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Chris und Katja lernen sich bei einem aberwitzigen Banküberfall kennen. In einem Restaurant auf Torfhaus treffen sie zufällig auf die Täter. Als Zeugen geraten sie in das Fadenkreuz der Bande, und eine mörderische Hetzjagd quer über den Harz beginnt. Die eingerichtete Sonderkommission unter Leitung von Hauptkommissar Brauer und seinem Assistenten Steffen Richter steht unter erheblichem Ermittlungsdruck. Es gibt kaum verwertbare Spuren und die Täterbeschreibungen sind mehr als widersprüchlich. Doch nicht nur die Kriminellen machen Brauer das Leben schwer, auch sein berufliches Umfeld und sogar Familienmitglieder tragen dazu bei.
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Seitenzahl: 387
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Hans-Joachim Wildner
Endstation Brocken
Endstation Brocken
ISBN 978-3-943403-78-7
ePub Version V1.0 (05-2017)
© 2017 by Hans-Joachim Wildner
Cover (Front) © freie kreation #591873776 | shutterstock.com
Cover (Back) © Pexels | pixabay.com
Autorenporträt © Ania Schulz | as-fotografie.com
Lektorat & DTP:
Sascha Exner
Druck:
TZ - Verlag & Print, Roßdorf
Verlag:
EPV Elektronik-Praktiker-Verlagsgesellschaft mbH
Postfach 1163 · D-37104 Duderstadt
Fon: +49 (0)5527/8405-0 · Fax: +49 (0)5527/8405-21
Web: www.harzkrimis.de · E-Mail: [email protected]
Inhaltsverzeichnis
Innentitel
Impressum
Bad Lauterberg - Mittwoch, 16.09.2015
Zwischen Scharzfeld und Pöhlde - Mittwoch, 16.09.2015
Bad Lauterberg - Donnerstag, 17.09.2015
Bad Lauterberg - Freitag, 18.09.2015
Flugplatz Hattorf - Samstag, 19.09.2015
Torfhaus - Sonntag, 20.09.2015
Polizeiinspektion Northeim - Montag, 21.09.2015
Harlingerode - Montag, 21.09.2015
Auf dem Magdeburger Weg bei Torfhaus - Montag, 21.09.2015
Clausthal-Zellerfeld - Donnerstag, 24.09.2015
Polizeiinspektion Northeim - Freitag, 25.09.2015
Robert-Koch-Krankenhaus, Clausthal-Zellerfeld - Samstag, 26.09.2015
Osterode - Montag, 28.09.2015
Bad Lauterberg - Freitag, 02.10.2015
Herzberg - Freitag, 02.10.2015
Seesen - Freitag, 02.10.2015
Seesen - Samstag, 03.10.2015
Auf dem Magdeburger Weg bei Torfhaus - Samstag, 03.10.2015
Flugplatz Hattorf - Samstag, 03.10.2015
Seesen - Samstag, 03.10.2015
Rehberg-Klinik, St. Andreasberg - Samstag, 03.10.2015
Zwischen Braunlage und Oderhaus - Samstag, 03.10.2015 (spätabends)
Polizeiinspektion Northeim - Montag, 05.10.2015
Seesen - Dienstag, 06.10.2015
Herzberg - Mittwoch, 07.10.2015 (abends)
Polizeiinspektion Northeim - Donnerstag, 08.10.2015
Goslar - Donnerstag, 08.10.2015
Bad Lauterberg - Freitag, 09.10.2015
Goslar - Freitag, 09.10.2015
Hörden - Freitag, 09.10.2015 (abends)
Duderstadt - Samstag, 10.10.2015
Clausthal-Zellerfeld - Samstag, 10.10.2015
Duderstadt - Samstag, 10.10.2015
Bad Lauterberg - Samstag, 10.10.2015
Harlingerode und Brocken - Samstag, 10.10.2015
Seesen - Samstag, 03.10.2015
Herzberg - Sonntag, 11.10.2015
Polizeiinspektion Northeim - Montag, 12.10.2015
Bad Lauterberg - zwei Wochen später
Danksagung
Über den Autor
Über den Harzkrimi
Harzkrimi-Tipp 1
Harzkrimi-Tipp 2
Harzkrimi-Tipp 3
Harzkrimi-Tipp 4
Mit dem Überweisungsformular in der Hand betrat Chris die Bank. Der Schalterraum strahlte wie gewohnt Ruhe aus. Vor dem Geldautomaten stand eine ältere Frau und hinter der Wartelinie noch zwei andere Personen. Voraus, an einem der Stehpulte, wartete ein junger Mann im dunklen Anzug und braver Krawatte auf Kundschaft. »Guten Tag«, begrüßte er Chris mit einem aufblitzenden Lächeln. Chris ging geradewegs auf ihn zu und gab ihm das Überweisungsformular des Bußgeldbescheides. Auf der Schnellstraße, kurz vor Scharzfeld, hatten sie ihn vor einigen Tagen geblitzt. Der Mann hinter dem Schreibpult sah flüchtig drüber und sagte: »Danke! Wird erledigt.« Seine Mundwinkel verrieten ein hintergründiges Grinsen, so, als wenn er schadenfroh dachte: »Na, haben sie dich erwischt?«
Am Pult nebenan bemerkte Chris eine Frau so um die dreißig, die mit der Angestellten redete. Er konnte zwar ihr Gesicht nicht sehen, spürte aber auf seltsame Weise ihre Gegenwart. Chris schielte heimlich zu der Frau hinüber, als er zu den Druckautomaten ging, um Kontoauszüge zu holen. Er schob die Bankkarte in den Schlitz und kurz darauf ertönte das zippende Hin und Her des Nadeldruckers. Trotz des Geräusches registrierte er, dass sich hinter ihm jemand anstellte. Er drehte sich um und sah die Frau mit der magischen Ausstrahlung dort stehen. »Es dauert nicht lange, bin sofort fertig«, sagte er. Sie lächelte nur und nickte ihm zu.
Während Chris auf seine Kontoauszüge wartete, schaute er gedankenverloren durch die Glasfassade hinaus auf den Vorplatz der Bank, wo es kurz darauf ungewohnt lebhaft wurde. Vor dem Eingang hielt ein VW-Mannschaftswagen der Polizei. Ein uniformierter Beamter und zwei maskierte Männer stiegen aus. Der Polizist zog rot-weißes Flatterband um das Eingangsportal. Das Trio betrat den Vorraum. Die Anwesenden starrten verstört auf die drei Eindringlinge. Sie trugen Latexhandschuhe, so wie sie Ärzte verwenden, fiel Chris auf. Er entnahm die Kontoauszüge und beobachtete irritiert das Geschehen.
»Niemand verlässt das Gebäude!«, befahl der Uniformierte, der eine Art Klemmbrett in der Hand hielt. Dann forderte er den Bankangestellten am Stehpult barsch auf, alle Beschäftigten aus den Büros schnellstens in die Halle zu holen. Die Kunden und Bediensteten stierten verunsichert den Polizeibeamten an. »Na los, machen Sie schon«, blaffte er den verdutzen Mann an. Zwei Mitarbeiter aus den rückwärtigen Büros hatten den Tumult offensichtlich mitbekommen und kamen mit staunenden Gesichtern heraus. Der junge Bankangestellte eilte nun in den Seitentrakt des Gebäudes und kehrte wenige Augenblicke später mit drei weiteren Kollegen zurück. Eine Frau und zwei Männer. Einer von ihnen, ebenfalls im Businessanzug gekleidet, ging zielstrebig auf den Uniformierten zu und baute sich vor ihm auf.
»Albrecht ist mein Name. Ich bin der Filialleiter«, sagte er forsch, »würden Sie mich bitte aufklären, was das hier soll?«
»Das ist eine Übung. Eine Überfallübung. Mehr kann ich Ihnen im Augenblick nicht sagen«, erklärte der Polizist schroff. »Ihr Geschäftsführer, Herr Bruns, ist informiert«, fügte er noch hinzu.
