Sind wir nicht alle ein bisschen Alman? - Sineb El Masrar - E-Book

Sind wir nicht alle ein bisschen Alman? E-Book

Sineb El Masrar

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Beschreibung

Die Migrationsdebatte in Deutschland in der Sackgasse? Auf der einen Seite eine vermeintliche Mehrheitsgesellschaft, die diversen Migrantengruppen pauschal vorwirft, die Integration zu verweigern. Auf der anderen Seite eine junge Generation, die ihre eigene Identität betont und sich gegen ein von Rassismus geprägtes Land wehrt. Aber entspricht dies auch der Wirklichkeit? Was verbirgt sich hinter den gegenseitigen Beschuldigungen, und welche eigentlichen Probleme werden dadurch in den Hintergrund gedrängt? Sineb El Masrar sieht sich in der Szene der sogenannten Migranten um und bricht die verhärtete Debatte humorvoll und pointiert auf. Ihre These: Cool down! Die meisten Einwanderernachkommen und Migranten sind schon viel mehr Alman, als ihnen bewusst ist. Und: "Deutschland ist ein Kartoffelacker, in dem ein bunter Haufen Almans gedeiht." Eine äußerst unterhaltsame, tabubefreite Recherche von einer, die es wissen muss.

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Seitenzahl: 162

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Sineb El Masrar

Sind wir nicht alle ein bisschen Alman?

Warum wir mit der Integration schon weiter sind und keine Identitätskrisen brauchen

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2023

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur, München.

www.ava-international.de

Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal, Rohrdorf

Umschlagmotiv: © IMAGO / teutopress

E-Book-Konvertierung: ZeroSoft, Timisoara

ISBN Print 978-3-451-07232-1

ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-83112-6

Für alle Almans dieser Erde mit Herz & Humor!

Dieses Buch ist mit freundlicher Unterstützung von Italo-,Maroc- und Türkçe-Pop auf dem europäischen undafrikanischen Kontinent entstanden!

Inhalt

Auf ein Vorwort, liebes Deutschland!

Von Almans und „echten Deutschen!“

Zwischen Folklore & Kartoffelacker

Tatort Kartoffelparty

Ja, wer san ma denn?

Nervig, peinlich und stets bemüht

AAA: Alman – Azzlack – Asozial

Es war einmal: Kanake & ihre Brüder

Kartoffelfresser sind die neuen Hunnen

Bräsig in Stillstandhausen

Einigkeit und Recht und Freigeist

KKK: Kaffee, Kuchen & Klatsch

German Angst und andere Ängste

Wie viel Jogginghose ruiniert deutsches Leben?

Technik, pünktlich, verlässlich

Pünktlichkeit und Recht und Ordnung

Nächste Station: Modelleisenbahn

Vereinsmeierei oder sind die Saudis die wahren Almans?

Humorlos, organisiert, sparsam

Lachen à la Alman

Nachhaltigkeit mal anders

Kiffen & Petzen

Vorwerk oder warum liegt hier eigentlich Stroh?

Identität und wenn ja, wie viele

Alte Gespenster in der Einwanderungsgesellschaft

Best friends forever: Neonazis & Graue Wölfe

Das Nähe-Distanz-Problem

Ausblick: Yallah Almans!

Anmerkungen

Über die Autorin

Auf ein Vorwort, liebes Deutschland!

