Endstation Knast - Thomas Galli - E-Book
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Endstation Knast E-Book

Thomas Galli

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Beschreibung

»DIE HAFT MACHT DIE GEFANGENEN HÄUFIG NOCH GEFÄHRLICHER« Ein Mehrfachmörder weigert sich, eine Therapie anzutreten und erhängt sich in seiner Zelle, ein Schläger schließt sich einem Clan an und rutscht immer tiefer in die Kriminalität, eine junge Sozialarbeiterin wird von einem Häftling schwanger, ein Geiselnehmer wehrt sich gegen seine Entlassung, weil er sich ein Leben in Freiheit nicht mehr vorstellen kann. Der ehemalige Gefängnisdirektor Thomas Galli schildert in diesem Buch authentische Fälle aus dem deutschen Strafvollzug. Er analysiert den Weg der Gefangenen in die Kriminalität, ihre biografischen Hintergründe und beschreibt das Leben im Gefängnis. In seinem Schlussplädoyer stellt Galli die Praxis des deutschen Strafvollzugs auf den Prüfstand – und kommt dabei zu einer ebenso überraschenden wie unbequemen Erkenntnis. Ein packender Insiderreport über die »rigoroseste Institution unserer Zeit«.

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Seitenzahl: 212

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Thomas Galli

ENDSTATIONKNAST

Thomas Galli

ENDSTATIONKNAST

Ein Gefängnisdirektorpackt aus

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Originalausgabe

1. Auflage 2019

© 2019 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Dieses Buch erschien erstmals 2016 unter dem Titel Die Schwere der Schuld. Ein Gefängnisdirektor erzählt im Verlag Das Neue Berlin, Berlin.

Umschlaggestaltung: Pamela Machleidt

Umschlagabbildung: Sven Döring

Satz: Müjde Puzziferri, MP Medien, München

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

eBook: ePubMATIC.com

ISBN Print 978-3-7423-0985-3

ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-0621-7

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-0622-4

Weitere Informationen zum Thema finden Sie unter

www.rivaverlag.de

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Inhalt

Vorbemerkung

I

Es schnürt einem die Luft zum Leben ab

II

Gefangen zwischen den Welten

III

Eine verhängnisvolle Liaison

IIII

Hinter der Trennscheibe

IIII

Der Geruch des Todes

IIII I

Ein außerordentliches Vorkommnis

IIII II

Der Vollzugsteilnehmer

IIII III

Mit einem Muttermörder will man doch nicht Fußball spielen

IIII IIII

Der Wahnsinn bleibt draußen

Epilog

Nachwort

Über den Autor

Vorbemerkung

Dieses Buch erzählt von den biografischen Hintergründen, von den Straftaten und dem Leben von Gefängnisinsassen.

Fünfzehn Jahre habe ich »im Knast« gearbeitet – das ist eine Zeitspanne, nach der ein zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilter zur Bewährung entlassen werden kann.

Nach dreizehn Jahren in den bayerischen Justizvollzugsanstalten Amberg und Straubing wurde ich Leiter der JVA Zeithain und zeitweilig zusätzlich Leiter der JVA Torgau in Sachsen. In diesen fünfzehn Jahren habe ich vieles erlebt. Häufig Monotonie und bürokratischen Irrsinn. Auch einige Erfolgserlebnisse mit dem Gefühl, etwas in eine sinnvolle Richtung zu bewegen. Und schreckliche Ereignisse wie die Suizide von Gefangenen, den Machtkampf in der knastinternen Russenmafia oder die Geiselnahme und Vergewaltigung einer Therapeutin. So schlimm allerdings jeder Einzelfall für die Betroffenen ist, rein statistisch betrachtet, ist die Tätigkeit im Strafvollzug nicht außergewöhnlich gefährlich. Die allermeisten Inhaftierten verhalten sich gegenüber uns Bediensteten höflich, anständig und den Regeln entsprechend. Angesichts der schwierigen Lebensumstände im Gefängnis und der vielen kleinen und großen Ungerechtigkeiten, denen die Gefangenen weit mehr als die Menschen in Freiheit tagtäglich ausgesetzt sind, ist das beachtlich.