Dann zog einer der Maskierten eine Pistole aus der Jackentasche, fuchtelte damit herum und brüllte: «Überfall. Alle auf den Boden, Gesicht nach unten. Sofort!« Keiner rührte sich von der Stelle. Der Schock und die Verunsicherung standen ihnen ins Gesicht geschrieben. Die ältere Dame , die noch am Geldautomaten stand, schrie auf.
»Sofort!«, wiederholte er brüllend, schoss in die Luft und richtete die Waffe auf die Leute. Im nächsten Moment warfen sich alle flach auf dem Boden. Der andere mit der Strickmaske ging an den Kassenschalter und forderte die Frau hinter dem Panzerglas auf, herauszukommen.
»Drücken Sie nicht den Alarmknopf!«, rief der Polizist ihr zu. »Wir sind ja schon hier.« Er machte Notizen auf dem Klemmbrett.
Der Maskierte reichte ihr eine schwarze Nylontasche und forderte sie auf, alles Geld hineinzutun, nicht nur das Kassengeld, sondern auch das aus dem Tresor.
»Aus dem Tresor kann nur der Filialleiter...«, nuschelte sie ängstlich.
»Gut, stehen Sie auf und helfen Sie der Frau«, sagte der Polizist zu dem Mann im Anzug, der am Boden lag und hochblickte. Er erhob sich und ging mit dem Maskierten in einen Nebenraum.
Chris fröstelte auf dem kalten Steinboden. Er versuchte, den Kopf zu heben, um von dem Geschehen möglichst viel mitzubekommen. Ein Überfall als Polizeiübung, das hatte er noch nie gehört. Aber war das so abwegig? Es gab doch alle Nase lang irgendwelche Übungen. Rettungsübungen, Evakuierungsübungen, Löschübungen, und weiß der Kuckuck was noch alles. Warum also nicht auch eine Überfallübung in Banken, um das Zusammenspiel mit der Polizei zu verbessern? Um so realistisch wie möglich zu sein, machte es durchaus Sinn, solche Simulationen nicht anzukündigen. Oder doch nicht? Chris hatte trotz aller Plausibilität Zweifel an seinen eigenen Überlegungen. Durch das ungewohnte Liegen drohte sein Nacken zu verkrampfen. Er drehte den Kopf auf die andere Seite. Neben ihm lag die Frau, die vorhin hinter ihm gestanden hatte, und er blickte ihr direkt in die Augen. Für einen Moment vergaß er die beängstigende Situation. Was für Augen, dachte er, so dunkelbraun, wie er sie noch nie gesehen hatte. Sie wandte ihren Blick nicht ab und hob etwas die Brauen.
»Was machen wir jetzt?«, fragte sie.
»Ich wüsste da schon etwas«, antwortete Chris mit einem Zwischenton und lächelte, »aber vorerst bleiben wir hier liegen und prägen uns möglichst viele Details von diesen Typen ein. Ich glaube nicht, dass das hier eine Übung ist.«
»Schnauze da drüben!«, brüllte einer von der Bande in einer Stimmlage, die Chris an Quasimodo erinnerte. Er kniff die Lippen zusammen.
»Viel können wir ja nicht erkennen«, flüsterte sie, ohne den Kopf zu bewegen.
»Doch«, widersprach Chris, »Schuhe, Kleidung, Sprache, so was alles.«
»Schneller, das muss schneller gehen«, rief der Polizist, »das ist ein Überfall und keine Spendensammlung.«
Im Hintergrund waren nur Gewusel und tappende Schritte zu hören. Er konnte aus dem Augenwinkel erkennen, wie der Filialleiter mit dem vermeintlichen Bankräuber zurückkam. Die Tasche war prall gefüllt. Wieviel Geld das wohl sein mag, überlegte Chris.
Die junge Frau und er lagen sich noch immer gegenüber. Ihren sinnlichen Augen konnte er sich nicht entziehen. Ihr Blick schien ihn herauszufordern.
»Haben Sie heute noch etwas vor?«, flüsterte er ihr zu. Sie hob scheinbar missbilligend die Brauen ein Stück. Mann bin ich blöd, rügte er sich augenblicklich selbst. Das ist jetzt wirklich nicht der Zeitpunkt für eine plumpe Anmache, ging es ihm durch den Kopf.
»Ja, ich möchte heile hier rauskommen«, antwortete sie leise. Chris fiel ein Stein vom Herzen, er hatte eine saftige Abfuhr erwartet.
»Oh!«, erwiderte er, »dann haben wir ja etwas gemeinsam. Wenn das kein Zeichen ist.«
Sie formte ihre Augen zu Schlitzen. »Flirten Sie etwa jetzt mit mir?«, beschwerte sie sich und drehte ihren Kopf auf die andere Seite. Er war wohl doch zu weit gegangen.
»Ich hab Schnauze gesagt!«, brüllte der mit der heiseren Stimme dazwischen. Chris drückte sich fester auf den Boden und lauschte. Er hörte es rascheln und ein Geräusch, das wie ein Reißverschluss klang, der zugezogen wird. Chris blinzelte seitlich nach oben und konnte es kaum glauben. Die beiden Männer nahmen ihre Masken herunter und lächelten sich zufrieden zu.
»So, meine Damen und Herren, Sie können jetzt wieder aufstehen«, sagte der Polizeibeamte und fügte hinzu: »Vielen Dank, dass Sie mitgemacht haben.« Danach wandte er sich an den Filialleiter und erklärte kurz: »Das Geld übergeben wir Herrn Bruns, so haben wir es mit ihm vereinbart.« Er machte noch rasch ein paar Notizen auf seinem Klemmbrettzettel, dann gingen die Männer zur Tür, schauten sich nochmals um und verließen das Gebäude. Draußen rissen sie das Flatterband ab und fuhren, ohne es besonders eilig zu haben, mit dem Polizeiwagen davon.
Zögerlich räkelten sich die am Boden Liegenden wieder auf die Beine, streckten sich die Verspannung aus den Gliedern und strichen ihre Kleidung glatt. Chris reichte der Frau neben sich, die jetzt auf dem Fußboden saß, seine Hand. Sie fasste zu und zog sich daran hoch. Nun ging er zu der älteren Dame, die noch vor dem Geldautomaten lag und vergeblich versuchte, aufzustehen. Er griff ihr unter die Arme. Stöhnend richtete sie sich auf und blieb gekrümmt stehen. Sie jammerte leise. »Ist alles in Ordnung?«, fragte Chris und stützte sie. Die hübsche Frau kam dazu. »Ich bin Ärztin. Haben Sie sich verletzt?«, fragte sie. »Nein, nein. Nur mein Rücken. Es geht gleich wieder«, antwortete die ältere Frau mit weinerlicher Stimme.
Chris hatte die Männer, so gut es aus der Bodenperspektive möglich war, beobachtet, und legte sich in Gedanken vorsorglich eine Täterbeschreibung zurecht: Der Polizeibeamte musste ungefähr einsachtzig groß sein, leicht übergewichtig, hatte eine Halbglatze mit kurz geschnittenem Haarkranz und trug eine Nickelbrille. Über der linken Augenbraue war eine markante Narbe zu sehen. Er sprach akzentuiert und klar in tiefer Tonlage und mochte etwa Ende vierzig sein.
Der Bewaffnete war Mitte dreißig, größer als die beiden anderen, schlank, aber kräftig gebaut. Auffällig war seine pickelige, vernarbte Gesichtshaut gewesen, und zusammen mit den strähnigen Haaren passte er eher in das stereotype Gaunerbild. Seine Stimme klang rauchig heiser.