Wusstest du, Deutschland, dass der älteste Homo-sapiens-Fossilienfund in der Nähe von Marrakesch in Marokko gemacht wurde? Es handelt sich um fünf Homo-sapiens-Individuen, die auf ein Alter von etwa 315 000 Jahren geschätzt wurden. Unsere Vorfahren haben ein stattliches Alter. Du liest richtig, Deutschland: unsere Vorfahren. Nicht meine allein und nicht die der hier lebenden Marokkostämmigen, die in etwa 95 000 Menschen ausmachen. Tausende Jahre bevor meine marokkanischen Eltern ihren Weg über das Mittelmeer nach Deutschland antraten, gaben sich unsere afrikanischen Vorfahren vom afrikanischen Kontinent der Völkerwanderung hin und siedelten sich auch in Europa an. Meinen gefiel es aber anscheinend sehr lange im Nordwesten von Marokko am Atlantik und Mittelmeer. Man kann es ihnen nicht verdenken. Denn wer fällt schon gerne eine Entscheidung, wenn er beides haben kann. Das ist womöglich auch der Grund, warum die Polygamie in Marokko erlaubt ist. Aber das ist ein anderes Thema. Auf jeden Fall dachte mein Vater irgendwann, es reicht jetzt mal mit dem Ozean und dem Meer, und es wird Zeit für den deutschen Wald. Dort sollte ich fortan auch einen Teil meiner Kindheit und Jugend spielend und spazierend verbringen. So schön es im Wald aber auch immer war und ist, den Strand und die Küste mochte ich mehr, und Wald gibt es in Marokko ebenfalls. Wenn auch eher Pinien- als Tannenwälder. Aber erstens können Eltern bekanntlich ihren Kindern rein gar nichts recht machen, und zweitens ist und bleibt die Welt ein Dorf. Die Völkerwanderung war quasi die Globalisierung 1.0. Welch historische Ironie also, dass Jahrtausende später eine Deutsch-Marokkanerin namens Sineb El Masrar nun ein Buch über typisch deutsche Eigenschaften schreibt und in Deutschland veröffentlicht. Ungefragt und besserwisserisch, wie man uns Deutsche natürlich kennt. Neudeutsch auch Alman oder Kartoffel genannt, manchmal auch Weißbrot oder Toastbrot. Schließlich haben so manche Deutsche auch ein amerikanisches Elternteil. Eigentlich alles halb so wild, würden da nicht manche Zeitgenossen aus der Vergangenheit und Gegenwart – mit und ohne Einwanderungsgeschichte wohlgemerkt – immer mal wieder den Neandertaler raushängen lassen, der bekanntlich aggressiver im Umgang mit seinen Artgenossen und dem Homo sapiens war. Vielleicht sind es genau diese ein bis zwei Prozent Überreste an Neandertalergenen, die wir alle in uns tragen und die uns in Debatten und Diskussionen die Sachlichkeit aus den Augen verlieren lassen.

Daher schon einmal vorneweg:

Dieses Buch erhebt nicht den Anspruch der Vollständigkeit. Es handelt sich hier um einen Zwischenruf, der zum Nachdenken über unser gemeinsames Zusammenleben anregen soll.

Wenn wir gemeinsam über uns lachen können, den Afrikaner in uns mit unserer Almanhaftigkeit vereinen und wir uns am Ende alle näherstehen, dann habe ich mehr erreicht als die alten weißen Männer François Mitterand, Helmut Kohl und Michail Sergejewitsch Gorbatschow zusammen. Falls Sie oder du aber über keinen Humor verfügen sollten, dann gibt es dafür auch eine Lösung: Buch kaufen und es nach dem Kauf einfach gut sichtbar und ungelesen ins Regal stellen. Wieder ein Problem gelöst! Es ist gar nicht so schwer!

In diesem Sinne: Entdecken wir diesen Alman in uns!

Berlin, anno 2023

Von Almans und „echten Deutschen!“

Zwischen Folklore & Kartoffelacker

„Gibt es in Berlin eigentlich auch richtige Deutsche?“, fragte ein jordanischer Beamter meine Freundin, die eine jordanische Delegation für einige Tage in der Bundeshauptstadt betreute. Bei den Fortbildungen, die der Delegation hier erteilt wurden, referierten „richtige Deutsche“ in geschlossenen Räumen. Auf der Straße sah das für ihn dann aber ganz anders aus. Denn auf seiner Suche nach Halal-Restaurants, in denen islamkonformes Fleisch angeboten wurde, begab er sich mit seinen vornehmlich männlichen Kollegen in Stadtteile, wo Menschen sich bewegten, die eher so aussahen wie bei ihm in der jordanischen Heimat. Inklusive meiner Freundin.

