Ende - David Monteagudo - E-Book

Ende E-Book

David Monteagudo

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Beschreibung

Neun Freundinnen und Freunde treffen sich für ein Wochenende in einer Berghütte wieder, viele Jahre nachdem sie als Clique auseinandergegangen sind. Um Mitternacht fällt der Strom aus, die Handys funktionieren nicht mehr, die Autos starten nicht. In dem blanken Sternenhimmel ist kein einziges Flugzeug zu entdecken. Eine unheimliche Stille liegt über ihnen. Die Freunde bemühen sich, ihre Angst mit Scherzen zu überspielen, doch es will ihnen nicht so recht gelingen. In der Nacht tun sie kein Auge zu. Was ist passiert? Keiner von ihnen findet eine Erklärung. Plötzlich entdecken sie, dass einer fehlt. Rafa ist spurlos und von allen unbemerkt verschwunden. Am Morgen brechen sie zu Fuß auf. Der Weg in die Stadt führt durch ein schattiges Tal. Sie gehen hintereinander, und als sie sich zu Cova umdrehen wollen, ist sie nicht mehr da. Wer wird der Nächste sein? Unerbittlich verschwindet einer nach dem andern. Sie lösen sich lautlos in der Landschaft auf, sie verlieren sich im Nichts. Wenn es keine Erklärung mehr gibt, dann ist das das Ende.

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Seitenzahl: 373

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David Monteagudo

Ende

Roman

Aus dem Spanischen von Matthias Strobel

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Hugo – CovaMaría – GinésNieves – Amparo – IbáñezMaribel – RafaHugo – GinésAmparo – Cova – María – Hugo – Ibáñez – Maribel – Nieves – Ginés – RafaDer Himmel ist ...Eine halbe Stunde ...Hugo – IbáñezGinés – Hugo – IbáñezNieves – Hugo – Cova – Amparo – Ibáñez – María – Ginés – MaribelVon dem am ...Ibáñez hat am ...Der Weg führt ...Hugo – María – Ginés – Amparo – Ibáñez – Maribel – NievesDie Vögel zwitschern, ...Nieves – Amparo – Ginés – Maribel – María – HugoDie sechs Freunde ...Hugo sitzt auf ...María – Ginés – Nieves – AmparoDie Straße zieht ...María – Ginés – AmparoEinige Kilometer lang ...Eine Viertelstunde ist ...Eine Stunde später ...María – GinésEs werden immer ...Eva
[zur Inhaltsübersicht]

Hugo – Cova

Das Telefon klingelt einmal, zweimal, dreimal. «Kann vielleicht mal jemand rangehen?», schreit Hugo von irgendwo im Haus. Aber das Telefon klingelt noch einmal, kurze Stille, noch einmal. Schimpfend eilt Hugo mit kleinen Schritten ins Arbeitszimmer und nimmt beim nächsten Läuten ab. «Ja, bitte», sagt er barsch, während sich der Hörer noch auf dem Weg zum Ohr befindet. Er ist wütend, teils auf den anonymen Anrufer, teils auf diejenige, die ihn durch ihre Passivität oder Abwesenheit dazu gezwungen hat, den Anruf entgegenzunehmen.

Der anfänglichen Aufregung folgt Schweigen, eine erwartungsvolle Stille. Sekundenlang bleibt Hugo stumm, starrt ins Leere, runzelt die Stirn. «Wie? Nein. Ich weiß nicht.» Er druckst herum, mit langen Pausen zwischen den Wörtern. «Ehrlich gesagt, so auf Anhieb …» Misstrauisch zieht er die Silben in die Länge, umklammert angespannt den Hörer. «Wer?», fragt er gereizt, doch dann unterbricht er sich und schlägt plötzlich einen völlig anderen Ton an: «Nieves, aber natürlich! Deine Stimme hat sich überhaupt nicht verändert. Entschuldige, es ist … Wer hätte das gedacht? Wie lange? Auf der Straße, stimmt, du wohnst ja gleich um die Ecke. Genau, ich seh dich ab und zu mit den beiden Kindern. Wie du merkst, entgehst du meinem wachsamen Auge nicht.»

Hugo spricht stockend, überlässt Nieves immer wieder das Wort. Aber er ist entspannter. Seine Stimme klingt jetzt freundlich, locker, fast banal. Zerstreut blickt er mal auf die gerahmte Zeichnung, die neben dem Fenster hängt, mal auf die Bäume und Häuser draußen. Ein sanftes, leicht ironisches Lächeln umspielt seinen Mund, während in seinen Augen eine boshafte Neugier aufblitzt.

«Stimmt, zum letzten Mal richtig unterhalten haben wir uns vielleicht vor … fünfzehn Jahren? Mein Gott, wie die Zeit vergeht! Was verschafft mir die Ehre?» Langes Schweigen. Hugo steht reglos da, starrt zum Fenster hinaus, mit dem Rücken zur Tür. «Das hatte ich völlig vergessen», sagt er schließlich. «Nein, entschuldige, stimmt nicht, natürlich erinnere ich mich. Ich muss sogar öfter mal dran denken. Nur das genaue Datum war mir entfallen, ich wusste nicht, dass es gerade jetzt so weit ist.»

Bedächtig dreht Hugo sich um. Sein Blick wird nachdenklicher, aufmerksamer. Er sieht wieder zu der Zeichnung an der Wand, sagt länger kein Wort. Am Rand seines Blickfelds nimmt er etwas wahr. Cova lehnt am Türrahmen. Einige Sekunden lang sieht Hugo ihr in die Augen, neutral und unpersönlich, als wäre er konzentriert auf das, was Nieves am anderen Ende der Leitung sagt. «Doch, doch, ich hör dir zu», beteuert er und wendet sich von Cova ab. «Aber ja, sicher, natürlich. Trotzdem, das war eine Jugendsünde.» Hugo schüttelt den Kopf, öffnet den Mund, um etwas zu sagen, schließt ihn wieder, lächelt, schnaubt, will etwas sagen, tut es aber nicht. Stattdessen schließt er die Augen. Dann sagt er doch noch: «Könnte lustig werden, ja. Ach! Doch, könnte interessant werden. Das wäre, na ja, das wäre … Glaubst du, sie kommen? So viele Leute unter einen Hut zu bringen. Fällt auf einen Samstag? Das trifft sich gut. So, so, alle …»

Die Pausen zwischen den Sätzen werden länger, als wären die Informationen, die vom anderen Ende der Leitung eintreffen, jetzt gehaltvoller als das höfliche Geplänkel zu Beginn. Die nächste Pause zieht sich noch mehr in die Länge, Hugos Miene wandelt sich: Das Lächeln erstirbt, die Gesichtszüge erschlaffen, der Blick geht nach innen, so sehr richtet er seine Aufmerksamkeit auf das, was er hört. Plötzlich entfährt ihm ein gutturaler, vage zustimmender Laut. Er sieht zur Tür, aber Cova ist nicht mehr da. Dann schweigt er wieder, runzelt die Stirn und sagt in einem Tonfall, der ganz anders ist als eben noch, unsicher, zögernd: «Du … du spinnst, er wird nicht kommen.» Wieder hört er eine Weile nur zu. Als er erneut das Wort ergreift, klingt er entschlossen, wie jemand, der ein Gespräch beenden will.