Den mit der Tasche schätzte Chris auf einsfünfundsiebzig. Er war schmächtig, fast schon feminin, und dieser Eindruck wurde noch durch seine geschmeidigen Bewegungen verstärkt. Vielleicht ist er schwul, mutmaßte Chris und musste darüber grinsen. Ein dünner Oberlippenbart und die randlose Brille verliehen ihm in der Uniform eine verhaltene Autorität.
Chris blickte zur Decke und fand das Einschussloch. Eine Übung mit scharfer Munition? Die haben uns verarscht, war er sich jetzt sicher, und sein Pulsschlag wurde heftiger, angesichts der Gefahr, die ihm mit einem Mal bewusst wurde.
Herr Albrecht blickte sich um, wie jemand, der die versteckte Kamera aus der Fernsehserie »Verstehen sie Spaß« suchte. Er schüttelte gemächlich den Kopf und hob die Schultern an. Seine Augen verrieten Ratlosigkeit. Dann strich er sich mit beiden Händen übers Gesicht und wischte sich die Augen.
»Ich hoffe, dass sich sonst niemand von Ihnen wehgetan oder verletzt hat«, sagte er fürsorglich. Die Leute sahen sich gegenseitig an. Schließlich wandte er sich der älteren Dame zu: »Geht’s wieder? Tut mir leid.«
Sie rückte ihre Brille zurecht. »Ja, ja, es geht schon wieder. Danke«, versicherte sie. Die Ärztin bat um einen Stuhl für die Frau.
»Gut«, meinte Herr Albrecht. »Aber bitte bleiben Sie alle noch einen Augenblick hier. Ich möchte mich erst bei der Geschäftsleitung rückversichern, ob sie tatsächlich darüber informiert gewesen war.« Er zog ein Handy aus der Innentasche seiner Anzugjacke, strich über das Display und tippte auf die Anzeige. Dann hielt er das Smartphone ans Ohr und lief vor den Leuten auf und ab, bis er abrupt stehen blieb.
»Ja? Herr Bruns? Albrecht hier. Entschuldigen Sie bitte, aber wir hatten hier soeben eine Übung. Wissen Sie davon?« Er hörte einen Moment seinem Gesprächspartner zu, bis sich seine Miene verhärtete. »Eine Überfallübung der Polizei.« Kurze Pause. »Ja, ein Polizeibeamter war dabei.« Ein paar Sekunden später antwortete er: »Ja, einer war bewaffnet. Sie haben das Bargeld mitgenommen.« Er wechselte hastig das Handy an das andere Ohr und sprach weiter: »Sie haben uns versichert, es bei Ihnen abzuliefern.« Wieder lauschte er eine Weile. »Ist gut. Ich warte.« Er drückte das Gespräch weg und behielt das Smartphone in der Hand.
»Mein Chef weiß nichts von einer Übung, aber er will sich bei der Polizei erkundigen und ruft gleich zurück«, informierte er die gespannt wartenden Mitarbeiter und Kunden. Wieder ging er hin und her. Dann piepte sein Telefon. Er riss es ans Ohr.
»Ja?« Alle schienen mitzulauschen. Chris beobachtete, wie Albrecht langsam kreidebleich wurde. Ohne zu antworten drückte er die Verbindung nach einigen Sekunden weg. Er sah die Leute an und schüttelte den Kopf.
»Wir sind reingelegt worden«, sagte er kleinlaut, »die echte Polizei ist unterwegs. Bitte bleiben Sie noch hier.« Er zeigte auf einen Wasserspender an der Wand. »Und bedienen Sie sich.«
»Ich dachte, das gibt’s nur im Kino«, meinte Chris zu der Ärztin, die noch neben ihm stand.
»Sowas von abgebrüht«, bemerkte sie, »zum Glück ist niemand ernstlich verletzt worden.« Sie schaute auf die ältere Dame neben sich auf dem Stuhl, die sich offensichtlich wieder erholt hatte.
»Ich würde gern noch einmal an unser Gespräch von vorhin anknüpfen«, versuchte Chris mit ihr ins Gespräch zu kommen, um die Wartezeit zu überbrücken.
»Warum?« Sie schaute ihn skeptisch an. Erst jetzt bemerkte er, wie bezaubernd sie aussah mit ihren dunklen, kurzgeschnittenen Haaren und dem schmalen Mund. An den Ohrläppchen trug sie Clips mit Halbperlen und um ihren Hals schmiegte sich eine silberne Kette.
»Na ja, ich dachte, wenn man eine Weile, sozusagen als Geiseln, zusammen auf dem Fußboden einer Bank herumliegt, das verbindet doch. Meinen Sie nicht?«, erklärte er.
»Nicht zwangsläufig«, erwiderte sie lapidar.
»Meine ich schon«, widersprach er, »über dieses Abenteuer erzählen Sie später noch Ihren Enkelkindern zur Gute-Nacht. Und die werden bestimmt fragen, wie der Onkel hieß, der mit ihrer Oma am Boden gelegen hatte.« Er reichte ihr die Hand. »Ich bin Chris – Christoph Rohde.«
»Katja Meinhard«, sagte sie und ergriff seine Hand. Ihre Augen strahlten etwas und ein verstecktes Lächeln flog über ihr Gesicht.
»Freut mich, Sie kennenzulernen«, lächelte Chris. Sie lächelte förmlich zurück. »Vielleicht sollten wir...« Er sprach nicht weiter, weil das Heulen der Martinshörner das Gespräch übertönte. Ein Polizeiauto und ein Rettungswagen mit Notarzt fuhren vor. Blaulichter blitzten durcheinander. Die Signalhörner verstummten, Türen wurden aufgerissen und zugeschlagen. Ein Polizeibeamter mit einer Kollegin, zwei Sanitäter und der Notarzt kamen eilig herein.
»Ist jemand verletzt?«, fragte der Arzt und blickte in die Runde.
»Nein. Zum Glück nicht«, antwortete der Filialleiter, »nur die Dame dort hatte über Rückenprobleme geklagt.«
Der Arzt ging zu ihr.
Die Polizeibeamtin bat die Anwesenden, im türnahen Bereich zu warten, bis die Tatortgruppe eintreffen würde, um Spuren zu sichern. Ihr Kollege ging nach draußen, sperrte den gesamten Vorplatz mit Flatterband ab und versuchte, mit einer deutlichen Handbewegung die Passanten, die schaulustig stehen blieben, zum Weitergehen zu bewegen. Mit wenig Erfolg.
Die Polizistin stellte sich mit Martina Simon vor und fragte, ob sich jemand die Nummer des Fluchtautos gemerkt hätte. Sie bekam nur Kopfschütteln als Antwort. Wer merkt sich schon das Kennzeichen eines Polizeiautos, dachte Chris, vor allem, wenn man glaubt, es sei echt. »Es war ein VW T5«, rief einer aus der Gruppe heraus, der sich scheinbar mit Autotypen auskannte. Sie bedankte sich für die Information und gab sie durch ihr Funkgerät weiter.
Das surrende Geräusch der automatischen Schiebetür lenkte die Aufmerksamkeit der Wartenden auf die vier Männer, die hereinkamen und sich umschauten. Zwei von ihnen trugen weiße Overalls. Einer der Zivilbeamten, Chris schätzte ihn auf Mitte vierzig, trat vor die Gruppe. Auf den ersten Blick sah der Mann ungepflegt aus. Seine dunkelbraunen Haare zeigten keinerlei Spuren von Bürste oder Kamm. Zudem war er unrasiert. Die dunklen Bartstoppeln ließen sein kantiges Gesicht mit der schmalen Nase schmuddelig aussehen. Die Wahl seiner Kleidung hingegen vermittelte einen ordentlichen Eindruck . Er trug eine Jeans, ein blauweiß-gestreiftes Hemd und ein graues Jackett. Besonders augenfällig war die gemusterte Fliege, die seinen Hemdkragen zierte. Trotz dieser Gegensätze strahlte er Autorität aus. Er machte auf Chris den Eindruck eines Mannes, der sich nicht die Butter vom Brot nehmen lässt. »Hallo Martina«, grüßte er die Polizistin mit auffällig tiefer Stimme, gab ihr einen flüchtigen Händedruck und wandte sich der Gruppe zu.
