Endlich wieder Schmetterlinge im Bauch - Uwe Wagner - E-Book

Endlich wieder Schmetterlinge im Bauch E-Book

Uwe Wagner

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Beschreibung

Endlich wieder Schmetterlinge im Bauch. Und dieses Mal scheint es Ulf tatsächlich richtig erwischt zu haben. Auch wenn sein Verstand es noch immer leugnet, scheint sich alles, wie von magischer Hand geführt, zu fügen. Dabei hatte er es doch längst abgeschrieben, jemals wieder in diesem erhebenden, berauschenden Gefühl aufzugehen. Aber ist es wirklich sein Schicksal? Wird es mit dieser Frau auch wieder in einer Katastrophe enden? Auf der verzweifelten Suche nach Antworten und einem Ausweg, schweifen seine Gedanken immer wieder ab, zurück in die Vergangenheit. Der erste Kuss, die erste Verliebtheit, die große Ernüchterung. Erinnerungen stürzen in immer schnellerer Folge auf ihn ein. Sie drängen sich in den Vordergrund, die Gegenwart in zweifelhaft fahles Licht tauchend. Es sind Erinnerungen an große Hoffnungen und Erwartungen. Aber es sind auch Erinnerungen an Enttäuschungen, Leere, Leiden und unerfüllte Sehnsüchte. Es ist ein Wettstreit zwischen Herz und Verstand, zwischen Kopf und Bauch. Selbst wenn er die Antwort, wer die Oberhand behalten wird, längst erahnt, so bleibt seine innere Zerrissenheit. Kann er es wagen, sich von seinen Gefühlen tragen zu lassen, sich ihr hinzugeben? Der Preis dafür ist hoch, denn er droht alles zu verlieren.

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Es gibt Menschen bei denen du

deine Beine und deine Seele

baumeln lassen kannst.

Du kannst einfach nur du selbst sein,

ohne Fassade,

ohne Zweifel,

manchmal sogar ohne Worte.

Diese Menschen sind selten,

hat man einen gefunden,

muss man ihn festhalten.

Autor: unbekannt

Inhalt

Vorwort zur Ausgabe 2112

.................

Nur wer selber brennt

Gretchenfrage ................................

Mein Vorname passt gut

Tanzkurs ............................................

Im Netz des Stalkers

D.i.s.c.o. ...........................................

Ein Hauch von Freiheit

Rausch ....................................................

Das Hausmädchen

Reisebeziehungen ..........................

Eine Form von Feigheit

Verzweiflung ...................................................

Der Plan B

Telefonat ......................................................

Hopp oder top

Herantasten .................................

Gedämpfter Überschwang

Zeitraffer .......................

Ich gehe dahin, wo auch du hingehst

Leben .......................................................

Höhen und Tiefen

Versuchungen ...................................

Gegessen wird daheim

Leidenschaft .....................

Größere Feuer und höhere Ebenen

Liebe .........................................

Liebe wird aus Mut gemacht

Entscheidung ......................................

"Lohnt es sich denn?"

Königin der Nacht,

was hast Du mit mir gemacht?

Du hast das Zepter in der Hand.

Du raubst mir den Verstand.

Vorwort zur Ausgabe 2112

Nur wer selber brennt,

kann Feuer in anderen entfachen.

Der Nachfrage, ein Vorwort für dieses Buch zu schreiben, bin ich mit Freuden nachgekommen. Es ist wahrlich eine Ehre für mich, eine Ehre, die deutlich über jene hinausgeht, die mir vor einiger Zeit bereits zuteil wurde. Denn immerhin fand ich meinen Namen im Werk „Emigra 3000“ wieder und dazu, welche Frau fühlte sich nicht geschmeichelt, gute einige Jahre jünger und obendrein einem männlichen Kollegen Paroli bietend.

Das vorliegende Werk, das sich den Anschein gibt, autobiographische Züge zu tragen, ist doch wiederum der Fiktion entsprungen, die der Autor bereits in seinem Erstlingswerk „Et respice finem!“ skizzierte. Wie wir uns alle gern erinnern, lässt der Autor, ich möchte ihn hier bewusst nicht beim Namen nennen, um die gehörige Distanz zu wahren, seinen Hauptprotagonisten einen überdimensionalen Sprung vollziehen, der ihn aus einem fiktiven Paralleluniversum in das reale, das unsrige verfrachtet.

Und eben genau in jener, allein der Phantasie entsprungenen Parallelwelt ist nun dieses Werk angesiedelt. Es ist eine Welt, die uns fremdartig, fast bizarr anmutet. Bereits der Gedanke, dass unser Land im großen Krieg unterlegen gewesen sein soll, ist schon erschreckend genug. Doch seine beängstigende Andeutung, dass es einen wenn auch erfundenen und sogenannten zweiten Weltkrieg gegeben hätte, wird fast nur noch von der, vielfach als Ausgeburt einer krankhaften Phantasie bezeichneten, abscheulichen Fiktion übertroffen, das Land sei wie im dreißigjährigen Krieg Spielball fremder Mächte geworden.

Allein schon die vermeintliche Bezeichnung eines deutschen Staates als „Bundesrepublik Deutschland“, sicherlich ein Tiefpunkt der Kreativität bei der Schöpfung von neuen Begriffen, kann als nichts anderes als eine Verballhornung unseres allseits geachteten, bewunderten und mit einer anbetungsgleichen Verehrung bedachten „Bundes Deutscher Republiken“ angesehen werden.

Dennoch spricht dies eindeutig für die äußerst lebhafte und unkonventionelle Vorstellungskraft des Autors, dessen persönliche Bekanntschaft zu machen die göttliche Vorsehung mir vergönnte. Allerdings erscheint die ungewohnte Verwendung unserer Sprache durch das Einweben zahlreiche Begriffe, die er selbst als Anglizismen bezeichnet, vergleichbar den Hispanismen und Turkoismen, die wir so liebevoll einsetzen, wiederum wirklich authentisch.

Bei all dieser Betrachtung soll nicht unerwähnt bleiben, dass der Inhalt für eine reale Autobiographie, der ich meine Bewunderung mit glühendem Herzen, fast wie geschildert, entgegenbringe, durchaus eine gehörige Sprengkraft für jede Ehe in sich birgt, zumal die Schilderungen sehr detailliert, mitreißend und emotional überwältigend ausgeführt werden. Zweifellos wird jedoch das mehr als überraschende Ende sicherlich nicht jeden Leser versöhnen, da sich auch in unserem Lande der Wandel moralischer Vorstellungen nicht verleugnen lässt.

Alles in allem ziehe ich außerordentlich gern das Fazit, dass die Fiktion, die in der Fiktion und die wiederum in der Fiktion verborgen ist, wiederum gelungen ist und meine grauen Zellen, wie auch meine Sinnlichkeit gut auf Trab gehalten und mir manches Schmunzeln, wenn nicht sogar befreites Lachen entlockt hat.

Daher bin ich bereits sehr gespannt, ja geradezu ungeduldig, auf welche Gedankenreise uns der Autor in Zukunft schicken wird. Das Eintauchen in die hier geschilderte Welt war mit einem buchstäblichen Erwachen für mich jedenfalls viel zu früh beendet.

Katharina Prinz Berlin, 21. Dezember 2112

(RADB1 – Kanal 1)

Amor est pretiosior auro.

Liebe ist kostbarer als Gold.

***

1 Rundfunk-Anstalt des Deutschen Bundes

Gretchenfrage

Ich finde, mein Vorname passt gut zu deinem Nachnamen.

„Wirst du es tun?“, fragte sie mit gedämpfter Stimme, damit nur er und niemand der übrigen Gäste im Hotelrestaurant es hören, geschweige denn verstehen konnten. „Wirst du mich heiraten, damit wir eine richtige Familie sind?“

Ihre Augen, die so hell strahlten wie gebürsteter Stahl, waren mit einer Intensität auf ihn gerichtet als wollte sie direkt in ihn hineinschauen und einen kleinen Moment lang wusste er nicht, ob er wieder das zügellose Begehren, die unbändige Freude oder ängstlichen Zweifel darin zu entdecken vermochte. Die feinen Grübchen, die ihr Lächeln so bezaubernd erscheinen ließen und die leicht geröteten Wangen, übten wieder jene unergründliche Anziehungskraft auf ihn aus, die durch das hübsche, sonnengebräunte und mit unzähligen Sommersprossen übersäte Gesicht ebenso verstärkt wurde wie durch die wallenden, bis zum Rücken hinabreichenden dunkelblonden Locken, die das Ensemble nicht nur einrahmten, sondern geradezu hervorzuheben schienen.

Schon war es wieder da, dieses unglaublich überwältigende Gefühl, für das es keine bessere Beschreibung gab als das banale Wörtchen Verliebtheit. Ja, er war verliebt. Ja, sie waren wieder da, diese Schmetterlinge im Bauch und es hatte unendlich lange gedauert es sich endlich einzugestehen, auch wenn sein Verstand sich noch immer weigerte es zu akzeptieren. Wie ein Mantra wiederholten sich daher auch wieder seine inneren Vorwürfe und Selbstzweifel.

‚Sie ist gerade einmal halb so alt wie du’, war ja noch harmlos und er konnte es immer recht elegant beiseite schieben.

‚Wieso sollte eine so gutaussehende junge Frau, bei der die jungen Kerle sicher Schlange stehen, sich mit dir alten Knopp überhaupt abgeben?’, war eines seiner Lieblingsphrasen, um sich mal wieder so richtig in eine kleine Depression zu stürzen.

