der Islam immer präsent – sowohl in Deutschland als auch in Marokko. Meine islamische Erziehung erfuhr ich durch meine Eltern. Besonders väterlicherseits kam mir deren generationsübergreifende islamisch-theologische Ausbildung zugute. Mein Urgroßvater war Kadi und noch vor Beginn des spanischen Protektorats 1912 in der Stadt Tanger als Richter tätig. Ein Kadi ist ein islamischer Rechtsgelehrter, der im Auftrag des Kalifen und Sultans vor allem richterliche Funktionen wahrnimmt und sich dabei nach dem Normensystem der Scharia richtet. Im Fall meines Urgroßvaters unter der heutigen Herrscherdynastie des alouitischen Sultans. Eine Generation später war mein Großvater in Spanisch-Marokko als faqih tätig, als Rechtsgelehrter, der sich mit der Auslegung der Gesetzesvorschriften der Scharia beschäftigte. Da er zusätzlich Provinzgouverneur in einem Teil von Spanisch-Marokko war, engagierte er für seine Kinder einen Privatlehrer, der sie religiös unterwies. Dadurch blieb die religiöse Erziehung meiner Eltern frei von fremden Einflüssen. Frei von Einflüssen etwa durch selbsternannte Koran- und Islamlehrer, die in Deutschland häufig nicht nur in Hinterhofmoscheen predigen, sondern auch das Internet mit einer minbar (Moscheekanzel) verwechseln. Die fehlende Qualifikation der Prediger und Moscheevorsteher ist seit der Einwanderung von Muslimen nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute dem Umstand geschuldet, dass die meisten verbandsunabhängigen Moscheen eigenverantwortlich versuchten, eine Moscheegemeinde aus ihren begrenzten finanziellen Mitteln aufzubauen. Wer hatte da schon Geld, um einen ordentlichen Imam einzustellen. Der musste damals in den meisten Fällen ohnehin aus dem Ausland stammen, weil es in Deutschland keine islamisch-theologischen Zentren gab, in denen Imame hätten ausgebildet werden können, und sich niemand in der Gemeinde fand, der in seinem Herkunftsland als Kind den Koran auswendiggelernt hatte. Das führte dazu, dass die erste Generation der Einwanderer dem Imam größtenteils sprachlich und inhaltlich folgen konnten, die zweite und dritte hingegen inhaltlich häufig nur Bahnhof verstand. So konnten vor allem deutschsprachige Salafistenprediger bei der zweiten und dritten Generation großen Zuspruch finden. Endlich verstanden sie, was gepredigt wurde. Ein Problem war damit aus der Welt geschafft, ein größeres – nämlich ein islamistisches – fand hingegen Einzug in die Köpfe ganzer verwirrter Generationen. Wie man sieht, ist die oftmals von der nichtmuslimischen Gesellschaft gestellte Forderung nach Deutsch als Predigersprache nicht in jedem Fall und völlig automatisch die Lösung aller Extremismusprobleme und Garant einer besseren Integration. Denn ebenjene Salafisten pflanzen erst den Extremismus, den die Gesamtgesellschaft wieder bekämpfen muss.

Ich empfinde es als ungemeinen Segen, dass meine Eltern mich diesem Chaos nicht ausgesetzt haben. Was heute allerdings oft zur Folge hat, dass meinesgleichen und ich uns mit unserem vermittelten Islamverständnis etwas sonderbar fühlen.

