Muslim Men - Sineb El Masrar - E-Book

Muslim Men E-Book

Sineb El Masrar

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Beschreibung

Ob Berufsmuslime, die harten Jungs arabischer Clans oder männliche Sexarbeiter – die Welt der "Muslim Men" hierzulande ist viel bunter als es der Welt gefällt. Viel wird über sie geredet, kaum kommen sie zu Wort. Bis jetzt! Sineb El Masrar hat mit ihnen gesprochen und viel erfahren über ihre Familien, den Einfluss der Religion, zerplatzte Hoffnungen oder den hart erkämpften Erfolg in unserer Gesellschaft. Ein längst überfälliges Buch.

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Sineb El Masrar
MUSLIM MEN
Wer sie sind, was sie wollen
Für Ben
und alle Babas mit Herz und Verstand da draußen
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2018
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal, Rosenheim Umschlagmotiv: © Lemberg Vector studio / shutterstock, Gestaltungssaal
E-Book-Konvertierung: de·te·pe, Aalen
ISBN E-Book   978-3-451-81393-1
ISBN Print       978-3-451-38156-0
Inhalt
Einführung
Klappe, die erste: Im Supermarkt
Klappe, die zweite: An meinem Schreibtisch
Bestandsaufnahme
Wie alles begann …
Nahaufnahme
1. Berufsmuslim: Zwischen Seelenfänger und Ausverkauf
Später! Später!
Angst essen Seele auf reloaded
2. Arabische Clans: Zwischen Mythos und Realität
Zu Hause sind sie immer brav
Mister Cheeseburger to go
Ein Boxring aus Filmbändern
»Der Teufel hat das gemacht«
Wo Van Damme Kafka ablöste
3. Muslim, männlich, Sexarbeiter
»Ich bin ich«
Selam Transenmutti
Zwischen devot und Machoallüren
4. Die Abkehr
Kindermund tut Wahrheit kund
Suchen und Finden
5. Ustad Viagra – Potenz für den Halal-Sex
Ein Imam kommt selten allein
6. Vom Geflüchteten zum Gesetzeshüter
»Mir hat das Spaß gemacht!«
Willkommensklasse Fehlanzeige
Islam – Suche nach Wurzeln
7. Ein Qualitätsbeauftragter mit Durchblick
Jeder ist für sich selbst verantwortlich
»Als Jugendlicher verstehst du das nicht«
8. Vom Data-Analysten lernen, heißt, sich durchbeißen lernen
Gelegenheiten und Sehnsüchte
Willkommen in Deutschland
Zwischen Fieberschüben und Tatendrang
9. Ein Gastarbeiter und das Recht auf Liebe
Analyse
Von Männlichkeit und Ehrenbildern
Gangsta-Rap oder: Wie Sprache Denken formt
Falsche Götter und wie die Männlichkeit in die Welt kam
Zwischen Adonis-Komplex und Homoerotik
Im Phalluswahn
Keimzelle der Gesellschaft – Vater, Mutter, Sohn
Söhne – Faszination und Partnerersatz
Mama, die Macho-Macherin
Die Identitätsbildung
Eltern prägen ein Leben lang
Zwei Boxer – zwei Lebensentscheidungen
Muslimischer Verschwörungsglaube
Wen treibt’s in den Terror?
»Der Islam gehört nicht zu Deutschland«
Fazit: Mehr Eigenverantwortung, bitte!
Danksagung
Über die Autorin
Anmerkungen
Einführung
Klappe, die erste: Im Supermarkt
»Werden Sie gegen Ihren Willen von diesem Mann zu Hause festgehalten …?«
Mit solch einer besorgten Frage wird Frau ohne MH – mein Kürzel für Migrationshintergrund – im Jahre 2017 in einem Supermarkt einer hessischen Siebentausend-Seelen­gemeinde schon einmal ganz real konfrontiert. Und zwar genau dann, wenn Frau es wagt, ohne den Verlobten Eier, Milch und Waschpulver einzukaufen. Klingt komisch? Richtig, ist es auch! Aber vor allem: Es ist tatsächlich so geschehen!
»Man hört ja so viel darüber …«, führt der junge und sichtlich besorgte Filialleiter weiter aus. Madame hat gut reagiert, indem sie dem engagierten Herrn nicht offenbarte, dass der Partner, der normalerweise an ihrer Seite zu sehen ist, ausgerechnet Oussama heißt und zu allem Überfluss auch noch an einem wichtigen Projekt zu arbeiten hat, weshalb er dieses eine Mal nicht beim Einkauf dabei sein kann. Das SEK wäre wohl schneller vom Filialleiter alarmiert worden, als die Turbo-Kassiererin des Monats die Einkäufe hätte abscannen können. Was wären das für World-Breaking-News gewesen: Saudischer Terrorfürst vom Hindukusch Osama Bin Laden – bekannt aus Funk und Al-Jazeera-Verlautbarungsfernsehen – lebt nicht bei den Fischen, sondern in der hessischen Provinz! Diesmal nicht beschaulich-bescheiden in den verwinkelten Bergen Afghanistans, sondern zwischen Kühen, Kehrwoche und Weinhügel, und er genießt das jährliche katholische Selbstgeißelungsspektakel der Prozession am Straßenrand mit seiner einzigen Ehefrau. Wie sagte Rap-Poet Bushido einst: »Zeiten ändern Dich!« –
Nur Vorurteile ändern sich offenbar nicht so recht!
Wenn Ihnen das bekannt vorkommt, dann sind Sie entweder mit so einem liiert, verwandt, befreundet oder gehören zur Kategorie »muslimischer Mann«. Sie haben viel über ihn gelesen und gesehen, und dennoch ist er Ihnen ein Rätsel geblieben? So nah und doch so fern? Das immerwährende Mysterium aus dem Morgenland hält die eigenen Glaubensgeschwister genauso auf Trab wie alle möglichen Menschen aus dem Abendland. Es gibt viel zu entdecken, kennenzulernen und zu überwinden! Und dafür halten Sie genau das richtige Werk in der Hand. Das Handbuch Spezies – MUSLIM MEN! Jackpot!
