Heult leise, Habibis - Sineb El Masrar - E-Book

Heult leise, Habibis E-Book

Sineb El Masrar

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Beschreibung

Die größte diverse Minderheit sind die vernünftigen Stillen. Es ist an der Zeit, sie in unserer Gesellschaft mitzudenken und zu berücksichtigen. Dieses Buch richtet sich gegen alle ignoranten Dauerempörten, die getrieben von ihren Komplexen ihre eigene Perspektive als Nabel der Welt verstehen und nicht einsehen wollen, dass sie vernunftbegabte Stimmen mit ihrem Egoismus mundtot machen und damit unsere Demokratie gefährden.

Während die Lauten also einfach mal leiser werden müssen, müssen die vernünftige Stillen lauter werden. Es braucht dringend ein neues Gleichgewicht der Stimmen, wenn wir unsere Gesellschaft nicht in den Abgrund führen wollen.

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumVorwortTeil IVon Scheinriesen und anderen Empfindlichkeiten1 – Neue Perspektiven? Oder alles beim Alten?2 – Trifft ein Lauter einen Stillen in der Bar …3 – Geschäftsmodell Polarisierung4 – Ablasshandel reloaded … zwischen Cancel und Empörung5 – Terror und Lady-Di-Effekt6 – Wo Kränkung die Freiheit gefährdetTeil IIJetzt mal Tacheles, Habibis!7 – Laute Staatsmänner … zwischen Verschwörung und apokalyptischem Denken8 – Der schmale Grat – zwischen Opfertum und Täterschaft9 – Auf den Spuren der Dummheit10 – Einsamkeit und gefährliche Anschlusssuche11 – Orgasmische PolarisierungTeil IIIZeitenwende12 – Gedankengebräu oder: das Gleichgewicht der Stimmen13 – Let’s make Verantwortung great again!Anmerkungen

Über dieses Buch

Die größte diverse Minderheit sind die vernünftigen Stillen. Es ist an der Zeit, sie in unserer Gesellschaft mitzudenken und zu berücksichtigen. Dieses Buch richtet sich gegen alle ignoranten Dauerempörten, die getrieben von ihren Komplexen ihre eigene Perspektive als Nabel der Welt verstehen und nicht einsehen wollen, dass sie vernunftbegabte Stimmen mit ihrem Egoismus mundtot machen und damit unsere Demokratie gefährden.

Während die Lauten also einfach mal leiser werden müssen, müssen die vernünftige Stillen lauter werden. Es braucht dringend ein neues Gleichgewicht der Stimmen, wenn wir unsere Gesellschaft nicht in den Abgrund führen wollen.

Über die Autorin

Sineb El Masrar ist als langjährige Publizistin und Autorin für Print, Online, TV und Theater tätig. Sie schreibt eine monatliche Kolumne fürs Goethe-Institut und tritt als Moderatorin für verschiedene TV-Formate auf.

Zu ihren langjährigen Themenfeldern gehören u. a. Feminismus, Migration, Islam, Radikalisierung, Medien und Antisemitismus in unserer postmigrantischen Gesellschaft. Als Medienpionierin und Verlegerin des multikulturellen Frauenmagazin GAZELLE (2006 – 2011) sowie als Autorin von Sachbüchern wie MUSLIM GIRLS, EMANZIPATION IM ISLAM und MUSLIM MEN hat sie immer wieder wichtige Impulse in die deutschsprachige Gesellschaft eingebracht.

Sineb El Masrar hat mit neuen Perspektiven und Ideen maßgeblich die Debatten des vergangenen Jahrzehnts beeinflusst. Darüber hinaus ist sie eine der Hauptinitiatorinnen der Neuen Deutschen Medienmacher, langjährige CIVIS Jurorin und stellt u. a. in diversen Kulturinitiativen als Kuratorin ihr fundiertes Wissen zur Verfügung.

SINEB EL MASRAR

Heult leise, Habibis!