»Mein Name ist Ralf Brauer, ich leite die Ermittlungen«, stellte er sich vor und wies mit der Hand auf den anderen Mann in Zivil. »Das ist mein Kollege Steffen Richter.« Der nickte den Anwesenden freundlich zu. Er musste so um die dreißig sein, fand Chris. Aufmerksame Augen schauten aus seinem jungenhaften Gesicht und seinen Kopf schmückten mittelblonde Haare mit akkuratem Scheitel. So, wie der aussieht, hätte er auch Model für eine Rasierwasserwerbung werden können, dachte Chris und presste seine Lippen aufeinander, um das aufkommende Grinsen zu verbergen.
»Und dies sind Polizeioberkommissar Frank Becker und Polizeihauptkommissar Matthias Nolte.« Er zeigte mit der Hand auf die beiden Männer im Overall, die so steril aussahen wie Techniker, die Satelliten montieren.
Brauer fuhr fort: »Vielen Dank, dass Sie so lange gewartet haben. Ich muss Sie leider noch um Geduld bitten, bis meine Kollegen ihre Personalien aufgenommen und Sie als Zeugen befragt haben.« Er sah in die Runde. Niemand hatte etwas einzuwenden. Dann sprach er weiter: »Damit wir schnellstens eine Fahndung einleiten können, brauche ich eine möglichst detaillierte Täter- und Hergangsbeschreibung. Wenn sich jemand dazu in der Lage sieht, würde uns das sehr helfen. Und von Ihnen, Herr Albrecht, brauche ich schnellstens die Aufnahmen ihrer Überwachungskameras.«
»Ich werde das sofort veranlassen«, sagte Albrecht eifrig und redete mit einer der Angestellten, die daraufhin im Seitenflügel verschwand.
Chris meldete sich mit einem kurzen Handzeichen. »Ich kann Ihnen einiges schildern«, bot er sich an. Die Frau vom Kassenschalter und ihr Kollege erklärten sich ebenfalls bereit.
»Das ist doch ein guter Anfang«, lobte Brauer und fragte nach den Namen.
»Okay«, meinte er zufrieden, »wir haben dann also Frau Mertz, Herrn Jakobi und Herrn Rohde. Richtig?« Die drei nickten. »Können wir Ihr Büro benutzen, Herr Albrecht?«, erkundigte sich Brauer.
»Natürlich, kein Problem«, stimmte er zu und wollte vorausgehen.
»Augenblick noch«, stoppte ihn Brauer, »ich bin gleich zurück.« Er ging nach draußen. Dort hatte sich eine Frau hinter die Absperrung gedrängelt, redete auf den Polizeibeamten ein und ließ sich nicht abweisen. Sie hatte eine Kamera in der Hand und ein Schildchen umhängen, was Chris als Presseausweis deutete. Brauer sprach mit ihr.
Chris nutzte die Unterbrechung und suchte Katja Meinhard. Sie war nirgends zu sehen. Er schaute durch die Scheiben auf den Vorplatz und sah Brauer, wie er der Reporterin das rot-weiße Absperrband hochhielt, damit sie drunter durchschlüpfen konnte. Einer der Sanitäter begleitete die ältere Frau hinaus und half ihr, in den Rettungswagen einzusteigen. Katja konnte er nicht entdecken.
»Diese Banker sind auf einen schnöden Trick reingefallen. Banküberfall-Übung. Das habe ich noch nie gehört. Zwanzig Minuten Alarmzeit haben die dadurch vergeudet. Mann, ich fass es nicht.« Brauer schüttelte den Kopf und lachte gekünstelt. Es war schon siebzehn Uhr dreißig geworden, als sie die Bank nach der Zeugenbefragung verlassen hatten. Steffen Richter, der am Steuer saß, bog in die Wissmannstraße ein und setzte die Sonnenbrille zum Schutz gegen die tiefstehende Abendsonne auf. Die Ampel der Schanzenkreuzung zeigte rot und Richter bremste den Wagen langsam ab.
»Versetz dich in die Lage des Filialleiters. Wie hättest du reagiert?«, fragte er und brachte Brauer dazu, noch einmal darüber nachzudenken. Brauer spielte an seinem Ohrläppchen, was er oft unbewusst tat, wenn er konzentriert nachdachte.
»Tja. Schwer zu sagen«, antwortete er und behielt dabei die Ampel im Auge. »Die haben es echt clever angestellt und alle in der Bank zum Narren gehalten. Die Polizeiuniform und das Polizeiauto. Wär doch unnormal, wer dabei nicht an echte Polizei denkt. Ich glaube, ich wäre auch im ersten Moment darauf reingefallen«, gab er zu und lachte kurz.
»Und dann nehmen die noch ihre Masken herunter und geben sich zu erkennen.« Steffen blickte seinen Vorgesetzten mit einem verschmitzten Lächeln an. »Grün!«, rief Brauer seinem Kollegen zu. Der junge Beamte legte einen Gang ein und gab Gas.
»Darauf kann ich mir, ehrlich gesagt, gar keinen Reim machen«, gestand Brauer nach einer Weile und stützte seinen Kopf ab. »Wenn diese neue Variante bei unseren Kunden Schule macht, werden wir bald einen Boom von Raubdelikten erleben.«
»Das hätte uns noch gefehlt, an Arbeitsmangel leiden wir ja nicht gerade.«
Sie hatten inzwischen Bad Lauterberg hinter sich gelassen und fuhren auf der Schnellstraße. Richter brachte den Dienst-Mercedes ordentlich auf Touren.
»Heh, heh, wir sind hier nicht auf dem Nürburgring, du Möchtegern-Schumi«, ermahnte ihn Ralf Brauer, »ich möchte meine Familie gern wiedersehen.«
»Das sollst du auch«, parierte Richter die Attacke gegen seinen sportlichen Fahrstil, »aber möglichst noch vor Mitternacht, wenn’s recht ist.« Er nahm etwas Gas weg. Brauer war kein Freund von flotter Fahrweise, das wusste Steffen. Er hatte es sogar schon gebracht und ihn vom Steuer gejagt, um selber weiterzufahren. »Dann setz wenigstens einen Hut auf und stell einen Wackeldackel ins Heckfenster, damit die anderen Verkehrsteilnehmer gewarnt sind«, hatte Steffen seinerzeit gefrotzelt.
»Übrigens. Was macht eigentlich deine Frau? Grüß sie mal wieder von mir«, lenkte Richter vom Thema ab.
»Elke? Danke, es geht ihr so weit gut.«
»So weit?«, fragte Steffen pointiert nach. «Besser nicht?«
»Bis auf den Zickenzoff mit Annika. Die hat ihre Pubertät mit sechzehn noch nicht überwunden und fühlt sich von ihrer Mutter permanent bevormundet. Die beiden liegen sich laufend in den Haaren. Ich hoffe, das ist bald vorbei.« Er verdrehte die Augen und verzog die Mundwinkel.
»Da musst du durch, sei stark«, meinte Steffen.
»Ach ja? Wart’s nur ab. Das steht dir alles noch bevor, du Schlaumeier.« Brauer griente ihn von der Seite an.
»Das glaube ich weniger«, meldete Richter Zweifel an.
