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Schon das erste Buch von Gefängnisdirektor Thomas Galli sorgte für Aufsehen: Seine Geschichten über den Gefängnisalltag thematisierten den Problemkreis von Schuld, Strafe und Rehabilitation und stellten dezidiert die Frage: Wie sinnvoll, wie effektiv, wie menschenwürdig ist der Strafvollzug in seiner heute praktizierten Form? In seinem neuen Buch stehen Einzelschicksale von Straftätern im Mittelpunkt, bei denen nach schweren Taten und langer Haftstrafe über eine Sicherungsverwahrung entschieden werden muss. Wann gilt ein Täter als »höchst gefährlich«? Worauf gründen Justiz, Gefängnisverwaltung und Psychologen ihr Urteil über seine Gefährlichkeit? Wie lassen sich Gefahren für die Allgemeinheit abwenden oder begrenzen?
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Seitenzahl: 205
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ISBN E-Book 978-3-360-50141-7
ISBN Print 978-3-360-01318-7
© 2017 Verlag Das Neue Berlin, Berlin
Umschlaggestaltung: Verlag, Peter Tiefmann,
unter Verwendung eines Motivs von Bigstock
Die Bücher des Verlags Das Neue Berlin
erscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.
www.eulenspiegel.com
Über das Buch
Neun Geschichten über Straftäter und den Strafvollzug: Ein Musikstudent kommt wegen Drogenbesitzes und Schwarzfahrens in Strafhaft – drei Tage später ist er tot. Eine andere: Nach langjährigen therapeutischen Maßnahmen darf ein Mörder in den Freigang – und späht sein nächstes Opfer aus. Und auch diese: Jahrelang hat der Zirkusdirekror ums Überleben seines Unternehmens gekämpft. Als der Gerichtsvollzieher am Wohnwagen klopft, zieht er die Waffe. Im Gefängnis scheint er wieder der kühle Kopf zu sein, der für alles eine Lösung findet.
Thomas Galli erzählt Einzelschicksale und unterzieht Sinn und Effektivität von Haftstrafen und Sicherungsverwahrung einer kritischen Befragung.
Über den Autor
Thomas Galli, geboren 1973, studierte Rechtswissenschaften, Kriminologie und Psychologie und promovierte. Er arbeitete über fünfzehn Jahre im Strafvollzug. 2013 wurde er Leiter der JVA Zeithain, zeitweise zusätzlich Leiter der JVA Torgau. Er war Vertreter Sachsens bei der Bundesvereinigung der Anstaltsleiter. Daneben beschäftigt sich Galli auch wissenschaftlich mit kriminologischen Fragestellungen und war Lehrbeauftragter u.a. für Strafrecht, Psychologie und Kriminologie. Er ist Mitglied des Kriminalpräventiven Rats Dresden sowie Mitglied des Vorstands von netzwerkB, einem Verband zur Vertretung der Interessen von Betroffenen sexualisierter Gewalt. Seit Oktober 2016 ist er als Rechtsanwalt tätig.
Vorwort
Der Verwahrte
Die Frau im Käfig
Der Zirkusdirektor
Aktenvermerk
Haftraum 108
Der Staatsdiener
Der verlorene Sohn
Das Opfer
Der Terrorist
Epilog
Nachwort oder die Möglichkeit einer Gefängnisinsel
Täglich aber droht dem Menschen vom Menschen Gefahr.
Lucius Annaeus Seneca
Vorwort
Es gibt verschiedene Gründe, aus denen der Staat Menschen einsperrt. Vor allem sind dies Vergeltung, Abschreckung, Resozialisierung und Sicherung der Allgemeinheit. Während anhand der Fallgeschichten meines ersten Buchs, »Die Schwere der Schuld: Ein Gefängnisdirektor erzählt«, vorrangig Schuld und Vergeltung als Grundlage des Freiheitsentzuges thematisiert wurden, geht es in diesem Buch im Schwerpunkt um den Umgang mit der Gefahr und die Sicherung der Allgemeinheit vor gefährlichen Menschen, insbesondere auch in Form der Sicherungsverwahrung.