In diesen fünfzehn Jahren bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass das Gefängnis eine überholte gesellschaftliche Institution ist. In ihr manifestiert sich eine ungerechte, unvernünftige und oft unmenschliche Verteilung der Schuld. Eine Institution allerdings, die nur mit erheblichen Kraftanstrengungen in etwas Sinnvollerem aufgelöst werden kann, denn das Gefängnis ist viel mehr als ein Gebäude mit hohen Steinmauern und Stacheldraht. Es ist ein über Jahrhunderte tief im gesamtgesellschaftlichen Bewusstsein verankertes Symbol. Ein Symbol für Sicherheit. Ein Symbol für Rechtsstaatlichkeit. Und es ist, und vielleicht ist das sein stärkster Grundpfeiler, ein ehernes Symbol der Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Drinnen stecken die Bösen, und draußen die Guten. Damit noch nicht genug, denn weil wir so gut sind, tun wir sogar alles dafür, die Bösen auch wieder zu Guten zu machen!

Es steht also für so vieles, unser Gefängnis. Warum kann, warum sollte man es dann nicht so lassen, wie es ist?

Die Geschichten in diesem Buch sollen einen Beitrag dazu leisten, auf spannende und interessante Art und Weise das Wissen über Gefangene und das Gefängnis, der rigorosesten Institution unserer Zeit, zu erweitern und es damit auf den Prüfstand der Vernunft zu stellen.

Die neun Geschichten sind authentisch, so authentisch sie bei der Beachtung von Persönlichkeitsrechten nur sein können. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht beabsichtigt. Anders ist dies bei den Schilderungen der Geschehnisse und der Strukturen des Gefängnisses.

Thomas Galli

I

Es schnürt einem dieLuft zum Leben ab …

I.

Thalers Händedruck war erstaunlich angenehm. Sanft und zurückhaltend. Er sprach mit leichtem schweizerischen Dialekt und ruhiger, freundlicher Stimme. Auch konnte er, was wohl kaum einer von ihm erwartet hätte, zuhören. Scheinbar im Widerspruch zu seinem Auftreten stand sein Äußeres: aufgepumpt muskulös, knasttätowiert, glattrasierter Schädel, vernarbtes Gesicht. Er war Ende dreißig, hätte aber zwischen Ende zwanzig und Mitte fünfzig alles sein können. Seit über fünfzehn Jahren war er nun in Haft.

Trotz seines Äußeren wirkte er nicht furchterregend. Furchterregend waren allerdings seinen Straftaten: mehrfacher Mord, Geiselnahme und Vergewaltigung. Zusammen mit drei Kumpanen hatte er eine Bank überfallen. Alle hatten geladene Pistolen bei sich, der Überfall endete in einer furchtbaren Katastrophe. Die Polizei war schneller als erwartet zur Stelle und umstellte die Bank. Mit vier Geiseln, einer Frau und drei Männern, gelang Thaler und seinen Partnern die Flucht in einem gestohlenen VW-Bus. Nach einigen Stunden Verfolgungsjagd bekamen sie, vollgepumpt mit Drogen und Adrenalin, quälenden Durst. Sie steuerten, immer im Visier der Scharfschützen der Polizei, die auf einen besseren Moment für den Zugriff warteten, eine Dorfkneipe an. Eine von diesen Kneipen, die mit ihrem Geruch von Bier und kaltem Rauch und den Stühlen, die nicht zueinander und nicht zu den Tischen passen, nur noch die allernötigsten Anstrengungen unternehmen, um dem Trinken und dem Totschlagen der Zeit einen letzten bürgerlichen Rahmen zu geben. Zu dieser Zeit, am frühen Nachmittag, standen einige Männer an der Bar und unterhielten sich mit der Bedienung hinter dem Tresen. Ein älterer Gast hatte seinen Barhocker vor einer der Glücksspielmaschinen platziert und saß dort mit seinem Bier. Alles wäre wohl wahrscheinlicher gewesen, als auf einmal im Zentrum einer bewaffneten Geiselnahme zu stehen und von dutzenden Spezialkräften der Polizei umringt zu sein. Aber genau das passierte. Die Polizei wartete immer noch auf die beste Möglichkeit zum Zugriff und positionierte sich um das Gebäude herum. Die Geiselnehmer tranken einige Bier und tauschten ihre drei männlichen Geiseln gegen männliche Kneipengäste aus.