Klappe, die zweite: An meinem Schreibtisch
Wer hätte es gedacht? Ich jedenfalls nicht. Acht Jahre nach Erscheinen meines Generationenbuchs »Muslim Girls«, das vielen Leserinnen und Lesern einen einzigartigen Einblick in die vielfältigen Lebensrealitäten von hier lebenden muslimisch geprägten Mädchen und Frauen der 1960er- bis 2000er-Jahre gewährte und für zahlreiche muslimisch ge­prägte Frauen ein Befreiungsschlag war, acht Jahre danach ist auf dem politischen sowie medialen Parkett ein völlig neuer Zugang zum Themenfeld »muslimische Frau« gelungen. Doch während dieser acht Jahre begleitete mich bei meinen un­zähligen Vorträgen, Lesungen und Diskussionen zu diesem Thema stets eine Frage: »Schreiben Sie jetzt auch über die Muslim Boys?« Immer verneinte ich diese Frage und verwies darauf, dass es sicher da draußen einen geeigneten Muslim-Boy-Autor gebe, der nur zu gern das Zepter übernehmen würde. Nun wurde ich allerdings nach fast zehn Jahren eines Besseren belehrt. Weit und breit nichts dergleichen. Kein einziger Muslim Boy macht sich die Mühe, in der Tiefe zu recherchieren und seine Komfortzone zu verlassen, keiner macht sich auf den beschwerlichen Weg, verschiedene Jungen und Männer aus ganz unterschiedlichen Lebenswelten und Generationen, ohne islamistische oder apologetische Agenda zu interviewen, Studien zu sichten und alles nüchtern zu reflektieren und zu guter Letzt unterhaltsam und informativ niederzuschreiben. Wie so oft in meinem Leben überfraute mich also meine Devise: Wenn’s kein anderer macht, dann mach ich’s halt! Irgendjemand muss es ja machen! Wenn ich allerdings darüber nachdenke, was ich in den vielen unterschiedlichen Gesprächen quer durch die Republik zutage gefördert habe, dann kann ich mir sehr gut vorstellen, wie schmerzhaft dieses Buch für viele potenzielle muslimische Autoren geworden wäre. »Muslim Men« ist ein Buch, das etlichen der ersten Einwanderer sowie den Vertretern der zweiten und dritten Generation einen Spiegel vorhält. Viele werden nicht wahrnehmen und wahrhaben wollen, was sie zu lesen bekommen und was sie lange zu verdrängen gelernt haben. Aber wie so oft müssen manche Dinge einfach beim Namen genannt und artikuliert werden. Ewig wegschauen häuft nur noch mehr Konflikte an. Darüber hinaus wird auch kein einziges zurückgehaltenes grausames Detail – das möglicherweise das ein oder andere Klischee, die ein oder andere Zuschreibung bestätigt – rechte Gruppen davon abhalten, ihr menschenfeindliches Keifen fortzusetzen. Im Gegenteil: Das Verschweigen ist gerade für all jene Wasser auf die Mühlen, die ein unterdrückerisches System aufrechterhalten wollen. Sei es innerhalb der Familie, Gemeinde oder Partnerschaft, sei es in der Politik. Und so ist »Muslim Men« wie ein Pflaster auf einer haarigen Körperstelle. Mit Schwung abgezogen, tut es nur kurz weg. Dafür folgt unmittelbar darauf ein eher befreiendes Gefühl. Also: Mit Schwung lesen, danach erleichtert durchatmen und zur konstruktiven Tat schreiten!
Nun fragen Sie sich vielleicht: Warum braucht es solch ein Buch überhaupt, und warum sollten Sie es lesen? Ganz einfach: Auch im Jahr 2018 reißt die Diskussion um Muslime in Deutschland und Gesamteuropa – genau genommen weltweit – nicht ab. Unzählige Menschen wollen mehr begreifen, sie haben Fragen oder einfach schon eine vorgefertigte Meinung zu dieser mehr oder weniger auffälligen Personengruppe. Nicht nur zur vermeintlich muslimischen Frau, sondern eben auch zum vermeintlich muslimischen Mann. Omnipräsent geistert bei vielen das Bild des dominanten und ungebildeten Flegels mit seinem besonderen Hang zum Machotum vor dem geistigen Auge herum, dessen Partnerinnen gerne mal von Supermarktmitarbeitern aus seinen Klauen gerettet werden wollen. Wenn er nicht gerade mit seinem tiefergelegten BMW bei wummernder Musik durch die Straßen kurvt und alles Weibliche anbaggert, das nicht bei drei am Herd steht, dann macht er – langbärtig, in Moschus gebadet und moralisch auf der vermeintlich sicheren Seite und religiös fanatisiert – einen großen Bogen um jegliche weibliche Hand. Stilunbewusst kleidet er sich in schäbige Hochwasserhosen und Polyestertuniken, in denen er sich in offensiver Bescheidenheit seiner Religionsausübung zu widmen glaubt. Von den Lobby-Islamisten in Anzügen ganz zu schweigen. Zwischen diesen drei Prototypen pendeln oftmals die Vorstellungen von muslimischen Männern. Ein Trauerspiel, das dringend eines Realitätschecks bedarf.
Sicher, vieles liegt bei zahlreichen hier lebenden Muslimen im Argen, doch dass unter diesen Jungs und Männern auch etliche spannende Individuen existieren, die in der allgemeinen medialen Debatte kaum bis gar nicht sichtbar sind, das soll sich mit diesem Buch ändern. Ohne dass ich dabei die Frage aus dem Auge verlieren möchte, welchen Beitrag muslimisch geprägte Männer zur Emanzipation und Islamismusbekämpfung selbst beitragen müssen und in welchem Spannungsfeld sie sich mit ihrer weiblichen, ethnischen sowie religiösen Glaubensgruppe befinden. Auch für Muslim Men soll gelten: Endlich mit einem Zewa-Wisch-und-Weg für mehr Durchblick sorgen!
Denn es gibt kein Entrinnen mehr. 2015 zählte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bis zu 4,7 Millionen Muslime in Deutschland. Davon sind schätzungsweise etwas mehr als die Hälfte männlich. Wo auch immer wir unseren Fuß hinsetzen, wohin auch immer wir unsere Blicke schweifen lassen, was auch immer wir konsumieren, überall droht einem der unmittelbare Kontakt mit jener Männerspezies, die von einer bei der AfD aktiven Herzogin schon einmal besonders liebevoll zu »barbarischen, muslimischen, gruppenvergewaltigenden Männerhorden« geadelt worden ist.1 Wer sich als Frau oder Mann auf diese Männerspezies einlässt, wird beneidet, gehasst, bewundert oder betrauert. Manchmal auch alles zusammen.