Mit Anfang fünfzig war sowohl sein kurzes, mittelblondes Haar als auch sein gepflegter Vollbart noch erstaunlich wenig mit grauen Strähnen durchsetzt. Dennoch führte ihm sein regelmäßiges Training, das ihm zunehmend mehr an Überwindung kostete, mit unbarmherziger Regelmäßigkeit vor Augen, dass auch an ihm die Zeit nicht spurlos vorüberging.

‚Sie könnte deine Tochter sein und alle anderen sehen das auch so’, hatte dagegen schon eine verheerende Wirkung… gehabt. Ja, gehabt. Denn inzwischen war viel geschehen, viel zu viel, wenn es nach seinem Gewissen und der rein rationalen Betrachtung ging. Da hatten dann auch keine Tricks der Selbstverleugnung mehr genutzt.

Aber hatte er das nicht irgendwie von Anfang an gewusst? Hatte er, Ulf Mangold, diesen Film des Lebens nicht klar und gestochen scharf vor seinem inneren Auge gesehen, just in dem Moment, in dem er ihr, Alexandra Bellheim, meist nur Alex genannt, das erste Mal begegnet war?

‚Ja schon’, gestand er sich ein, ‚aber so war es doch immer’, versuchte er als Ausflucht. Dabei wusste er genau, dass es bei ihr anders gewesen war.

Sicher viele junge Frauen hatten ihn mit diesem besonderen Blick angesehen und er wusste sehr wohl, dass mit der Zeit der Grund dafür nicht mehr sein jugendlicher Charme war, sondern vielmehr das, was er in der Organisation verkörperte.

Bereits als junger Abteilungsleiter schien er mit einem Mal viel begehrter gewesen zu sein. Mit dem weiteren Hinaufklettern der Karriereleiter schien das sogar noch zuzunehmen, was er viel lieber seinem mehr und mehr distinguierten Erscheinungsbild zuschreiben mochte als der schnöden Verkörperung von Macht und Ansehen, auch wenn dabei der fade Geschmack des Selbstbetrugs zurückblieb.

In ihm sahen sie vielmehr das, wonach sie, allen emanzipatorischen Bestrebungen und Unkenrufen zum Trotz, intuitiv, ja geradezu instinktiv, dem archaischen Grundmuster folgend, suchten. Er stand in ihren Augen für die Sicherheit, die Geborgenheit und all das, was sie tief in ihrem Innersten ersehnten, um sich abgeschirmt vom Unbill der Umgebung voll und ganz der Familie, dem Nachwuchs widmen zu können.

Doch galt das nicht auch für ihn? Sah er in ihr nicht auch unbewusst die starke junge Frau, die Verheißung auf genau jene Familie, jene große Familie? War es nicht letztendlich auch der archaische Stereotyp der sich hier unterschwellig seiner bemächtigt und sein Handeln bestimmt hatte?

Danach gefragt hätten beide dies sicherlich heftig abgestritten und auch nur die Mutmaßung weit von sich gewiesen. Doch wie war es dann zu erklären, dass sie dennoch dem uralten Spiel, den grundlegendsten und stärksten Emotionen verfallen waren? Wie hatte es nur dazu kommen können?

Auf der Suche nach einer Antwort, der Antwort, ließ er seine Gedanken schweifen, in die nahe und dann ferne Vergangenheit.

Doch so sehr er sich bemühte, wenigstens ein Verstehen herbeizuführen, so holte ihn die Gegenwart stets wieder ein.

***

Tanzkurs

Im Netz des Stalkers.

„Das geht auf einmal aber ganz schön schnell“, merkte Ulf nachdenklich an.

„Findest du?“

„Äh… schon. Wir haben uns doch gerade erst…“

„Jaaaa“, schwärmte sie und lächelte verführerisch an. „Bis dahin hat es auch ganz schön lange gedauert.“

In diesem Punkt musste er ihr wirklich recht geben. Es hatte ganz harmlos angefangen, damals bei ihrer ersten Begegnung.

Es war ein herrlicher Herbsttag gewesen, denn die Sonne hatte ihre goldenen, noch wärmenden Strahlen direkt auf die hintere Seite des Bürogebäudes geworfen. Alles war noch so frisch in seinem Gedächtnis als wäre es gerade erst geschehen, ja als sehe er es gerade jetzt wieder vor sich.

Ulf war zusammen mit Frank Boode, seines Zeichens Abteilungsleiter Produktion, auf dem Weg zurück zu eben jenem Bürogebäude als ihnen einige Kollegen entgegenkamen. Nur flüchtig nahm Ulf sie wahr als sie durch die Tür trat und ihr langes Haar im Sonnenlicht aufzuglühen schien, während es durch einen Windstoß aufwirbelte.

Dann trafen sich ihre Blicke. Die Zeit schien erstarrt zu sein und doch war es nur ein kurzer Moment, vielleicht nicht länger als ein Wimpernschlag. Aber es war ihm, als hätte jemand mit aller Gewalt das Tor zu einem brennenden Inferno aufgerissen. So heiß wurde es ihm und er hoffte inständig, man möge es ihm nicht anmerken.

Ihr, so erzählte sie später, erging es nicht anders. Auch sie spürte wie etwas Glühendes in sie hineinfuhr als sich ihre Blicke trafen.

Eine Woge aus sengender Hitze breitete sich in ihr aus und sie wusste nicht, ob es ihr anzusehen war, was in ihr vorging.

Jedenfalls wandten sie sich beide reflexhaft ab, während sie weiter, mit unvermindertem Tempo aufeinander zugingen. In der Hoffnung dieses Tor zur ewigen Glut damit schnell wieder verschließen und die Hitze eindämmen zu können, taten sie alles, um sich nicht anzusehen. Ja, sie hielten ihre Blicke nahezu krampfhaft auf etwas anderes gerichtet.

Ulf schaute auf das Display seines Mobiltelefons und Alex hatte den Kopf gesenkt als suche sie etwas auf dem Boden vor ihr. Dabei hoffte sie, ihr Gesicht wäre durch ihr nach vorn fallendes Haar verborgen.

Doch der Drang, die geradezu magische Anziehungskraft war stärker und der kleine verstohlene Blick im Vorbeigehen war wieder wie ein kurzer Feuerstoß. Wie in einem Zauber gefangen, wie in seinem Bann gehalten, brachte keiner von ihnen beiden einen Gruß über die Lippen.

Doch von dieser buchstäblichen Sprachlosigkeit nahm keiner ihrer Begleiter Notiz. Sie warfen sich ein freundliches „Mahlzeit“ zu.

Das wilde Herzklopfen und das Rauschen des Blutes machte es Alex danach für einige Zeit schier unmöglich den Ausführungen ihrer Begleiter zu folgen und Ulf erging es nicht anders. Glücklicherweise waren die Kollegen so sehr in ihre Gespräche vertieft, dass auch dies nicht weiter aufzufallen schien.

„… nicht wahr?“, hörte Ulf seinen jungen Mitarbeiter wie von fern sagen, wobei der Ausdruck jung zugegebenermaßen relativ zu sehen war. Denn immerhin hatte Frank Boode, in dessen kurzem dunklen Haar sich bereits der erste graue Schimmer schlich, das vierzigste Lebensjahr vor wenigen Jahren hinter sich gelassen, was ihren Altersunterschied auf kaum zehn Jahre verkürzte.

„Naja“, gab Ulf in einem Ton von sich, als wäre er nachdenklich, was er in gewisser Weise auch war, nur war er in seinen Gedanken nicht mehr bei ihrem Gesprächsthema.

„Wie? Meinen sie, dass wir die Linie doch in der anderen Halle aufbauen sollen?“ Fragte Frank mit leichtem Anflug von Panik in der Stimme.

Im Gegensatz zu seinen Kollegen fiel es ihm noch immer schwer seinen Vorgesetzten zu duzen, Gepflogenheiten im Konzern, zu dem sie jetzt gehörten, hin oder her.

‚Verdammt!‘, schoss es Ulf durch den Kopf, in dem noch immer dieses bezaubernde Wesen herumspukte und ihn ablenkte. ‚Ich muss mich mehr zusammenreißen. Das ist ja fast so wie damals in der Schule.‘ Dabei unterdrückte er ein Schmunzeln als er sich an die Zeit erinnerte, in der er seine schmachtenden Blicke nicht von Dorothea hatte lassen können und die Lehrer ihn ein ums andere Mal auf dem falschen Fuß erwischt hatten.

Nein, das konnte er sich jetzt überhaupt nicht leisten. Immerhin trat er hier in Franfurt gerade seinen Dienst als Verantwortlicher für das gesamte Technikressort an. „Senior Managing Engineer“ hieß der hochtrabende Titel, was zum Ausdruck bringen sollte, dass er zum mehr oder minder erlauchten Kreis der hiesigen Geschäftsführung gehörte, was in einem amerikanischen Konzern jedoch kaum Bedeutung hatte, wie er inzwischen hinlänglich erfahren hatte.

„Nein, das habe ich nicht gemeint“, erwiderte Ulf hastig. „Die Planung für die Linie ist aus meiner Sicht ganz in Ordnung“, fuhr er fort, froh die Kurve gekriegt zu haben, „vor allem die direkte Anbindung der Vormontageeinheiten gefällt mir gut. Ich möchte das alles… nun, einer Art Simulation unterziehen und dabei sehen, was passiert, wenn etwas nicht ganz so glatt läuft.“

„Aber dafür haben wir ja die Sonderplätze…“

„Ganz recht“, unterbrach er seinen Mitarbeiter und gab sich Mühe dabei ein möglichst hohes Maß an Bestimmtheit auszustrahlen, „aber das meine ich nicht.“

„Nicht?“ Frank Boode schien sichtlich verwirrt zu sein.