Ein möglichst sinnvoller und menschenwürdiger Umgang mit als gefährlich eingeschätzten Menschen gehört zu den größten Herausforderungen für Staat und Justiz. Etwas oder jemanden als »Gefahr« oder »gefährlich« zu bezeichnen ergibt nur Sinn, soweit der Mensch die Gefahr abwägen und beeinflussen kann. Mit unserer Existenz untrennbar verbundene Tatsachen wie etwa den altersbedingten Tod als Gefahr zu bezeichnen, würde im Denken und Handeln nicht weiterführen und wäre daher zumindest überflüssig. Eine Gefahr trägt die Möglichkeit ihrer Abwendung in sich, genauer, sie suggeriert die Perspektive ihrer Abwendung. Verbunden mit der Tatsache, dass Gefahr immer nur die Möglichkeit und nicht die Gewissheit eines Schadenseintritts bezeichnet und voraussetzt, ist die Verwendung des Begriffs Gefahr gefährlich. Insbesondere wenn er, und darum geht es in diesem Buch, auf Menschen angewandt wird. Denn potenziell gefährlich ist jeder Mensch. Aber jeden Mitmenschen als Gefahr zu sehen, wäre schädlich für uns alle. Keinen als Gefahr zu sehen ebenso. Die Gefahr, die von einem konkreten Menschen ausgeht, als zu groß einzuschätzen könnte genauso verhängnisvoll sein, wie sie als zu gering einzuschätzen.
In diesem Buch geht es nicht um rechtliche Detailfragen. Es geht um Menschen, die als höchst gefährlich gelten. Was haben sie getan, und was kann man mit ihnen und gegen ihr Aggressionspotenzial tun? Wie verhält sich der Staat zu ihnen und zur vorgeblichen Beherrschung der Gefahr? Der Gefahr, die von Sicherungsverwahrten und Gefangenen ausgeht, die zu einer langen bis hin zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt wurden. Und es geht darum, wie Menschen gefährlich werden können und um die, bei denen sich eine solche Gefahr im Einzelfall verwirklicht hat. Um die Opfer.
Bevor ich Leiter der JVA Zeithain in Sachsen wurde, war ich dreizehn Jahre lang im bayerischen Justizvollzug tätig. Zunächst als Mitglied der Anstaltsleitung in der JVA Amberg, in der eine der ersten sozialtherapeutischen Abteilungen für schwerste Sexualstraftäter etabliert wurde, sodann sieben Jahre lang als Mitglied im Team der Anstaltsleitung der JVA Straubing, der Anstalt mit der höchsten Sicherheitsstufe in Bayern, in der einige hundert Inhaftierte eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßen und in der auch die Sicherungsverwahrung vollzogen wird. Zeitweise habe ich zusätzlich zur JVA Zeithain die sächsische JVA Torgau geleitet, in der ebenfalls Täter mit langen, teils lebenslangen Freiheitsstrafen einsitzen. Ich konnte also viele Erfahrungen sammeln. Mit den Menschen, die als höchst gefährlich eingeschätzt werden, damit, auf welchen Grundlagen diese Einschätzung beruht, damit, welche Folgen es auslösen kann, wenn ein Mensch als gefährlich oder ungefährlich gilt, und schließlich mit den Versuchen, einer Gefährlichkeit zu begegnen.
Die Geschichten in diesem Buch stehen für sich selbst. Die Leser mögen sich ihr eigenes Bild machen.
Ich persönlich bin überzeugt, dass unser Umgang mit der Gefahr im Menschen unvernünftig ist. Ihm liegen Fehlvorstellungen über die sozialen Anteile an der individuellen Gefahr und über das Ausmaß und die mögliche Begrenzung dieser Gefahr insbesondere im Hinblick auf die Vorhersehbarkeit und Veränderbarkeit menschlichen Verhaltens zugrunde. Fehlvorstellungen, die auf der einen Seite dazu führen, dass viel zu vielen Menschen die Freiheit entzogen wird, und die auf der anderen Seite zur Folge haben, dass auch Menschen wieder in Freiheit kommen, die wiederholt gemordet haben und wieder morden. Fehlvorstellungen mit tödlichen Folgen also. Unter dem Strich verringert unser derzeitiges Strafrecht nicht die Gefahr im Menschen, sondern vergrößert sie.
Die Geschichten in diesem Buch sind real, allerdings zum Schutz insbesondere von Persönlichkeitsrechten so komponiert, dass sie nicht konkreten Personen zugeordnet werden können. Eine Ähnlichkeit diesbezüglich wäre Zufall.
Thomas Galli
Der Verwahrte
I.