WIE IGNORANZ UNDDAUEREMPÖRUNG UNSEREGESELLSCHAFT SPALTEN

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Eichborn Verlag

Originalausgabe

Copyright 2024 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur, München.

www.ava-international.de

Vervielfältigungen dieses Werkes für dasText- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Textredaktion: Ulrike Strerath-Bolz

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagmotiv: © Stocksy/ Liliya Rodnikova; FinePic®, München

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-5963-2

eichborn.de

Vorwort

Was bewegt uns? Was sehen wir? Was sehen wir nicht? Wem und welchen Dingen schenken wir Beachtung? Wann regt sich etwas in uns, sodass wir uns trauen, einen Schritt nach vorne zu treten und unsere Stimme zu erheben, um etwas zu kommentieren oder gegen oder für etwas zu protestieren? Schlicht: aktiv zu werden! Wie gehen wir mit aufwühlenden Ereignissen um? Worin unterscheiden wir uns im Umgang damit? Wohin führt uns die Reise, die wir mit unserem Kommunikationsstil antreten: als Teil der Gesellschaft persönlich und als Gesamtgesellschaft, als Wir? Meist sind es die tragischen Ereignisse, die uns medial beschäftigen. Wer sind wir im Miteinander, und welche Rolle nehmen wir mit unserem Kommunikationsverhalten ein?

I’m looking out the window

All I see is war, war, war

Switch on the radio

All I hear is war, war, war

Das singt die französisch-israelische Sängerin TAL zusammen mit Wyclef Jean in ihrem Song WAR.

Sie beschreibt in diesem melancholischen und rhythmischen Song einen Zustand, dem wir uns Menschen, selbst im Westen, nicht entziehen können. Die Welt brennt vielerorts. Während ich diese Vorwortzeilen schreibe, droht in der Sahelzone ein Krieg um Ressourcen auszubrechen. Länder wie Niger, die über große Uran- und Goldreserven verfügen, stehen im Fokus von Ländern wie Russland und Frankreich, die sich strategisch und wirtschaftlich in dieser Region entweder den Status quo bewahren wollen. Wie im Fall von Frankreich. Oder neue Ressourcen und Einflusszonen erschließen wollen, wie im Fall von Russland (und anderen). Diese Konflikte mögen auf den ersten Blick nichts mit uns zu tun haben. Nicht alle begreifen, wie stark unser Wohlstand mit dem Zugang zu chemischen und metallischen Bodenschätzen verwoben ist. Und oftmals ist uns nicht bewusst, wie sehr unsere Energie- oder auch Gesundheitsversorgung von solchen Ressourcen und damit auch von dieser Region abhängig ist. Doch wir hören, sehen und erfahren aus den Medien, wie Tal singt, von den bewaffneten und kriegerischen Konflikten.

Wenn ich vor diesem Hintergrund darauf blicke, wie hierzulande in den sogenannten Sozialen Medien ohne Not kleine Kriegsschauplätze entfacht werden, die zum Teil sehr bedrohlich sein können, wenn ein Mensch in den Fokus eines sogenannten Shitstorms gerät, dann kann ich persönlich nur den Kopf schütteln.

Dennoch ist die Situation nicht hoffnungslos. Darüber singt Tal auch:

But it’s never too late

Ain’t no reasons to wait

Lord, can you hear me now

We could build a rainbow

Just to go far, far, far

Dies setzt aber voraus, dass Menschen ihren Beitrag zum Frieden im Kleinen leisten wollen. Nicht immerzu eine Empörungswelle zu erzeugen und sie dann so lange zu reiten, bis sie jemanden oder etwas zerschmettert und wie ein Elefant im Porzellanladen einen Scherbenhaufen der Verwüstung hinterlässt. Weder ein Erkenntnisgewinn wird durch solche Empörungswellen erreicht, noch wird die Welt dadurch friedlicher oder besser. Vielmehr wird auf die nächste Gelegenheit gewartet, Rache zu üben.