Einige Monate nach diesem Erlebnis saß ich in Marokko im Büro eines Notars, der mir stolz von seinem Urlaub in Nordrhein-Westfalen erzählte, aber sofort nachschob, dass es in Deutschland eigentlich keine wirklich echten Deutschen mehr gebe und ich doch zurück nach Marokko kommen solle. Meine Antwort lautete, dass ich das vorerst noch nicht vorhabe. Obgleich „zurück“ auch nur bedingt passt, da ich in Deutschland geboren und aufgewachsen bin. Für einen kurzen Moment wurde ich daran erinnert, wie ich als Teenagerin gefragt wurde, wann ich denn nach Marokko zurückkehren werde. Verdrehte Welt.

Meine Freundin und ich mussten schmunzeln über die Kommentare der beiden Herren. Auch, weil uns beiden klar war, dass Beobachtungen dieser Art nicht selten auch von Rechten formuliert und beklagt werden, teilweise durchaus aggressiv. Linke hingegen freuen sich über die neue Vielfalt auf deutschen Straßen und feiern Menschen aus anderen Ländern als exotisches Beiwerk in ihrer bunten neuen Welt, und wir Eingewanderten und deren Nachkommen mutieren nicht selten zu folkloristischen Statisten ihrer privilegierten Anti-Alman-Haltung.

Seit einigen Jahren ist, angetrieben durch verschwörungsgläubige Gruppierungen, gar die Rede von einem großen Austausch. Diese unbewiesene Behauptung dient der europäischen Rechten als Kampfbegriff. Laut der Neuen Rechten werde die sogenannte weiße Mehrheitsbevölkerung systematisch ersetzt. Manche schwadronieren sogar von einem Genozid. Wie so oft stecken für die faselnden Antisemiten „die Juden“ dahinter, wahlweise auch als „Weltzionismus“ und „Hochfinanz“ bezeichnet.

Die rechtsextreme Identitäre Bewegung fordert gar eine Reconquista, spanisch für Rückeroberung. Als Reconquista wird die vom 8. bis ins 15. Jahrhundert andauernde Zurückdrängung der islamischen Herrschaft auf der Iberischen Halbinsel bezeichnet. 1492 kapitulierte der letzte arabisch-muslimische Emir von Granada kampflos. Noch im selben Jahr erließ das spanische Königspaar Isabella I. und Ferdinand II. das Alhambra-Edikt, womit die Vertreibung der Juden vom spanischen Territorium ihren Höhepunkt erreichte. Um bleiben zu können, mussten sich die Juden unter anderem dazu bereiterklären, zum Christentum überzutreten. Die Konversion minderte allerdings nicht die antisemitische Verfolgung und Diskriminierung.

In Deutschland hatte sich zeitweise gar eine Reconquista Germanica organisiert, die der Verfassungsschutz als eindeutig rechtsextrem einstufte. Im Bundestagswahljahr 2017 versuchte dieses Netzwerk, durch unterschiedliche Aktionen die Wahl zugunsten der AfD zu beeinflussen. Womit wir wieder beim großen Austausch wären. Denn es sind einige AfD-Politiker, die selbst von der sogenannten Umvolkung bzw. dem großen Austausch sprechen, und zwar nicht in irgendwelchen internen Chatgruppen, sondern öffentlich. Sei es in einem deutschen Landtag, auf Twitter, YouTube oder bei Veranstaltungen. Wie zum Beispiel der in Rumänien geborene und nach Deutschland eingewanderte Hans-Thomas Tillschneider. Er ist AfD-Landtagsabgeordneter in Sachsen-Anhalt. In einer Panorama-Die Reporter-Sendung sagte er: „Bevölkerungsaustausch findet statt, wenn wir so viel Einwanderung haben, dass wir selbst uns verändern müssen, weil dann leben auf unserem Staatsgebiet irgendwann keine Deutschen mehr oder keine Bürger, die sich als Deutsche identifizieren.“1