«Also gut. Im Prinzip ja. Ich muss es aber noch, na ja, ich muss noch schauen, ob … Genau, so machen wir das, ich ruf dich an. Nein, ehrlich, ich ruf dich an; ich muss nur … Okay, unter dieser Nummer, ja? Nein? Lieber auf dem Handy? Dann sag sie mir. Warte, ich geb sie gleich ein.»

Hugo klemmt sich den Hörer unters Ohr und sagt laut die Zahlen vor sich hin, die er flink eintippt. Dann verabschiedet er sich mit einigen Grußfloskeln, steckt das Handy in die Hosentasche und legt auf. Nachdenklich und ohne zu blinzeln starrt er lange auf das Telefon.

«Wer war das?»

Cova steht wieder in der Tür. Sie ist hochgewachsen, schlank, trägt nur Jeans und T-Shirt, allerdings Markenware. Sie sieht elegant aus, ist nicht geschminkt, der Haarschnitt lässt auf regelmäßige Friseurbesuche schließen. Statt ihr zu antworten, schnaubt Hugo nur und macht eine unwirsche Geste, massiert sich die Schläfen wie jemand, der eine unangenehme Aufgabe vor sich hat.

«Nicht so wichtig», kommentiert Cova schnippisch und macht Anstalten zu gehen. «Wenn’s dir so schwerfällt.»

«Nein, warte. Es betrifft auch dich.»

«Ach ja? Und inwiefern ‹betrifft› es mich? Wenn du die Güte hättest, mir das zu erklären.»

«Lass uns nicht schon wieder streiten», beschwichtigt sie Hugo müde. «Es ist einfach ein bisschen kompliziert, und die Details würden dich nur langweilen.»

«Das sagst du in letzter Zeit immer.»

«Deine Selbsthilfegruppe empfiehlt wahrscheinlich, dass man die alltäglichen Erlebnisse mit seinem Partner teilen soll. Habe ich recht? Vielleicht fängst du am besten damit an, dass du öfters lächelst. Das steht doch auch in diesen Ratgeberbüchern, oder nicht? Dass man den ganzen Tag lächeln soll wie ein Idiot, bis man am Ende selber glaubt, dass man gut gelaunt ist.»

«Deine Angriffe werden immer abgeschmackter.»

«Ich greife nicht an, ich verteidige mich.»

«Du weißt genau, dass ich nur ein einziges Mal zu dieser Selbsthilfegruppe gegangen bin, um es auszuprobieren. Und dass es mir nicht gefallen hat.»

«Und wer hat den Beitrag für den ganzen Monat bezahlt? Sag!»

«Typisch Mann: Behauptet von sich, kein Materialist zu sei, aber wenn’s drauf ankommt, geht’s immer ums liebe Geld.»

Cova hat sich vom Türrahmen gelöst. Je hitziger die Auseinandersetzung geworden ist, desto mehr hat sie sich Hugo genähert. Hugo hingegen hat sich auf den Hocker neben dem Telefon gesetzt und gibt sich betont gelangweilt.

«Ich wäre nicht so materialistisch», erwidert er und wendet sich Cova zu, ohne sie direkt anzusehen, «wenn da jemand ein bisschen was dazuverdienen würde.»

«Du redest schon daher wie ein Notar. Und ich weiß auch, was als Nächstes kommt: dass du meinetwegen nicht Schauspieler geworden bist, dass du mir immer treu gewesen bist, als könntest du dir darauf was einbilden!»

Beim letzten Satz hat sich Cova in Rage geredet, sie ist den Tränen nah. Hugo reagiert darauf mit provokanter Ruhe.

«Mach du mich nur zur Karikatur. Das könnte ich auch: Denn du hast was von Eva Wilt aus Tom Sharps ‹Puppenmord›.»

«Lenk nur ab. Du kannst dich gern hinter deiner Logik verstecken und deine Pseudogelassenheit zur Schau stellen. Fest steht, dass du kein Schauspieler geworden bist, weil du nicht den Mumm dazu hattest! Schiss hattest du, nicht vorm Dasein als armer Künstler, sondern vorm Scheitern!»

«Hör auf, Cova, das haben wir doch schon hundertmal durchgekaut», wehrt sich Hugo. Seine Haltung hat sich verändert, sein Tonfall ist düsterer geworden, bedrohlicher.

«Glaubst du wirklich, es lag am Geld? Mein Vater hätte uns was geliehen, außerdem hatte ich ja einen Job.»

«Sicher», ätzt Hugo und springt vom Hocker auf, «du hattest eine glänzende Zukunft vor dir: als Verkäuferin mit Mindestlohn. Damit hätten wir garantiert ein prima Leben geführt.»

Hugo hält inne, sieht Cova direkt in die Augen. Dann geht er entschlossen in Richtung Tür. Sie folgt ihm.

«Du hattest damals erste Werbeauftritte.»

«Das war doch nur Dreck, in jeglicher Hinsicht. Wenn man keine Hauptrolle kriegt, kann man’s vergessen.»

«Andere haben auch klein angefangen.»

Cova ist Hugo ins Wohnzimmer gefolgt, einen großen, hellen Raum, der in eine offene, peinlich saubere und dadurch steril wirkende Küche übergeht. Plötzlich bleibt Hugo stehen und dreht sich um, wodurch Cova fast auf ihn geprallt wäre.

«Mir reicht’s!» Hugo wird zum ersten Mal etwas lauter. «Ich hab keine Lust mehr auf diese ewige Streiterei. Das machst du doch nur, um mich zu ärgern.»

«Das stimmt nicht!», protestiert Cova.

«Aber es wirkt verdammt noch mal so! Man könnte meinen, du genießt es geradezu, mich zu provozieren. Jeden Tag erinnerst du mich daran, was ich nicht getan habe, was ich hätte tun sollen, was aus mir hätte werden können!»

Eine Weile schweigen beide und sehen sich an. Covas Augen röten sich, werden feucht. Sie will etwas sagen, aber ihr Mund zittert zu sehr, weil sie mit den Tränen kämpft. Schließlich sagt sie mit brüchiger Stimme: «Das mache ich doch nur, um dir zu helfen. Ich möchte, dass es dir gutgeht. Und es geht dir nicht gut, das sieht man. Du bist nicht glücklich.»

«Wer ist schon glücklich? Sag! Wer ist mit fünfundvierzig noch glücklich? Jeden Tag aufstehen, jeden Tag schuften. Das Leben ist eine Hamsterrad, mein Schatz, und kein Wellnessclub.»

«Man kann sein Leben ändern.»

«Ach, ja? Bist du wirklich dazu bereit? Bist du bereit, auf das hier zu verzichten? Na schön, verkaufen wir das Haus, dann sind wir die Hypothek los. Das bisschen Geld, das übrig bleibt, reicht bestimmt für die Mietkaution. Wir ziehen in eines dieser Multikultiviertel, wo illegale Einwanderer zu zehnt in einem Zimmer hausen. Super! Entweder das, oder du verdienst die dreitausend Euro, die wir jeden Monat verpulvern.»

«Jetzt übertreib nicht», antwortet Cova. «Warum musst du immer so extrem sein? Wir müssen doch nicht alles auf einen Schlag ändern. Ich weiß auch, dass das nicht geht.»