Da sei dir mal nicht so sicher, dachte Brauer, sprach es aber nicht aus. Steffen Richter war zweiunddreißig Jahre alt und noch Single. Er schraubte lieber an seinem aufgemotzten Opel Astra herum, als Frauen auszuführen, obwohl er ein ausgesprochener Frauentyp war. Ein »Schönling«, wie Ina, die Schreibkraft im Kommissariat, ihn anfangs nannte. Steffen und Ina fanden immer einen Grund, sich wie Hund und Katze zu kabbeln. Brauer musste so manches Mal dazwischenfunken, um sie zur Vernunft zu bringen. Dabei war es seinem kriminalistischen Gespür nicht entgangen, dass in ihren Wortgefechten ein sanfter Zwischenton lag. Brauer hatte Steffen nur ein einziges Mal mit einem Mädchen gesehen. Es war in Hörden, wo Richter wohnte, auf dem Oktoberfest im Eulenhof. Danach nie wieder.
Eigenartig fand er das schon. So ein schnittiger Bursche ohne feste Beziehung, aber er würde sicher diese Lücke in Steffens Persönlichkeitsprofil noch ergründen. Steffen war ein talentierter Polizeibeamter. Brauer schätzte den Scharfsinn und die engagierte Arbeitsweise seines jungen Kollegen. Da hatte er schon ganz andere Kameraden unter seinen Fittichen gehabt.
»Was macht Patrick eigentlich, er müsste doch jetzt mit der Schule fertig sein«, erkundigte sich Richter nach Brauers Sohn.
»Ist er auch. Er hat gerade eine Lehre als Mechatroniker begonnen. Wenn ihm der Beruf gefällt, will er vielleicht noch studieren«, berichtete Brauer stolz.
Sie waren bereits auf der Ortsumgehung Scharzfeld, als plötzlich, wie aus dem Nichts, ein Motorrad mit heulendem Motor an ihnen vorbeischoss. Beide zuckten zusammen.
»Idiot!«, rief Richter hinterher.
»Das ist der Nächste, den die Kollegen unter der Leitplanke hervorziehen«, schimpfte Brauer, als sich sein Herzschlag nach dem Schreck wieder beruhigt hatte.
»Was treibt die Leute nur zu dieser Raserei?«, empörte sich Richter.
»Was wohl?«, erwiderte Brauer, sah Steffen fordernd von der Seite an und versuchte, mit zusammengekniffenen Lippen ein Lachen zu unterdrücken. Es gelang ihm nicht. Es prustete schallend aus ihm heraus und Steffen musste mitlachen.
Ihr ausgelassenes Gelächter wurde erst von Brauers Handyton unterbrochen. Das Display im Armaturenbrett zeigte Martin Neumann an. »Unser Feierabendkiller«, bemerkte Brauer genervt. Er drückte die Taste der Freisprechanlage.
»Ja, Chef?«
»Wo bist du gerade?«, fragte Martin Neumann, erster Polizeihauptkommissar und Chef der Polizeiinspektion Northeim. Brauer ahnte nichts Gutes bei dieser Frage.
»Kurz vor Feierabend, Martin«, flachste Brauer. Sie kannten sich von der Polizeiakademie in Hannoversch Münden und duzten sich. »Was gibt’s Dringendes? Oder wolltest du uns noch auf ein Bier einladen?«
»Über das Bier sprechen wir später, aber vorher reden wir über einen Toten.«
Brauers Feierabendstimmung schlug sofort auf Dienstmodus und Widerstand um.
»Was habe ich damit zu tun? Das ist Sache der FK 1. Warum schickst du Berger nicht hin?«
»Weil der Tote mit einer Kugel im Kopf in einem Maisfeld bei Pöhlde liegt und du schneller vor Ort sein kannst als er. Die Tatortgruppe habe ich schon umgeleitet.«
»Dann haben Richter und ich auch bei Berger ein Bier gut, sag ihm das!«
»Mach ich. Danke, Ralf.«
Brauer beendete das Gespräch und schluckte. Bei der Vorstellung, einen Toten begutachten zu müssen, würgte es ihn im Hals. Der Anblick von Leichen oder zerschundenen Körpern sowie der Geruch von Blut löste bei ihm einen inneren Überwindungskampf aus. Nach fünf Jahren Dienst in der Mordkommission bekam er jedes Mal Herzrasen, wenn er zum Tatort gerufen wurde. Mörder in den Knast zu bringen, hatte einen gewissen Reiz und vermittelte ein Gefühl der Genugtuung, aber die Auseinandersetzung mit dem Tod belastete ihn bis an seine psychische Grenze. Er glaubte, es zu packen, aber die Toten packten seine Seele. Elke bemerkte es eher als er selbst, dass etwas mit ihm nicht mehr stimmte. Wenn sie ihn auf seine depressiven Launen ansprach, gerieten sie rasch in Streit. Ein Wort ergab das Andere, und das war irgendwann zu viel, und dann gab es keine Worte mehr. Er zog die Reißleine und ließ sich psychologisch behandeln. In vielen Sitzungen fand der Therapeut heraus, dass er im Unterbewusstsein ein schreckliches Kindheitserlebnis vor sich selbst versteckte. Er konnte nie darüber sprechen und unterdrückte jede Erinnerung daran, aber die hatte sich fest in sein Gedächtnis eingebrannt. Es brauchte nur einen Anstoß, wie herbstlicher Nebel, Kastanien oder der Geruch von Blut, und schon durchlebte er den Schrecken erneut, was ihn manchmal tagelang mit Fieber und Erbrechen außer Gefecht setzte. Das Geschehene konnte auch der Psychologe nicht auslöschen, aber er fand eine Möglichkeit, die Brauer half, die Erinnerung anzunehmen.
Niemand auf der Dienststelle wusste davon. Für die Behandlung hatte er extra Urlaub genommen. Später bat er um Versetzung in ein anderes Fachressort, aber das ging nicht von heute auf morgen. Erst als Hauptkommissar Müller in Pension ging, holte ihn Neumann ins FK 2.
An der Kreuzung beim Herzberger Schützenplatz bogen sie links ab in die Bahnhofstraße. Keine fünf Minuten später fuhren sie in den Pöhlder Kreisel ein. Die Herzberger Kollegen hatten die Ausfahrt zur Kreisstraße 9 in Richtung Scharzfeld abgesperrt und den Verkehr umgeleitet. Ein Polizeibeamter, der die ankommenden Fahrzeuge einwies, stoppte ihren Dienstwagen. Steffen ließ die Türscheibe herunter.
»Wo wollen Sie denn hin?«, fragte der Beamte wichtigtuerisch. »Zum Tatort«, antwortete Steffen trocken und hielt ihm seine Dienstmarke vor die Nase. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, schwenkte der Polizeibeamte die Straßenbarriere zur Seite.
Gleich nachdem sie unter der alten Eisenbahnbrücke hindurchgefahren waren, sahen sie die Blaulichter blinken. Das Maisfeld lag zwischen der Brücke und der Kläranlage, die im Hintergrund zu sehen war. Vor dem halb abgeernteten Feld parkten zwei Polizeiautos. Der Rettungswagen und der Notarzt standen mitten auf dem Acker vor dem Mähdrescher. Steffen hielt hinter einem der Dienstwagen an. Sie stiegen aus und wurden von Bernd Wilke, dem Einsatzleiter der Herzberger Ermittler, begrüßt, den Brauer von anderen Einsätzen kannte. »Schreckliche Sache«, bemerkte Wilke und gab beiden die Hand.
»Wo ist die Leiche?«, fragte Brauer.
»Liegt dort drüben im Schnittwerk des Mähdreschers«, antwortete er.
Im Schnittwerk. Brauer lief ein Schauer über den Rücken. Wie musste ein Mensch aussehen, der von den Messern einer solchen Monstermaschine erfasst wurde? Brauers Pulsschlag erhöhte sich merklich. Kalter Schweiß bildete eine feuchte Schicht auf seiner Stirn. Vor dem Anblick, der ihn erwartete, fürchtete er sich. Im Storchenschritt gingen sie über die harten Maisstoppeln zu der Erntemaschine hinüber. Frank Becker und Matthias Nolte liefen bereits wieder in ihren weißen Overalls umher und sicherten Spuren. Nolte kam auf Ralf Brauer und Richter zu, als er sie erblickte.