Mensch fragt sich: Wann fängt eigentlich so ein Bevölkerungsaustausch an? Wenn Mensch an die Zeit der Neandertaler zurückdenkt, der sich in Europa und somit auf dem heutigen deutschen Gebiet entwickelte, und an den modernen Menschen aus Afrika, den Homo sapiens, der sich in Europa verbreitete: War das dann auch ein systematischer Bevölkerungsaustausch? Bedauern die Vordenker der AfD womöglich einfach nur, dass sie heute mehr Homo sapiens als Neandertaler sind? Wie heißt es im deutschen Volksmund so schön? Man muss die Menschen nehmen, wie sie sind.

So oder so spricht aus Aussagen dieser Art vor allem eines: viel Angst. Da verwundert es nicht, dass selbst Islamisten wie die Leute von der AfD sprechen. Mit dem Unterschied, dass den Islamisten ihre Religion, der Islam, als Projektionsfläche dient, den Rechten das Land Deutschland. Was typisch deutsch bzw. typisch islamisch ist, bestimmen die Rechten und Islamisten, kurz: die Extremisten. Und das ist in der Regel antifeministisch, plump und von Angst getrieben. Man könnte es durchaus als „German Angst“ bezeichnen. Ob diese Ängste nun berechtigt sind oder nicht, sei an dieser Stelle einmal dahingestellt. Denn Angst fühlt sich für Betroffene immer sehr bedrohlich an und in Teilen auch existenziell. Deswegen ist Angst auch kein besonders guter Ratgeber. Das gilt besonders für politische Entscheidungen und für sehr viele Lebenslagen. Es sei denn, Mensch schlendert ungesichert zu nah am Klippenrand herum. Dann kann eine Portion Angst schon hilfreich sein, um mehr Abstand zu halten.

Ich will an dieser Stelle Herrn Tillschneider und seinesgleichen allerdings beruhigen. Denn es gibt in diesem Land viele, die sich als Deutsche verstehen, sich mit Deutschland identifizieren und diesem Land nur Gutes wünschen. Selbst solche, die keine deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Sie leben gerne in Deutschland und verdanken Deutschland viel. Genauso wie Deutschland ihnen so einiges zu verdanken hat, auch wenn manch einer hartnäckig das Gegenteil behauptet. Denn die Beziehung zwischen Deutschland und seinen Einwanderern war stets eine, die auf Gegenseitigkeit beruhte. Selbst in jenen Bereichen, die eher destruktiv sind und die in diesem Buch etwas eingehender ausgeführt werden.

Es lässt sich eindeutig sagen, dass sich eine Mehrheit der Menschen mit Migrationshintergrund in diesem Land mit Deutschland identifiziert. Sie kommen von diesem Land nicht los, fühlen sich sicherer als andernorts, auch wenn manche von ihnen öffentlich gern lang und breit das Gegenteil behaupten. Hier kennen sie sich aus, im Gegensatz zu vielen anderen Orten auf der Welt. Auch im Land ihrer Großeltern oder Eltern fühlen sie sich nicht sicherer. Im Gegenteil, sie wären dort aufgeschmissen, und das wissen sie.

Selbst jene, die das weit von sich weisen würden, weil sie der Auffassung sind, dass sie nicht typisch deutsch seien und von Deutschland nicht akzeptiert würden. Denn typisch deutsch will niemand sein, der sich für weltoffen und aufgeklärt hält. Diese Leute wollen unter keinen Umständen als eine Kartoffel oder als ein Weißbrot– kurz als Alman – wahrgenommen werden. Ich bin ungern die Überbringerin der schlechten Nachrichten für all diese Leute, aber wir hierzulande sind es alle. Deutschland ist der Kartoffelacker, auf dem der bunte Haufen Almans gedeiht. Mir möge das Kartoffelgleichnis verziehen werden, aber ich bin in Niedersachsen geboren und aufgewachsen. Das Bundesland aus dem allein die Hälfte der Kartoffeln stammen. Eine davon bin ich.