Wohlgemerkt: Dies alles ist nicht zu verwechseln mit Debatte, Streit und Diskussion. Wer glaubt, dass Debatten und Diskussionen im Netz stattfinden, der glaubt auch, dass das Weltklima dort gerettet werden kann. Vielmehr geht es um Revierkämpfe, wie wir sie alle aus der Schule von diversen Cliquen noch kennen. Es wird gemobbt und ein Wir-gegen-Euch/Dich-Spiel gespielt.

Und auch dies ist wie damals in der Schule: Manche gehörten keiner Clique an und betrachteten oder schlichteten das Theater aus einer Beobachterrolle heraus oder versuchten den Ursprung des Streits durch Befragung der Konfliktparteien überhaupt erst zu begreifen. Werfe ich heute einen Blick in mein altes Poesiealbum aus der sechsten Klasse, so finde ich dort eine Zeichnung, die ein Mädchen mit langen Haaren zeigt. Ein Mädchen, das mit einem Mikro ausgestattet ist und jedem mit Fragen auf die Pelle rückte. Es schien sich also früh meine Berufsrichtung abzuzeichnen.

Während also auf der Welt ernst zu nehmende Konflikte Menschenleben kosten und die regionale Sicherheit gefährden, geben wir uns hierzulande regelmäßig einer Empörungskultur hin, die in wahnwitziger Infantilität mündet. Und diese Infantilität sorgt nicht selten für Opfer und Kränkungen auf vielen Seiten. Die Schlüsse, die aus den Konflikten gezogen werden, sind unterschiedlicher Natur. Die einen sagen, man könne nicht mehr frei reden, die anderen ziehen sich noch weiter zurück als ohnehin schon, und wiederum andere fühlen sich angestachelt und bestätigt in ihrem lauten Getöse. Im schlimmsten Fall durchleben einige eine Radikalisierung, die gelegentlich Menschenleben gefährdet oder – im allerschlimmsten Fall – kostet.

Ja, es kostet im Extremfall tatsächlich Menschenleben, weil Verschwörungen hinter all dem täglichen Medientheater im Netz vermutet werden, die es dann auch mit Waffen und Munition zu bekämpfen gilt. Nicht selten werden Desinformationen, Hass, Wut, gegenseitige Vorwürfe und Beschimpfungen bei psychisch instabilen Personen getriggert.

Dieser Verschwörungswahn findet sein Ventil in Anschlägen, wie denen von 9/11 in den USA im Jahr 2001, auf der Insel Utøya in Norwegen 2011 durch den Rechtsterroristen Anders Breivik oder in Hanau 2020, um nur einige wenige zu nennen. Und solche dramatischen Ereignisse werden wiederum von der Berichterstattung aufgesogen und finden in den Sozialen Medien ihre vor allem subjektive Bewertung. Meist in polarisierender Art, was dann ebenfalls in die Berichterstattung einfließt und das Misstrauen in die Medien nur noch größer werden lässt. So entsteht ein Teufelskreis, und es gibt wenig Hoffnung, ihm zu entkommen, solange es keine ehrliche Selbstkritik gibt. Solange sich viel zu viele dem Rausch der Reichweiten, Klicks und Abos hingeben.

Doch so gering die Hoffnung auch erscheinen mag, sie existiert, und solange sie in der Welt und in unserer Gesellschaft existiert, solange lässt sich auch das Ruder noch herumreißen. Dafür braucht es aber Menschen, die aufklärend, kreativ und deeskalierend wirken. Diese Menschen gibt es, doch ausgerechnet sie leben eher zurückgenommen. In der Regel werden sie gar nicht erst wahrgenommen, allerhöchstens in ihrem vertrauten Umfeld – und selbst dort nicht immer.