„Nein. Ich möchte wissen, was wir daraus lernen, um im Vorwege eingreifen zu können, und zwar bevor wir diese Ausweichplätze brauchen. Sonst habe ich das Gefühl, als planen wir die Fehler gleich mit ein.“

„Aha.“ Es war zwar als verständnisvolle Zustimmung gedacht, klang jedoch eher wie ein Seufzer der Verzweiflung.

„Ich will es mal so ausdrücken“, fuhr Ulf unbeirrt fort, „immer wenn wir diese Plätze brauchen, haben wir in unserer Planung und auch in der Steuerung versagt. – Verstehen sie?“

„Ja, ich glaube schon…“ Die Antwort war die eines Untergebenen, der es sich mit seinem Chef nicht verderben möchte. Doch Ulf wusste das sehr wohl einzuordnen und auch, dass sein Gegenüber noch immer nicht ganz verstanden hatte, worauf er hinaus wollte. „Wir müssen die wahren Gründe finden und dann können wir die Fehler im Ansatz bekämpfen und die Linie nach und nach absolut störungsfrei betreiben.“

„Aber dann müssen wir sie ja jedes Mal anhalten.“

„Genau!“

Völlig entgeistert sah Frank ihn an. Seine Körpersprache brachte mehr als deutlich zum Ausdruck, dass er dies, nämlich das Anhalten der Linie und den daraus resultierenden Umsatzverlust, aus seiner Erfahrung heraus für die beste Möglichkeit hielt auf der Stelle entlassen zu werden. Nur wagte er es nicht auszusprechen, weil er auch nicht als Zauderer dastehen wollte.

„Natürlich erwarte ich, dass wir schnell Fortschritte erzielen und die Stillstandszeiten sehr kurzfristig minimieren.“

„Aha.“ Diesmal schwang ein Hauch von Fatalismus mit, denn ihm war offensichtlich aufgegangen, dass da eine Menge Arbeit auf ihn wartete.

„Sie werden sehen, Herr Boode, schon nach wenigen Wochen läuft die Linie richtig gut und die Anfangsschwierigkeiten sind dann längst vergessen. Dann werden sie von anderen Standorten zu uns pilgern.“

„Na, ihr Wort in Gottes Ohr“, merkte der Angesprochene reflexhaft an und schwieg, sorgsam die Reaktion seines Vorgesetzten erforschend.

Doch der war mit seinen Gedanken bereits nicht mehr bei der Sache und verabschiedete sich mit einem „auch das, wenn’s hilft“, was Frank nur in seiner Annahme bestärkte, dass sein Vorgesetzter die Lorbeeren einheimsen und die Drecksarbeit wieder einmal an ihm hängen bleiben würde.

„Geschieht mir ganz recht“, murrte Frank leise vor sich hin. Denn er schrieb die seltsame Wendung des Gesprächs seiner unbedachten Nachfrage zu.

Die Begegnung mit der jungen Frau und die seltsame Reaktion seines Chefs darauf hatte er längst vergessen.

Dies war bei Ulf Mangold ganz und gar nicht so. Im Gegenteil, denn dessen Gedanken schienen geradezu nur noch um diese junge Frau zu kreisen. Sie wurden von ihr ohne Aussicht auf Entrinnen angezogen, so wie Materie im Weltraum, die in einer immer enger werdenden Spiralbahn vom schwarzen Loch letzten Endes aufgesogen wird.

‚Wer ist sie?‘, fragte er sich und er überlegte bereits, wie er auf elegante Weise ihren Namen erfragen könnte. Denn immer wieder tauchte ihr liebliches Gesicht vor seinem inneren Auge auf. Jedes Mal, so kam es ihm vor, entdeckte er dabei weitere Einzelheiten, die sie in seinen Augen schöner und begehrenswerter machten. Dabei sollte es ihn doch gar nicht interessieren, schließlich war er seit Jahren verheiratet, sogar glücklich verheiratet.

Doch da waren diese strahlenden hellen Augen, in denen er sich verlieren konnte wie in den Weiten des Alls. Außerdem erinnerte er sich deutlich an die zarte Röte auf ihren Wangen, die sein Herz schneller schlagen ließ. Auch die kleinen Grübchen, die ihr Lächeln noch bezaubernder machten, hatten es ihm angetan. Selbst die Sommersprossen, die sich keck vom Nasenrücken bis weit über die Wangenknochen ausbreiteten, waren ihm im Gedächtnis und er fragte sich, wie viele Einzelheiten er noch unbewusst in diesem einen Moment erfasst hatte.

Unweigerlich ertappte er sich bei Phantasien, wie er ihr näherkam, wie er ihr den Hof machen könnte. Er fühlte sich plötzlich wieder wie zu Schulzeiten, als er für jene, in seinen Augen wunderschöne Alexandra schwärmte, die er in zweifelhafter Vertrautheit Sandra nannte, so wie es ihre besten Freunde taten. Erinnerungen kamen hoch wie er ihr zu gefallen suchte und sich dabei, nüchtern betrachtet, zum Affen machte.

Er schauderte als wolle er die Gedanken so auf gleiche Weise abschütteln wie ein Hund das Wasser aus seinem Fell. Doch auch ihm gelang es nicht vollständig.

‚Reiss dich zusammen!‘, schalt er sich in Gedanken. ‚Du weißt nicht wer sie ist. Vielleicht ist sie noch in der Lehre und noch nicht einmal achtzehn…‘ Er zuckte unwillkürlich zusammen.

„Na, das fehlte mir gerade noch“, murmelte er gedankenverloren mit einem Seufzer vor sich hin.

Doch die Zahl achtzehn hallte in ihm nach, denn sein Ältester war im vergangenen Jahr volljährig geworden. ‚Sie könnte wirklich deine Tochter sein‘, vergegenwärtigte er sich folgerichtig. Doch es fehlte dabei an innerer Überzeugungskraft. Der nach wie vor in seinem Kopf herumspukende Gedanke, das Herz der Frau zu gewinnen, ließ ihn nicht zur Ruhe kommen.

‚Ulf, du bist bald zwanzig Jahre verheiratet!‘, herrschte er sich im Geiste an. ‚Und vier fast erwachsene Kinder hast du‘, fuhr er fort. Aber immer wieder war das kleine Teufelchen zur Stelle, um ihm den nächsten Floh ins Ohr zu setzen, ihn wie einen verliebten Schuljungen um den Verstand zu bringen.

Das war sogar noch am Abend so, als er nach einem ausgezeichneten Mahl in seinem Hotelzimmer saß und sich auf den kommenden Tag vorbereitete. Wieder sah er ihr Bild vor sich. Er spürte plötzlich ein unbändiges Verlangen, in einer Intensität wie er es seit Jahren nicht mehr erlebt hatte. Der Drang, mit ihr mehr anzustellen als sie nur einfach anzusehen, wurde übermächtig.

‚Sollte ich so was nicht eher bei Eva fühlen?‘, fragte er sich in einer Mischung aus Verwunderung, Zorn und Schuldgefühl. Denn am Anfang war es ihm bei Eva-Kristina, der Frau, mit der er vor rund zwanzig Jahren vor den Traualtar getreten war, genauso gegangen.

Ganz warm wurde es ihm ums Herz als er sich daran erinnerte. Ein wohliges Kribbeln durchfuhr ihn bei der Erinnerung an ihre unbändige, berauschende Liebe, die mit der Geburt von Peter, Frederick, Jessica und Merle gekrönt worden war.

Diesem Drang gab er sofort nach, griff nach seinem Telefon und schickte per Kurzwahl seinen Anruf ins Netz.

„Mangold“, meldete sich die ihm vertraute Stimme.

„Hallo Schatz, ich liebe dich“, antwortete er direkt, nicht aus Gewohnheit, sondern weil er es so meinte und weil er es genauso fühlte.

„Oh, ich dich auch“, entgegnete sie seufzend, nur um mit leichtem Protest hinzuzufügen: „Gibt’s dich auch noch? Ich dachte schon, ich müsste mich jetzt mit deiner Mailbox anfreunden.“

„War ein wenig hektisch heute. Du weißt ja wie das ist, so am Anfang.“

„Ja. Schon okay. Und jetzt…“

„Jetzt habe ich Sehnsucht gehabt.“

„Und ich erst“, seufzte sie erneut.

„Ich hab‘ eben an dich gedacht“, fuhr er fort und zuckte bei dem Gedanken, ‚das ist noch nicht einmal gelogen‘, zusammen.

„Oh, das ist lieb. Ich hatte schon angefangen mir zu überlegen, wie ich nicht an dich denken könnte, weil ich dich doch lieber hier hätte.“

„Mhhmm, wäre ich auch lieber“, gestand er wahrheitsgemäß und genoss die Erinnerung an den Duft ihrer Haut und wie weich sie sich anfühlte, wenn er an sie gekuschelt neben ihr lag und ihre betörenden Rundungen nachstrich. „Sobald ich das hier absehen und besser abschätzen kann, werde ich nicht nur am Wochenende, sondern auch in der Woche mal pendeln.“

„Ja, das wäre schön“, seufzte sie, nur um mit einem Hauch an Niedergeschlagenheit zu ergänzen: „Aber jetzt musst du da erstmal reinkommen. Das geht vor.“

„Ja. Leider. Aber irgendwann…“

„Ja-aa?“

„Haben wir uns dann dran gewöhnt“, flachste er.

„Nein, das glaube ich nicht!“ erwiderte sie eine Spur heftiger als erwartet. „Daran kann ich mich nicht gewöhnen, auch wenn es jetzt nur ein paar Tage sind und nicht ein paar Wochen wie damals.“

Ulf wusste, dass sie auf ihre mehr oder minder unfreiwillige Trennung anspielte als er von seiner damaligen Firma nach China entsandt worden war, um in der dort gegründeten Tochterfirma die Produktion aufzubauen.