»So rasch sieht man sich wieder«, flachste er, verzog aber keine Miene dabei.
»Was habt ihr bisher?«, erkundigte sich Steffen Richter.
»Ob er hier im Feld erschossen oder als Leiche versteckt wurde, lässt sich nicht feststellen. Nach dem Verwesungsstand zu urteilen, müsste er drei oder vier Tage tot sein. Papiere hatte er keine bei sich, die auf seine Identität schließen lassen.«
»Sonstige Spuren?«, hakte Brauer nach.
»Schwierig. Der Mähdrescher hat wenig bis gar nichts davon übrig gelassen. Keine verdächtigen Reifenspuren, keine Fußabdrücke oder Schleifspuren. Nichts!«
»Wo ist der Fahrer der Maschine?«, mischte Brauer sich ein.
»Wird im Rettungswagen behandelt. Steht unter Schock.«
Brauer ging hinüber. »Kann ich mit ihm sprechen?«, fragte er den Arzt, der im Wagen neben ihm saß.
»Aber bitte nur kurz. Er hat den Schreck noch nicht überwunden.« Brauer stieg durch die Hecktür in den Behandlungsraum und beugte sich über die Trage. Ein Infusionsschlauch verlief zum Unterarm des Mannes. Sein Gesicht war weiß, fast transparent. Die Augen lagen tief und blickten glasig ins Leere.
»Mein Name ist Ralf Brauer von der Kripo Northeim. Wie heißen Sie?«
»Ich habe ihn nicht gesehen«, stammelte der Mann, »Was sollte ich machen?« Sein Kinn zitterte.
Brauer tätschelte kurz die Hand des Mannes. »Es wird schon wieder«, sagte er, blickte den Notarzt mit zuckenden Schultern an und stieg von der Plattform runter.
»Willst du dir die Leiche noch ansehen, bevor wir sie in die Gerichtsmedizin bringen lassen?«, fragte Steffen Richter.
»Muss ich ja wohl«, brummte er und ging mit flauem Gefühl im Bauch an dem Messerbalken entlang zu der Stelle, wo die Beine des Opfers zwischen den stoßzahnähnlichen Halmteilern erfasst worden waren. Frank Becker stand dort und machte Fotos. Beim Anblick des Körpers, besser gesagt, was von ihm noch zu erkennen war, rebellierte sein Magen stoßweise. Es grummelte spürbar und verstärkte sich zunehmend zu einem Krampf. Er schmeckte den säuerlichen Magensaft im Mund, wandte sich ab und kämpfte gegen den Brechreiz an. Jetzt bloß nicht kotzen hier vor den Leuten. Das würden sie ihm für den Rest seiner Dienstzeit aufs Butterbrot schmieren. Nein, nicht jetzt. Er fasste mit der linken Hand an seine Fliege, was ihm Sicherheit gab, dachte an Elke und hatte ihr Gesicht vor Augen, wie sie ihn anlächelte. Schatz, lass mich nicht im Stich, ging es ihm durch den Kopf. Die Ablenkung half. Das Würgegefühl ließ nach. Er atmete ein paar Mal tief ein, schnäuzte sich die Nase und ging zurück zu Richter, der mit Bernd Wilke im Gespräch war.
»Also das übliche Programm, und bitte zusätzlich den Mähdrescher beschlagnahmen, vielleicht finden wir noch Spuren darin«, bat Brauer seinen Herzberger Kollegen. »Alles Weitere dann mit Thomas Berger klären«, fügte er noch hinzu, »der ist für Mord und Totschlag zuständig. Ich will mich da nicht weiter einmischen, uns reicht der Banküberfall.« Brauer wandte sich an seinen Kollegen: »Stimmt’s Steffen?«
»Allerdings«, bestätigte Steffen Richter die stille Hoffnung seines Kollegen.
Aber es kam anders.
»Hier, guck mal, Otto! Gleich auf der Titelseite: Banküberfall in Bad Lauterberg und Tod im Maisfeld. Was sagst du dazu?« Chris hielt die Zeitungsseite mit den Bildern seinem Kater entgegen, der auf der Sessellehne lag. Der streckte die Vorderbeine weit aus und gähnte mit aufgerissenem Maul, als wolle er sein Herrchen im Ganzen verschlingen. Dann sprang er mit einem lang gezogenen Knurren herunter und lief mit aufgestelltem Schwanz zielstrebig zur Küchenzeile, wo sein Fressnapf stand.
»Du interessierst dich auch nur fürs Futter. Wir müssen ab sofort kürzertreten. Das Bußgeld hat meine letzten Reserven verschlungen. Dein Herrchen ist arbeitslos, vergiss das nicht?« Otto kommentierte das nur mit einem abfälligen Miauen und leckte die Reste aus dem Napf.
Chris setzte sich derweil an den Schreibtisch, weckte mit einem Tastentipp seinen Laptop aus dem Stand-by-Modus und scrollte seine E-Mails durch. Gott sei Dank waren keine weiteren Hiobsbotschaften darunter. Nur Werbung und anderer Müll, der im Spamordner gelandet war. Eine Mail fand jedoch seine Aufmerksamkeit. Sie war von Maike: Hi, Chris, wir könnten doch wieder einmal zusammen fliegen. Wie wär’s am kommenden Wochenende beim Flugplatzfest? Soll gute Thermik geben. Würde mich riesig freuen. Kuss Maike.
Das Segelfliegen hatte er in der letzten Zeit total vernachlässigt und Maike ebenfalls. Zuerst die Abschlussprüfungen an der Uni Clausthal, dann das zeitaufwändige Studium der Stellenangebote, von den vielen Bewerbungen ganz zu schweigen. Maike hatte ihn bei der Recherche von Arbeitsstellen als Maschinenbauingenieur wirklich gut unterstützt. Dafür war er ihr überaus dankbar gewesen, aber...
Chris schaute gedankenverloren auf den Bildschirm. Sie länger im Unklaren zu lassen, wäre unfair. Nur – wie sollte er ihr das beibringen? Chris hatte sie auf dem Flugplatz in Hattorf kennengelernt, als er mit dem Segelfliegen angefangen hatte. Das war vor fast drei Jahren gewesen. Schon als Kind hatte er die elegant kreisenden Segler am Himmel beobachtet und sich vorgestellt, wie es sich anfühlen würde, ein solches Flugzeug zu steuern. Einmal war er zum Flugplatz gefahren, um sich das Drumherum aus der Nähe anzusehen. Man hat ihn gleich zu einem Probeflug eingeladen, danach konnte Chris nicht mehr widerstehen.
Mit Maike, die schon länger im Verein war, hatte er sich von Anfang an verstanden und viel Spaß gehabt. So ist es nicht nur beim Segelfliegen geblieben. Chris mochte ihren unverblümten Humor und ihre direkte Art, an Dinge heranzugehen. Manchmal jedoch fühlte er sich abgestellt, wenn sie durch ihre Spontanität unbewusst andere Männer zum Flirten einlud. Und so, wie sie aussah, würde nur ein Blinder sie übersehen. Chris war nicht eifersüchtig, aber furchtbar altmodisch in Beziehungsangelegenheiten, gestand er sich ein.
Er tippte die Antwort: Gute Idee, Liebes. Bin am Wochenende als Rundflugpilot eingeteilt. Können zusammen den Checkflug machen. Hole dich Samstag früh um acht ab. Chris.