Dominiert werden die medialen Diskussionen von jenen in den analogen und digitalen Medien, die sich bei jeder Gelegenheit, die sich ihnen bietet, lautstark zu Wort melden. Inhaltlich bleibt es meist halbgar. Lösungsorientierte und sachliche Beiträge kann Mensch hier oft lange suchen. Wer regelmäßig nicht zu sehen und zu hören bzw. zu lesen ist, sind jene, die sich entweder schon lange aus dem medialen Diskursraum zurückgezogen haben oder sich schlichtweg nicht trauen, sich zu äußern. Und natürlich jene, die unbeachtet bleiben, weil kaum noch jemand die Geduld aufbringt, ihrer sachlichen Differenzierung zu folgen.

Der Physiker Werner Heisenberg sagte einmal: »Auch das lauteste Getöse großer Ideale darf uns nicht verwirren und nicht hindern, den einen leisen Ton zu hören, auf den alles ankommt.«

Heisenberg lebte von 1901 bis 1979, und offenbar sah auch er schon – ohne die Errungenschaften und Plagen der Digitalisierung in Form von digitalen Medien – das Problem, dass sich immer der gleiche Menschenschlag lautstark zu Wort meldet. Es bedarf offenbar einer regelmäßigen Erinnerung an seine weisen Worte.

Das Problem ist allerdings: Seit geraumer Zeit vernehmen wir nur noch lautes Getöse. Leise Töne scheinen keine Chance zu haben, weil zu viele Menschen schlichtweg nicht gewillt sind, leise Töne zu vernehmen. Weil zu viele weder in der Lage noch willens sind, mal einen Moment Ruhe zu geben, statt sich immerzu mit der eigenen Meinung in den Vordergrund zu drängen – und danach Ausschau zu halten, wer vielleicht auch noch etwas Wichtiges, etwas mit Substanz zu sagen hat. Denn gerade die leisen Töne brauchen einen Raum des Innehaltens und Zuhörens. Wer getrieben ist von einem unreflektierten Sturm der Komplexe und fehlender Impulskontrolle, ist außerstande, sein leises Gegenüber zu vernehmen oder ihm auch nur einen Raum des Innehaltens zu gewähren und ihm zuzuhören.

Jeder fünfte Mensch in Deutschland bezeichnet sich selbst als schüchtern. Schüchterne Menschen gelten als eher zurückhaltend und vorsichtig, zaghafter im Umgang mit dem Gegenüber. Sich dann noch eine Bühne suchen oder gar eine solche Bühne fordern? Ganz zu schweigen davon, jemanden, der bereits auf einer Bühne steht, um Platz zu bitten oder gar wegzudrängen. Die Bühnen sind heute vielfältiger Natur. Sie finden sich nicht nur in den Sozialen Medien, sondern auch bei Arbeitsmeetings, auf Elternsprechtagen, Sporttreffen oder in Beziehungen jeglicher Art.

Anderen Raum geben, nach anderen Ausschau halten. Das war und ist heute mehr denn je bitter nötig, wenn wir nicht große Teile unserer Gesellschaft immer weiter an den Rand drängen wollen. Zumal die Gefahr besteht, dass ein Teil derjenigen, die sich abgedrängt und abgehängt fühlen, irgendwann auf gefährliche Sprecher*innen oder Vertreter*innen hereinfallen können, die es am Ende noch viel schlimmer machen. Für uns alle und vor allem für jene, die menschenfeindliche und undemokratische Positionen nicht teilen.

Der Motor von Gleichgültigkeit und Ignoranz – denn nichts anderes ist die aktive Vermeidung jedes Versuchs, »den einen leisen Ton zu hören, auf den alles ankommt« – sind unreflektierte Komplexe, die eine Ich-Bezogenheit im Fokus haben und von Kränkungen getrieben werden.