«Endlich wirst du vernünftig.»

«Hör mir zu. Und versteck dich nicht hinter deinem Sarkasmus. Du könntest zum Beispiel weniger arbeiten. Du schuftest rund um die Uhr, da ist es kein Wunder, dass du immer völlig fertig bist. Ich frage mich, ob das wirklich nötig ist.»

«Ich bin Vertreter, kein Bankangestellter, Schätzchen. Wenn ich nicht arbeite, kommt keine Kohle rein.»

«Trotzdem, wenn du weniger arbeiten würdest, hättest du mehr Zeit für dich selbst, für die Sachen, die dir wirklich Spaß machen.»

Hugo wendet sich ab, sieht zur Hausbar und schnaubt missmutig wie ein Schüler, dem man eine Standpauke hält.

«Wenn du zwei Stunden früher Schluss machen würdest», fährt Cova fort.

«Gleich zwei Stunden?»

«Hör zu, hör mir bitte einmal zu! Wenn du ein bisschen früher Feierabend machen würdest, von mir aus auch nur anderthalb Stunden früher, könntest du den Theaterkurs im La Casona belegen, bei dem Russen, der ist eine echte Koryphäe. Die müssten dich nur einmal sehen, dann wärst du drin. Schließlich brauchen sie ältere Schauspieler, ich meine, Schauspieler, die nicht zu jung sind. Dann könntest du endlich wieder auftreten.»

«Mit Amateuren aus dem Dorf, na toll!»

«Dieses Dorf hat immerhin dreißigtausend Einwohner, aber bitte, nenn es, wie du willst. Für eine Hollywoodkarriere ist es vielleicht zu spät, aber das heißt ja nicht, dass es keinen Spaß macht. Du bist ein geborener Schauspieler, und Schauspieler müssen auftreten, Schauspieler brauchen ein Publikum.»

«Ich weiß nicht, ob ich wirklich ein Schauspieler bin.»

«Natürlich bist du das, das sagen alle. Man muss dich nur mal in einer geselligen Runde erleben, wenn du ein bisschen aufdrehst. Ich weiß nicht, warum du dein Talent so verschwendest.»

«Und das mit der Provinzbühne ist keine Verschwendung?»

«Nein, ist es nicht! Da hättest du die Chance, es allen zu beweisen. Nicht nur deiner Frau und einer Handvoll Freunden.»

Einige Sekunden lang schweigt Hugo gereizt, aber auch nachdenklich. Cova nutzt die Stille, um nachzulegen.

«Dann wärst du auch besser gelaunt. Und ich könnte, also, ich könnte ja auch an diesem Kurs teilnehmen. Natürlich nur, wenn du nichts dagegen hast.» Als sie bemerkt, wie unwillig Hugo reagiert, fügt sie schnell hinzu: «Das wäre doch nicht schlecht. Dann hätten wir was, worüber wir reden könnten. Macht doch Spaß, sich hinterher darüber auszutauschen, wie der Unterricht war, was alles passiert ist.»

Zum Ende des Satzes hin ist Cova immer kleinlauter geworden, unsicherer, zögerlicher. Ihre Augen sind wieder feucht, ein Kloß hat sich in ihrem Hals gebildet, sie droht erneut in Tränen auszubrechen. Mit dünner Stimme führt sie ihren Gedanken zu Ende: «Vielleicht wärst du dann ein bisschen zärtlicher zu mir, und wir wären wieder ein echtes …»

«Paar? Wolltest du das sagen?»

«Wie kannst du nur so herzlos sein?», empört sich Cova. Die Wut verleiht ihrer Stimme Kraft. «Du wirst es mir nie verzeihen, stimmt’s?»

«Schluss jetzt! Ich kann nicht mehr!», schreit Hugo plötzlich und hält sich mit beiden Händen die Ohren zu. Wie ferngelenkt eilt er zur Hausbar, schenkt sich einen Whisky ein und setzt das breite, robuste, mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit halb gefüllte Glas an die Lippen.

Cova betrachtet Hugo einen Moment lang stumm und schüttelt dann den Kopf. Schließlich dreht sie sich um und will davon in Richtung Flur. Hugo stellt sein Glas so schnell auf den Tisch, dass ein Teil des Inhalts überschwappt, und fängt Cova in dem Moment ab, als sie die Schwelle überschreitet.

«Warte, bitte», sagt er, hält sie an beiden Armen fest und vergräbt sein Gesicht in ihrem Haar. «Ich hätte nicht … Ich bin in letzter Zeit ein bisschen mit den Nerven runter.»

Cova windet sich aus seiner Umarmung und dreht sich um. Jetzt ist sie die Gelassenere, Beherrschtere.

«Der wirkt ja schnell», kommentiert sie ironisch.

«Aber doch nicht in zwei Sekunden!», protestiert Hugo, greift zum Glas und nimmt noch einen Schluck.

«Dein Atem hat schon vorhin nach Whisky gerochen. Du bist mir ja ziemlich nahe gekommen.»

«Ein echter Mann», zitiert Hugo mit hochgezogener Augenbraue und pseudosinnlicher Stimme, «beweist sich auf wenig Distanz. Aftershave von Brumel.»

Cova schüttelt entnervt den Kopf.

«Unglaublich», sagt sie, «die Verwandlung in den Wolfsmenschen. Oder vielmehr umgekehrt. Wie kann sich deine Stimmung nur so schnell ändern? Von Wut zu … Na klar, der Alkohol.»

«Krieg dich ein. Oder bist du jetzt der Heilsarmee beigetreten? Du weißt ganz genau, dass ich kein Alkoholiker bin. Komm her», sagt er und klopft mit der Hand aufs Sofa, «dann erklär ich dir, was es mit dieser Frau auf sich hat, die gerade angerufen hat. Wir müssen entscheiden, ob wir hinfahren oder nicht.»

«Hauptsache, das Problem ist erst mal vom Tisch, nicht wahr?», stichelt Cova und geht zu ihm, setzt sich aber nicht. «Worum geht’s denn?»

«Um ein Abendessen. Was ist denn jetzt schon wieder? Wo willst du hin?»

Cova geht in die Küche und kommt mit einem ordentlich gefalteten, offensichtlich noch unbenutzten Lappen zurück.

«Das kannst du später sauber machen», protestiert Hugo.

«Vorhin am Telefon klang das aber nicht nach einem einfachen Abendessen», sagt Cova, während sie den Tisch und den Unterboden des Glases abwischt, «sondern nach was ganz Besonderem.»

«So, so, du hast also gelauscht», erwidert Hugo und holt sich sein Glas zurück. «Aber du hast recht, es geht wirklich um was Besonderes. Der Anlass liegt fünfundzwanzig Jahre zurück.»

«Fünfundzwanzig Jahre? Ich hatte fünfzehn verstanden.»

«Da hast du dich verhört. Wie kommst du nur auf fünfzehn? Ach, jetzt weiß ich’s. Es ist fünfzehn Jahre her, seit ich zum letzten Mal mit dieser verrückten Nudel gesprochen habe. Aber feiern will sie das fünfundzwanzigjährige Jubiläum.»

«Silberne Hochzeit also.»

Cova geht in die Küche, spült den Lappen sauber und hängt ihn zum Trocknen auf. Dann kommt sie wieder.