Dann das, bei allem Schrecken des Geschehens, Unfassbarste: Nach einigen Gläsern Bier nehmen Thaler und seine Kompagnons die Geiseln mit in ein Nebenzimmer. Während einer die drei völlig verängstigten männlichen Geiseln mit der Pistole in Schach hält, vergewaltigen die anderen, vor den Augen aller, die weibliche Geisel. Thaler zuerst. Einmal, kurze Pause, noch einmal, schließlich ein drittes Mal. Sie schreit, sie fleht, sie wimmert, dann lässt sie es nur noch stumm über sich ergehen. Dann die anderen. Auch sie mehrfach.

Die Frau, eine Bankangestellte, Mitte zwanzig, frisch verheiratet, wird später im Prozess aussagen, jede Minute ihres Lebens sei seit diesem Tag eine Qual. Geschieden und in Frührente führt sie ein Leben zwischen Psychiatrie und heimischer Trostlosigkeit. Der Richter wird ihr nach ihrer Aussage, ihre einzige Hoffnung sei, dass sie irgendwann die Kraft habe, sich umzubringen, wünschen, dass es ihr gelänge, die Wut gegen sich selbst in Richtung der Täter zu lenken. Grund genug übrigens für die Anwälte, den Richter wegen Befangenheit abzulehnen.

Wenn Thaler später im Gefängnis über sein Leben und seine Straftaten sprach, dann war insbesondere bei dem, was er der jungen Frau angetan hatte, zu spüren, wie stark ihm bewusst war, dass dies nie gutgemacht und geheilt werden konnte. Es gehört zum Unausweichlichen unserer Existenz, dass der Mensch alles Unheil, nicht aber alles Heil in die Welt bringen kann. Thaler und die junge Bankangestellte mussten mit dieser schwersten aller Erkenntnisse leben.

Beim Verlassen der Kneipe dann der Zugriff der Polizei. Einer von Thalers Kumpanen wird von mehreren Kugeln getroffen. Er schießt zurück und verwundet zwei Polizisten. Eine Geisel stirbt im Kugelhagel. Auch Thaler schießt, auch er trifft mehrere Polizisten, und auch er wird angeschossen und schwer verletzt. Drei Polizisten, junge Familienväter, sterben. Anders als einer seiner Partner überlebt Thaler und wird als Mittäter für die Tötungen verantwortlich gemacht.

Er wird zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Das bedeutet in Deutschland auch grundsätzlich den Entzug der Freiheit bis zum Lebensende, allerdings mit der Möglichkeit, dass die Strafe frühestens nach fünfzehn Jahren zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Die meisten »Lebenslänglichen« werden nach etwa zwanzig Jahren aus der Haft entlassen. Das Gericht hat aber auch die Option, im Urteil eine besondere Schwere der Schuld festzustellen – mit der Folge, dass der Betroffene nicht vor Ablauf eines festgelegten Zeitraumes entlassen werden darf. Bei Thaler betrug dieser Zeitraum siebenunddreißig Jahre. Es gab allerdings keine Garantie, dass er danach entlassen werden konnte, das hing auch davon ab, inwieweit das Gericht dies im Hinblick auf die Sicherheit der Allgemeinheit für verantwortbar hielt. Sicher war nur eines: Vor Ablauf dieser siebenunddreißig Jahre hatte er keine Chance auf eine Entlassung.

Und diese Zeit musste man erst einmal herumbringen!

Ein bloßes Wegsperren darf es nicht geben, das wäre ein Verstoß gegen das Grundrecht der Menschenwürde. Das Bundesverfassungsgericht fordert, dass jeder Straftäter die Chance haben muss, wieder in Freiheit zu kommen, wofür er im Gefängnis entsprechend behandelt und resozialisiert werden muss. Bei jemandem, der so viele Jahre Haft vor sich hat, fällt es allerdings schwer, diese Zeit sinnvoll zu gestalten. Ein nicht vorhandener Schulabschluss oder eine Ausbildung können in Haft nachgeholt werden. Aber dann, was dann? Hin und wieder kommt die Teilnahme an speziellen Angeboten der Anstalt in Betracht. Beispielsweise an einem Seminar über gesunde Ernährung oder einem Yoga-Kurs. Aber eine richtiggehende Therapie zur Behandlung einer Gewalt- oder Sexualproblematik macht erst zum Ende der Haft hin Sinn. Soweit man einen solchen Sinn angesichts der Tatsache, dass es kaum überzeugende wissenschaftliche Daten für die Wirksamkeit solcher Therapien gibt, grundsätzlich anerkennen will.