Tatort Kartoffelparty

Woran erkennt ein in Deutschland lebender Mensch eigentlich, dass Mensch deutsch, Alman, Kartoffel ist oder wie auch immer Deutsche noch bezeichnet werden? Vor allem aber: Was ist typisch deutsch?

Seit ein paar Jahren, ich weiß nicht mehr, was der Anlass war, benutze ich beim Essen von Spaghetti neben der Gabel auch einen Löffel. Einige Italiener werden kopfschüttelnd uns Tedescheria in Germania ein „Non si fa!“ zurufen: „Das macht man nicht!“ Vom Cappuccino nach einer Hauptmahlzeit ganz zu schweigen. Dieser wird in Italien nur morgens getrunken. Basta! Und gab es nicht in Deutschland eine Zeit, in der man die aus Italien Eingewanderten abfällig als Spaghettifresser bezeichnet hat? Wahr ist, dass Menschen in und aus Italien gerne viel Pasta, konkret Spaghetti, essen, aber Italienstämmige macht wohl mehr aus, als lange, dünne Nudeln zu verschlingen. Diese abwertende Beschreibung sagt kaum etwas über sie, dafür umso mehr über die Menschen in Deutschland, die dieses Wort benutzen.

Heute gehören die Spaghetti zu den beliebtesten Speisen in Deutschland und landen bei allen Bürgern hierzulande mit einer Selbstverständlichkeit auf dem Teller, als wäre das schon immer so gewesen. Das gilt auch für den Döner – eine deutsch-türkische Erfindung, welche selbst von jenen genüsslich verschlungen wird, die sonst dadurch auffallen, dass sie jene türkeistämmige Gruppe abfällig als Kanaken bezeichnen. Genauso wie das Spaghettieis, ebenfalls eine deutsch-italienische Erfindung. Mithilfe einer Spätzlepresse hat Dario Fontanella 1969 den Verkaufsschlager in Mannheim erfunden. Aber so ist das mit dem großen Austausch. Da wird die gute alte Käse-Wurst-Stulle gegen kaltes Vanillieeis mit Erdbeersoße oder ein halbiertes und prallgefülltes Fladenbrot mit Kebabfleisch, Salat und extra viel Zwiebeln und Kraut getauscht und gerne dessen Migrationshintergrund beiseitegeschoben, weil das nicht ganz so zur bevorzugten Ideologie passt. Auch wenn Berlin keine von Erfolg gesegnete Stadt ist, blickt es mit Stolz auf diese Erfindung, die über die Landesgrenzen bekannt ist.

Der Döner soll seine Geburtsstunde 1972 in Berlin gehabt haben. Und Berlin wäre nicht Berlin, wenn die Menschen dort nicht völlig von ihrer vermeintlichen Originalität überzeugt wären. Der Türkeistämmige Kadir Numan gilt als Berliner Erfinder. Doch seit einigen Jahren besteht Nevzat Salim aus dem Schwabenländle darauf, dass er mit seinem Vater bereits 1969 den Döner in Deutschland eingeführt hätte. In Eberhard Seidels Buch Döner – Eine türkisch-deutsche Kulturgeschichte zitiert er einen Berliner Döner-Unternehmer mit den Worten „Wie hört sich das denn an, der Döner sei in Reutlingen erfunden worden.“ Berliner und Schwaben – bei ihrem Beziehungsstatus stünde: Es ist kompliziert. Die Schwaben gelten in Berlin als geizig, arrogant und selbstverliebt. Eine Beschreibung, die auch als typisch deutsch durchgehen kann. Es wird also Zeit sich die typisch deutschen Zuschreibungen einmal genauer anzusehen.