Welco konnte nicht verstehen, warum er nicht entlassen wurde. Akzeptieren musste er es, aber er hätte es gerne verstanden, zumindest irgendwie eingeordnet. Doch das war nicht möglich. Und vielleicht wurde es dadurch noch unerträglicher, dass die um ihn herum, die Mitgefangenen, die Beamten bis hin zum Anstaltsleiter, seine Rechtsanwältin, dass sie alle auch nicht verstanden, warum er nicht freikam. Die Ursache für seine Inhaftierung lag weit in der Vergangenheit, sie war für ihn kaum noch greifbar.
Jetzt hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, dass die Sicherungsverwahrung in Deutschland gegen europäisches Recht verstoße. Da bereitete Welco sich, nach neun Jahren Haft und zwölf Jahren anschließender Sicherungsverwahrung, zum ersten Mal auf die Entlassung vor. Mit Hilfe des Sozialarbeiters besorgte er sich ein Zimmer in einem Übergangswohnheim. Ein Pfarrer, seine einzige Bezugsperson nach draußen, verschaffte ihm eine Anstellung als Kirchenhelfer. Auf geringfügiger Basis, aber immerhin. Seinen Mitgefangenen gab er selbstgebastelte Visitenkarten mit seiner künftigen Adresse, damit sie ihm fleißig schreiben konnten. Stolz hatte er auf den Kärtchen unter seinem Namen »Kirchenhelfer« notiert. Alle freuten sich mit ihm, dass er entlassen werden konnte. Auch die Beamten, denn Welco war ein sympathischer Verwahrter. Und gefährlich? Nein, kein Mensch, der ihn kannte, hielt Welco für gefährlich. Zumindest nicht mehr. Er war nun fast fünfzig und saß wegen Straftaten, die er vor über zwanzig Jahren begangen hatte. Welco hielt seine Strafe für gerecht. In anschließende Sicherungsverwahrung kam er, weil das Gericht annahm, dass die Gefahr weiterer Straftaten von ihm ausginge. In der Sicherungsverwahrung sollte er so lange therapiert werden, bis diese Gefahr auf ein vertretbar geringes Maß reduziert wäre. Welco akzeptierte auch das, obwohl er für sich selbst wusste, dass er nie wieder Ähnliches begehen würde. Aber er verstand, dass andere Menschen Angst hatten, er könne es tun.
Er machte jede therapeutische Maßnahme mit, die ihm in den halbjährlichen Vollzugsplänen nahegelegt wurde. Kern der Behandlung waren zwei wöchentliche Therapiegespräche mit der Psychologin. Welco war ein angenehmer Patient, der in der Therapeutin die fürsorgliche Mutter sah, eine Rolle, die sie gerne annahm. Sie therapierte ihn mit großer Ausdauer, über die Jahre kamen so einige Hundert Stunden an Einzeltherapie zusammen. Für Welco und die Psychologin war es ein schmerzlicher Gedanke, dass diese therapeutische Beziehung mit einer eventuellen Entlassung enden sollte. Sie bot ihm daher an, ihn für diesen Fall auch in Freiheit weiter zu betreuen. Da sie im Rahmen ihrer Ausbildung nicht als Psychotherapeutin zugelassen war, würde das allerdings keine Krankenkasse übernehmen, aber sie wollte ihm dafür keine Kosten in Rechnung stellen.
Zu den Einzelgesprächen kamen zahlreiche Gruppentherapiesitzungen, Anti-Gewalt-Training, Soziales Kompetenztraining, Yoga und anderes Entspannungstraining. Besonders gerne nahm Welco die sport- und kreativtherapeutischen Angebote wahr. Er lernte Gitarre, Klavier und Schlagzeug zu spielen, und seine Aquarellmalereien erzielten bei den jährlichen Verkaufsveranstaltungen für Besucher Höchstpreise.
Trotz allem konnten sich Anstaltsleitung und Gutachter in all den Jahren nicht dazu durchringen, Welco eine positive Prognose zu bescheinigen. Er war auffallend unauffällig. Seine Aggressionen schlummerten möglicherweise tief in ihm, die Gefahr schien zu groß, dass sie sich nach einer Entlassung entladen könnten. Sie empfahlen dem Gericht bei der regelmäßigen Überprüfung die Fortdauer der Sicherungsverwahrung, da noch weiter intensiv therapeutisch auf Welco eingewirkt werden müsse, um Zugang zu seinen Gefühlen zu gewinnen. Das Gericht folgte diesen Vorschlägen und verlängerte die Sicherungsverwahrung ein ums andere Jahr. Da diese Sicherungsverwahrung bis zum Lebensende dauern konnte, schwanden Welcos Hoffnungen, noch einmal in Freiheit zu kommen, mehr und mehr. Was sollte er denn noch tun, außer sich regelkonform zu verhalten und alle therapeutischen Maßnahmen zu absolvieren? Aggressionen zeigen? Dann wäre ihm bei der nächsten Gelegenheit vorgeworfen worden, er verhielte sich selbst in Haft aggressiv, in Freiheit sei ihm daher erst recht nicht zu trauen.