«Nein, da bist du auf dem falschen Dampfer», klärt Hugo sie auf. «Wobei, wenn ich’s mir recht überlege, vom Alter her kommt es ja bei uns allen hin.»

«Wer sind ‹alle›?»

«Ich hab dir von der alten Clique erzählt. Von Ginés, der damals mein bester Freund war.»

«Stimmt, du hast ihn mal erwähnt. Aber wirklich erzählt hast du mir nichts von ihm.»

«Weil es nichts zu erzählen gibt, zumindest nichts Interessantes. Nur das Übliche: Konzerte, Besäufnisse, mehr oder weniger verbotene Ausflüge, die eine oder andere Delle im Auto. Nicht mal Joints haben wir geraucht. Du merkst schon: Wir waren eine eher langweilige Truppe. Dazu das typische Liebesgeplänkel, Beziehungen, die meistens nicht länger als eine Woche gehalten haben. Die Mädchen sind von einem zum anderen gewandert, mal war der eine der Kummerkasten, mal der andere, und wieder ein anderer hat nie eine abgekriegt und sich auf den Partys immer besoffen.»

«Und wer ist diese Nieves? Du hast sie nie erwähnt.»

«Das kann nicht sein. Ich hab dir bestimmt schon mal von ihr erzählt. Alle nannten sie Yeti, wegen ihres Namens, Nieves: Schnee.»

Cova bricht in ein spontanes, ehrliches Gelächter aus, das eine ganze Weile anhält, sehr zu Hugos Freude.

«Und dann war da noch ein Mädchen, das ziemlich viel getrunken hat, Irene hieß sie … Ihr Name erinnerte an eine griechische Schauspielerin, aber alle nannten sie Kotzi, weil ihr immer schlecht wurde.»

«Wie gemein!», empört sich Cova und lässt sich neben Hugo auf das Sofa plumpsen. «Die Namen habt ihr euch bestimmt nur deshalb ausgedacht, weil ihr bei den Mädels abgeblitzt seid.»

Hugo nimmt einen kräftigen Schluck und betrachtet nachdenklich sein Glas, bevor er antwortet.

«Da ist was Wahres dran. Nieves war eigentlich … Jetzt ist sie dicker als früher, die Jahre gehen nicht spurlos an einem vorüber. Übrigens hast du sie sicher schon gesehen, wir haben sie auch mal auf der Straße getroffen, und ich hab sie gegrüßt.»

«Ich achte doch nicht ständig darauf, wen du grüßt.»

«Ist ja auch egal, jedenfalls sah sie früher gut aus, ein bisschen groß vielleicht, aber ein ‹hübsches Mädel›, wie meine Großmutter gesagt hätte. Den Spitznamen Yeti hat Ibáñez ihr verpasst, wahrscheinlich weil sie nicht mit ihm ins Bett wollte, da könntest du recht haben. Nieves ist sich immer treu geblieben, eine gute Seele, ein bisschen naiv. Nett zu allen und jedem, konnte gut zuhören, und da haben manche eben gedacht, sie könnten einen Schritt weitergehen, aber Pustekuchen.»

«Unter anderem du, stimmt’s?»

«Diese Angabe ist für die Studie nicht relevant», sagt Hugo schnell und mit verstellter Stimme, die offenbar jemanden imitieren soll. «Jedenfalls hat Nieves früh geheiratet, einen großgewachsenen, gut aussehenden Typen mit Verantwortungsbewusstsein, einen richtigen Musterknaben. Wir aus der Clique waren ihr anscheinend nicht gut genug.»

«Sprich: Sie war naiv, aber nicht dumm.»

«Es ist ihr nicht besonders gut ergangen. Lang waren die beiden nicht zusammen, lang genug allerdings, um zwei Kinder in die Welt zu setzen, die sie dann allein durchbringen musste, mit Gelegenheitsjobs, schließlich hatte sie sich auf ein Dasein als vorbildliche Ehefrau und Mutter eingestellt, nicht auf eines als Familienernährerin.»

«Woher weißt du das alles? Ich dachte, du hättest die Nase voll von …»

«Nieves selbst hat es mir erzählt. Neunzehnhundertvierundachtzig war es aus mit der Clique, sie war klinisch tot. Nieves war die Einzige, die versucht hat, sie am Leben zu erhalten. Sie hat angerufen, wenn man es am wenigsten erwartet hat, und einen über alles auf den neuesten Stand gebracht: Wer sich hat scheiden lassen oder wer einen Pickel am Arsch hat.»

«Sei nicht so vulgär!»

«Wenn’s doch stimmt! Sie hat mich tatsächlich mal angerufen, weil sie ein Furunkel hatte, am ‹Popo›, wie sie sich ausgedrückt hat. Ganz üble Sache, die Ärzte haben befürchtet, es könnte ein Tumor sein. Am Ende hat sich das Ding als harmlos rausgestellt.»

«Die Ärmste, dabei hat sie wahrscheinlich einfach nur Trost gesucht bei den egoistischen Kerlen, die sie selber so oft getröstet hat.»

«Moment mal! Mich hat sie nie getröstet, und die anderen auch nicht, soweit ich weiß! Zärtlich war sie, das stimmt. Sie hat einem immer über die Wangen gestreichelt und Küsschen gegeben, aber das heißt noch lange nicht, dass …»

«Lassen wir das Thema. Ich seh schon, was du unter Trösten verstehst. Erzähl mir lieber, was sie wollte. Wir quatschen schon eine halbe Stunde über sie, und du bist immer noch nicht damit rausgerückt, was sie eigentlich gesagt hat.»

«In Kurzform: Ihre Kinder sind groß und gehen ihre eigenen Wege, also schien ihr der Moment gekommen, alte Freundschaften aufzufrischen. Mit anderen Worten: Sie langweilt sich, ruft friedliche Bürger an, die ihr nichts getan haben, und nervt sie mit bescheuerten Ideen.»

«Tu nicht so scheinheilig! Wenn ich richtig gehört habe, hast du längst ja gesagt. Viel Überredungskunst musste sie offenbar nicht aufwenden.»

«Stimmt nicht. Ich hab ihr gesagt, dass ich erst noch mit dir sprechen muss. Wenn wir keine Lust haben, rufe ich sie an und schiebe eine Verabredung vor, die wir unmöglich absagen können. Aber lass dir erst erklären, worum es geht, dann kannst du selber urteilen. Vor fünfundzwanzig Jahren – sprich: als wir zarte zwanzig waren – haben wir einen Ausflug zur Burg Peñahonda gemacht.»

«Peñahonda? Wo liegt das denn?»

«Bei El Tiemplo, in der Nähe der Schlucht ‹Los Hoscos›, rund hundertfünfzig Kilometer von hier entfernt. Wir sind immer mit Ibáñez hingefahren, im Lieferwagen, und Rafa hat eine zweite Kiste organisiert. Die beiden waren damals die Einzigen, die Zugriff auf ein Auto hatten. Wir sind nachmittags angekommen, haben in der Herberge übernachtet und sind am nächsten Tag durch die Schlucht gewandert. Die Herberge ist gleich neben der Burg, ein altes Gebäude, das von Jugendgruppen benutzt wurde. Man musste nur den Schlüssel holen und sorgsam mit allem umgehen. Hinterher sah es natürlich trotzdem aus wie Sau. In jener Nacht hatten wir die Schlafsäcke rausgelegt und im Freien geschlafen, auf einem gepflasterten Platz vor der Herberge. Es war Sommer und warm, und der Sternenhimmel war unglaublich.»