Zu Beginn der Haft, und von da an mindestens einmal jährlich, bei schweren Sexual- oder Gewaltstraftätern auch halbjährlich, muss ein Vollzugsplan aufgestellt, aktualisiert und fortgeschrieben werden. Alle mit der Behandlung des Gefangenen befassten Bediensteten, also die uniformierten Beamten des allgemeinen Vollzugsdienstes, Sozialarbeiter, Psychologen, Pfarrer, Juristen und Ärzte, müssen in Abstimmung mit dem Gefangenen auf mehreren Seiten festlegen, wie es mit ihm weitergehen soll. Der Gesetzgeber hat sich bei der Vollzugsplanung offenbar zwei vernünftige Parteien vorgestellt, die in sinnvoller Art und Weise ihre gemeinsame Zukunft gestalten. Wie ein Ehepaar. Dann und dann wird ein Haus gekauft, dann und dann kommt das erste Kind, dann das zweite Kind, ab dann arbeitet die Frau so und so viele Stunden und der Mann so und so viele und so weiter. In der Haftzeit sind allerdings die Grenzen, innerhalb derer überhaupt etwas von den beiden Parteien geplant werden kann, juristisch und faktisch eng gesteckt. Nehmen wir an, die Anstalt und auch der Gefangene selbst sind der Meinung, er habe ein Problem mit seiner Impulskontrolle und dieses habe auch in erster Linie zu seiner Straffälligkeit geführt. Ansonsten sei er sozial gut eingebunden, verheiratet, berufstätig und so weiter. Im Rahmen einer freiwilligen therapeutischen Maßnahme, die, sagen wir, ein Jahr dauern würde, könnte man die Impulskontrolle mit guter Aussicht auf Erfolg deutlich verbessern. So weit, so gut. Allerdings hätte diese Maßnahme besonders dann Aussicht auf Erfolg, wenn sie ambulant durchgeführt würde, der Teilnehmer also außerhalb der therapeutischen Einheiten in seinen normalen Alltag eingebunden wäre. Nehmen wir jedoch an, der Gefangene hätte noch sieben Jahre zu verbüßen. Das würde also bedeuten, dass ein im Sinne einer Resozialisierung vernünftiges Vorgehen, nämlich eine Entlassung des Gefangenen und eine ambulante Therapie, unmöglich ist, da der Staat nicht bereit ist, auf seinen Vergeltungsanspruch in Form einer in ihrer Länge definierten Freiheitsstrafe zu verzichten beziehungsweise diesen so weit zu modifizieren, dass einer möglichen Resozialisierung Vorrang gegenüber einer absoluten Sicherheit gegeben wird.

An diesem Beispiel wird auch gleich das zweite Dilemma deutlich, dass eine Vollzugsplanung, wie sie sich der Gesetzgeber und das Bundesverfassungsgericht vorstellen, meist unmöglich macht. Dieses Dilemma besteht in den unterschiedlichen Zielen von Anstalt und Gefangenem. Der Gefangene möchte so schnell wie möglich entlassen werden, die Anstalt möchte kein Sicherheitsrisiko in Kauf nehmen und muss dokumentieren, was sie dem Gefangenen alles an Therapie- und Behandlungsmaßnahmen angeboten hat. So wird die Vollzugsplanung in vielen Fällen zur Farce, allerdings zu einer sehr aufwendigen. Das Ganze muss bei ein paar Hundert Gefangenen veranstaltet werden. Zwei Tage in der Woche sind wir so mit der Vollzugsplanung beschäftigt, wohlgemerkt allein mit der auf dem Papier, ohne dass inhaltlich irgendetwas passiert, das die positive Entwicklung der Inhaftierten fördert. Die Akten von langjährigen Inhaftierten nehmen so gigantische Ausmaße an.