Denn wie die Muslim Girls sind auch Muslim Men überall. Sie bringen uns Pakete, reparieren unsere Autos, beraten uns in Rechtsfragen oder bei Handyverträgen, sie behandeln unsere Krankheiten, unterrichten unsere Kinder, frisieren unsere Haare, sie durchleuchten am Flughafen unser Gepäck, verkaufen uns Wein, Tabak, Pott, Lebensmittel, Immobilien, Sex oder drängen uns auf penetrante Weise religiöses Material auf, ob nun auf der Straße oder im Netz. So mancher von ihnen lebt gar das Klischee des betrügerischen Sozialschmarotzers – zur großen Freude all jener, die als muslimische wie nichtmuslimische Steuerzahler und Steuerzahlerinnen artig dem Gemeinwohl dienen.
Mit diesem Buch möchte ich Denkanstöße geben und zum Positiven inspirieren, und zwar in alle gesellschaftlichen ethnischen, religiösen und sozialen Richtungen. Ich möchte aber vor allem endlich den Druck aus dem Kessel jener musli­mischen Männer nehmen, die so sehr mit sich hadern, die jedes Zweifeln, jede Unsicherheit, die jegliche vermeintliche Schwäche verleugnen und sich in einen Teufelskreis aus Hass, Komplexen und Selbstverleugnung begeben, der allzu oft in der Abwertung Andersdenkender und -lebender mündet. Da­mit muss endlich Schluss sein! Im eigenen Seelenfrieden-Interesse, im Interesse der eigenen Nachkommenschaft und unserer Gesellschaft, die nur friedlich sein kann, wenn wir als Einzelne mit uns selbst im Reinen sind.
In diesem Sinne! Lehnen Sie sich zurück und blicken Sie dem unbekannten Mann entgegen, der langsam am Horizont erscheint und durch den Wüstensand auf seinem Kamel auf Sie zureitet, umhüllt vom opulenten Garn aus dem Morgenland, und Ihnen mit seinen warmen und von schwarzem Kajal umrandeten Augen voller wilder Leidenschaft in die Ihren blickt … Okay, ich gebe zu: Der Kajal war jetzt zu dick aufgetragen! Nun denn: Viel Freude beim Lesen, viele spannende Einblicke und noch mehr neue Erkenntnisse und Denkanstöße!
Ihre Sineb El Masrar
Berlin 2018
Bestandsaufnahme
Wie alles begann …
Die Wahrnehmung muslimischer Einwanderung nach dem Zweiten Weltkrieg, wie sie in vielen Ländern und auch in Deutschland stattgefunden hat, war nicht von Beginn an auf das Merkmal »muslimisch« konzentriert. Ganz andere Attribute waren en vogue. Etwa Ausländer, Gastarbeiter, Asylant, Vertragsarbeiter oder ausländischer Student. Hinzu kam die ethnische Herkunftsbezeichnung. Religion spielte vordergründig keine Rolle bei der Betitelung der Einwanderer. Üblicherweise war die Rede vom Türken, Marokkaner, Tunesier, Iraker, Syrer oder Iraner beziehungsweise Perser. So standen sie in einer Reihe mit den Italienern, den Griechen, Spaniern oder Vietnamesen, sie waren lediglich eine weitere Nationalität neben den anderen. Die jeweilige Religionszugehörigkeit – und die muslimische im Besonderen – rückte im öffentlichen Diskurs nur in den allerseltensten Fällen in den Vordergrund. Die Identität wurde meist noch über die Herkunftskultur definiert, selbst in den Moscheen blieb man unter sich. Die große Wende in der Wahrnehmung ereignete sich schlussendlich am 11. September 2001 durch den Terroranschlag in den Vereinigten Staaten von Amerika, zu dem sich die islamistische Terrororganisation al-Qaida bekannte. Wobei festgestellt werden kann, dass sich im Vorfeld dieses Anschlags bereits eine Veränderung in der Wahrnehmung jener Einwanderergruppen aus islamisch geprägten Ländern abgezeichnet hatte. Denn zum Wandel der Wahrnehmung trugen auch Ereignisse bei wie die 1979 erfolgte Ausrufung der Islamischen Republik Iran oder der ebenfalls ab 1979 in Afghanistan gegen die Sowjetbesatzung geführte Krieg durch Guerillagruppen, die sich als islamische Krieger, als Mudschaheddin bezeichneten und von denen sich viele im Zuge des Zusammenbruchs Jugoslawiens 1990 den Kämpfern auf der bosnisch-muslimischen Seite ab 1992 anschlossen. Bereits in dieser Zeit nahm die Verschiebung der Wahrnehmung von Ethnie auf Religion ihren Lauf, und 9/11 besiegelte nur die neue Zuschreibung und Wahrnehmung. Damit verschob sich auch das Bild des Terroristen aus dem Nahen Osten, der nach der Staatsgründung Israels 1948 zunächst einmal einer arabischen Sache diente und eher sozialistisch bis kommunistisch agierte, nicht aber islamisch. Das Münchner Olympia-Attentat von 1972 oder die Flugzeugentführung der »Landshut« 1977 in Mogadischu geben davon Zeugnis. 1981 traten gewaltbereite Islamisten auf die mediale Bühne. Der ägyptische Staatspräsident Anwar as-Sadat kam bei ihrem Attentat auf ihn ums Leben. Hosni Mubarak trat seine Nachfolge an und wurde im Zuge des arabischen Frühlings 2012 von dem Muslimbruder Mohammed Mursi abgelöst. Entgegen anderslautenden Annahmen stellten die Anschläge in den USA keinen Paradigmenwechsel dar, der plötzlich und ohne Vorankündigung erfolgt wäre. Hinzu kommt, dass sich die zweite und vor allem dritte Einwanderernachkommenschaft selbst zunehmend als bindestrichdeutsch und bindestricheuropäisch verstand – also zum Beispiel als Deutsch-Türke –, und dass sie sich, je nach Ausprägung der Identitätsbildung, einen weiteren Identitätsmarker zulegte und sich als muslimisch definiert. Bei manchen ist das Muslimsein nicht lediglich ein Teil ihrer Identität, es steht gar im Vordergrund. In ihrer Wahrnehmung ist der Islam von Nationalitäten losgelöst und hilft vor allem jenen jungen Menschen bei Fragen wie: Woher kommst du? Fühlst du dich deutsch oder türkisch? Bosnisch oder arabisch?