Nach der Geburt von Frederick, war sie recht schnell wieder schwanger geworden. Doch der Arzt hatte ihr wegen der plötzlich auftretenden Beschwerden nahegelegt, ja geradezu auferlegt, auf Flugreisen zu verzichten. Daraufhin waren sie fast ein Jahr wie auf verschiedene Seiten des eurasischen Kontinents verbannt und auf seine vierteljährliche Urlaubs- und Dienstreisen angewiesen gewesen, um sich mal wieder in die Arme zu schließen.

Das hatte sie letztendlich mehr zusammengeschweißt als manches andere. Umso verwunderter war er nun über sein Durcheinander an Gefühlen.

Doch im Moment, so fand er, war alles wieder gut und das Telefonat hatte ihn, wie auch damals schon gerettet, „eingenordet“, wie er es zu bezeichnen pflegte. Es war fast so als würde dadurch die Wirkung eines Zaubers, mit dem er belegt worden war, aufgehoben.

***

Eva-Kristina? Nein, einfach nur Kristina hatte sie geheißen und mit Wehmut erinnerte Ulf sich an sie. Sie war nicht seine erste große Liebe gewesen. Nein, das war Paula und da war er gerade mal zwölf und sie bestimmt nicht einmal zehn gewesen.

‚Liebe?‘, bei dem Gedanken musste Ulf schmunzeln. ‚Was wusste ich denn damals schon von Liebe? – Verliebt war ich. Jawohl, und zwar über beide Ohren, so sehr, dass es beinahe weh tat.‘

Unwillkürlich seufzte er und hoffte dass Alex, Alexandra Bellheim, mit der er hier im Restaurant saß, um eine Lösung zu finden, es nicht mitbekam.

War es Liebe, was er für sie, dieses wahrhaft bezaubernde Wesen empfand, die ihn mit so strahlenden Augen ansah und mit einem Lächeln bedachte, als könnte alles aus tausend und einer Nacht wahr werden? Oder war es auch nur eine Form, vielleicht bloß eine viel stärkere, der Verliebtheit?

Damals, bei Paula, hatte er es noch nicht zu unterscheiden gewusst und selbst heute würde er es nicht als einfach bezeichnen. ‚Immerhin‘, und bei dem Gedanken leuchteten seine Augen und er lächelte verklärt, ‚weiß ich inzwischen, ganz im Gegensatz zu damals, was wir zu zweit noch alles machen können.‘ Davon mochte er als Zwölfjähriger vielleicht etwas instinktiv geahnt haben, aber was war das im Vergleich zur Wirklichkeit von gut vierzig weiteren Jahren Erfahrung?

Noch nicht einmal geküsst hatte er Paula. Selbst das hatte er sich nicht getraut. Dafür dann aber Anne, damals im fast dunklen Zelt, beim doch so harmlosen Spiel.

Ja, sie war auch recht hübsch gewesen, aber hatte er für sie etwas empfunden, so wie für Paula? – Mitnichten! – Er hatte es einfach so aus einer Laune heraus getan, weil er einfach neugierig war, wie sich das wohl anfühlte. Doch warum hatte er es sich bei Paula nicht getraut?

‚Weil du viel zu schüchtern warst‘, drängte sich in ihm die Antwort auf und irgendeine Stimme, es musste wieder jenes Teufelchen sein, das ihn in diese Situation geritten hatte, ergänzte hämisch lachend: ‚Eher verklemmt, würde ich sagen.‘

Aber, wenn er ehrlich zu sich war, dann musste er zugeben, dass dies der Wahrheit schon sehr nahe kam, verdammt nah. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass er von diesem ersten Kuss maßlos enttäuscht gewesen war. Denn es hatte sich einfach nur weich angefühlt. Warum darum ein so großes Bohei gemacht wurde, konnte er damals nicht verstehen.

‚Ach was!‘, versuchte er diese Gedanken hinwegzufegen. ‚Bei Kristina war das ganz anders… naja, etwas‘, ergänzte er dann etwas kleinlaut.

Noch immer war da das Kribbeln, wenn er an sie dachte, ja es war fast so als wären die Schmetterlinge im Bauch wieder da. Mit ihren hüftlangen dunklen, fast schwarzen Haaren, den dunkelbraunen Augen war sie die Verkörperung seiner Vorstellung einer südeuropäischen Schönheit. Um das festzustellen hatte ihm ein Blick genügt und mochte er nicht länger gedauert haben als ein Wimpernschlag. Gesehen hatte er sie jedenfalls das erste Mal beim Start des Tanzkurses, der ihm von seinen Eltern quasi auferlegt worden war.

Sicher, später war er froh darum gewesen, wenigstens nicht so dumm dazustehen, wenn es bei den Feiern hieß: „So mach doch endlich mit. Bei Damenwahl hilft eh kein Zieren.“ Trotzdem konnte er der Sache mit dem Tanzen nicht sehr viel abgewinnen. Obwohl er dreimal in der Woche intensives Karatetraining betrieb, fand er es äußerst anstrengend und daher stand für ihn ein Folgekurs überhaupt nicht zur Debatte.

Heute wusste er, dass er damals den Fehler gemacht hatte, zu große Schritte und diese auch noch zu ungelenk zu setzen. Inzwischen bekam er das deutlich besser hin und die Sache machte ihm sogar Spaß.

Es war jedenfalls ein typischer Jugendkurs der ausgehenden Siebziger in einem Ambiente der Fünfziger. Folglich, so könnte es man fast ausdrücken, saßen natürlich Männlein und Weiblein züchtig voneinander getrennt, warfen sich, durchs Erröten peinlich berührt, verstohlene Blicke zu und tuschelten aufgeregt mit den Nachbarn, die sich genauso benahmen, wodurch das Ganze eher als aufgeregter Hühnerhaufen zu bezeichnen gewesen wäre.

Die zu erledigenden Formalitäten waren da eine willkommene Ablenkung und auch eine hervorragende Möglichkeit, die Reihe dort gegenüber in Augenschein zu nehmen, und zwar ohne Gefahr zu laufen, dass es dabei zu einem Blickkontakt gekommen wäre. Denn dann, so erinnerte er sich als wäre es gegenwärtig, hätte sie, die Auserwählte, ja gemerkt, dass er ein Auge auf sie geworfen hatte und dann wäre er bestimmt vor Scham im Boden versunken.

Ein Lächeln huschte unwillkürlich über sein Gesicht, als er das alles wieder vor sich sah. Es war schon fast ein bemitleidendes Lächeln, denn was hätte sich nicht alles daraus ergeben können.

‚Ja was?‘, fragte er sich nun. ‚Vielleicht nichts, vielleicht nur der erste richtige Herzschmerz‘, versuchte er sich einzureden.

Vor Nervosität hatte seine Hand dann beim Ausfüllen des Formulars so sehr gezittert, dass seine Schrift noch unleserlicher wurde. Daher war er dankbar gewesen, dass die Zettel einfach eingesammelt wurden und nur auf Vollständigkeit der Angaben, jedoch nicht auf deren Lesbarkeit geachtet wurde. – Wie peinlich wäre das denn sonst geworden?

Plötzlich spürte er wieder dieses Kribbeln im ganzen Körper, so wie damals als sie dort saßen und sich doch nicht auf die Worte konzentrieren konnten, die der Tanzlehrer sprach. Sein Blick war immer wieder zu ihr gewandert und jedes Mal war die Woge aus Wärme in ihm größer und sein Herzschlag heftiger geworden.

Doch irgendwann kam dann der Moment der Wahrheit. Die Worte trafen ihn wie ein Paukenschlag, wie ein Todesurteil.

„So“, hörte er noch immer die Stimme des Tanzlehrers, „jetzt gehen die Herren mal hinüber zu den Damen und fordern sie zum Tanz auf, aber bitte so, wie ich es eben gezeigt habe.“

Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und er meinte, dass es alles an Blut in seinen Kopf gepumpt hatte. Der war daher sicherlich tief rot während seine Beine völlig blutleer und kraftlos waren. Selbst seine Arme schienen ihm nicht mehr gehorchen zu wollen.

In einem unvorstellbar gewaltigen Akt des Willens oder besser gesagt, des Müssens, hatte der Geist dennoch über das Fleisch gesiegt und er hatte sich recht wackelig erhoben und war mit zitternden Schritten auf die andere Seite zugegangen. Dann hatte ihn, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, der Gedanke, ‚was ist, wenn ein anderer sie vor mir fragt?‘, getroffen. Zum ersten Mal konnte er dem Begriff Panikattacke eine Bedeutung zumessen und augenblicklich beschleunigte er seine Schritte so sehr, dass es ausgesehen haben muss, als wolle er auf sie zu stürzen.

Irgendwann hatte sie gemerkt, dass er sie fragen würde. War da etwa so was wie Enttäuschung in ihrem Blick? Glühender Stahl schien sein Herz zu durchbohren und schon wollte ihn allen Mut verlassen. Doch der Gedanke, ein anderer könnte die Gelegenheit jetzt für sich ausnutzen, war einfach unerträglich und so fragte er sie, ernsthaft bemüht, diese mittelalterlich anmutenden Verbeugung hinzubekommen, mit bebender Stimme: „Darf ich bitten?“

Sehr deutlich sah er noch jetzt ihre kleine Kopfbewegung vor seinem inneren Auge. Es war jene Bewegung, die bei seiner Schwester immer mit den Worten, „wenn’s denn unbedingt sein muss“, begleitet wurde. Genau in diesem Moment ging sein Herz, das spontan zu einem Eisklumpen erstarrt zu sein schien, irgendwo unten in seiner Hose auf Tauchstation.