Dabei haben wir alle Komplexe. Komplexe kennen keine ethnische Herkunft, keine Religion, kein Geschlecht oder Alter. Wir alle haben Themen, die uns verunsichern oder (wie es neuerdings auch heißt) triggern und gelegentlich auch re-traumatisieren, die tief ins uns arbeiten. Die entscheidende Frage ist, wie gehen wir damit um? Jammern wir, getrieben von der Kränkung und Wut, laut herum, oder packen wir das Leben am Schopfe und machen die Welt für uns und andere zu einem besseren und sicheren Ort, wo wir aufeinander achtgeben und trotzdem vernunftbegabt streiten können? Das setzt eine gewisse Portion von Selbstwirksamkeit voraus und Wohlwollen für unser Gegenüber. Solange der Blick nur auf den eigenen Nabel gerichtet ist, funktioniert das aber nicht.

Es hilft auch nicht, sich jammernd zu empören oder die Schuld immerzu bestimmten Gruppen in die Schuhe zu schieben. Geschweige denn, jede Woche eine andere Sau durchs Dorf zu jagen. Empörung mag ein Ventil sein, aber nur eines mit Kurzzeitwirkung. Und diese Wirkung kann durch die Digitalität so verstärkt werden, dass sie Desinformation zur Folge hat und großen Schaden bis hin zur Vernichtung von Existenzen anrichtet. Dabei bleiben die beklagten Probleme in der Regel bestehen oder vergrößern sich gar.

Auch wenn wir uns als Demokrat*innen einig darüber sind, dass wir für eine gleichberechtigte und diverse Gesellschaft kämpfen müssen, so setzen wir regelmäßig über Jahrhunderte erworbene Erfolge und Entwicklungen wie Meinungsfreiheit oder territoriale Sicherheit aufs Spiel. Wir tun das, indem wir ständig auf die Befindlichkeiten der Lauten Rücksicht nehmen und uns als Gesamtgesellschaft von ihnen beeinflussen und verunsichern lassen. Und indem wir es zulassen, dass unsere Gesellschaft durch ihre ständige Polarisierung gespalten wird.

Denn tatsächlich gibt es auf der anderen Seite viele Menschen in unserer Gesellschaft, die mit schmerzhaften Erfahrungen wie Rassismus, Missbrauch, Gewalt, Verlust, Krankheit, Sexismus etc. konfrontiert sind und trotzdem auf überzogene Empörung verzichten. Stattdessen finden sie einen konstruktiven Umgang mit ihrer Wut, Kränkung und Unsicherheit. Sie helfen, erfinden Dinge oder Strategien. Sie forschen und heilen zum Wohle der Gemeinschaft. Sie versuchen mit ihren Möglichkeiten nichts weniger, als ein guter Mensch zu sein und dabei die Welt in ein Gleichgewicht zu bringen, sodass am Ende einer vielfältigen Mehrheit gedient ist und auch ihre eigenen Bedürfnisse befriedigt werden.

Diese Menschen verlassen sich nicht auf Selbstlosigkeit, sondern auf eine gesunde Ausgeglichenheit. Gemeint sind all die vernunftbegabten stillen Menschen um uns herum, die regelmäßig übergangen, hintergangen oder schlichtweg unsichtbar gemacht werden. Frauen wie Männer, Hetero- wie Homosexuelle oder Queere, Behinderte wie nicht Nicht-Behinderte, Alte wie Junge, Religiöse wie Atheisten und Agnostiker. Mit oder ohne Migrations- oder Ostgeschichte. Sie werden regelmäßig übersehen, weil sie nicht bereit sind, zu polarisieren oder auch nur empört ihre Stimme zu erheben und sich zu inszenieren.

Kurz gesagt: Die größte diverse Minderheit sind die vernünftigen Stillen.