Eine Studie der GfK-Marktforschung befragte rund 12 000 Menschen in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, den Niederlanden, Österreich, Polen, Russland, Tschechien und der Türkei, was denn typisch deutsch sei. Unter anderem assoziieren die Befragten mit den Deutschen Zuverlässigkeit, Umgänglichkeit und Geselligkeit. Als ich meiner iranstämmigen Freundin Nahid das vorlas und sie fragte, ob sie diese Assoziation teile, antwortete sie sehr stumpf: „Nein! Da lache ich mich innerlich kaputt.“ Sie machte eine kurze Pause und schob direkt hinterher: „Das ist aber eigentlich auch sehr deutsch.“ Vieles mit sich selbst ausmachen und alles Mögliche reflektieren. Erwischt! Oder wie es Immanuel Kant sagen würde: „Hab Mut, dich deines eigenen Verstands zu bedienen.“ Auch wenn in fast jedem Klischee ein Stück Wahrheit steckt, so zeichnet zumindest unsere mediale Diskussion regelmäßig ein gegenteiliges Bild von uns Deutschen. Meist heißt das Credo: Erst sprechen und aufschreiben, dann (vielleicht) nachdenken. An keinem anderen Ort als bei Twitter und einigen anderen Social-Media-Plattformen kann man den Menschen so gut beim Nichtnachdenken zusehen.

Als jemand, die wie meine Freundin unter leicht unterkühlten Niedersachsen aufgewachsen ist, hat mich vor allem die Zuschreibung „Geselligkeit“ nachdenklich gemacht. Das ist nicht die Assoziation, die mir als Erstes in den Sinn kommt. Eher eine gewisse Form von unterkühlter Distanziertheit. Gesellig wäre es zum Beispiel in meiner Kindheit gewesen, wenn mich die Mutter einer Freundin mit an den Esstisch gerufen hätte und nicht nur ihre Tochter. Das passierte ständig bei ihr zu Hause. Dann spielte ich einfach weiter oder ging nach Hause.

Rajae, die im Rheinland aufgewachsen ist und mit ihrer Karnevalsbegeisterung als inoffizielle Karnevalsbotschafterin in Berlin gelten kann, erlebte gar eine Steigerung dieses Verhaltens. Es ereignete sich in ihrer Grundschulzeit. Die damals Achtjährige wurde einmal von der Nachbarin in deren Wohnung reingelassen, da Rajaes Mutter noch nicht vom Einkaufen zurück war. Es war Mittagessenszeit, und sie sollte an diesem Nachmittag einen kleinen Schock erleiden. Noch heute erzählt sie tief ergriffen von diesem Erlebnis. „Sie hatte mich gefragt, ob ich mitessen möchte. Ich, brav marokkanisch erzogen, hab nein gesagt, obwohl ich großen Hunger hatte.“ Rajae atmet tief ein. „Und dann habe ich nichts zu essen gekriegt. Ich hätte mich ohrfeigen können. Die haben einfach vor mir gegessen. Hätte sie mich nochmal gefragt, dann hätte ich doch ja gesagt.“

Als Nahid das hörte, war sie entsetzt. „Dieses Verhalten ist echt zum Fremdschämen! Gott sei Dank bin ich davon verschont geblieben.“ Auch ich hatte das nur bei dieser einen Freundin erlebt.