Doch dann war es mit größerer Hitze denn je zuvor wieder ganz oben im Hals und er meinte es drücke ihm die Kehle zu. Denn mit einem bezaubernden Lächeln, das ihn für alle Höllenqualen entschädigte, bejahte sie und stand auf, seine dargebotene Hand ergreifend.

Natürlich war es ihm schwergefallen, sich so nahe bei diesem einfach nur hinreißenden Mädchen auf irgendwas zu konzentrieren. Und doch bemühte er sich alles möglichst gleich perfekt zu machen, um sich keine Blöße zu geben, ja vielleicht sogar ein wenig Eindruck zu schinden. Dabei hoffte er inständig, dass sie es nicht mitbekam wie er vor Aufregung schwitzte oder dass seine Hände aus gleichem Grund bestimmt ganz zittrig waren.

Heute würde er vermuten, dass es ihr nicht viel anders erging, aber in jenem Moment war er nicht in der Lage das zu erkennen, geschweige denn seine Nervosität auch nur im geringsten Maße zu mindern. Dabei verlief die Stunde doch recht gut, bis auf die Tatsache, dass die Partner ständig gewechselt wurden und er mit Stichen im Herzen verfolgte, wie fröhlich sie bei anderen lachte, die wohl in der Lage waren, in ihrer Gegenwart locker zu scherzen.

Erst später, als ihm die Sache mit dem Schlussball begreiflich wurde, machte er sich Gedanken darüber, wann es der beste Moment sei, sie zu fragen. Er hatte eine unaussprechliche Angst davor, dass sie ablehnen könnte, sei es, weil er zu früh fragte oder, weit schlimmer, weil sie bereits jemand anderem die Zusage gegeben hatte.

Es trug auch nicht gerade zu seiner Beruhigung bei, dass andere, natürlich zufrieden und großkotzig grinsend, behaupteten, sie hätten schon alles klar gemacht. War er zu spät dran? Würde er sie verlieren? Müsste er dann vielleicht sogar mit jener, die er bei den Partnerwechseln glücklicherweise immer hatte vermeiden können, diesem ätzenden Trampel, zum Ball gehen? – Es schauderte ihn schon beim Gedanken daran.

Also stand er beim nächsten Mal mit Herzklopfen vor der Tür und wartete darauf, dass sie zusammen mit ihren Freundinnen auf ihren Rädern in die Zufahrt einbogen. Erst wollte er möglichst beiläufig zu ihnen hinüberschlendern, aber dafür fehlte ihm denn doch der Mut, vielleicht auch, weil er ihren Namen noch nicht kannte und nicht wusste, wie er sie hätte ansprechen sollen. Daher entschied er sich dafür, sie am Eingang abzupassen, um ihr die alles entscheidende Frage zu stellen.

Doch sie blieb mit ihren Freundinnen beim Fahrradständer stehen. Dort plauderten und plapperten sie recht lautstark, wobei einige ihm verstohlene Blicke zuwarfen und dann kichernd ihre Köpfe zusammensteckten. Noch heute fühlte er sich unwohl dabei, allein beim Gedanken daran.

Aus heutiger Sicht wüsste er, dass sie sein Ansinnen sehr wohl bemerkt hatten und nun gespannt auf sich das darbietende Schauspiel warteten. Instinktiv, aus einem Gefühl heraus, sie damit in eine peinlich Lage zu bringen, hatte er seinen Plan geändert und sich mit seinen Freunden ins Gebäude begeben.

„Mann, da hätt’se doch einfach hingehen können“, feixte Roger, der offenbar keine Hemmungen kannte.

„Nee“, hatte er nur einsilbig geantwortet. Wie sollte er ihm beibringen, dass er das Gefühl hatte, sie damit öffentlich bloßzustellen?

„Biste feige oder was?“

Erst wollte er scharf darauf reagieren, doch dann zuckte er, erstaunt über sich selbst, nur mit den Achseln. Sollte er ihn doch halten, für was er wollte.

„Na denn, es gibt ja noch ein paar, die bestimmt übrig bleiben“, feixte Roger weiter. „Ich geh dann mal zu meiner rüber.“ Dabei grinste er frech. „Tschüssi.“

Irgendwie war er damals froh gewesen, dass er dann einen Moment alleine war. Dieser Moment des Besinnens hatte denn auch seine Entschlusskraft auf wunderbare Weise gestärkt. Denn sobald die Stunde begann, flitzte er zu ihr rüber, um sie aufzufordern. Noch während sie warteten, dass auch die anderen sich paarweise aufstellten, hatte er sie dann mit bestimmt hochrotem Kopf und vor Aufregung bebender Stimme gefragt, ob sie mit ihm zusammen zum Abschlussball ginge.

Zu seiner unendlichen Erleichterung, das Glücksgefühl ging ihm heute noch nahe, hatte sie mit einem, „ja gerne, danke“, geantwortet.

Für den Rest des Tages hätte er die ganze Welt umarmen mögen und es war ihm auch völlig gleichgültig, naja, zumindest fast, dass sie bei den folgenden erzwungenen Partnerwechseln nicht mehr zusammenkamen. Selbst die Tatsache, dass sie es gewesen war, die zuerst nach dem Namen gefragt hatte, was er aus welchem Verständnis heraus auch immer als seine Aufgabe angesehen hatte, tat der Sache keinen Abbruch. Ja, auf seltsame Weise verstärkte das sogar seine Woge des Glücks, auf der er ritt, denn so bildete er sich ein, dass ihr etwas daran lag seinen Namen zu kennen.

‚Jaja, was ich mir so alles einrede. – Mann, was war ich verliebt!‘, dachte er sehnsüchtig. ‚Was heißt eigentlich war? Ich bin es jetzt ja noch immer‘, stellte er zufrieden fest, nur um sich gleich zu korrigieren, ‚Eigentlich bin ich es schon wieder. Nur diesmal kann ich anders damit umgehen.‘ Sofort meldete sich sein schlechtes Gewissen wieder zu Wort, auch wenn er, rein nüchtern betrachtet, recht hatte. Denn die Schmetterlinge im Bauch waren wieder da.

Damals blieb es letztendlich bei einer Schwärmerei, denn noch nicht einmal einen Kuss hatte er ihr gegeben. Er hatte es schon aufregend genug gefunden, sie beim Tanzen berühren zu können. Besonders aufregend war es gewesen, wenn es hieß, dass das Führen auch über Körperkontakt gehe und sie so dicht voreinander standen, dass er ihre Körperwärme spüren konnte. Da pochte ihm das Herz so sehr im Hals, dass er kaum etwas herausgebrachte. Glücklicherweise, waren sie ja alle sehr auf die Schritte konzentriert und da war für Plaudereien irgendwie kein Platz.

Nach den Stunden gingen sie leider jedes Mal sofort auseinander und nach seiner Vorstellung gab man den ersten Kuss nicht in der Öffentlichkeit, weder während einer Tanzstunde, noch beim Ball. Damit war ihm letztendlich keine Möglichkeit gegeben, es je zu tun. Zum damaligen Zeitpunkt konnte er ja nicht ahnen, dass es ihm einige Jahre später völlig egal war und er genau dies in aller Öffentlichkeit, sogar auf der Tanzfläche, tun sollte.

Kristina hatte er nach Beendigung des Kurses jedenfalls nicht mehr wiedergesehen, ebenso wie Paula, so sehr er es sich auch herbeigesehnt hatte. Das Schicksal war manchmal unerbittlich und er hoffte, dass es sich jetzt wenigstens einmal von seiner freundlichen Seite zeigte.

***

„Nein, die Haare kommen ab. Sonst holst du dir doch nur wieder eine Erkältung“, hatte ihre Mutter in all den Jahren gesagt, wenn sie endlich über die Schulterlänge hinaus gewachsen waren. Dabei war ihr braunes Haar kräftig und voll, so dass es ihr Gesicht schon ohne die späteren modischen Locken der Achtziger wallend umrahmte. Im Gegensatz zu ihren braunen Augen, die je nach Lichteinfall leicht grüne Nuancen aufwiesen und aus denen stets Lebensfreude und Wagemut strahlten, hatte ihr Haar einen leicht rötlichen Schimmer, der jedoch erst ab einer gewissen Länge wirklich wahrnehmbar wurde. Daher bezeichnete sie es dann auch gern als ihre rote Mähne.

Jetzt, mit sechzehn, ließ sich Eva-Kristina – sie wurde zu Hause meist nur Eva gerufen – von dieser Forderung nicht mehr beeindrucken. Sie genoss es nun auf ihre Weise, indem sie ihre Mähne offen trug und nicht zu einem Zopf zusammenband, wie ihre Freundin Marlies es üblicherweise tat, vor allem dann, wenn sie sich alle wieder im Stadtpark beim Volleyballfeld trafen.

Alle, das war fast die gesamte Gruppe aus dem Konfirmationsunterricht. Sie trafen sich noch immer regelmäßig zur traditionellen Zeit, obwohl das große Ereignis nun schon über zwei Jahre zurücklag. Allerdings waren die Themen und Aktivitäten, mit denen sie sich jetzt beschäftigten deutlich anderer Natur, aber ihrem Zusammenhalt tat dies keinerlei Abbruch.

Das geschah denn eher auf andere Weise, denn seit einiger Zeit schien die Gruppe langsam zu zerbröckeln. Zwar brachten einige ihren Freund oder ihre Freundin mit und sie wurden auch integriert, so gut das eben möglich ist, aber andere zogen es doch vor, ihre Zweisamkeit auch während dieser Stunden nicht aufzugeben und blieben daher fern.