Thaler war ein solcher Inhaftierter. Er saß nun vor mir in einem Besprechungszimmer der Justizvollzugsanstalt. In diesem Zimmer führte ich meine wöchentliche Sprechstunde mit den Gefangenen durch, die mit mir oder mit denen ich sprechen wollte. Der Raum hatte vergitterte Fenster, in der Mitte befanden sich ein grüner Behördentisch aus den siebziger Jahren und zwei sich gegenüberstehende abgewetzte Stühle. In seiner Kargheit wirkte er wie der hilflose Versuch, dem, was die Männer zu verbüßen hatten, den Anschein reiner Zweckmäßigkeit zu geben.

Ich hatte Thaler zum Gespräch gebeten. Er wurde von einem uniformierten Beamten gebracht, der auch mit im Raum blieb. Das wurde generell so gehandhabt, weniger zum Schutz vor möglichen Übergriffen durch Gefangene, sondern eher, um das dort Besprochene und nicht Besprochene im Streitfalle bezeugen zu können. Nur in seltenen Ausnahmefällen wurden die Gefangenen mit Handschellen gefesselt vorgeführt, etwa wenn die konkrete Gefahr bestand, dass sie gewalttätig würden. Bei Thaler war das nicht der Fall. Ganz im Gegenteil, in den vielen Jahren seiner Haft hatte er sich nicht das Geringste zuschulden kommen lassen. Kein Konsum von Drogen oder Alkohol, keine Beleidigungen, nichts. Ich musste nun mit ihm sprechen, weil er jegliche psychotherapeutischen Behandlungsmaßnahmen verweigerte, die ihm in den Vollzugsplänen nahegelegt worden waren.

Seit jeher wird in und mit den Gefängnissen versucht, aus Straftätern rechtstreue Bürger zu machen. Die meisten personellen und sonstigen Ressourcen werden dabei auf diejenigen verwandt, welche die schlimmsten Straftaten begangen haben. Ursprünglich wurden vor allem für Sexualstraftäter umfangreiche Behandlungsprogramme entworfen, später auch für Gewalttäter. Das waren die politisch brisanten Fälle. Fast jeder, auch der schlimmste Gewaltverbrecher, wird schließlich irgendwann entlassen. Wie viel Erfolg das Gefängnis und seine Behandlungsmethoden bei der Reduzierung der Gefährlichkeit haben, wird dabei jedoch kaum hinterfragt.

Im Strafvollzug waren wir gehalten, nicht nur Behandlungsmaßnahmen anzubieten, sondern die entsprechenden Gefangenen auch regelmäßig zu einer Teilnahme zu motivieren und diese »Gespräche« – faktisch waren es eher Belehrungen – schriftlich zu dokumentieren. Ein Psychologe in der mit über achthundert Gefangenen belegten Anstalt war fast ausschließlich mit diesen Motivationsgesprächen beschäftigt und musste sich auch selbst regelmäßig in der Motivationskunst schulen und weiterbilden lassen. Zu erfolgreich durfte er allerdings auch nicht sein, denn es standen nicht für alle Gefangenen ausreichend Therapieplätze zur Verfügung. Insbesondere wenn es darum ging, ob eine lebenslange Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden konnte oder auch, ob eine Sicherungsverwahrung (weiter) vollzogen werden musste, ging es neben der Einschätzung einer fortbestehenden Gefährlichkeit des Betroffenen um eine Abwägung: Hat der Gefangene alles Zumutbare getan, seine Gefährlichkeit zu reduzieren, und hat die Anstalt dafür ihrerseits alles Zumutbare unternommen?

Thaler konnte ironisch, auch selbstironisch sein, eine Eigenschaft, die ihn von den meisten Inhaftierten und Gefängnisbediensteten unterschied. Kein Wunder, setzt dies doch Reflexion voraus, und das System Gefängnis ist genauso unreflektiert wie viele der Straftaten seiner Insassen.