Fortan werden nun also alle Menschen, die aus einem irgendwie islamisch geprägten Land stammen, als »Muslime« bezeichnet und mit den Adjektiven »islamisch« und »muslimisch« und, je nach Radikalität, auch mit »islamistisch« und »salafistisch« versehen. Auch als Selbstbezeichnung wohlgemerkt. Auch dieses Buch fasst diese Männergruppe unter der Klammer »muslimisch« zusammen – in der Hoffnung, dass nach der Lektüre das Individuum mit allen seinen ethnischen, kulturellen, religiösen und sozialen Anteilen in sich selbst, aber auch im anderen erkennbar wird und trotz aller Ambivalenzen Ausdruck findet.
Welche Konflikte und Konsequenzen aus einer Reduzierung auf das Muslimsein entspringen können und welche Rolle hierbei Muslime selbst, aber auch die Bundesregierung spielen, erläutere ich im Kapitel »Die Identitätsbildung«.
Zunächst möchte ich den historischen Verknüpfungen dieser Personengruppe zu Deutschland nachgehen und den damit verbundenen Entwicklungen für die hiesigen Selbst- und Fremdwahrnehmungen jener Bevölkerungsgruppe mit islamischer Religionszugehörigkeit.
Denn noch bevor die ersten sogenannten Gastarbeiter islamischen Glaubens ihren Weg nach Deutschland fanden, gab es bereits Menschen aus islamisch geprägten Regionen, die diplomatisch mit dem Deutschen Reich, dem Dritten Reich, der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik in regem Austausch standen und auf diesem Territorium nicht nur lebten, sondern auch ihren beruflichen Aufgaben nachgingen. Dies ist vor allem auch vor dem Hintergrund islamistischer und nationalistischer Akteure heute von Relevanz, die anhand dieser historischen Verbindungen eine lange Freundschaft zwischen Deutschland und den islamischen Regionen aufzeigen und damit vor allem friedliebende und tolerante Gesellschaften spalten, statt im Sinne von Demokratie, Meinungsfreiheit und Vielfalt zu argumentieren. Dabei handelt es sich oftmals eher um eine Vielfalt und einen Dialog in faschistoiden Denkmustern und Überlegenheitsdenken, wo vor allem Frauenrechte zu kurz kommen sowie Randgruppen und Minderheiten das Nachsehen ha­ben. Als islamistische Legalisten forcieren sie die Umgestaltung der Gesellschaft über die politische Umerziehung der muslimischen Jugend unter dem Deckmantel der Religion.
Die größte nach Deutschland eingewanderte Gruppe stammt aus der Türkei. Heute leben rund 1,5 Millionen türkeistämmige Menschen hier. Die deutsch-türkischen Beziehungen blicken auf eine lange Tradition zurück. Bereits im Jahr 1739 wurden dem Preußenkönig Friedrich Wilhelm I. vom Herzog von Curland 22 türkische Kriegsgefangene »als Geschenk« zur Verstärkung der preußischen Armee übergeben. Man richtete ihnen im »Königlichen Waisenhaus« ein Zimmer zum Gebet ein. Später entließ man sie wieder in ihre Heimat.
Die Verbindung zwischen Preußen und dem Osmanischen Reich führte 1763 zur Errichtung einer ständigen osmanischen Gesandtschaft in Berlin. Der dritte dieser Gesandten wurde in Tempelhof bestattet. Auf der Berliner Gedenktafel steht heute: »Ali Azis Efendi, verstorben am 29.10.1798, osmanischer Botschafter in Preußen, Minister des Kaiserlichen Diwans, oberster Schatzmeister von Anatolien, als Schriftsteller Wegbereiter der türkischen Moderne. Sein Buch ›Muhayyelat‹ (Phantasien) ist das erste im westlichen Stil verfasste Werk der türkischen Literatur.« Seinetwegen stellte der preußische König Friedrich Wilhelm III. extra ein Gelände zur Verfügung, auf dem in den folgenden Jahren noch vier weitere islamische Bestattungen stattfanden. Die fünf Leichname wurden 1866 auf den bis heute erhaltenen türkischen Friedhof in Berlin-Neukölln überführt, wo mittlerweile die türkische DITIB-­Moschee steht.
1914 zog das Osmanische Reich aufseiten des Deutschen Kaiserreichs, Österreich-Ungarns und Bulgariens in den Ersten Weltkrieg. Der wurde verloren, und das ohnehin schon angeschlagene und seit Jahrzehnten hoch verschuldete Osmanische Reich zerbröckelte weiter. Jenes Reich, das sich einst auf der nordafrikanischen Seite des Mittelmeers bis zum Euphrat und über den Golf erstreckt hatte. Es hatte vom heutigen Algerien bis Ägypten über Bosnien, Syrien und den Irak geherrscht. 1922 löste sich das Osmanische Reich endgültig auf. 1923 wurde Mustafa Kemal Atatürk der erste Staatschef der neu gegründeten Republik Türkei. Er verabschiedete sich vom panislamischen Geist, jenem in den letzten Atemzügen liegenden ideologischen Versuch, die Herrschaft des islamisch-osmanischen Großreichs aufrechtzuerhalten. Die Republik schlug fortan einen starken türkisch-nationalistischen Ton an. Der Islam rückte in den Hintergrund. Wie die Europäer wollte man mit der neuen Türkei zu den führenden modernen Nationen gehören, man wollte mitbestimmen in der internationalen Politik, getreu dem Motto: Einmal Großmacht, immer Großmacht. So schnell kann solch ein Habitus nicht abgelegt werden. Mit der Staatsform der Republik gesellte sich die Türkei in eine Reihe mit europäischen Staaten. Man hatte es sich im Zeitalter der Nationalstaaten eingerichtet. Ansonsten war diese Republik zwischen den beiden Weltkriegen genauso unausgereift demokratisch und freiheitlich, wie zum Beispiel die Weimarer Republik, die Dritte Republik Frankreich, Mussolinis Italien oder Francos Spanien. Die Türkei war nun aber das erste mehrheitlich muslimisch bevölkerte Land, das republikanisch und laizistisch geprägt war – zu jener Zeit eine Revolution in der sogenannten islamischen Welt. Weitere Republiken sollten dem Beispiel folgen, allerdings erst rund dreißig Jahre später. All die Regionen, die einst erst arabisiert und islamisiert, dann osmanisch und europäisch kolonialisiert wurden.