«Der Sommer ist nicht gerade die beste Jahreszeit zum Sternegucken.»

«Sag das nicht. Der Ort liegt weit ab vom Schuss, in der Nähe ist nur eine halb illegale Siedlung, und heute vielleicht nicht mal mehr das. Ringsum war nirgendwo Kunstlicht, also konnte man die Sterne gut sehen, sehr gut sogar. Es war wirklich beeindruckend.»

«Klingt romantisch.»

«Jedenfalls romantisch genug, dass jemand auf die Idee kam, fünfundzwanzig Jahre später nochmals hinzufahren, am gleichen Tag und um die gleiche Uhrzeit, unabhängig davon, ob wir dann noch Freunde sind oder nicht, egal, wo wir wohnen, ob wir verheiratet sind, getrennt leben, Kinder haben. Damals haben wir alle feierlich geschworen, an diesem Jahrestag nicht zu kneifen. Und wir waren überzeugt davon, dass niemand diesen Schwur brechen würde.»

«Und die berühmte Nieves fordert jetzt ein, dass alle dieses Versprechen halten.»

«Genau. Sie hat sich vergewissert, dass die Herberge an dem Wochenende frei ist, und ruft alle an. Aber organisieren will sie das Ganze nur, wenn auch wirklich alle kommen, die damals mit dabei waren.»

«In Begleitung, wenn ich das richtig verstanden habe.»

«Na klar! Sie ist ja nicht blöd. So sind die Erfolgsaussichten besser. Wobei, lass mich überlegen, Ibáñez ist Single, Amparo und Nieves sind getrennt, und ein Paar ist intern.»

«Intern?»

«Ja, Rafa und Maribel haben sich in der Clique kennengelernt und geheiratet. Sie haben zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, das perfekte Paar. Will sagen: Fünf von uns bringen niemanden von außen mit. Bleiben nur ich und Ginés, und bei ihm weiß ich nicht, wie’s aussieht.»

«War er nicht dein bester Freund?»

«Schon, aber wir haben uns aus den Augen verloren. Er ist nach Madrid gezogen, wegen eines Jobs. Ich nehme an, er lebt in einer Partnerschaft, jedenfalls ist das statistisch gesehen am wahrscheinlichsten. Die Quote der einsamen Herzen ist ja schon erfüllt. Wahrscheinlich werden also zwei Frauen kommen, die nicht zur Clique gehört haben.»

«Und wer sagt, dass Ginés nicht mit einem Mann auftaucht?»

Hugo gerät für einige Sekunden aus der Fassung, weiß nicht, was er sagen soll. Um die Situation zu retten, legt er eine kleine Showeinlage ein.

«Wie gesagt, er war mein bester Freund!», lallt er mit vulgärer Stimme. «Wie könnte er da eine Schwuchtel sein?»

«Von mir aus: Ginés und Gattin. Die Rechnung geht trotzdem nicht auf, fehlt nämlich noch Irene Kotzi.»

«Nein», widerspricht Hugo grinsend, «Irene Kotzi und ihre Schwester sind Cousinen von Nieves. Die waren nur manchmal mit dabei. Um die Clique schwirrten viele Leute rum, aber der harte Kern, das waren wir acht.»

«Acht? Ich komm nur auf sieben: vier Männer und drei Frauen.»

«Dir entgeht aber auch gar nichts», knurrt Hugo gereizt. «Aber stimmt, es fehlt noch einer. Der wird aber nicht kommen. Glaube ich zumindest nicht. Er ist damals im Streit gegangen, war stinksauer auf uns.»

«Irgendwas werdet ihr ihm schon angetan haben.»

«Was meinst du mit ‹angetan›? Red nicht so einen Stuss!», schimpft Hugo, springt auf und geht im Zimmer hin und her wie ein Löwe im Käfig. «Für mich hat er die Clique auf dem Gewissen. Er konnte sich einfach nicht anpassen, hat uns immer die gute Laune versaut mit seinem Scheiß. Einmal hat er uns eine mordsmäßige Szene gemacht, nur weil wir uns einen kleinen Scherz mit ihm erlaubt haben. Am schlimmsten war, dass hinterher jeder böse auf den anderen war. Das war das Ende der Clique, davon haben wir uns nie mehr erholt.»

«Was war das für ein Scherz?»

Hugo geht zum Tisch und nimmt sein fast geleertes Glas in die Hand, bevor er antwortet.

«Weiß ich nicht mehr. Daran kannst du erkennen, wie harmlos er war.»

«Bestimmt habt ihr ihn erniedrigt. Irgendwas mit Sex.»

«Jetzt reicht’s aber! Was soll das? Du hast keine Ahnung und malst dir gleich wer weiß was aus. Und mir hast du wieder mal die Rolle des Bösewichts zugedacht. Wem auch sonst?»

«Reg dich nicht so auf. Das hab ich nur im Scherz gesagt. Ihr wart also traut vereint, die Guten und die Bösen, und habt die Sterne angeguckt.»

«Ja, genau, da war alles noch in Ordnung. Und dann hat sich dieser Typ aufgeführt wie ein … Trotzdem ist uns allen diese Nacht in schöner Erinnerung geblieben.»

«Hat Nieves auch ihn eingeladen?»

«Selbstverständlich. Ihre Menschenliebe geht so weit, dass sie sogar ihn dabeihaben will. Offenbar hat sie seine Nummer. Wie sie an die rangekommen ist, weiß ich nicht, schließlich haben wir seit damals nie wieder was von ihm gehört.»

«Sie wird im Telefonbuch nachgesehen haben.»

«Das würde voraussetzen, dass er hier in der Gegend lebt, und ich habe ihn nie getroffen.»

«Vielleicht hat sie über all die Jahre Kontakt mit ihm gehalten.»

«Zuzutrauen ist es ihr. Egal, ich glaube sowieso nicht, dass er kommt.»

«Wie heißt er überhaupt?»

«Wie dieser Schwachkopf heißt, willst du wissen?», schreit Hugo und bleibt abrupt stehen. «Das nervt mich am meisten an ihm: dass sich am Ende alles immer nur um ihn dreht!»

Hugos Reaktion ist völlig überzogen. Cova sitzt nach wie vor auf dem Sofa und sieht ihn verwundert, ja besorgt an.

«Hugo, ich hab dich doch nur gefragt, wie er heißt.»

«Wie er heißt, willst du wissen? Ja? Er heißt ‹Der Prophet›, hast du gehört? Der Prophet. Niemand hat ihn bei seinem richtigen Namen genannt, und ich weiß auch gar nicht mehr, wie er heißt, Juan oder José oder so ähnlich. Auch sein Nachname war stinknormal. Bei uns hieß er jedenfalls der Prophet. Weißt du warum? Weil er ein Freak war, ein Spinner, der immer in die Kirche ging, ein selbsternannter Heiliger, der anderen Moralpredigten gehalten hat.»

«Du scheinst ihn ja ziemlich ernst genommen zu haben.»