Es ist an der Zeit, sie in unserer Gesellschaft mitzudenken und zu berücksichtigen. Dieses Buch ist eine Einladung an alle ignoranten Dauerempörten, die, getrieben von ihren Komplexen, ihren eigenen Blickpunkt als Nabel der Welt verstehen und nicht einsehen wollen, dass sie vernunftbegabte Stimmen mit ihrem Egoismus mundtot machen und damit unsere Demokratie und Zusammenleben gefährden. Gleichzeitig soll dieses Buch all den vernünftigen Stillen da draußen als Ermunterung dienen, ihre Stimmen zu erheben und sich nicht mundtot machen zu lassen.

Es braucht dringend ein neues Gleichgewicht der Stimmen, wenn wir unsere Gesellschaft nicht an den Abgrund führen wollen.

Teil IVon Scheinriesen und anderen Empfindlichkeiten

1Neue Perspektiven? Oder alles beim Alten?

2006 erschien die erste Ausgabe von Gazelle in Deutschland, dem ersten und einzigen multikulturellen Frauenmagazin bundesweit. Vorausgegangen waren langjährige Beobachtungen und Eindrücke von Medienerzeugnissen sowie Gespräche, bevor das Abenteuer begann: »Wie verlegt Frau eigentlich ein Printmagazin?« Fünf Jahre später, im Jahr 2011, war mit dem Printmagazin Schluss, aber inzwischen hatten die Verlagshäuser endlich verstanden, dass in einer vielfältigen Gesellschaft auch sie als Medien Vielfalt abbilden müssen.

Ähnliches galt für viele Unternehmen, die Konsumgüter herstellen und deren Anzeigenabteilungen in der Zeit von Gazelle noch damit argumentierten, die vielfältigen Kundinnen würden in den Mainstreammedien doch »mit abgeholt«. Das stimmte natürlich nur bedingt, denn manche Produkte wurden erst gar nicht angeboten. Ein bekanntes Beispiel sind Make-up-Foundations für dunkelhäutige Frauen. Kosmetikunternehmen boten sie schlichtweg nicht an und konnten sie dementsprechend auch nicht bewerben. Die Produkte tauchten auf dem deutschen Markt einfach gar nicht auf. So launchten wir Gazellen-Shoppen und boten unter dem Slogan »Lebe deine Schönheit« u. a. Foundation für dunkelhäutige Frauen an. Die TV-Moderatorin Hadnet Tesfai, die einst als Kind mit ihren Eltern aus dem Nordosten Äthiopiens – heute Eritrea – eingewandert war, hatte in einem Gazelle-Interview unter anderem erzählt, dass sie ihre Kosmetik stets in Großbritannien kaufte und im Kühlschrank lagerte. Einige Ausgaben und Jahre später veränderte sich dann endlich etwas im Medienbetrieb. So manche Gazelle arbeitet heute in den Verlagshäusern. Die Neuen deutschen Medienmacher, deren Mitbegründerin und eine der Hauptinitiator*innen ich war, leisteten durch Mentor*innenprojekte sowie Journalismusausbildung einen wichtigen Beitrag zur medialen Vielfalt in den Redaktionen. Rückblickend freue ich mich, dass so viele Menschen mit Einwanderungsgeschichte durch beide Initiativen ihren Platz gefunden haben. Ich freue mich darüber, dass die Mitbegründer*innen und Mitarbeiter*innen anderen jungen Menschen und auch älteren Quereinsteiger*innen die Türen öffneten und sie auf ihrem Weg unterstützten. Ohne die Offenheit der Medienhäuser, die Praktika möglich machten und in denen sich auch die Mentor*innen für die Mentees fanden, wäre es kein Erfolg geworden. Von Axel Springer und Süddeutsche Zeitung über RTL bis hin zur taz waren fast alle Medienhäuser dabei. Der Wille war da, etwas zu verändern, und es ist gelungen, vielen Menschen berufliche Perspektiven zu eröffnen. Wir alle sind Teil der deutschen Gesellschaft, und wir alle bilden jeweils einen Teil einer Bevölkerungsgruppe ab. Es ist daher nur logisch, dass wir medial auch immer stellvertretend für eine Bevölkerungsgruppe stehen. Das beschränkt sich hierbei nicht auf die ethnische Herkunft. Denn unsere unterschiedlichen Sichtweisen, Abstammungen und Erfahrungen ermöglichen es uns erst, einander besser kennenzulernen, zu verstehen und im Idealfall über unsere Herkunft hinweg auch weiterzuentwickeln und ein friedliches Zusammenleben zu gestalten.