Maike Adler arbeitete in dem florierenden Fuhrunternehmen der Familie mit. Die Adlers waren wohlhabend, und so spielte Geld für Maike nur eine untergeordnete Rolle. Chris hingegen musste jeden Cent zweimal umdrehen und genau überlegen, was er sich leisten durfte und was nicht. Das Segelfliegen konnte er sich nur erlauben, weil seine Mutter ihm hin und wieder etwas zusteckte. Maike überraschte ihn oft mit Theater- oder Konzertkarten, und wenn sie mal zum Essen ausgingen, übernahm sie meistens die Rechnung. Einmal kaufte sie ihm eine Jeans, weil er seine Lieblingshose mit Autoschmiere versaut hatte. Das ging ihm wirklich zu weit. Er hatte das Gefühl, von seiner Freundin ausgehalten zu werden. Chris zweifelte daran, ob das mit ihr mehr war als nur eine enge Freundschaft, die durch das gemeinsame Hobby getragen wurde. Er musste mit ihr reden, und zwar bald.
Sein Smartphone klingelte und brachte ihn auf andere Gedanken. Er schaute auf das Display ‒ seine Mutter rief an. Chris ahnte, was jetzt kam. Er hatte ihr gestern noch von dem Banküberfall erzählt.
»Hi, Mama. Ja, ich habe die Zeitung schon gelesen«, begrüßte er sie.
»Junge! Mir ist fast das Herz stehen geblieben«, sagte sie mit weinerlicher Stimme.
»Mama, bleib locker, es ist ja nichts passiert«, versuchte er sie zu beruhigen.
»Du bist gut. Sie haben geschossen, davon hast du mir nichts gesagt. Es hätte sonst was passieren können.«
»Könnten wir dann noch so fröhlich telefonieren?«, entgegnete Chris.
»Ach, du wieder mit deiner Logik«, sagte sie erleichtert und schniefte durch die Nase.
»Ich hoffe nur, dass die Bank mein Bußgeld noch überweisen kann«, lachte Chris, »die sind nämlich jetzt genauso pleite wie ich.«
»Wie viel brauchst du?«, fragte seine Mutter spontan.
»Nee, lass mal. So war das nicht gemeint«, lehnte Chris ihr Angebot ab und ergänzte: »Trotzdem danke, aber das krieg ich schon hin.«
Chris war siebenundzwanzig Jahre alt und wollte niemandem länger auf der Tasche liegen. Noch während des Studiums hatte er mit der Jobsuche begonnen. Er hätte auch bereits einen annehmen können, denn Ingenieure wurden händeringend gesucht, aber er wollte in der Region bleiben, was das Angebot einschränkte. Dem Harz hätte er nur den Rücken gekehrt, wenn er hier absolut nichts finden würde. Er liebte die Berge, die Farben der Jahreszeiten und die bodenständigen Menschen. Das würde er vermissen. Aber noch hatte er einige Bewerbungen offen.
Seine Mutter hatte ihm das Ingenieurstudium in Clausthal ermöglicht. Sie arbeitete als Sachbearbeiterin in einem großen Unternehmen in Herzberg und verdiente nicht schlecht. Ein Stipendium, was er wegen seiner guten Leistungen vom Land bekommen hatte, half zusätzlich bei der Finanzierung, sonst hätte er das Studium bis zum Master nicht durchziehen können. Von seinem Erzeuger, wie Chris seinen Vater nannte, hatte er nichts zu erwarten. Davon abgesehen hätte er auch kein Geld von ihm angenommen. Er wusste nicht einmal, wo er sich aufhielt. Dieser Mann war ein dunkles Kapitel seiner Kinder- und Jugendzeit. Er war ein Choleriker und Trinker gewesen. Beides ergab eine explosive Mischung, die seiner Mutter oft schmerzhafte Blessuren zugefügt hatte. Als Chris achtzehn war, passierte es. Sein Vater kam volltrunken nach Hause, fiel über seine Mutter her und wollte sie zum Sex zwingen. Sie wehrte sich und schrie. Da war Chris völlig ausgerastet und hatte auf seinen Vater blind eingeprügelt, bis der sich nicht mehr rührte. Chris versuchte, diesen Tag aus seinem Leben zu streichen und machte ein Tabu daraus.
Vor mehr als zehn Jahren hatte sich seine Mutter von ihm scheiden lassen und wollte danach mit Männern nichts mehr zu tun haben, aber dann lernte sie Erik kennen. Chris hatte sich von Anfang an gut mit ihm verstanden. Das war vor ungefähr drei Jahren gewesen, seitdem lebte seine Mutter mit Erik zusammen.
»Ich wollte dich noch fragen, ob du von der Firma in Osterode schon eine Rückmeldung auf deine Bewerbungen bekommen hast?« Chris glaubte, in ihrer Stimme ein leichtes Zittern herauszuhören.
»Leider noch nicht«, bedauerte er, »aber ich bin zuversichtlich. Die Stelle würde genau auf mich passen, und das werden die aus meiner Bewerbung sicher herauslesen.« Er hörte ein tiefes Durchatmen im Lautsprecher.
»Ich sage dir sofort Bescheid, wenn ich die Einladung bekomme«, versicherte er und vermied bewusst, die Möglichkeit einer Absage ihr gegenüber auch nur in Erwägung zu ziehen.
»Kommst du am Wochenende zum Essen? Ich mache Ofenkartoffeln mit Quark und Räucherlachs, das magst du doch so gerne.«
»Lieb von dir, Mama, aber ich habe Maike versprochen, mit ihr zu fliegen.«
»Ach. Schön«, sagte sie kurz und er hörte ein wenig Enttäuschung heraus. »Du bist lange nicht mehr geflogen. Pass auf dich auf.«
»Immer!« Chris beendete das Gespräch.
Otto lag wieder auf der Sessellehne und leckte sich die Pfoten. »Ich muss noch einkaufen, Otto. Mach keine Dummheiten, hörst du?« Chris warf sich die Jacke über und verließ die Wohnung. Als er die Tür hinter sich ins Schloss drücke, hörte er von oben Schritte. Er blieb stehen, ohne hinaufzusehen. Er ahnte das Donnerwetter, das jetzt fällig war. »Herr Rohde?«, seine Nachbarin von oben betonte die letzte Silbe mit erhobener Stimme. »Es war gestern Abend wieder sehr laut. So geht das aber nicht.« Chris sah jetzt zu ihr hinauf. Frau Grüneberg hing mit ihrem Oberkörper über dem Treppengeländer. »Es tut mir leid, Frau Grüneberg, ich werde demnächst drauf achten.« Sie legte den Kopf in den Nacken, wandte sich ab und ging. »Das sagen Sie jedes Mal!«, ließ sie in ihrem zänkischen Ton noch durchs Treppenhaus schallen. Dann knallte sie die Tür hinter sich zu. Sie hatte ja recht, gestand Chris sich ein. Aber Hip-Hop-Musik auf Zimmerlautstärke zu hören, wäre ja so absurd, wie einen Burger ohne Brötchen zu essen.
Draußen empfing ihn die beschauliche Betriebsamkeit der Ahnstraße, in der er wohnte. Zum Supermarkt waren es nur zehn Minuten zu Fuß, wenn August Breme ihn nicht wieder in ein Gespräch verwickeln würde. Onkel August, wie Chris ihn nannte, war zweiundachtzig Jahre alt und hatte nichts Besseres zu tun, als den lieben langen Tag am Gartenzaun das Geschehen in der Straße zu beobachten. Niemand kam an ihm ohne Unterhaltung vorbei. Jeder kannte ihn hier, und man machte sich Sorgen, wenn er mal längere Zeit im Haus blieb. Chris hatte Glück, August stand so früh noch nicht am Zaun.