„Also ich weiß nicht, so toll ist das nicht“, bemerkte sie leise zu Marlies, mit der sie manches Geheimnis teilte.

„Was?“

„Na, das Rummachen.“

„Es muss ja nicht immer so sein wie bei dir“, wagte sie einzuwenden.

Eva wusste sehr wohl, worauf Marlies anspielte, denn im vergangenen Jahr hatte sie sich über dieses geheimnisumwobene und oft so groß herausgestellte Ereignis unterhalten. Daher erwiderte sie: „Na so viel besser war das erste Mal bei dir ja auch nicht.“

„Najaaa“, seufzte Marlies und zuckte mit den Schultern. „Aber irgendwie schön war’s auch.“

Für Eva war es jedoch im besten Fall eine Enttäuschung gewesen. Der Junge, sie versuchte seitdem seinen Namen aus ihrem Gedächtnis zu verbannen, war einfach zu grobschlächtig und rücksichtslos gewesen. Später würde sie es einfach als Unerfahrenheit bezeichnen, aber das wusste sie jetzt noch nicht.

Jedenfalls war sie deshalb nicht gleich Feuer und Flamme als Holger, den sie schon öfters in der Nähe ihres Treffens beobachtet hatte, sie eines Tages ansprach und dann nicht locker ließ, um sie in ein längeres Gespräch zu verwickeln. Er schien feinfühliger, einfühlsamer zu sein, denn es dauerte noch eine ganze Weile, bis er ihr vorschlug, sich doch auch abseits der Gruppe, an anderen Tagen zu treffen.

„Wie wär’s mit morgen?“, fragte er lächelnd.

„Da habe ich tanzen“, wandte Eva ein und Marlies, die seitlich hinter Holger stand, verdrehte die Augen als wolle sie sagen: „Nun mach doch! Ist doch egal.“

„Tanzen?“, fragte Holger und schien ernsthaft interessiert.

„Ja, sogar schon Silberkurs.“

„Wow!“ Er schien begeistert, doch sagte er: „Da habe ich es ja nicht so mit.“

„Aha. Sondern?“

„Hier“, er deutete auf sein Sportrad, „Radfahren. Das haut voll rein.“

„Damit fahre ich nicht so oft“, gestand Eva.

„Nicht mal zur Schule?“

„Nee, da kann ich zu Fuß hingehen.“

„Echt? Wohnst du da gleich nebenan?“

„Fast, wieso?“

„Dann hole ich dich morgen ab und bringe dich zum Tanzen“, schlug er in einem Ton vor, der üblicherweise für ein Fazit oder einen Beschluss vorbehalten ist.

„Da gehe ich aber auch zu Fuß hin“, wandte Eva ein und sah wie Marlies ihr mit wilden Gesten andeutete, doch endlich darauf einzugehen.

„Macht nichts, dann gehen wir eben“, wischte Holger ihren Einwand fort. „Wann soll ich da sein?“

„Um fünf.“

„Fünf ist gebongt.“ Jetzt beugte er sich lächelnd ein wenig vor. „Und wo soll ich klingeln?“

„Wir treffen uns unten“, wich sie geschickt aus.

„Aber deinen Vornamen verrätst du mir doch, oder?“

„Eva-Kristina.“

„Eva-Kristina“, sagte er genüsslich als verkoste er einen edlen Wein.

„Ja. Und wer bist du?“

„Holger“, antwortete er wie aus der Pistole geschossen.

„Gut, dann bis morgen um fünf“, beendete sie das Gespräch, denn die Gruppe war bereits dabei sich zu verabschieden und sie fühlte sich irgendwie unbehaglich bei dem Gedanken, jetzt mit Marlies und Holger oder vielleicht sogar nur mit Holger alleine hier zurückzubleiben.

„Wie? Ich dachte, wir bleiben noch ein bisschen.“

„Bis morgen. – Ich muss noch Mathe machen.“

„Ach so.“ Er ließ fast theatralisch die Schultern hängen. Doch sofort schien er neue Lebensgeister in sich geweckt zu haben. „Dann bringe ich dich jetzt nach Hause.“

„Dann los“, sagte Marlies schnell, bevor Eva etwas erwidern konnte.

Also brachte er sie bis zur Haustür, des Mehrfamilienhauses und studierte die Klingelschildchen.

„Dann werde ich morgen um fünf genau hier sein“, sagte er und grinste.

Doch Eva-Kristina ließ sich davon nicht beeindrucken, sondern schloss die Tür auf, ließ Marlies eintreten. Dann ging sie mit einem „Tschüssi“ ebenfalls hinein.

„Bis morgen!“, rief Holger noch, dann krachte die mit einem Schließer ausgerüstete Tür ins Schloss.

Holger hielt tatsächlich Wort und er wartete sogar vor der Tanzschule, um sie danach noch auf ein Eis einzuladen, was Eva nach kurzem Zögern annahm. Sie sagte sogar zu, ihn am folgenden Tag zu treffen, lehnte ein Treffen am Samstag jedoch vehement ab, weil an jenem Abend traditionell die Tanzveranstaltungen in der Tanzschule stattfanden, die ihr mehr bedeuteten als fast alles andere auf der Welt. Da er dem Tanzen, noch nicht einmal einem Disco-Besuch etwas abgewinnen konnte, gingen sie auch danach an jenen Tagen getrennte Wege.

Sie zu den Stunden zu bringen und sie danach abzuholen, abzufangen, wie sie es später formulierte, ließ er sich jedoch nicht nehmen.

Nur langsam kamen sie sich wirklich näher, aber Holger schien tatsächlich die Geduld im Übermaß zu haben, die sie bei ihrem ersten Abenteuer auch nicht im Ansatz hatte erleben dürfen. So genoss sie tatsächlich alsbald die gemeinsamen Ausflüge per Rad in die Stadt oder ins Umland.

Erst als er sie zu sich nach Hause einlud, meldete sich ihre Zurückhaltung. Trotzdem nahm sie an, weil sie auch wissen wollte, wie seine eigene Wohnung wohl eingerichtet sein mochte. Immerhin war er bereits volljährig und hatte seine Lehre abgeschlossen. Was immer sie auch erwartet hatte, sie war überrascht, wie einfach alles gehalten war und doch zugegebenermaßen seinen Zweck erfüllte.

Auch bei diesen Besuchen blieb er wider Erwarten zurückhaltend und es dauerte tatsächlich eine ganze Weile, bis er es wagte, ihr beim Abschied einen kleinen Kuss zu geben. Ob von ihrer Reaktion oder selbst empfundenen Mut angespornt, wurde das fast zum Ritual.

Sobald das dann auch auf die Begrüßung ausgeweitet wurde, dauerte es nicht lange und der Begrüßungskuss wurde zunehmend leidenschaftlicher. Damit einhergehend wurde er auch ungestümer mit seinen Händen, um sie auch zu jenen Körperstellen wandern zu lassen, die am Anfang tabu gewesen waren.

Irgendwann und nun erschien es ihr schon fast als zu sehr her-ausgezögert, begann er seine Hände auch unter ihre Kleidung auf Wanderschaft zu schicken. Der Moment, in dem sie begannen sich einzelne Kleidungsstücke auszuziehen bis sie sich dann ihrer Leidenschaft hemmungslos hingaben, verging dagegen in Windeseile.

Vielleicht lag es daran, dass sie selbst, wenn auch nur in jenem Moment quasi die Führung übernommen hatte. Denn sie wusste aus ihren Gesprächen, dass es für ihn das erste Mal war und dass er Angst hatte, es zu „verbocken“, wie er sich ausdrückte.

Von da an verliefen ihre Treffen anders als alle zuvor. Er wurde ungestümer, was ihr nichts ausmachte, da sie sich darauf einstellen konnte. Er wurde aber auch ein wenig eifersüchtig und zum ersten Mal dachte sie, dass sein Aufkreuzen nach den Tanzkursen eher davon getrieben war.

Doch noch war die Welt in Ordnung und sie begannen sogar ein wenig übermütig zu werden. Ja, übermütig. Auch später fiel ihr kein passenderer Ausdruck für das ein, was sie sich da ausgedacht hatten, um ihr Liebesspiel interessanter und aufregender zu gestalten. Selbst vor der Hingabe im Ruderboot mitten auf dem See, den Blicken eventueller Beobachter am Ufer nur durch die niedrigen Bordwände entzogen, schreckten sie nicht zurück.

Aufregend war dieses Abenteuer durchaus, wenn auch mehr in der Lesart, dass sie ständig Angst hatte, das Boot könne umschlagen. Dann hätte sie ihre Sachen im Wasser, das sicherlich nicht besonders warm war, zusammensuchen müssen, um nicht auch noch nackt durch die Stadt nach Hause zu gehen.

Doch wie so häufig kehrte auch bei ihnen der Alltag ein und Eva-Kristina entdeckte ganz neue Eigenschaften bei Holger. Immer öfter bestand, nein, beharrte er darauf recht zu haben und pflegte dann laut zu toben, wenn sie nicht gleich nachgab.

Instinktiv zog sie sich ein wenig zurück. An einen Einzug in seine Wohnung war, sofern ihre Eltern überhaupt jemals ihre Einwilligung dazu gegeben hätten, nicht mehr zu denken.