Dazu ist es aber unerlässlich, dass wir dies aufrichtig wollen. Gerade Letzteres scheint in den letzten Jahren nicht so richtig zu gelingen. Auch muss ich sagen, dass die Vielstimmigkeit, auf die ich damals mit meinem Gazelle-Team und mit dem Gründungsteam von NDM gehofft hatte, aktuell meines Erachtens zu wünschen übriglässt. Oftmals erlebe ich eher eine Einseitigkeit, die zwar aus vielen diversen Federn und Mündern stammt, aber alles andere als vielschichtig ist. Denn eine vielfältige Gesellschaft hat viele Facetten, und nicht jeder passt in die vermutete Schublade. Einwanderungsnachkommen beispielsweise denken durchaus unterschiedlich über Religion, Außen- und Innenpolitik, Wirtschaft, Bildung, Migration oder Integration. Der Umkehrschluss, dass sie aufgrund ihres ausländischen und vermeintlich exotischen Hintergrunds alle musikalisch oder lustig, kreativ oder integrationsunwillig, fanatisch oder gefährlich sind, wird in der großen Breite natürlich nicht durch die Realität bestätigt. Im Idealfall bringen sie aufgrund ihres Hintergrunds und ihrer Erfahrungen Sichtweisen und Ideen mit, die innovativ, neu, anders, frisch sind. Ein Automatismus ist das aber selbstverständlich nicht. Und im Übrigen ist selbstverständlich auch nicht jeder Mensch ohne Einwanderungsgeschichte ein stumpfer, nicht empathischer weißer privilegierter Mensch, der nichts anderes kann, als strukturell – sei es bewusst oder unbewusst – zu diskriminieren.

Sehr früh hatte ich in Gesprächen und Interviews darauf hingewiesen, dass ein Migrationshintergrund nicht automatisch die spannenderen Geschichten oder Ideen liefert. Ich kann mich daran erinnern, dass manche Kollegin Artikelvorschläge unterbreitete, bei denen ich nur dachte: Schon zigmal in anderen Medien gelesen. Klischeehaft und altbacken. Das könnte aus jeder x-beliebigen Zeitung bzw. Zeitschrift stammen, von einem sogenannten »alten weißen Mann«, dessen Vorstellungswelt mit großer Wahrscheinlichkeit aufgrund seiner Lebensrealität nicht mehr Erfahrungen und Vorstellungskraft zu bieten hat. Geschweige denn Neugier. So ist das mit dem Realitätscheck. Es kann Aufregendes geboten werden, es muss aber nicht. Es bleibt eine Entdeckungstour, bei der wir stets offen sein sollten für Unerwartetes.

Und so blicke ich auf manche Medienerzeugnisse, Artikel und Formate heute, fast zwanzig Jahre später, mit einer gewissen Ernüchterung. Nicht jede*r kann und will die Möglichkeiten nutzen, die in einer pluralen Gesellschaft geboten werden, wo es zum Beispiel Meinungsfreiheit und diverse Medientechnologien gibt. Andere wiederum werden ausgebremst von (Chef)Redakteur*innen oder Vorgesetzten, die allerdings mittlerweile auch Einwanderungsgeschichte haben und genauso sperrig sind wie jene, die sie selbst gerne kritisieren.