Mit der Republikgründung und unter der von Atatürk geführten Regierung erlebte die Türkei in allen möglichen Gesellschaftsbereichen eine gewaltige Umstrukturierung und Modernisierung. Die arabische Schrift wurde abgeschafft und durch die lateinische ersetzt, die religiösen Gerichte wurden geschlossen. Traditionelle Kleidungsstücke wie der Schleier für die Frau wurden zunehmend aus der Öffentlichkeit verbannt; der Turban, die osmanische Pumphose sowie der Fes, ein traditioneller roter Hut mit Quaste, wurden verboten. Die Polygamie musste der Einehe weichen, und die Gleichstellung von Mann und Frau wurde gesetzlich verankert. Auch die Koedukation wurde eingeführt, und 1934 erhielten türkische Frauen noch vor ihren französischen, italienischen und belgischen Geschlechtsgenossinnen das aktive und passive Wahlrecht. Die einst alles dominierende Religion Islam wurde unter staatliche Kontrolle gebracht. Zuständig dafür war die 1924 gegründete Religionsbehörde DIYANET, die fortan stets säkularen Staatschefs unterstehen sollte. Ironie der Geschichte: Noch vor ihrem hundertjährigen Jubiläum gewinnt die DIYANET durch die Arbeit der aktuellen Regierungspartei AKP unter Recep Tayyip Erdoğan auch in Deutschland eine einschneidende Rolle für hier lebende türkeistämmige Muslime. Durch jene AKP, die ganz offenbar den panislamischen Geist des Osmanischen Reichs wiederbeleben will und Gefallen daran findet, eine politische Führerschaft unter den muslimischen Staaten einzunehmen. Schon zu Zeiten des Osmanischen Reichs hatte niemand geschlossen darum gebeten – und auch heute nicht. Der algerische Schriftsteller Kamal Daoud sah sich genötigt, Recep Tayyip Erdoğan vor dessen Staatsbesuch in Algerien im Frühjahr 2018 in einem offenen Brief zu signalisieren, er möge eben jene osmanische Großfantasie für sich behalten, er sei in Algerien nicht willkommen.
Doch bis zu diesen aktuellen Entwicklungen sollte noch eine gewisse Zeit vergehen. Zunächst wurden in der neuen türkischen Republik innerhalb von fünfzehn Jahren viele weitere Reformen nach dem Vorbild des europäischen Westens realisiert. Reformen, die nicht von allen im Land begrüßt wurden. Dazu zählten vor allem die ländlichen Bevölkerungsteile, die sich nicht nur wirtschaftlich abgehängt, sondern auch gesellschaftlich abgewertet fühlten, weil in dieser modernen Türkei kein Platz mehr sein sollte für eine archaische Kultur samt deren Islamauslegung, die jene gesellschaftlichen und egalitären Fortschritte negierte. Einige Nachkommen dieser Bevölkerungsgruppe traten bereits kurze Zeit darauf ihren Weg nach Deutschland an, und Teile ihrer Nachkommen sollten – wie in der Türkei – große Sympathien für nationalistische und islamistische Bewegungen entwickeln. Religiöse Nationalisten und Prediger wie Necmettin Erbakan oder Fethullah Gülen legten die reaktionär-religiösen Grundsteine der heutigen AKP-Begeisterung auch bei in Europa lebenden Türkeistämmigen. Die politischen Entwicklungen der Herkunftsländer und die Sozialisierung der nach Europa eingewanderten Muslime wird sich im Laufe der Jahrzehnte noch stark auf die Identitätsbildung ihrer Nachkommenschaft auswirken. Wie die Ideologie des Panislamismus ein Wiedererwachen erleben konnte, ist im Kapitel »Analyse« unter »Die Identitätsbildung« nachzulesen.
Aber nicht nur Türken prägten und prägen bis heute unser Bild von den Muslimen in Deutschland. Neben den Nachkommen aus dem Osmanischen Reich spielen auch diejenigen aus dem alten Perserreich eine Rolle, das im Laufe seiner langen und wechselvollen Geschichte durch die muslimischen Araber islamisiert wurde, sich aber seine reiche Kultur weitgehend erhalten und den Islam kulturell und theologisch beeinflussen konnte. Dazu zählt nicht allein die islamische Strömung des Schiitentums, dazu zählen auch Errungenschaften aus dem Bereich der islamischen Kunst, der Architektur, Musik und Politik. Vieles von dem, was wir heute als Muslime, Christen, Andersgläubige oder Atheisten für islamisch halten, ist mitunter ein Ergebnis persischen Einflusses.
Diplomatische Beziehungen pflegte im 16. Jahrhundert das persische Reich der Safawiden unter Schah Ismail I. vor allem mit den Habsburgern. Es gab einen gemeinsamen Feind: das Osmanische Reich. Infolge eines Dauerkonflikts verlor das Safawiden-Reich den schiitischen Teil des heutigen Irak an die Osmanen, während die Osmanen das Heilige Römische Reich Deutscher Nation und dessen Ostflanke, die österreichischen Erblande, bedrängte. Als mit dem anbrechenden 20. Jahrhundert die Abhängigkeit und Einflussnahme von Russland und England immer erdrückender wurde, stiegen die Sympathien der Perser für Deutschland und Österreich-Ungarn.
Die Dynastie der Kadscharen, die von 1794 bis 1925 herrschten, vergab in Teilen sogar Monopolkonzessionen an britische und russische Unternehmen. Doch trotz der Einnahmen aus diesem Konzessionenhandel in Bereichen wie der Tabak- und Erdölförderung oder den Fischereirechten dominierten Armut und Rückständigkeit auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Ende des 19. Jahrhundert versuchten einige Kaufleute, Intellektuelle und geistliche Kräfte die Interessen der Bevölkerung zu vertreten. Unter den Geistlichen befand sich Dschamal ad-Din al-Afghani, einer der Vordenker des heutigen Panislamismus. Der Islam wurde zu dieser Zeit bereits als antiimperialistisches Instrument verstanden, er sollte reformiert und mit der Moderne versöhnt werden. Ziel war es, als Muslime vereint wieder zur vermeintlichen alten islamischen Größe zurückzukehren. Dass aber bereits die muslimischen Araber und später die Osmanen mit dem Islam in einem imperialistischen Sinn agierten, dass sie Menschen versklavten und – je nach Herrschaftsgebiet – Ressourcen rücksichtslos ausbeuteten, ließen diese theologischen Vordenker genauso außer Acht, wie es die heutigen Anhänger des Panislamismus tun, die ihre Identität und Aufwertung über den Islam erlangen wollen und eine weltliche und geistliche Führerschaft beanspruchen.