»Die Würde des Menschen ist unantastbar? Ich hab die Würde der Menschen, die ich umgebracht und vergewaltigt hab, möglicherweise doch etwas angetastet. Und was das mit meiner Würde zu tun haben soll, jahrzehntelang weggesperrt zu sein und dauertherapiert zu werden, um dann kurz vor meinem Tod die grenzenlose Freiheit eines Altersheimes genießen zu dürfen, ist mir ein Rätsel. Da geht es wohl eher um euch, nicht um mich. Ihr wollt das Gefühl haben, menschenwürdig zu handeln. Um den Menschen, den ihr behandelt, geht es euch dabei nicht wirklich. Meine Würde kann doch eigentlich nur ich definieren, nicht ihr! Ihr nehmt mich doch genauso als Geisel, wie ich dies mit anderen getan habe. Ich stehe dazu, dass es schlecht und unmenschlich war, was ich gemacht habe. Ihr verkauft das, was ihr tut, dagegen noch als menschenwürdig! Die größte Würde des Menschen liegt doch in seinem Willen, in seinem eigenen, einzigartigen Willen. Deshalb habt ihr mich doch verurteilt. Weil ich meinen Willen über den meiner Opfer gestellt habe. Den Willen zu brechen oder zu stoppen, der darin besteht, anderen Schaden zuzufügen, das macht für mich Sinn. Aber meinen Willen, mich frei zu bewegen, mein Leben selbst zu gestalten, es so weit als möglich lebenswert zu machen, diesen Willen darf ich nicht ausleben. Was soll mir dann noch von meiner Würde bleiben? Meine Würde liegt ganz in eurem Ermessen. Das ist keine Würde. Das ist ein Gnadenbrot. Nein, ihr, der Staat, ihr stellt euren Willen über meinen. Und ihr tut so, als ginge es nicht anders, als müsstet ihr das tun. Aber ihr müsst es nicht, ihr wollt es. Diese verlogene Scheiße, das kotzt mich eigentlich am meisten an!«

Der »Supergau« für uns im Strafvollzug tritt dann ein, wenn ein Gericht einen Gefangenen mit der Begründung freilässt, er sei zwar noch sehr gefährlich, aber es sei von der Vollzugsanstalt versäumt worden, ihm ausreichend Möglichkeiten zu geben, an dieser Gefährlichkeit zu arbeiten. Daher also der ganze Aufwand mit immer neuen therapeutischen Angeboten und Motivationsmaßnahmen. Thaler, als mehrfacher Mörder, Geiselnehmer und Vergewaltiger, stand im Fokus aller rechtspolitischen Bemühungen, zumindest den Anschein aufrechtzuerhalten, man könne die Allgemeinheit vor jeder Gefahr schützen, ohne den Gefährlichen inhuman zu behandeln. Auf Thaler stürzten sich daher alle Vollzugsjuristen und Gefängnistherapeuten.

An den ersten, halbjährlichen Motivationsgesprächen hatte er noch teilgenommen und sich geduldig über das reichhaltige Behandlungsportfolio des Strafvollzuges informieren lassen. Nach einigen Jahren aber wurde es ihm zu bunt, und er verweigerte die Teilnahme an den Gesprächen.

Nun wurde ich, als Jurist, auf den Plan gerufen. Ich musste ihm eindringlich und vor allem aktenkundig vor Augen führen, welche juristischen Folgen es haben könnte, wenn er sich den ihm angebotenen Behandlungsmaßnahmen entziehen würde.

»Herr Thaler, warum nehmen Sie denn nicht mehr an den Motivationsgesprächen teil?«

Er lächelte verständnisvoll, fast etwas mitleidig. Ich hatte im Verlaufe des Gesprächs immer stärker das Gefühl, wir beide wussten, dass wir hier unfreiwillige Rollen in einem riesigen Theater ohne Zuschauer spielten.

»Na ja, was soll denn das bringen? Wissen Sie, ich bin jetzt seit über fünfzehn Jahren im Knast. Mit den meisten anderen Gefangenen will ich nichts zu tun haben, das ist irgendwie nicht meine Wellenlänge. Besuch von draußen hab ich seit Jahren nicht bekommen. Aber bei euch, ich meine, bei Ihnen, den Beamten, da gibt es einige wirklich tolle Leute! Das sind meine sozialen Kontakte, verstehen Sie?«