Ja, er konnte nach wie vor sehr liebevoll, aufmerksam und zuvorkommend sein. Doch zunehmend fühlte sie sich überwacht, kontrolliert, eingeengt. Anfangs waren seine Anrufe, die sie sehr bald täglich ereilten, durchaus noch amüsant und sie dachte, dass er sich um sie sorgte. Doch wenn sie ihm mitteilte, dass sie sich nicht sehen könnten, weil sie zu Hause ihren Pflichten im Haushalt nachzukommen hatte, gab er ihr seine Sicht der Dinge kund. Vielleicht war das als ein Geben von Ratschlägen gemeint, aber auf sie machte es nach und nach eher den Eindruck als gängele er sie.

Als er sich in diesen Angelegenheiten sogar einmal lautstark gegen ihre Eltern stellte, sagte ihr Vater ihr nur: „Ich weiß, es nutzt nichts, wenn ich dir den Umgang mit diesem Bengel verbiete. Ihr hockt ja dann nur woanders zusammen. Aber ich habe ihm bereits mitgeteilt, dass er hier nicht mehr aufzukreuzen hat. Sollte er das nicht beherzigen, dann wird er erfahren, was es heißt volljährig im Sinne des Strafgesetzbuches zu sein.“

„Hausverbot?“, brüllte er verächtlich als sie ihn darauf ansprach.

„Von mir aus! Dann hole ich dich eben da raus. – Prinzessinnen wurden ja auch schon früher aus den Fängen von Drachen befreit.“

Auch wenn ihr der Vergleich schmeichelte, so fühlte sie sich nicht wohl bei der Sache und bat ihn einfach fernzubleiben. „Wir werden schon einen Weg finden“, bekräftigte sie, als er sich darüber aufregen wollte. Denn einfach klein beigeben und einzugestehen, dass ihre Eltern recht haben könnten ihre Beziehung zu missbilligen, nein, das kam für sie nicht infrage.

Seine Telefonate erfolgten jetzt täglich, vornehmlich zu Zeiten, in denen ihre Eltern noch außer Haus waren. Es wurde ihr aber langsam unangenehm und sie begann Antworten zu erfinden, die zumindest bewirkten, dass er sich nicht echauffierte. Das machte am Anfang sogar Spaß, weil sie ihn damit ein wenig an der Nase herumführte, aber mit der Zeit wurde es anstrengend.

„Ich komme mit“, verkündete er dann als sie ihm von der Klassenfahrt in die Normandie erzählte. „Wenn ihr dort eh im Zelt übernachtet, können wir uns ja ein Zelt teilen.“

„Sag‘ mal spinnst du? Das ist eine Klassenfahrt.“

„Na und?“

„Nein, das will ich nicht.“

„Aber ich!“, ereiferte er sich.

„Außerdem werden die Plätze in den Zelten vergeben und wir sind mindestens zu viert in einem Zelt.“

„Egal. Dann bringe ich eben mein eigenes Zelt mit und du schläfst bei mir.“

„Nein.“

„Doch. Du bist meine Freundin.“

„Ja und?“

„Dann kann ich doch wohl bestimmen, dass du bei mir im Zelt übernachtest!“, brüllte er. „Oder hat dein Papi was dagegen?“, fügte er spöttelnd hinzu. „Den Zeltplatz kann er mir ja nicht verbieten.“

„Nein.“

„Was nein?“

„Nein, ich will das nicht. Außerdem ist mir das peinlich.“

„Ich bin dir peinlich?“, brauste er auf.

„Nein, aber das ist so, als wäre ich ein kleines Kind, das man nicht allein lassen kann.“

„Haha. Von wegen. Die anderen in deiner Klasse warten doch bestimmt nur darauf, dass ich mal nicht da bin.“

„Holger!“

„Ja was denn?“

Sie bebte vor Zorn und wusste nicht mehr was sie sagen sollte.

Dann drehte sie sich um, griff nach ihrer Jacke und ihrer Tasche.

„Weißt du was?“ Ihr Ton war so ruhig, dass es sie selbst überraschte. „Mach doch was du willst.“ Damit ging sie stracks zur Tür, öffnete sie und verschwand mit einem „Tschüss“.

Er kam zur Tür gehastet, die sie bereits hinter sich geschlossen hatte und riss sie auf. „Und ich werde da sein!“, brüllte er durch den Hausflur.

Da sie nichts erwiderte, sondern in Windeseile die Treppen hinabsauste, blieb ihm nichts anderes übrig, als die Tür verärgert ins Schloss zu werfen.

Er hielt auch in diesem Fall, leider, Wort. Kaum hatten sie begonnen ihre Zelte aufzubauen, als sie meinte vor Scham im Boden zu versinken, denn sie hatte seinen hellblauen Ford in der Einfahrt gesehen. Schnell konzentrierte sie sich darauf ihren Klassenkameradinnen beim Aufbau des Zelts zu helfen.

Noch ehe sie es dann komplett eingeräumt hatten, stand er bereits am Eingang. Er grinste zufrieden.

„Hallo Kleines“, sagte er so laut, dass auch die anderen aufhorchten. „Bei mir drüben ist mehr Platz. Du kannst jetzt zu mir rüberkommen.“

Aber noch ehe sie antworten konnte, hörte sie die Stimme ihres Klassenlehrers Lutz Martens: „Junger Mann, sie sind nicht in dieser Klasse. Daher fordere ich sie auf, sich von den Zelten, vor allem von denen, die den jungen Damen vorbehalten sind, fernzuhalten.“

Holger sah ihn nur abschätzig an. „Aha“, sagte er nur.

Eva-Kristina befürchtete, dass er jetzt wieder genauso unverschämt sein würde wie er es bei ihren Eltern gewesen war. „Ich komme nachher zu dir rüber“, sagte sie daher rasch.

„Gut dann bis nachher“, erwiderte Holger und ließ das Abspannseil los, das er vorhin gegriffen hatte, als wolle er sich daran festhalten. Dann wandte er sich ab und ging davon, ohne Lutz Martens noch eines Blickes zu würdigen.

„Eva“, hörte sie seine sonore Stimme, „das werde ich nicht dulden.“

„Ich weiß, Herr Martens. Ich gehe gleich nur kurz rüber, um ihm…“

„Nein, das wirst du nicht. Es gibt keine Sonderregeln, auch für dich nicht, Eva. Wenn er sich nicht fernhält werde ich dafür sorgen, dass es andere tun. – Verstanden?“

„J…ja.“

„Gut.“

Natürlich hatte sie sich heimlich hinübergeschlichen, um ihn inständig zu bitten ihr weitere Peinlichkeiten zu ersparen. Doch es schien nichts zu nützen, denn bei den Ausflügen folgte er ihnen stets in Sichtweite, was natürlich auch Lutz Martens nicht entging.

„Eva, ich bin wirklich nicht sehr amüsiert“, gab er ihr klar zu verstehen. „Anscheinend nimmt er meine Warnung nicht sehr ernst.“

„Doch bestimmt, Herr Martens. Es ist mir ja auch irgendwie… Also ich find’s auch nicht gut.“

„Na, dann sind wir uns ja wenigstens in dem Punkt einig.“

„Ja.“

Er nickte noch kurz und ging dann zu einer nachfolgenden Gruppe. „Aufschließen! Nicht trödeln!“, hörte sie ihn rufen. Dann blieb er hinten im Tross, was Holger deutlich auf Abstand hielt.

Doch am Abend, beim Lagerfeuer, spürte Eva plötzlich, wie zwei Hände ihre Taille umfassten. Sie zuckte zusammen und wollte vor Schreck aufschreien, doch schnell verschloss er mit einem Kuss ihren Mund und zog sie aus dem Feuerkreis ins Dunkel zwischen den Zelten.

„Spinnst du?“, herrschte sie ihn an. „Wenn er dich hier erwischt, dann bin ich auch dran.“

„Ach was. Das kann er doch gar nicht.“ Damit zog er sie wieder an sich und küsste sie. Doch sie entwand sich seiner Umarmung.

„Holger, ich hab Angst.“

„Kleines. Alles ist gut.“

„Nein, ist es nicht“, sagte sie zornig, drehte sich um und ging zum Feuer zurück. Diesmal setzte sie sich so hin, dass sie nicht in der hintersten Reihe war und es schien zu klappen. Denn als sie sich einmal insgeheim umsah, erblickte sie sein vom fahlen Licht des Feuerscheins beschienenes Gesicht in der Nähe ihres Zeltes, wo er sie sicherlich abfangen wollte. Daher schloss sie sich ihren Klassenkameradinnen an und sie gingen gemeinsam, nachdem Lutz Martens den Abend für beendet erklärt hatte, zur Waschbaracke und dann in ihr Zelt.

Am nächsten Morgen wunderten sich wahrscheinlich alle, weshalb es nicht genauso pünktlich losging wie an den Tagen zuvor. Lutz Martens besprach sich mit dem Busfahrer, was ebenfalls recht ungewöhnlich war.

Plötzlich bog ein Wagen der örtlichen Gendarmerie in die Einfahrt ein und hielt vor dem Verwaltungsgebäude. Sie sahen wie zwei Polizisten ausstiegen und auf das Gebäude zugingen, aus dem, heftig gestikulierend, der Verwalter gestürmt kam und sofort in ihre Richtung deutete. Daraufhin setzten sich die zwei Beamten in Bewegung und kamen auf sie zu, was natürlich sofort zu den wildesten Spekulationen Anlass gab. Doch die beiden gingen an der Zeltgruppe vorbei und auf Holger zu, den sie dann direkt ansprachen.

„Einsteigen!“, rief Lutz Martens plötzlich. „Wir fahren sofort ab, denn wir sind schon spät dran.“

Alle stürmten in den Bus, um die besten Plätze zu ergattern. Sobald der letzte von ihnen eingestiegen war, setzte sich der Bus in Bewegung und Herr Martens erklärte der Klasse, dass er eine spontane Änderung des Programms beschlossen habe und daher die beiden geplanten Ausflüge in umgekehrter Reihenfolge stattfanden.