Nur ein Jahrhundert nach Dschamal ad-Din al-Afghani wird ein militanter Panislamismus seine Geburt erleben und gravierende Auswirkungen auf die Wahrnehmung auf die im Westen lebende muslimische Bevölkerung bis heute haben. Ein Teil davon ist die Wahrnehmung als »die Muslime«.
Doch bevor der Islam in Gestalt der Kleriker in Iran 1979 die Herrschaft übernimmt, leitet Reza Schah Pahlevi 1925 mit Unterstützung der Briten die nächste kaiserliche Herrscherdynastie ein. Sie wird nur 54 Jahre währen.
Wie in der Türkei erfolgte auch in Iran ein gewaltiger Modernisierungsschub. Eingeführt wurden Nachnamen und die Ausweispflicht. Neben der Verstaatlichung der Banken wurde ein Tee- und Zuckermonopol etabliert. Die Wehrpflicht für junge Männer wurde über die Köpfe der Geistlichen sowie der Landbesitzer hinweg erzwungen. Straßen und Bahnlinien wurden errichtet und die Transiranische Eisenbahn aufgebaut. Männern wurde der westliche Kleidungsstil verordnet – mit Ausnahme der Geistlichen. Noch heute kleiden sich übrigens fast überall auf der Welt muslimische Geistliche in traditionelle oder orientalisch angehauchte Gewänder – offenbar der Versuch, eine Art Uniform zu etablieren. Dahinter könnte sich eine sowohl eurozentristische wie auch orientalistische Denklogik verbergen, die in etwa lautet: Islamisch-theologisch angemessen ist, was irgendwie orientalisch-traditionell anmutet. Diese Haltung lässt sich übrigens auch hierzulande noch heute bei Anhängern des Salafismus, bei Geistlichen der Ahmadiyya oder DITIB und in Teilen der Sufi-Bewegung beobachten. Als handle es sich dabei um eine Berufskleidung, die allerdings nie durch einen islamischen Klerus, den es im Islam ohnehin nicht gibt, festgelegt wurde.
Doch kehren wir nach Iran zurück und bleiben wir beim Thema Bekleidung. Genau genommen bei der weiblichen Bekleidung, die uns auch heute noch in Form der Kopftuch- und Burkadebatten beschäftigt. Das neue persische Kaiserreich nannte sich unter Reza Schah Pahlevi in Iran um – Land der Arier. Damit betonte es – kulturell wie nationalistisch – vor allem das vorislamische Erbe. Die Rechte der Frauen wurden gestärkt, ebenso ihre Bildung. Allerdings wurde ihnen der Schleier verboten und damit eine Gewohnheit und auch Wahlfreiheit in der Kleidung. Es kam vor, dass Frauen bei aggressiven Kontrollen der Schleier vom Kopf und Körper gerissen wurde. Für solche Kontrollen sorgte eine Art Kleidungswächter. Später, in der Islamischen Republik, sollte dieses Beispiel eine bittere Umkehrung erfahren, bekannt unter dem Stichwort Sittenwächter. Zuvor ließ Reza Schah Pahlevis Sohn und Nachfolger Mohammad aber in seiner Regentschaft den Schleier wieder zu.
Wie in der Türkei bereicherten sich auch in Iran die Machthaber und gingen gewaltsam gegen ihre politischen Gegner vor. Iran, das zum Dritten Reich gute Beziehungen pflegte, agierte zwar nicht minder diktatorisch als die Nationalsozialisten, verweigerte aber die Auslieferung der iranischen Juden an Nazi-Deutschland. Während der NS-Herrschaft fanden sowohl in Iran als auch in der Türkei viele Juden einen rettenden Hafen. Unter den Pahlevis durften Juden darüber hinaus ihre Stadtviertel verlassen, und mit dem neu gegründeten Staat Israel pflegte man gute diplomatische Beziehungen. Das sollte sich mit der Islamischen Republik ändern, die, wie fast alle mehrheitlich muslimischen Staaten, Israel fortan als imperialistisches Apartheidregime verteufelte und am liebsten von der Landkarte getilgt sehen wollte.
Die wechselvolle politische Geschichte Irans, das aufgrund seines Ölreichtums ständig im Mittelpunkt vielfältiger internationaler Interessenkonflikte stand, ließ immer wieder verschiedene wirtschaftliche oder intellektuelle Eliten aus dem Land flüchten. Sie wanderten, wenn nicht als Kaufleute, dann als Ärzte nach Deutschland ein. Die sogenannte »Weiße Revolution«, die eine Enteignung der Großgrundbesitzer 1963 durch Mohammad Schah Pahlevi zur Folge hatte, brachte viele vermögende Iraner dazu, ihr Land zu verlassen. Schon 1961 entstand die »Vereinigung iranischer Ärzte und Zahnärzte in der Bundesrepublik Deutschland e.V.«
Mit der Absetzung des Schahs 1979 und der Ausrufung der Islamischen Republik infolge langanhaltender Proteste gegen den Schah und dessen Politik, initiiert von vorrangig linken und kommunistischen sowie religiösen Demonstranten, folgte eine weitere Flüchtlingswelle. Der von 1980 bis 1988 zwischen Iran und dem Irak ausgefochtene Golfkrieg sorgte für weitere Flüchtlinge, darunter viele minderjährige junge Männer, die allein oder mit ihren männlichen Ge­schwistern dem Militärdienst zu entgehen versuchten, da sie nicht als Kanonenfutter im Krieg herhalten wollten. Doch damit endete die Fluchtbewegung nicht. Allein in der Zeit ­zwischen 1990 und 1995 kamen über 30000 politisch verfolgte Iraner nach Deutschland. Sie waren mehrheitlich säkularisiert, hochqualifiziert und nahmen am gesellschaftlichen Le­ben in Deutschland teil, sei es als Taxiunternehmer, sei es als Gastronom, als Wissenschaftler oder als Arzt. Nicht ohne Grund gelten sie als die besser integrierten muslimischen Einwanderer, wenngleich viele sich gar nicht als praktizierende Muslime oder überhaupt als Muslime verstehen. Zudem gibt es auch Iraner, die anderen Religionsgemeinschaften ange­hören. Etwa den Bahai, einer in Iran unterdrückten Gruppe, oder den Zoroastriern oder den Juden. Beide letzteren vor­islamischen Religionsgruppen sind in Iran bis heute wie das Christentum anerkannt, wenngleich nicht mit den Muslimen gleichgestellt. Konversionen sind hochproblematisch.