»Noch nicht so ganz.«

»Na ja, ich will Sie, ich will die Beamten hier ernst nehmen, und ich will von ihnen ernst genommen werden. Was soll denn eine Therapie bei mir? Ich habe eine Mindestverbüßung von 37 Jahren, das sind jetzt noch über zwanzig Jahre. Und glauben Sie im Ernst, dann würde mich jemand entlassen, nur weil ich irgendwelche Gesprächsgruppen mitgemacht habe? Wo ich dann lerne, angemessen mit meiner Wut, meinen Aggressionen umzugehen? Jemanden nicht unterbrechen, wenn er spricht, keine Negativmitteilungen in der Kommunikation verwenden, mit Ich-Botschaften arbeiten und der ganze Mist? Ich hab drei Polizisten erschossen, das Leben einer Frau zerstört. Man kann nicht lernen, so etwas zu tun, und man kann auch nicht lernen, so etwas nicht wieder zu tun. Verstehen Sie? Das ist so unmenschlich. Das kann man nie verstehen. Wenn, dann müsste doch ich es verstehen, oder? Ich hab es schließlich getan. Aber ich kann’s nicht verstehen, und ich werd’s nie verstehen. Es ergibt einfach keinen Sinn. Es war ein einziger Rausch. Oft träum ich davon. Gerade das mit der Frau …« Er musste mit den Tränen kämpfen, und das schien nicht gespielt. »Das kann man nie wiedergutmachen. Will man durch die Therapie erreichen, dass ich einsehe, was ich angerichtet habe? Mehr einsehen als jetzt kann ich es nicht, und selbst wenn, wer hätte was davon? Nein, Sie wissen so gut wie ich, das ganze Therapie-Theater ist reine Augenwischerei und höchstens eine Beschäftigungstherapie, für Sie und für uns. Und weil das hier drinnen mein Leben ist, ich habe ja sonst keines, will ich es ernst nehmen, so gut es eben geht. Dazu gehört, dass ich diesen Unfug nicht mitmache!«

Dem konnte ich nichts Vernünftiges entgegenhalten. Ich war, wie so oft, dankbar, mich in den schützenden Wald der Juristerei flüchten zu können. Ich belehrte ihn aktenkundig, dass er Gefahr laufe, in zwanzig Jahren nicht entlassen zu werden, wenn er keine Therapie absolviere.

II.

Thalers Lebenslauf war gerade in den so wichtigen ersten Jahren wie der der allermeisten Straftäter von Vernachlässigung, Gewalt und Missachtung seiner natürlichen Bedürfnisse geprägt. Seine Mutter, Gastwirtin in der Schweiz, wurde nach einer kurzen Beziehung mit einem Soldaten, den Thaler nie kennenlernen sollte, schwanger. Es folgten zahlreiche kurze Beziehungen und Liebschaften der alkoholkranken Frau, die mit dem kleinen Jungen in einer winzigen Wohnung neben der Gaststätte wohnte. Es ist nicht bekannt, ob Thaler auch sexuell missbraucht wurde, aber geschlagen wurde er. Von Anfang an. Von seiner Mutter, von deren Freunden, allesamt auf der Verliererseite des Lebens und immer darauf aus, ihren Frust ohne Risiko abreagieren zu können. Wobei diese Erklärung sicher zu einfach ist. Letztlich geht es allen Menschen in allem, was sie tun, auch darum zu verstehen oder verstanden zu werden. Und wer sollte das Leid, den Schmerz und den Selbsthass der Mutter und ihrer Kneipenbekanntschaften verstehen? Es interessierte sich doch niemand wirklich für sie. So musste Thaler daran glauben, herhalten für all das, was seine Erzeugerin belastete. Das Jugendamt wurde mehrfach alarmiert, hat Thaler aber bei seiner Mutter belassen. Als er vier Jahre alt war, wurde er ihr endgültig zu viel. Er störte mit seinem Geschrei, seinem Bettnässen, seinen Problemen, seiner Anwesenheit. Er kam zu seiner Großmutter, die von einer kleinen Rente lebte und das Kindergeld gut brauchen konnte. Seine Mutter brach jeden Kontakt zu ihm ab. Am Anfang ging der Junge noch täglich in die Gaststätte. Immer wieder schickten ihn die Mutter oder einer ihrer Freunde zurück zur Großmutter. Irgendwann resignierte er. Später wird er einem psychologischen Gutachter erzählen, er träume heute noch fast täglich davon, wie er zur Mutter will, er rennt zur Gaststätte, will die Tür öffnen, doch sie geht nicht auf, er hämmert dagegen, er schreit, er fleht, er wimmert, doch sie öffnet sich nicht, diese riesige, schwarze Tür. Er will zurück, in die andere Richtung, doch da ist nichts, nur ein tiefer, tödlicher Abgrund. Später dann, schon in der Schule, wurde er immer aggressiver. Schlägereien, Beleidigungen der Lehrer, Schulschwänzen. Im Alter von zehn Jahren trank er bereits Alkohol und rauchte. Mit dreizehn oder vierzehn erste Drogen. Als die Großmutter starb, kam er in ein Heim. Auch hier machte er nur Probleme. Die Schule verließ er ohne Abschluss, eine Ausbildung hat er nie absolviert. Mit dem Diebstahl von Zigaretten, Alkohol und Süßigkeiten begann er mit zehn oder elf, später dann dealte er mit Drogen. Mit fünfzehn kam er zum ersten Mal hinter Gitter und verbrachte von da an nur noch wenige Monate in Freiheit.