Chris schob seinen Einkaufswagen an dem Regal mit den Süßigkeiten entlang und warf noch eine Tüte Schokolinsen hinein. Während des Studiums war er diesem süßen Laster verfallen. Er hatte sich eingebildet, es würde seine Konzentrationsfähigkeit verbessern, wenn er über den Büchern brütete. In Wirklichkeit war es eine Art Selbstbelohnung für seinen Lerneifer, zu dem er sich manchmal überwinden musste, besonders an Wochenenden, wenn bei schönem Wetter der Flugplatz lockte.
Während Chris in Gedanken noch einmal seine Einkaufsliste durchging, reihte er sich mit seinem Einkaufswagen an der Kasse ein. Aus den Augenwinkeln bemerkte er vor sich eine Frau mit kurzen dunklen Haaren und Ohren-clips mit Perlen. Das ist doch... Das muss sie sein... Er war sich sicher: Vor ihm stand Katja Meinhard, mit der er vorgestern einige Zeit bangend auf dem Fußboden der Bank verbracht hatte. Freudig zog er die Mundwinkel hoch und stellte sich neben sie.
»Dies ist keine Übung«, sagte er in einem bewusst formellen Ton. Sie drehte sich zu ihm, schaute überrascht und deutete mit ihrem schmalen Mund ein Lächeln an. »Dies ist ein ernsthafter Versuch, Sie besser kennenzulernen, nachdem wir die Erinnerung an ein gemeinsames Abenteuer als Geisel ein Leben lang in uns tragen werden.« Chris sah erwartungsvoll in ihre dunklen Augen, die das Licht der Neonlampen widerspiegelten.
»Hören Sie«, erwiderte sie lachend, »ich weiß nicht, welche Erinnerungen Sie wie lange in sich tragen. Meine an diese unschöne Geschichte werde ich jedenfalls nicht auf Dauer hegen. Tut mir leid.« Sie drehte sich zurück und begann, ihren Einkauf auf das Band zu legen. Die Kassiererin schob die Teile über den piependen Scanner. Katja Meinhard packte alles in eine Tasche, bezahlte und ging zum Bäckertresen hinüber. Chris schielte ein paar Mal zu ihr hin, während er Katzenfutter, Milch und Schokolinsen in einer Papiertüte verstaute. Am Ausgang des Marktes trafen beide erneut aufeinander.
»Bitte entschuldigen Sie«, sagte Chris zu ihr, »ich wollte nicht aufdringlich sein, ich...« Er musste stehen bleiben und an die Seite treten, weil einige Leute mit Einkaufswagen hereinkamen. Sie beschleunigte ihre Schritte und ging voraus auf den Parkplatz. Als Chris vor dem Eingang stand und sich umsah, war sie bereits verschwunden.
Enttäuscht machte er sich auf den Weg nach Hause. In der Innenstadt war an diesem Freitagvormittag einiges los. Der Wochenmarkt auf dem Kirchplatz und das sonnige Wetter lockten viele auf den Boulevard, wie die Lauterberger die Einkaufsmeile der Hauptstraße liebevoll nannten. Hier trafen sich Freunde und Bekannte, plauderten und tratschten. Der Banküberfall und der Ermordete in der Pöhl’schen Aue hatten die Titelseite des Harzkuriers gefüllt und waren Stadtgespräch.
Chris entschloss sich, noch Tomaten vom Gemüsestand zu holen und wurde von einer anstehenden Frau mit Habichtgesicht angequatscht. »Haben Sie das mit dem Überfall auch gelesen? Ich hab’s ja immer schon gesagt, man muss die Strafen verschärfen«, keifte sie mit kreischender Stimme. »Das ist ja schlimmer wie im Wilden Westen. Wo soll das noch hinführen?«, meinte ein älterer Herr dazu, der sich an einem Rollator festhielt und den Kopf schüttelte. »Ja, ja. Finde ich auch«, gab Chris beiden recht und war froh, dass ihn der Verkäufer in diesem Moment nach seinem Wunsch fragte.
Zurück in der Ahnstraße sah Chris Onkel August am Zaun stehen. Na, was kommt denn jetzt, dachte er und ging schmunzelnd auf ihn zu. »Guten Morgen, Onkel August«, grüßte er.
»Wat sähste denn zo diesen Lumpenpack? Man sollte se vorn Koppe schlohn!«, schimpfte er, ohne den Gruß zu erwidern und wedelte mit seinem Gehstock drohend umher. Onkel August sprach nur Lauterberger Platt, was viele Einwohner, besonders die jüngeren, nicht mehr lernten. Auch Chris hatte anfänglich seine Schwierigkeiten damit. Zumindest verstand er es nach und nach immer besser, auch wenn er es nicht sprechen konnte. Es amüsierte ihn, sich mit August zu unterhalten, obwohl er ihm oft die Zeit raubte.
»Das Wetter ist schön heute, nicht wahr, Onkel August?«, lenkte Chris vom Thema ab, damit er sich wieder beruhigte. »Morgen gehe ich zum Fliegen.«
»Pass blos uff dich uff. De fall’n alle Nase lang runger.«
»Keine Sorge, ich bin ein guter Pilot«, versicherte Chris und ging zwei Häuser weiter, wo er wohnte.
Im Postkasten neben der Haustür leuchtete ein weißer Umschlag hinter dem Kontrollschlitz. Bitte nicht schon wieder, flehte er im Stillen, öffnete die Klappe und holte einen Fensterumschlag heraus. Als er die Wohnung betrat, kam Kater Otto sofort um seine Beine herumgeschlichen. »Brauchst dich gar nicht einzuschleimen, es ist noch keine Essenszeit«, wehrte Chris sein Betteln ab, ging in die Hocke und streichelte ihn am Kopf, wofür er sich mit einem lauten Schnurren bedankte. Ohne den Absender zu beachten, warf er den Brief im Flur auf die Schuhkommode und ging mit der Einkaufstüte zum Kühlschrank. Der ist auch arbeitslos, stellte er fest und packte die paar Teile in die leeren Fächer. »Ich glaube, wir müssen Privatinsolvenz anmelden, Otto«, sagte er zu seinem Kater, der mit einem Satz maunzend auf die Sessellehne sprang. »Wir sind pleite!«, schickte er noch hinterher und ging zum Schuhschrank. Missmutig nahm er den Brief und schaute auf den Absender. »Otto!«, rief Chris im selben Moment, dass der Kater die Augen weitete und die Ohren spitzte. »Vielleicht sind wir saniert.« Mit dem Finger riss er den Umschlag auf und holte das Schreiben heraus. Er las laut vor:
Sehr geehrter Herr Rohde,
vielen Dank für ihr Interesse an der ausgeschriebenen Stelle als Projektingenieur. Wir möchten Sie gerne persönlich kennenlernen und laden Sie zu einem Gespräch am Freitag, den 25. 09. 2015 um 15:00 Uhr in unsere Hauptverwaltung nach Osterode ein. Unser Personalreferent Martin Störmer erwartet Sie.
Mit freundlichem Gruß
»Was sagst du nun, Otto? – Nein, sag nichts! Ich rufe Mama an.«
Am nächsten Tag, kurz vor halb acht, parkte Chris seinen betagten Toyota Corolla vor dem kleinen Fachwerkhaus in der Oderstraße in Pöhlde. Maike hatte das Haus mit den grünen Fensterläden und der roten Eingangstür von ihren Großeltern bekommen, die vor Jahren nach Herzberg umgezogen waren. Er ging über den Plattenweg zwischen der niedrigen Ligusterhecke zum Eingang und drückte auf den Klingelknopf. Der vertraute Gong ertönte und Maike öffnete kurz danach stürmisch die Tür. Sogleich zerrte sie ihn am Ärmel herein, presste ihn an die Wand und küsste ihn, als hätten sie sich monatelang nicht gesehen. Nur mühsam konnte Chris sich ihrer überfallartigen Liebkosung entziehen, indem er sie sanft ein Stück von sich schob.
»Nun mal langsam, junge Frau«, lachte er, »willst du mich umbringen?«