Nach dem Zweiten Weltkrieg warb Deutschland gezielt Arbeitskräfte aus der Türkei und aus weiteren Ländern an, in denen der Islam bis heute Staatsreligion ist. Darunter auch Frauen, die in Bereichen der Textil-, Süßwaren-, Kosmetikindustrie sowie in der Telekommunikation- und Fernsehtechnik arbeiteten. Deren Feinmotorik war zwar auch gefragt, aber noch viel mehr die grobmotorische Robustheit der männlichen Arbeitskräfte. Daher bildeten starke, junge Männer die Mehrheit der benötigten Arbeitskräfte, die für körperliche Arbeiten in der Stahl-, Bergbau- und Auto- sowie Zuliefererindustrie gebraucht wurden. Weil sie zunächst nur temporäre Arbeitsverträge erhielten, nannte man sie Gast­arbeiter. (Dass Gäste üblicherweise nicht arbeiten, steht auf einem anderen Blatt. Nett gemeint ist bekanntlich nicht immer zutreffend.) Bald aber wollte weder die Industrie immer wieder stets wechselnde Arbeiter neu anlernen, noch waren die Arbeiter selbst dazu bereit, nach einer relativ kurzen Zeit wieder in ihre Heimatländer zurückzukehren. Die daheimgebliebenen Familien galt es regelmäßig finanziell zu unterstützen, in den Herkunftsländern fehlten die Jobmöglichkeiten, und so wichen die Zeitverträge unbefristeten Arbeitsverträgen. Als manche jener »Gastarbeiter« dann ihre Familien nachholten und andere hier heirateten, als die Kinder plötzlich in die Schule gingen, verschob sich die Rückkehr für viele auf den Tag ihrer Beerdigung. Ihre toten Körper wurden und werden auch heute noch ins Land ihrer Vorfahren zurückgeführt, woraus ein florierendes Bestattungsgeschäft hervorgegangen ist.
Alle beteiligten Staaten profitierten vom Anwerbeabkommen. Deutschland konnte auf günstige Arbeitskräfte in diversen Ländern zurückgreifen und damit auch Industriezweige am Leben erhalten, die unter anderen Umständen früher hätten modernisiert werden müssen. Und Länder wie die Türkei, Marokko, Tunesien oder die Balkanländer reduzierten ihre Arbeitslosenquoten vor Ort und beugten damit möglichen sozialen Unruhen vor. Darüber hinaus waren und sind die ins Ausland abgewanderten Arbeitskräfte konstante Devisenbringer für ihre jeweiligen Heimatländer. Und jeder einzelne, der regelmäßig in seinem Herkunftsland die Ferien verbringt, der dort Immobilien oder Ländereien erwirbt und Waren vor Ort konsumiert und Geld via Western Union und Co. überweist, agiert als eine Art Entwicklungshelfer. Diese Dimension der Ein- und Auswanderung geriet und gerät noch immer schnell in den Hintergrund, wenn die Debatten rund um Integration und Entwicklungshilfe geführt werden. Wer dabei oft zu kurz kam, waren die Kinder der Zugewanderten. Die Kränkungen und Benachteiligung, die sie innerhalb der Familie und der Gesellschaft erfuhren, haben auch zur heutigen politischen Lage geführt.
Auch die DDR warb zwischen den Jahren 1966 und 1989 ca. eine halbe Million Arbeiter an. Die stammten vorrangig aus Vietnam, aus Polen und mit der Sowjetunion verbrüderten afrikanischen Staaten wie Mosambik oder Angola. Da­durch gelangten vor, aber auch noch nach der Wende Muslime aus Ägypten, Syrien oder Palästinenser aus dem Umfeld der PLO2 nach Deutschland. Oft hatten sie einen akademischen Hintergrund oder sind mit Stipendien als Studenten nach Deutschland gekommen. Einige blieben und arbeiteten unter anderem als Ingenieure. Die meisten kehrten allerdings mit ihrem erworbenen Wissen in ihre Heimatländer zurück.
Die zweitgrößte muslimische Gruppe machen heute in der Bundesrepublik 550000 südosteuropäische Muslime aus Bos­nien, Bulgarien und Albanien aus. Obgleich gegenwärtig die Auffassung weitverbreitet ist, dass diese Bevölkerungsgruppe erst während und nach dem zwischen 1992 und 1995 geführten Bosnienkrieg einwanderte, kamen die meisten von ihnen tatsächlich früher nach Deutschland: 1968 wurden entsprechende Abkommen mit der Bundesrepublik und dem damaligen Jugoslawien geschlossen. (Zum Vergleich: Ähnliche An­werbeabkommen wurden mit der Türkei 1961, mit Marokko 1963 und mit Tunesien 1965 geschlossen.)
Seit dem Anwerbestopp im Jahr 1973 und nach dem Golf- und Balkankrieg sowie dem Kurdenkonflikt sanken die Asylanträge aus dieser Region.
2015 ereignete sich im Zuge des IS-Terrors und der Konflikte mit dem Assad-Regime ein neuer Zuzug von Geflüchteten aus Syrien und dem Irak. Rund 4249073Syrer und 1259004Iraker wurden in der Zeit von 2015 bis 2016 in Deutschland registriert. Dabei versuchten auch Menschen aus Afghanistan, dem Kosovo oder Albanien sowie aus Nichtkriegsregionen in Deutschland Zuflucht zu finden. Sie fliehen vor dem islamistischen Terror ebenso wie aus wirtschaftlich angeschlagenen Ländern. Sie kommen aus Tunesien oder den Armenvierteln Casablancas, um als angebliche syrische Asylbewerber auch ihr Glück hier zu versuchen. Der Tunesier Anis Amri geht 2017 mit seinem Terroranschlag auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz als bekanntestes Gesicht des Asyl- und Sozialleistungsmissbrauchs in die jüngste Geschichte ein. Aber auch die Übergriffe in der Silvesternacht von Köln zum Jahreswechsel 2016/2017 zeichnen ein rohes und bedrohliches Bild von Nordafrikanern islamischer Religionszugehörigkeit. Auch weil einige Muslime ihr abwertendes Frauenbild teils mit dem Islam begründen und sogar glauben, es liege gar keine Abwertung der Frau oder Anderslebender vor, denn Allah habe das doch so befohlen. Sogenannte Nafris5 komplettieren das Negativbild vom muslimischen Mann gänzlich.