Wenn ich dies alles in Thalers Akten las oder mit ihm darüber redete, musste ich mich immer wieder fragen: War es nicht logisch, dass es so kommen musste, wie es eben gekommen ist? War es nicht zwingend, dass Thaler irgendwann völlig durchdrehen und morden und vergewaltigen würde? War nicht gerade dies Ausdruck davon, dass auch er ein Mensch mit Gefühlen und Bedürfnissen war, wie jeder andere auch? Wir tun so, als seien Straftäter ein anderer Menschenschlag, aber sind sie oft nicht gerade deshalb straffällig geworden, weil sie normal sind und ganz normal auf die Umstände ihrer Sozialisation reagiert haben? Wäre die einzige andere Möglichkeit für Thaler nur die gewesen, schwer krank zu werden? Aber ein Mensch kann nicht zwischen den Alternativen wählen, selbst zu leiden oder andere leiden zu lassen. Oder doch? Und wäre dann nicht die Entscheidung selbst eine krankhafte? Das, was Thaler getan hatte, war ohne jeden Zweifel zutiefst schlecht und zutiefst böse. Ob man von Schuld reden kann? In einem naturwissenschaftlichen Sinne gibt es sie ohnehin nicht, die Schuld. Die Frage ist, ob wir sie als soziales Konstrukt brauchen.

Ich habe Thaler einmal gefragt, wie er zu seiner Tat stehe und ob er sich schuldig fühle. Mit den wenigsten Gefangenen konnte man über diese Fragen, die doch den Kern unseres Zusammentreffens im Gefängnis ausmachten, sprechen. Zum einen hat das juristische Gründe. Die Gefangenen wissen, dass ihnen alles irgendwann in irgendwelchen Stellungnahmen »aufs Brot« geschmiert würde, und zwar so, wie die Anstalt es brauchte, und nicht unbedingt so, wie der Gefangene es gemeint hatte. Wer also beispielsweise sagte, er denke nicht oft an die Tat, der konnte fast sicher sein, dass ihm irgendwann vorgehalten würde, er verdränge die Tat und setze sich nicht mit ihr und seiner Schuld auseinander. Wer wiederum angab, er denke täglich an sein Verbrechen, der könnte sich mit dem Vorwurf konfrontiert sehen, er hätte es noch nicht verarbeitet und sei daher weiter gefährlich. Manche Gefangene äußern sich dennoch zur Tat, und viele gestehen auch ohne Umschweife ein, dass sie Unrecht begangen haben. Einige bagatellisieren ihre Vergehen beziehungsweise weisen dem Opfer einen Teil der Verantwortung für die Tat zu. Nicht immer zu Unrecht, wie etwa die Fälle des »Tyrannenmords« zeigen, in denen Frauen ihre gewalttätigen Männer nach vielen Jahren Missbrauch umbringen. Auch bei Männern, die ihre Frauen umgebracht haben, gibt es derartige Konstellationen, sie sind nur schwerer zu erkennen beziehungsweise anzuerkennen. Selbstverständlich rechtfertigt das nicht solche Taten, aber es sind Beispiele dafür, dass eine alleinige Verortung der Ursachen für Straftaten beim Täter nicht in jedem Fall angemessen ist.