Trotz des provisorischen Koranunterrichts in den Hinterhofmoscheen entwickelten sich die Schülerinnen und Schüler weiter und nahmen nicht alles hin, was ihnen der meist autoritäre Lehrer eintrichtern wollte. Kritische Fragen waren häufig unerwünscht. Toleranz und Akzeptanz waren und sind ein entscheidender Eckpfeiler meiner religiösen Erziehung gewesen. Bei vielen jungen Muslimen, die sich heute auf der Straße bei Koranverteilungen, in sozialen Medien oder in muslimisch-studentischen Vereinigungen über den Islam äußern – egal ob sie Konvertiten sind oder von Geburt Muslime –, scheint dieser Geist der Toleranz und Barmherzigkeit keine allzu bedeutende Rolle zu spielen. Vielmehr erwecken sie den Eindruck, als hätten sie Angst davor, den Widersprüchen und der Vielfalt zu erliegen, die sie mit ihrer eigenen ethnischen sowie teilweise gelebten Vielfalt in Deutschland selbst schon darstellen. Und dies, obwohl der Koran selbst in Sure 49, Vers 135 davon spricht, dass er uns zu Völkern gemacht hat, die einander kennenlernen sollen. Die Auslegungen und Deutungen der jungen Muslime, nach denen ein wahrer Muslim ist, wer einen langen Bart trägt oder sich als Frau komplett verhüllt, hätten meine Eltern nicht unterstützt. Dabei praktizieren und befolgen meine Eltern die fünf Säulen des Islam – wie viele andere Muslime in der Welt und in Deutschland. Sie bekennen sich zum Glaubensbekenntnis, geben Almosen, verrichten die Gebete und begehen den Fastenmonat Ramadan. Sowie die Pilgerreise nach Mekka. Hier vermittelten sie mir früh einen verantwortungsbewussten Umgang mit der Bedeutung des hadj für Gläubige, den ich heute bei vielen anderen Muslimen selten bis gar nicht wahrnehme. Dabei ist die Pilgerreise die einzige der fünf islamischen Pflichten, die nicht erfüllt werden muss. Denn sie ist an Bedingungen geknüpft.

Das Geld für die Reise muss mit ehrlicher Arbeit erworben worden sein, im Idealfall selbst verdient. Das gestaltet sich bei Hausfrauen, die auf das Geld ihres Ehemannes oder ihrer Kinder angewiesen sind, etwas schwierig. Darüber hinaus darf das Geld weder aus Zinsgeschäften noch aus Bankanleihen stammen. Es darf auch nicht geliehen sein, wie einige Muslime das heute dennoch gerne handhaben, um Ansehen in ihrer Gemeinde zu erlangen und sich einen hadj-Kredit nehmen – gerne auch mehrmals. Als wäre es mit einer Pilgerreise getan. Genauso wenig darf es aus kriminellen Quellen wie Drogen- oder Menschenhandel, Gewinnspiel oder Prostitution stammen. Dass der deutsch-marokkanische Rapper und bekennende Muslim Farid Bang, der sich damit rühmt, eine Reihe von Müttern begattet zu haben, in seinem Song Irgendwann besingt, wie er seiner Oma das Ticket nach Mekka bezahlen will, ist sicherlich nett gemeint. Die Art, wie er auf respektlose Art gegenüber Frauen sein Geld für dieses Ticket verdient, zählt wohl weniger zur erlaubten Erwerbstätigkeit für die Finanzierung von Pilgerreisen. Auch muss sichergestellt sein, dass die eigenen Kinder versorgt und vor allem aus dem Gröbsten raus sind. Dies hat zur Folge, dass eigentlich eher ältere Menschen zur Vervollkommnung ihres Glaubens die Pilgerreise antreten. Es sei denn, man verfügt schon in jungen Jahren über ein üppiges Auskommen. Dann könnte es eher an der geistigen wie religiösen Reife hapern, die ebenfalls gewährleistet sein sollte, zuweilen aber nicht ist. Dass man heute bei sozialen Medien wie Facebook oder Instagram öfter junge Menschen mit hadj-Selfies aus Mekka und Medina vorfindet, die jene fehlende Reife und Spiritualität zur Schau stellen, verwundert kaum. Die Erklärung, man wolle damit der daheimgebliebenen Familie nur mitteilen, dass es einem gut gehe, ist angesichts von Oldschool-Telefonanrufen, SMS oder Whatsapp-Nachrichten sehr unglaubwürdig. Nicht selten bleiben die eigenen kleinen Kinder bei den Großeltern zurück, damit Mama und Papa sich nach der großen Kaaba-Umrundung und der symbolischen Teufelssteinigung ehrfürchtig den Ehrentitel hadj und hadja geben können. Statussymbol à la Islam im 21. Jahrhundert. Was dem einen seine echte Rolex, ist dem anderen eine Art Unterhaltungsparkreise nach Saudi-Arabien. Damit zählt auch in Religionsdingen allzu oft mehr Schein als Sein. Und dieses Denken dürfte sich auch auf die Kindererziehung auswirken.