Auch wenn es keine offiziellen Zahlen gibt, wird allein aus den Erfahrungen der freiwilligen Helfer, der Organisatoren von Deutschkursen, Behörden etc. ersichtlich, dass vor allem Männer ihren Weg nach Deutschland gefunden haben. Viele von ihnen haben ihre Familien im Herkunftsland oder auf einer Zwischenstation zurücklassen müssen. Diese Angehörigen werden es im Zuge der Familienzusammenführung noch nach Deutschland schaffen. Für das Jahr 2018 ist in den Medien bereits die Rede von rund 380000 Syrern, die ein Anrecht darauf hätten, ihre Familien nachzuholen.6
Die Fragen, ob und wie dem Neuzugang in Deutschland die Integration in unsere Gesellschaft gelingen wird, und auch, ob die Religionszugehörigkeit zum Islam hierbei tatsächlich ein Hindernis darstellt, werden sich nur durch einen nüchternen Blick auf die geopolitischen Entwicklungen des vergangenen Jahrhunderts in ihrer ganzen Tragweite er­schlie­ßen. Wobei ein besonderer Blick dem Panislamismus gelten muss. Denn solche Narrative spielen bei der Identitätsbildung gerade in der Diaspora eine existenzielle Rolle. Wie gestaltet sich das Zugehörigkeitsgefühl in der neuen Heimat, wie die eigene Verantwortung gegenüber dem Aufnahmeland Deutschland? Es wird vor allem an der Bundesregierung liegen, ob sie gewillt ist, aus der Einwanderungsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg zu lernen und sich auf die neue Situation verantwortungsvoll ohne Legalistenunterstützung oder muslimfeindliche Tendenzen einzustellen.
Dass die formale Integration der Nachkommen sogenannter Gastarbeiter und weiterer Einwanderergruppen im Bildungs- und Arbeitsmarkt sowie dem allgemeinen sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg in diesem mehr als halben Jahrhundert weitgehend geglückt ist, ist, gemessen an der nicht sonderlich aktiven Gestaltung von Integration, ein großes Glück. Deutschland war seit 1945 in Europa das Land mit der größten Zuwanderung. Dennoch waren sich viele in der Politik und auch in weiten Teilen der deutschen Gesellschaft einig, dass Deutschland kein Einwanderungsland ist. Ein konstruktives Verhältnis zu den Zugewanderten, besonders zu den muslimischen, konnte sich bis heute nicht recht ent­wickeln. Vor allem der zweiten und dritten Nachkommenschaft der damaligen Einwanderer aus Ländern wie dem Maghreb, der Türkei oder aus arabischen Staaten fällt eine Identifizierung mit Deutschland schwer. Nicht selten dient hier gerade die Religion Islam als eine höchst willkommene Ersatznationalität. Dass eine gesunde Identität nie über Nationalismus oder Religion definiert werden kann, weil dies auch gravierende innen- und sicherheitspolitische Gefahren in sich birgt, ist in den jeweiligen Herkunftsländern bereits zu beobachten. Es wird daher von großer Notwendigkeit sein, die Erkenntnis, ein Einwanderungsland zu sein, auch mit freiheitlich-demokratischen Werten zu füllen. Ob dies als Leitkultur oder Leitbild bezeichnet wird, ist eher eine zweitrangige Frage.
Die Muslim Men können dabei einen aktiven Beitrag leisten, sofern sie dazu bereit sind, persönliche Kränkungen und Erfahrungen zu überwinden und den Islamismus zu bekämpfen. Einige Muslim Men zeigen jedoch auf unterschiedliche Weise, wie genau das nicht gelingen kann und welche gesamtgesellschaftlichen Konflikte daraus resultieren. An den vielschichtigen Lebensrealitäten der hier lebenden Muslim Men lassen sich aber beispielhaft die Lage der Gesellschaft global wie national analysieren und die Stoßrichtung und nötigen Interventionen für die Gestaltung einer erfolgreichen Einwanderungsgesellschaft ablesen. Diese muss, um eine lebenswerte Existenz bieten zu können, auf Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit fußen. Aber das wird nur gelingen, wenn wir alle lernen, für uns selbst, aber auch für andere ein verantwortungsbewusstes Handeln zu leben und es früh unseren Kindern zu vermitteln.
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1. Berufsmuslim: Zwischen Seelenfänger und Ausverkauf
Seit rund fünf Jahren geistert im reaktionären, teils aber auch im konservativen muslimischen Milieu die Bezeichnung des »Haustürken« und des »Berufsmuslims« herum. Ersterer wur­de 2013 von der Bloggerin Kübra Gümüşay in einertaz-Kolumne7 einer breiteren Öffentlichkeit präsentiert. Der Be­griff war angelehnt an der von Malcom X geprägten Bezeichnung »Feldsklave« bzw. »Haussklave«, und er richtete sich polemisch unter anderem gegen die Publizistin Necla Kelek. Nun lässt sich tatsächlich einwenden, dass Keleks Kritik an der türkeistämmigen und muslimischen Community häufig einseitig und undifferenziert ausfällt, doch die Missstände, auf die nicht nur sie hinweist, werden nicht dadurch aus der Welt geschafft, indem der nötigen Kritik daran ausgewichen wird. Sicher ist auch: Lange Zeit haben gerade die Kritik an problematischen Praktiken aus dem türkischen Milieu und die damit einhergehende Berichterstattung dazu bei­getra­gen, dass Muslime als grundsätzlich problematisch und als eine in sich völlig homogene Gruppe wahrgenommen wurden. Doch durch die wachsende Vielfalt der Mitarbeiter in den Medien und auch durch die Sichtbarmachung einer gelebten Heterogenität in der muslimischen Community ändert sich glück­licherweise die Darstellung hin zu einem faireren Umgang mit Einwanderergruppen muslimischen Glaubens – wenngleich auch eine gründliche Berichterstattung über Islamismus noch in den Kinderschuhen steckt.