«Von wegen. Eins steht jedenfalls fest: Wir werden nicht zu diesem Scheißtreffen fahren.»

«Hugo, bitte, krieg dich wieder ein.»

«Dann hör du auf, mich zu piesacken! Das machst du mit voller Absicht. Wir fahren nicht zu dem Treffen und damit basta. Schluss mit der Diskussion.»

«Na gut. Dein Wort ist mir Befehl, wie immer.»

Mit angespannter Miene steht Cova auf. Sie macht Anstalten, das Wohnzimmer zu verlassen, bleibt aber stehen und sagt: «Du musst diese Nieves anrufen, und zwar so bald wie möglich, sonst macht sie sich falsche Hoffnungen.»

«Klar rufe ich sie an.»

Hugo geht zum Regal und sucht etwas. Schließlich holt er eine Zigarettenschachtel hervor, zündet sich hektisch eine an, zieht den Rauch gierig ein. Dann nimmt er sein Glas und stellt sich ans Fenster. Es ist Sonntagvormittag, die Sonne scheint auf gepflegte Bäume und identische Häuschen mit länglichen Gärten und Grills in den Ecken.

Kopfschüttelnd, gereizt, schweigsam macht Cova schnell alle Fenster auf.

[zur Inhaltsübersicht]

María – Ginés

Das Licht der Autoscheinwerfer fällt mal auf dichte Vegetation, mal auf ein gerades Stück asphaltierten, mit Schlaglöchern übersäten Wegs. Büsche und Eichen haben den Straßengraben überwuchert, recken ihre Äste in die Fahrbahn hinein. Seit einer Weile schon folgt monoton eine Kurve auf die andere, die Geraden dazwischen werden immer kürzer.

«Ich kann mich gar nicht daran erinnern, dass es so weit war», sagt Ginés, ohne den Blick von der Straße zu wenden. «Andererseits war es früher immer hell, wenn wir gefahren sind. Ganz schön anstrengend, nachts zu fahren.»

Der allradgetriebene Wagen ist breit und komfortabel, die schwarze Metalliclackierung ist mit einer feinen Staubschicht überzogen. Als sie in den Wald abgebogen sind, wurde es in dem Tunnel aus Baumkronen schlagartig dunkel. Im Wageninneren, vor allem auf dem Beifahrersitz, hat man den Eindruck, dass der Weg schmaler ist als das Fahrzeug.

«Was machst du, wenn uns ein Auto entgegenkommt?», fragt María und beugt sich nach vorne, um die Straße besser zu erkennen. «Zwei Autos passen hier jedenfalls nicht aneinander vorbei.»

«Uns kommt garantiert keiner entgegen», erwidert Ginés tonlos und ohne seine Beifahrerin anzusehen.

Das protzige Auto hat Breitreifen, die den Asphalt malträtieren und Steinchen aufwirbeln. Der Motor ist so leistungsstark und das Zusammenspiel der Technik so perfekt, dass die Insassen nichts mitbekommen von der drückenden Hitze draußen, von dem Staub und dem Schotter, den Schlaglöchern und Unebenheiten, vom Dröhnen des Motors und dem Kraftakt, den die Mechanik absolvieren muss, um die zwei Tonnen geschmeidig in Bewegung zu halten.

María lässt sich einlullen von dem Komfort, von Ginés’ sanftem Fahrstil, seinem lautlosen Schalten, als garantiere der Luxus absolute Sicherheit.

«Zeig mir noch mal das Foto», sagt sie und sucht nach dem Schalter für die Innenbeleuchtung. «Ich würde die Leute gern noch ein letztes Mal durchgehen.»

«Ist im Handschuhfach, nein, im unteren», erklärt Ginés und schaut nach rechts. «Genau, da.»

Fast kommt er von der Fahrbahn ab und muss die Richtung korrigieren, aber davon merkt man im gedämpften Innenraum kaum etwas. Er kneift die Augen zusammen und reckt den Kopf in Richtung Windschutzscheibe, weil ihn das Innenlicht blendet. María holt eine CD heraus, in deren Hülle wie ein Cover ein Foto steckt.

«Meine Güte», ruft María, «wie ihr ausseht! Als wärt ihr alle beim Casting für Fame abgelehnt worden.»

«So waren die Achtziger eben», kommentiert Ginés lächelnd. «Wahrscheinlich werden wir 2030 über den Look von heute schmunzeln.»

«Die Frauen sehen noch schlimmer aus als die Männer. Mamma mia, was für Frisuren!»

«So eine Frisur hattest du bestimmt auch mal.»

«Ich? Nie! Aus welchem Jahr ist das Foto noch mal? Dreiundachtzig?»

«Ja. Von vor genau fünfundzwanzig Jahren.»

«Da habe ich noch Windeln getragen, wie man so schön sagt.»

«Mein Gott, bist du jung! Oder ich alt!»

«Keine Angst. Du siehst heute besser aus als damals. Wo hattest du die Jacke her?»

«Die hat seinerzeit für Furore gesorgt. Ist wie die von Michael Jackson in Thriller.»

María sieht Ginés neugierig an, nutzt es aus, dass er auf die Straße achten muss. Hinter seinem Sinn für Humor, seinen sanften Umgangsformen, seinem Sprachtalent schimmert stets diese melancholische Gleichgültigkeit durch.

«Wie gesagt: Du siehst heute besser aus als damals», wiederholt sie. «Dann wollen wir mal. Ganz links, das ist Ibáñez, der euch in seinem Lieferwagen hinkutschiert hat.»

«Der Typ mit den langen Haaren?»

«Ja.»

«Richtig, erster Treffer. Ibáñez, der Proletarier der Clique, und sein Lieferwagen. Außerdem ist er der Älteste, vier oder fünf Jahre älter als der Rest.»

«Mal schauen», sagt María und sucht auf der Rückseite des Covers. «Ibáñez … Nummer vier. Für ihn hat sie Paco Ibáñez ausgesucht! La mala reputación.»

«Ist ein Scherz. Was seinen Musikgeschmack angeht, war er ein bisschen widersprüchlich oder sagen wir eklektisch. Aber es stimmt, dass er manchmal linke Reden hielt oder Gedichte rezitiert hat.»

«Hast du nicht gesagt, er war ein Arbeiter?»

«Proletarier, hab ich gesagt, das ist was ganz anderes. Politisches Engagement, Klassenbewusstsein und Kultur als Waffe zur Überwindung der Entfremdung.»

«Das ist ja von vorgestern.»

«War es damals auch schon. Der arme Kerl ist zu allen Revolutionen zu spät gekommen. Manchmal hat er diese Seite von sich rausgekehrt, um Aufmerksamkeit zu erheischen, aber du kannst dir ja denken, wie wir reagiert haben. Im Grunde wollte er damit die Frauen beeindrucken, er war nämlich in alle verliebt, sozusagen zyklisch. Das hatte was Onanistisches, womit ich sagen will …»

«Ich weiß, was onanistisch bedeutet. Er hat sich regelmäßig einen runtergeholt.»

«Na ja, ich meine das eher im übertragenen Sinn», erläutert Ginés, «als Lebenshaltung. Alle Intellektuellen sind irgendwie Onanisten. Ibáñez liest immer noch fleißig und macht einen auf intellektuell, obwohl er in Wahrheit nach wie vor Waren ausfährt. Geändert hat sich nur sein Lieferwagen: Er ist jetzt größer.»