Den meisten war dies egal, nur Eva spürte ein unerklärliches Gefühl der Erleichterung. Wenn sie das richtig beobachtet hatte, würden die Polizisten Holger mit ihrer Befragung eine gute Zeitlang festhalten und er würde ihr heute nicht hinterhergefahren kommen. Als habe Lutz Martens ihr das am Gesichtsausdruck abgelesen, nickte er kurz verständig in ihre Richtung und setzte sich dann vorne in die erste Reihe.

Es wurde ein schöner Tag und sie sah Holger erst wieder, als sie am Abend so unvorsichtig war allein vom Toilettengang zurückzugehen.

„Was war das denn heute für eine Nummer?“, fragte er zornig und fasste sie ziemlich grob am Arm. „Erst stellen mir diese zwei Hampelmänner tausend Fragen und erklären mir auf Französisch oder was das war, irgendwas von Gesetz und Frankreich und dann seid ihr plötzlich weg und selbst da wo ihr hin wolltet habe ich dich nicht gesehen.“

„Lass mich los, du tust mir weh“, sagte sie verärgert. „Wir sind heute woandershin gefahren.“

„Ach und das konntest du mir vorher nicht sagen, wie?“

„Nein.“

„Nein?“

„Nein. Er hat es uns auch erst im Bus gesagt.“

„Ach so ist das.“ Er ballte die Fäuste bis seine Knöchel weiß hervortraten. „Na von mir aus. Jeden Tag kann er die Kerle ja nicht herlocken.“

Natürlich wollte er dann noch wissen, mit wem sie sich unterhalten hatte und worüber, vor allem ob sie sich auch mit anderen Jungs unterhalten hatte.“

Wieder ertappte sie sich dabei, dass sie ihn mit erfundenen Antworten zufriedenstellte, weil sie keine Lust mehr auf seine Nörgeleien hatte. Dann, auf einen Hinweis von ihr, dass es auffiele, wenn sie noch länger weg wäre, ließ er sie zur Gruppe zurückkehren. Zum ersten Mal fühlte sie sich wie eine Gefangene.

Das änderte sich auch nicht, als sie nach der Fahrt wieder in gewohnter Umgebung war. Daher suchte sie sogar nach Möglichkeiten, wie sie öfters etwas allein unternehmen konnte, über das Tanzen hinaus. Denn das hatte sie sich bewahrt und war froh, dass er dafür noch immer nichts übrig hatte.

Bald hatte sie etwas entdeckt, das für sie ein Stück Freiheit und für ihn nichts weiter bedeutete als wieder eine jener langweiligen Dinge, die sie voneinander fern hielten. Sie hatte erfahren, dass das örtliche Tierheim jemanden suchte, der bereit war täglich einige Hunde auszuführen.

„Und das macht dir Spaß?“, hatte Holger sie gefragt.

„Ja und außerdem haben die sonst niemand, der sich um sie kümmert.“

„Hmmm. Stimmt“, gab er zu. „Du aber mal was anderes.“

„Ja?“

„Ich hab‘ mir gedacht, weil du ja bald achtzehn bist…“

Sie wusste nicht warum, aber es schnürte ihr bei diesen Worten auf einmal die Kehle zu. Eine unergründliche Angst schien von ihr Besitz zu ergreifen, obwohl er seine Ausführung noch nicht beendet hatte.

„…und wir dann endlich zusammenziehen können, da habe ich mir gedacht, dass wir uns verloben sollten.“

Zwar sah er sie mit erwartungsvoller Miene an, doch sie war nur starr vor Schreck. Anstatt der mit einem solchen Antrag üblicherweise verbundenen Freude, breitete sich in ihr nur so was wie Panik aus.

‚Au nee!‘, dachte sie. ‚Das will ich irgendwie gar nicht. Wie komme ich denn da jetzt bloß raus?‘

„Nun, was meinst du?“, hakte er nach, weil er ihr Schweigen nicht deuten konnte.

„Das…“, sie schluckte. „Das ist jetzt aber ganz schön plötzlich.“

„So? Ist es das nicht immer? Ich meine irgendwann fragt man so was doch, oder?“

„Ja, schon. – Aber das ist mir ehrlich gesagt doch noch zu früh.“

„Wie zu früh?“

„Zu früh eben. Solange kennen wir uns ja noch nicht.“

„Schon über ein Jahr“, protestierte er leicht eingeschnappt.

„Eben.“

„Wie eben?“

„Nur ein Jahr.“

„Aha und wie viele sollten es deiner Meinung nach sein?“

„Weiß ich nicht“, sie zuckte mit den Achseln und überlegte krampfhaft nach einer Antwort. Fünfhundert wäre in diesem Fall die angemessene Antwort gewesen fand sie, aber sie wollte diplomatisch sein. „Drei?“

„Drei Jahre? Dann wollte ich schon längst mit dir verheiratet sein, damit du diesen ganzen Scheiß nicht mehr machen musst.“

„Scheiß?“

„Naja, du weißt schon, da bei deinen Eltern, das Getanze und das mit den Hunden.“

„Ach so?“ Sie merkte wie der Zorn in ihr hochstieg.

„Ja.“

„Und was dann stattdessen?“, forschte sie nach.

„Ein oder zwei Kinder hüten. Dafür sorgen, dass bei uns alles tipptopp ist und so was eben.“

Irgendwie zerbrach ihre Welt in tausend Stücke. Doch sie konnte doch jetzt nicht einfach klein beigeben oder einfach aufgeben. Noch immer war die Trotzreaktion auf die Ablehnung Holgers seitens ihrer Eltern stärker. Ihnen wollte sie den Triumph, im Recht gewesen zu sein, nicht gönnen. Dennoch war sie für den von Holger vorgeschlagenen Schritt nicht bereit.

„Aber jetzt noch nicht.“

Er sah sie an, stockte, hob seine Hände und sagte beleidigt: „Ist ja schon gut. Ich dachte du freust dich.“

„Ich muss nach Hause.“

„Warum?“

„Weil es schon spät ist.“

„Es ist doch gerade mal sieben.“

„Ja und? Trotzdem.“

„Willst du noch irgendwo hin?“

„Nein.“

„Nein?“

„Nur nach Hause.“

„So früh?“

„Ja.“

„Kleine, das kannst du mir doch nicht erzählen.“

„Wieso?“

„Weil das Dummquatsch ist.“

„Ist es nicht.“

„Doch!“ Er wurde laut.

„Ich gehe jetzt.“ Sie stand auf, aber er hielt sie am Handgelenk fest.

Zornig sah sie ihn an, sagte aber keinen Ton. –

Zögerlich ließ er sie dann los. „Also guuut, wenn du meinst.

Dann bringe ich dich eben nach Hause.“

„Brauchst du nicht.“

„Doch. Damit ich auch weiß, dass du dort ankommst.“

„Ich werde mich schon nicht verlaufen.“

„Das meine ich auch nicht. – Ich werde dich fahren und gut ist’s.“

Sie wollte erneut widersprechen, aber sie resignierte. „Also gut, wenn du unbedingt willst. Dann komm.“

„Wenn wir fahren, sind wir schneller. Dann kannst du noch einen Moment bleiben.“

Ohne weiter zu antworten drehte sie sich um und ging zur Tür.

„Heh! Warte!“

„Ich muss los“, sagte sie nur und ging ohne sich weiter um ihn zu stören durch die Tür.

Ja, sie ging nach Hause, aber warum musste sie sich deswegen rechtfertigen? War das normal in einer guten Beziehung? Nein, das konnte sie sich nicht vorstellen.

Trotzdem hielt sie daran fest, schon um sich zu beweisen, dass sie es hinbekommen könnte. Ja und auch, weil sie ein Zerbrechen der Beziehung als persönliche Niederlage angesehen hätte. Das änderte sich auch dann nicht als selbst Marlies ihr ohne Umschweife sagte, dass sie eine solche Beziehung schon längst beendet hätte.

Es ging ein weiteres Jahr ins Land. Ein gemeinsamer Urlaub brachte ihr keinerlei Klarheit und auch danach ging alles so weiter. Nur hatte sie den Eindruck, sie müsse über jede Minute, die sie nicht miteinander verbrachten berichten. Daher kam es mal wieder zu einem Streit, der sie verzweifeln ließ.

Auch am Folgetag, an dem sie wieder einige Hunde durch den Stadtpark führte, hallte dieser Streit in ihr nach. Vielleicht war es das oder das Zusammentreffen vieler Umstände, das zum Unglück führte. Der Hund, den sie heute an der Leine führte, ein Jagdhund, war alles andere als zahm und durch eine unbedachte Armbewegung fühlte sich das Tier offensichtlich bedroht und griff sie an.

Nur der beherzten Hilfe eines Soldaten, der sich auf dem Heimweg von der nahegelegenen Kaserne befand, war es zu verdanken, dass der Hund nicht noch mehr als ihre Unterarme und ihre linke Gesichtshälfte zerfleischte. Im Krankenhaus hatte man ihr später gesagt, dass nicht mehr viel gefehlt habe und ihre Halsschlagader wäre durchtrennt worden. Wie sehr sie zugerichtet worden war, davon sprachen sie nicht.

Da lag sie nun, mit bandagierten Armen und Kopf, beinahe bewegungsunfähig und zum Nichtstun oder zum Nachdenken verdammt. So sann sie darüber nach, was sie falsch gemacht hatte. Erst bezog sich das auf den Umgang mit dem Tier, aber schon bald dehnte sie die Frage auf ihr Leben, auf ihre Beziehung zu Holger aus.