Kurz: Alles kann, nichts muss gut gelingen. Es ist kein Selbstläufer, dass durch ein vielfältiges Team die Zusammenarbeit und die Ergebnisse automatisch besser werden. Aber jede Person, egal mit welchem Hintergrund und vor allem, egal ob extrovertiert oder introvertiert, sollte die Chance bekommen, sich auszudrücken und spannende und neugierige Ideen einzubringen. Allein das macht es erst möglich, Potenziale zu entdecken und Innovationen in Gang zu setzen. Ein wenig Konkurrenz um die besten Ideen kann hierbei nicht schaden.

Medial gibt es heute vielerlei Anlass zur Ernüchterung. Ich empfinde die Möglichkeiten und die Experimentierfreude als sehr begrenzt. Oftmals erstreckt sich die Experimentierfreude darauf, jenen Stimmen Raum zu geben, die mit genügend Penetranz und Lautstärke »Hier bin ich und hier ist meine unoriginelle Meinung!« schreien.

Eine Diskussionskultur, die sich darin erschöpft, mutiert zur Unkultur. Und genau an diesem Punkt stehen wir heute. Tatsächlich vernehmen wir nicht mehr viele unterschiedliche Meinungen und Stimmen. Vor allem im rechtsextremen Spektrum wird diese »Einstimmigkeit« oft angeprangert. Dabei agieren die, die diese Kritik formulieren, nur als Gegenstück zu den kritisierten lauten Stimmen (die glauben, ihre Lautstärke wäre gerechtfertigt, weil sie sich ja zu »den Guten« zählen). Dass sie mit ihrem Argument »Nicht den Falschen in die Hände spielen« sich selbst ausblenden, ist durchaus ein Problem. Denn die gesellschaftlichen Konflikte nehmen zu, sie werden immer unversöhnlicher. Mit Vermeidungsstrategien und inhaltlicher Konfliktscheu kommen wir nicht weiter. Ganz im Gegenteil, genau dies erleben viele Menschen als ausgesprochen bedrohlich.

2Trifft ein Lauter einen Stillen in der Bar …

Wenn Mensch sich an zurückliegende Gesprächsrunden erinnert, an Debatten im TV oder den Schlagabtausch auf Social Media, geht man oft davon aus, dass sich nur die Extrovertierten dort tummeln. Das stimmt allerdings so, in der Einfachheit, nicht. Denn gerade in der Anonymität von Social Media lässt sich aus dem stillen Kämmerlein heraus auch als introvertierter Mensch schreibend kommentieren, diskutieren und auch herumpöbeln. Ein anderes Beispiel für das zwangsläufige Auftreten von Introvertierten in der Öffentlichkeit sind Teilnehmende an TV-Diskussionsrunden oder Schauspieler*innen, die für einen neuen Film die großen Promotion-Runden drehen und jedem Reporter Rede und Antwort stehen oder sich auf dem roten Teppich ablichten lassen müssen, obwohl sie vielleicht eher schüchterne Persönlichkeiten sind. Besonders stark fällt diese Diskrepanz auf, wenn es sich um Personen handelt, denen beim Familienessen sonst jedes Wort aus der Nase gezogen werden muss. Oder wenn man diese Menschen, die zu den Personen des öffentlichen Lebens gehören, im Backstagebereich als eher zurückhaltend erlebt. Dort erinnern sie nicht selten an schüchterne Verwandte oder andere introvertierte Menschen aus dem privaten Umfeld. Schüchternheit, die extrovertiert auftritt, gestaltet sich wiederum anders als das, was wir in unserem Alltag als schüchtern kennen.

Es war einmal: Genie und Blödsinn

Der Psychiater Carl Gustav Jung spricht von einem Introversions- und einem Extraversionstyp. Er betont, dass alle Menschen Introversion und Extraversion in sich tragen. Die Gewichtung dieser beiden Pole ist aber individuell unterschiedlich ausgeprägt. Ob die extrovertierte oder introvertierte Seite zum Tragen kommt, hängt von der Umwelt ab, z. B. von der Erziehung und den Erfahrungen, die in der Kindheit und Jugend gemacht wurden.