Esmaa, ebenfalls marokkostämmig und in Frankfurt geboren und aufgewachsen, wurde als Kind einfach gleich nach Hause geschickt, wenn das Essen serviert werden sollte. Aber erst in Berlin, mit Anfang zwanzig, sollte sie eine weitere Lektion lernen, was Nein beim Thema Essen in Deutschland bedeutet. „Da habe ich gemerkt, es prallen zwei Kulturen aufeinander. Als ich mal jemandem was zu essen angeboten habe, hieß es, nein, nein. Aus Höflichkeit fragte ich nochmal nach. ‚Möchtest du nicht doch?‘ Und da wurde ich so angepflaumt. Also das werde ich echt nicht vergessen. Da hab ich dann auch wirklich verstanden, das ist deutsch. Da war nämlich die zweite Reaktion darauf: ‚Esmaa, nein heißt nein!‘“ Sie schmunzelt beim Erzählen. „Ja, ich wollte nur nochmal höflich sein, weil vielleicht hast du aus Höflichkeit nein gesagt, meinte ich. Aber nee, bei Deutschen heißt nein wirklich nein, was das Essen betrifft.“ Esmaa lacht. „Da muss ich gerade echt dran denken, als du das erzählt hast, Rajae.“

Ich sag mal so. Kommunikation ist alles. Aber kommen wir zurück zum Thema Geselligkeit.

Geselligkeit fand und findet man hierzulande in Kneipen. Auch glaube ich, dass im südlichen und östlichen Teil Deutschlands eine zugänglichere Art existiert. So kam es mir zumindest immer vor, wenn ich mich in diesen Teilen Deutschlands aufhielt. Als ich nach Nordrhein-Westfalen zog, war ich ganz überrascht, wie kommunikativ die Menschen selbst mit Fremden dort umgingen. In Hannover hielt sich das eher in Grenzen. Der nördliche Teil Deutschlands wurde nach meinen Eindrücken erst gesellig, wenn ein bestimmter Alkoholpegel erreicht wurde. Selbst bei Jugendlichen. Wie oft waren Mitschüler entspannt und gesellig, wenn sie beim Osterfeuer auf dem großen Feld genug Bier gebechert hatten. Oder sich als Erwachsene nach Mallorca verabschiedeten, um in geselliger Runde etwas aufzublühen oder sich gehen zu lassen.

Letzteres will Mensch in der Regel nicht sehen, und wer schon einmal einen Ausflug an den Ballermann und El Arenal gemacht hat, kann Deutsch-Libanesen, Deutsch-Türken oder Deutsch-Palästinensern beim Grölen und Saufen zusehen. Quasi die Next-Typisch-deutsch-Klischee-Generation. Neben dem Islam gehört auch das zum Einwanderungsland Deutschland. Oder, wie Neonazis vielleicht sagen würden: Jetzt nehmen uns die Kanaken auch noch unser Komasaufen und unseren Ballermann weg. Die Ironie ist, dass sich das krasse Nebeneinander, das man aus Deutschland kennt, auf der Lieblingsinsel der Deutschen fortführt: Bars und Stripclubs neben dem Gemüsehändler und der Hinterhofmoschee auch in El Arenal. Die Alemanisierung auf der Baleareninsel ist eine Gemeinsamkeit von vielen, die sie mit den einstigen muslimischen Mauren teilen. Gesellig geht es auf jeden Fall bei beiden Gruppen zu – auf ihre eigene Art.

Auch wenn man hierzulande und im Ausland hin und wieder über das deutsche Völkchen die Nase rümpft, mögen viele auf der Welt die Deutschen. Wer damit eher seine Probleme hat, das sind ausgerechnet die Deutschen ohne Einwanderungsgeschichte, die zuweilen mit ihrem Selbsthass in die Linkskurve rasen. Sollte anstelle des Selbsthasses eine gewisse Selbstüberhöhung treten, dann kann auch das gelegentlich etwas ausufern, sodass einige mit Vollgas in die Rechtskurve brettern. Beide extremen Seiten zeugen von einem fragilen Selbstwertgefühl.

Jeder fünfte Tscheche hält die Deutschen indes für arrogant. Acht Prozent der Österreicher mögen die Deutschen einfach nicht, und knapp jeder zehnte Italiener verbindet mit Deutschland noch immer Adolf Hitler und die Nazis. Man ist geneigt, wie La Mamma den Kochlöffel aus der Schürze zu ziehen und ihnen eine auf die Mütze zu geben, um mal im Klischeebild zu bleiben.