Oftmals ruhen sich diese Eltern beim Nachwuchs, der in der ersten Einwanderergeneration meist nicht unter vier Kindern lag, auf einer muslimischen Überlieferung aus. Nämlich dass Allah jedes neugeborene Kind mit einem eigenen Erbe beschenkt. Doch es wird auch überliefert, dass Muslime zwar auf Allah vertrauen dürfen, sie ihr Kamel in der Wüste zur Sicherheit aber anbinden sollten. Ergo: Ganz ohne Eigenverantwortung geht’s auch im Islam nicht. Als Einzelkind – hier bestätigt die Ausnahme die Regel – hatte ich die geballte Aufmerksamkeit zweier praktizierender Muslime. Was aber nicht bedeutete, dass ich ohne Ende verwöhnt wurde. Ganz im Gegenteil! Aufs peinlichste wurde darauf geachtet, dass ich brav, höflich, zuvorkommend, hilfsbereit und gläubig war. Für mich gab es keine Ausnahmen. Wenn ich mal einen Einzelkindanfall hatte, wurde ich besonders von meiner Mutter ohne Umschweife in die Schranken verwiesen. Selbst beim Thema Spielzeug oder Zeitschriften kannte sie keine Gnade. Ausnahmen galten nur für Bücher und Kleidung. Wollte ich etwas anderes aus der Konsumwelt, musste ich es bei meinem Vater versuchen. Besonders während unserer Marokko-Urlaube wurde meine Gleichbehandlung mit den anderen Kindern der Familie deutlich. Keine vorlauten Attitüden wurden geduldet. Mir wurde untersagt, vor anderen Deutsch zu sprechen, das galt als unhöflich, da außer uns niemand Deutsch verstand. Vor meinen Großeltern oder anderen älteren Herrschaften, die uns besuchten oder wir sie, hatte ich mich züchtig zu kleiden. Röcke mindestens bis über die Knie, Kleider oder Hosen. Shorts oder Badeanzüge durfte ich nur am Strand tragen oder im Haus, wenn weder mein Opa noch einer meiner älteren Onkel zu Hause war. Obwohl meine Großeltern und Onkel ihre Tochter und jüngste Schwester, also meine Mutter, immer wieder darin bestärkten, mich doch einfach machen zu lassen, weil es niemanden störe. Aber das duldete meine Mutter nicht. Immerzu erklärte sie, dass ich in keiner Weise anders zu behandeln sei als meine Cousinen und Cousins. Nur keine Extrawürste!

Schon allein, weil ich in Deutschland aufwuchs. Denn bei anderen Familienmitgliedern oder Nachbarn, die wie wir in Europa lebten, in Frankreich, Belgien oder Holland, war ein lautes und respektloses Verhalten der Kinder und Jugendlichen zu beobachten, und das missbilligte meine Mutter. Häufig behandelten sie ihre Verwandten in Marokko als Bedienstete und weigerten sich, an deren Alltag teilzunehmen. Im Gegenteil, plötzlich musste der Tag allein ihren Bedürfnissen angepasst werden, sodass in einigen Familien die Besucher aus dem Ausland nicht gerade beliebt waren. Vor allem die in französischen Banlieues Lebenden werteten sich gegenüber ihren bescheiden existierenden Angehörigen auf. Lebten diese auf dem Land, heuerten sie sie häufig als Hausangestellte für die Zeit ihres Urlaubs in ihren Häusern oder Wohnungen an. Allen voran die unverheirateten Mädchen. Die sollten kochen, putzen und die Wäsche machen. Ihre Eltern ließen sie gewähren. Vor allem, wenn damit die Chance wuchs, die Tochter an einen der in Europa lebenden Cousins oder Verwandten zu verheiraten, die im Haus ein- und ausgingen. Dafür nahmen diese Eltern hin, dass die Mädchen auch schon mal von den Verwandten aus dem Ausland erniedrigt wurden.

Religiös wurde mir immer vermittelt, dass Gott mir näher sei als meine eigene Halsschlagader und ich Allah nie etwas vormachen, geschweige denn verheimlichen könne. Meine niya (Absicht) sollte immer eine gute sein. Ich sollte nie Angst vor Menschen haben und mich von niemandem einschüchtern lassen, da Allah über allem erhaben ist. Ich sollte auch nie Furcht haben, denn solange ich Gott nicht vergaß, würde Gott auch mich nicht vergessen. Und ich sollte regelmäßig Gutes tun. Aber nicht etwa, um eine Belohnung zu erhalten. Ich sollte es einfach im Namen Allahs tun.

Womit wir wieder bei der niya