«Was für ein Bild! Offenbar bist du der Normalste von allen. Apropos, was hast du damals für Musik gehört?», fragt María und sieht auf der Rückseite des Covers nach. «Ginés, Nummer sieben, Pink Floyd, The Wall. So, so, gar nicht schlecht, ein Klassiker. Andererseits können einem diese ewig langen Stücke auch auf die Nerven gehen.»

«Ich weiß nicht, was Nieves sich dabei gedacht hat. Eigentlich stehe ich gar nicht so auf Pink Floyd, aber der Film hat mir damals gefallen.»

«Welcher Film?»

«The Wall natürlich. Kennst du den gar nicht?»

«Ehrlich gesagt: nein. Bin ja nicht aus der Steinzeit.»

«Komisch, ich hab immer gedacht, dass … Vorsicht!»

Das Auto wird durchgerüttelt, viel stärker als bei den vielen Schlaglöchern bisher. Eine dünne Staubwolke behindert jetzt die Sicht, die Reifen produzieren ein anderes Geräusch, ein konstantes Prasseln.

«Was war das?», fragt María. Sie hält sich am Armaturenbrett fest.

«Nichts», beruhigt sie Ginés, der sich selbst schnell gefangen hat, «ist nur kein Asphalt mehr. Ich bin erschrocken, weil ich dachte, die Straße ist plötzlich zu Ende.»

«Fahr bitte langsamer.»

«War blöd von mir. Ich hätte mir denken können, dass der Weg nicht bis zum Schluss geteert ist. Früher war er überhaupt nicht geteert, die Straße ging nur bis zu der Brücke, die wir vorhin überquert haben.»

«Beim Asphaltieren haben sie sich auch nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Das hier ist mir fast lieber als die vielen Schlaglöcher vorher», sagt María. Der Weg entrollt sich vor ihnen wie ein Band, das im Licht der Scheinwerfer weiß leuchtet, und wird gesäumt von einer dichten Vegetation, die durch den Staub oder das Licht ebenfalls etwas Weißliches hat.

«Offenbar lässt man den Weg verkommen. Früher war hier mal eine Siedlung, oben auf dem Bergrücken, und außerdem gab es vereinzelt Häuser. Aber ich hab noch keins gesehen.»

«Ich schon. Wir sind gerade an einem vorbeigefahren, eine Art Ferienhäuschen. Es war jedoch verrammelt und dunkel.»

«Vielleicht sind die Behörden eingeschritten. Damals wurde öfters illegal gebaut.»

«Wollen wir das Foto weiter durchgehen?», schlägt María vor und nimmt wieder die CD in die Hand. «Es fehlen noch sieben Leute, oder sechs, wenn man dich abzieht. Der neben Ibáñez, wer ist das noch mal?»

Ginés sieht kurz María an, dann die CD.

«Sag mal, María. Ist das wirklich nötig? Niemand wird dich in die Enge treiben. Alle werden schlucken, dass du meine Freundin bist. Du musst einfach nur da sein, mehr nicht. Selbst wenn wir seit Jahren verheiratet wären, wüsstest du nicht alles über meine Freunde aus Jugendtagen.»

María verstummt. Sie starrt nach vorne auf den Waldweg, der immer schlechter wird. Schlaglöcher, Steine, quer verlaufende Wasserrinnen zwingen Ginés, langsamer zu fahren und manchmal sogar fast anzuhalten.

«Hör zu: Du hast eine Eskortdame engagiert», erklärt sie schließlich, «und zwar die teuerste, soweit ich weiß, aber auch die beste. Ich kenne mich aus in Benimmregeln, im Westen wie in Japan. Ich könnte an einem Diplomatendinner teilnehmen, ohne negativ aufzufallen. Ich weiß, wie man auf mittlerem bis hohem Bildungsniveau Konversation betreibt, mit Frauen wie mit Männern. Ich bin gut informiert, bringe mich immer auf den neuesten Stand, vor allem in Sachen Wirtschaft. Deine Freunde stellen für mich also keine große Herausforderung dar. Aber ich bin ein Profi. Mein Job besteht darin, dich gut aussehen zu lassen. Dafür bezahlst du mich, und zwar nicht zu knapp. Wären deine Freunde Banker, würde ich mit ihnen über ihre Boni und Erfolge am Aktienmarkt plaudern. Sie sind aber keine Banker, sondern Jugendfreunde, die sich garantiert freuen, wenn sie merken, dass du sie nicht vergessen hast, dass du dich gern an sie erinnerst, dass du sogar deiner Freundin, deiner neuesten Freundin, oft von ihnen erzählst, von den vielen gemeinsamen Erlebnissen.»

«Okay, ich find’s ja gut, dass du dich da so reinhängst, ehrlich. Ich wollte dich nicht verletzen.»

«Hast du auch nicht. Übrigens: Laut Vertrag hast du ein Anrecht darauf, mich zu vögeln. Ich will mich dieser Verpflichtung auch nicht entziehen, aber ich bestehe auf gewissen Standards, zum Beispiel in Sachen Hygiene. Ich sag’s lieber gleich, denn so wie’s aussieht, erwartet uns eine schmutzige Herberge. Ich weiß, wovon wir sprechen: Schlafsäcke, verrostete Feldbetten, Schaumstoffmatratzen ohne Bezug. Und noch was: Die Sexklausel deckt lediglich den Verkehr zwischen uns beiden ab, also nichts da mit Orgien oder so.»

«Keine Sorge», erwidert Ginés und verzieht missbilligend das Gesicht, «das wird nicht passieren. Meine Freunde hatten mit der sexuellen Befreiung noch nie viel am Hut. Und ich auch nicht. Lass uns mit dem Foto weitermachen.»

«Okay. Neben Ibáñez ist ein Mädchen.»

«Hast du nicht gesagt, dass …?»

«Was soll ich gesagt haben?»

«Dass da ein Typ steht.»

«Stimmt ja auch, links, aber erst kommt dieses Mädchen, zwischen den beiden.»

«Ach, die», sagt Ginés. «Das ist … Ich kann mich nicht mehr erinnern, das Foto habe ich nur zwei- oder dreimal gesehen.»

«Und mir schwirren lauter Namen im Kopf herum: Nieves, Encarna.»

«Encarna? Es gibt keine Encarna. Nieves ist das Mädchen ganz rechts, das weiß ich noch. Zeig mal.»

«Spinnst du? Du kannst anhalten, wenn du dir das Foto genauer ansehen willst.»

«Ist ja gut! Nur eine Sekunde, dann sag ich dir, wer das Mädchen ist.»

María blickt nach vorne, dann zu Ginés, schließlich seufzt sie resigniert und hält ihm das Foto vor die Nase. Ginés betrachtet es eingehend. Es vergehen nur wenige Sekunden, aber María kommt es vor wie eine Ewigkeit, also nimmt sie das Foto wieder weg, bevor Ginés etwas gesagt hat.

«Was soll das? Ich brauch noch ein bisschen!», protestiert er. «Zeig noch mal her!»

Ginés reißt María die CD aus der Hand. Er duldet keinen weiteren Protest, blickt kurz nach vorne, hält sich dann das Foto vors Gesicht, mit Abstand, fast an der Windschutzscheibe, sieht mal auf den Weg, mal auf das Foto.

«Das ist Amparo», sagt er schließlich und gibt María das Streitobjekt zurück.

«Stimmt, Amparo! Das hattest du gesagt, die mit dem Diadem im Haar oder diesem Band.»

«Hm, was fällt mir zu Amparo ein?», fragt Ginés sich selbst, nimmt eine Hand vom Lenkrad und massiert sich das Gesicht. «Im Grunde weiß ich nicht viel über meine Freunde, will sagen, ich habe sie seit damals nicht mehr gesehen. Was ich weiß, das weiß ich von Nieves, die hat über die Jahre den Kontakt gehalten.»

«Nieves ist die, die das alles hier organisiert, oder?»

«Genau, die, die uns das alles eingebrockt hat. Aber du wolltest etwas über Amparo wissen.»

«Ja, mal sehen, was sie für einen Musikgeschmack hatte.» María sieht auf der Liste nach. «Gazabo? Gazebo? I like Chopin. Sagt mir gar nichts.»

«Melodische Songs, die ein paar Monate überall zu hören waren und dann in Vergessenheit geraten sind. Oft gar nicht übel, zeugen sogar von einem gewissen Geschmack, von musikalischer Kultur. Dass Amparo jemals Chopin gehört hat, kann ich mir nicht vorstellen. Amparo, das war so eine Kleine, eine Quasselstrippe, mit einer kreischenden Stimme. Und frech, die hat manch einem die Leviten gelesen. Einmal hat sie sich in einem Imbiss mit dem Typen hinterm Tresen angelegt, der uns übers Ohr hauen wollte. Keiner hat sich getraut zu protestieren, nur sie. Wir waren damals noch sehr jung. Komisch, jetzt, wo ich darüber nachdenke, wird mir erst klar, wie mutig sie war. Aber damals haben wir sie nicht ernst genommen, zumindest wir Jungs nicht.»

«War sie hübsch?»

«Hübsch, na ja, wie man’s nimmt, eher durchschnittlich, würde ich sagen. Aber da war was in ihrer Stimme, das mich immer gestört hat. Sie hatte etwas von einem Raubvogel. Jetzt erinnere ich mich auch wieder. Schon merkwürdig.»

Ginés verfällt in ein nachdenkliches Schweigen.

«Was ist merkwürdig?»

«Das mit den Erinnerungen, dass sie wiederkehren, wenn man die grauen Zellen aktiviert. Auf einem Ausflug haben die Mädchen mal nackt im Fluss gebadet. Sie sind in Unterwäsche ins Wasser gegangen, und irgendwann hatten sie gar nichts mehr an, zumindest obenrum nicht. Wir Jungs machten gerade Feuer, kriegten aber schnell mit, dass irgendwas im Busch war, weil die Mädchen so gelacht haben. Hugo kam auf die glorreiche Idee, sich die Kleidung der Mädels zu schnappen und zu verstecken, aber sie haben ihn wegrennen sehen. Daraufhin hat er ihnen demonstrativ die Wäsche gezeigt, als wollte er sagen: Holt sie euch doch, wenn ihr genügend Mumm habt. Da ist Amparo langsam, ernst und würdevoll aus dem Wasser gewatet. Hugo ist regelrecht die Klappe runtergefallen. Sie hat sich die Klamotten zurückgeholt, einfach so, ohne dass er sich gewehrt hätte. Hinterher war es uns allen peinlich. Du kannst dir ja denken, wie wir damals drauf waren. Wir haben uns die Köpfe heißgeredet von wegen, ob die Mädchen Slips anhatten oder nicht. Die einen sagten nein, die anderen sagten ja, sie seien nur nass gewesen. Letztlich war es so, dass wir uns schlicht nicht getraut hatten, genauer hinzugucken.»

«Toll! Amparo wird mir immer sympathischer.»

«So toll nun auch wieder nicht. In der Clique galt sie danach noch mehr als Exzentrikerin. Oder schlimmer noch, sie war endgültig unten durch: ‹Amparo tickt nicht ganz richtig, die muss man nicht ernst nehmen›.»

«Ihr wart ja merkwürdig drauf!», kommentiert María und schweigt, als dächte sie über das nach, was sie gerade gehört hat.

Auch Ginés schweigt. Einen Augenblick lang hat es den Anschein, dass das Gespräch versiegt ist. Der Weg ist jetzt nicht mehr so steil, aber der Belag ist nach wie vor in schlechtem Zustand. Ginés fährt langsam, versucht den vielen Löchern auszuweichen oder zumindest den Schlag so gut wie möglich abzufedern. Die Vegetation ist nicht mehr so dicht, an manchen Stellen tun sich sogar Lücken auf.

«Wir sind bald da», erklärt Ginés.

María beugt sich nach vorne und sieht nach oben.

«Ich weiß nicht, ob ihr heute wieder Sterne gucken könnt. Der Himmel ist bedeckt und schwarz wie Tinte.»

«Damit haben wir gerechnet. In der Wettervorhersage hieß es schon, dass Wolken aufkommen würden.»

María betrachtet wieder das CD-Cover, auf dem eine Gruppe von Jugendlichen in die Kamera schaut.

«Jetzt ist der Kerl dran, den du mir bisher unterschlagen hast.»

«Von dem erzähle ich dir ganz am Schluss.»

«Wieso?», will María wissen. «Was ist mit ihm?»

«Na gut», gibt Ginés nach und seufzt resigniert. «Wie ich sehe, lässt du mir keine andere Wahl. Das ist eine traurige Geschichte.»

Er verstummt. Etwas hat seine Aufmerksamkeit erregt. María bemerkt, dass er in den Rückspiegel starrt, und sieht nach hinten, erkennt in der Ferne zwei Lichter: die Schweinwerfer eines Autos, die je nach Terrain mal heller, mal dunkler leuchten.

«Das muss einer von uns sein», sagt Ginés. «Wer sollte sich sonst hier rumtreiben?»

«So einfach kommst du mir nicht davon.»

«Will ich auch gar nicht. Früher oder später käme es ja sowieso zur Sprache, also erzähle ich es dir lieber gleich.»

Ginés schaltet einen Gang zurück und drückt aufs Gas. Der Weg ist jetzt flach und gerade, weist kaum noch Schlaglöcher auf, sodass sie schneller fahren können.

«Je mehr Geheimnis du darum machst, desto schlimmer.»

«Wenn man etwas bereut, zutiefst bereut, eine Dummheit, etwas, wofür man sich schämt, dann fällt es einem nicht leicht, davon zu erzählen. Und wenn ich es trotzdem tue und zu diesem absurden Treffen fahre, dann ist das wohl so eine Art Buße.»

Ginés macht eine Pause, die sich in die Länge zieht, aber María traut sich nicht, etwas zu sagen, oder sie ist zu sehr in ihre eigenen Gedanken versunken, grübelt nach über die unerwartete Wendung, die das Gespräch genommen hat.

«Wir haben ihm einen Streich gespielt», beginnt Ginés zu erzählen, «einen grausamen Streich. Solche Sachen macht man nur, wenn man jung ist. Heute wäre ich nicht mehr so dreist, mich aus der Verantwortung zu stehlen, alles auf die Gruppe zu schieben, aber damals …»