Umso größer war daher die Freude und Erleichterung, als der Europäische Gerichtshof die deutsche Sicherungsverwahrung in Fällen wie seinem für rechtswidrig erklärte. Für Insider hatte das Gericht damit nur das festgestellt, was ohnehin offensichtlich war. Nach deutschem Recht sollte die Sicherungsverwahrung, die mit der Gefährlichkeit des Betroffenen begründet wird, etwas grundsätzlich anderes als die Freiheitsstrafe sein, die mit der Schuld des Betroffenen begründet wird. Da der Gefährliche den Freiheitsentzug hinnehmen musste, obwohl er seine Schuld schon verbüßt hatte, sollte es ihm deutlich besser gehen als dem schuldigen Strafgefangenen. Rein faktisch war das aber nicht der Fall. Sicherungsverwahrte wurden mit Gefangenen in ein und denselben Gefängnissen untergebracht. Sie durften öfter als die Strafgefangenen ihre privaten Jogginganzüge tragen, was diesen nur während des täglichen einstündigen Aufenthalts im Freien erlaubt war. Sie durften auch für etwas mehr Geld monatlich einkaufen und bekamen einmal monatlich zusätzlich Fleisch zum Essen. Auch durften sie größere Fernseher als die Gefangenen in Besitz haben. Welco war Vegetarier und brauchte keinen größeren Fernseher, da er überhaupt keinen Fernseher hatte und wollte. Er ging ab und zu in den Gemeinschaftsraum zum Fernsehen, das war ihm genug. Auch durften Verwahrte öfter als Strafgefangene Besuch von außerhalb empfangen. Welco unterhielt wie die meisten Sicherungsverwahrten kaum noch Kontakt zu Menschen in Freiheit, so dass er selbst das Kontingent von wenigen Stunden monatlich, das Strafgefangenen zustand, nicht ausschöpfte. Für die, die eingesperrt waren, machte es also keinen Unterschied, ob sie sich in Haft oder Verwahrung befanden. Die, die sie eingesperrt hatten, nannten es nur anders und begründeten es anders.
Aber dann kam die bittere Ernüchterung. Welco wurde nicht entlassen, trotz der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs. Anders als eine Entlassung ist eine Nicht-Entlassung ein sich quälend in die Länge ziehender Prozess. Es gab keinen konkreten Termin, an dem Welco nicht entlassen wurde. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute wurde er nicht entlassen, und jede folgende Minute hoffte er darauf, entlassen zu werden. Aber es passierte nicht, und die Hoffnung verwandelte sich zunehmend in Verzweiflung. Auch als die Bundesrepublik dazu verurteilt wurde, einigen anderen Sicherungsverwahrten Schadensersatz zu zahlen, weil sie auf einer rechtswidrigen Grundlage inhaftiert waren, wurden die Sicherungsverwahrten nicht entlassen. Wie konnte das sein? Warum hielt Deutschland sich nicht an internationale Verträge, an europäisches Recht? Hätte der Europäische Gerichtshof irgendetwas zu Ungunsten der Verwahrten entschieden, dann wäre das unverzüglich umgesetzt worden. So aber wurde Welco schmerzhaft bewusst: Man wollte ihn nicht freilassen, ohne dass man das juristisch überzeugend begründen konnte. Wie soll der Staat denn den Straftätern ernsthaft beibringen, dass sie sich an Recht und Gesetz halten müssen, wenn er selbst es nicht tut? Deutschland jedenfalls wollte erst einmal eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abwarten, das noch vor einigen Jahren die Sicherungsverwahrung für rechtmäßig erklärt hatte. Nun also hieß es warten auf dies Entscheidung. Lange warten.
Fast zwei Jahre dauerte es, bis das Gericht zu einer Entscheidung kam, die für Welco zunächst wieder fast alle Hoffnungen zerstörte. Zwar erklärte auch das höchste deutsche Gericht die Sicherungsverwahrung für rechtswidrig, allerdings ordnete es eine Übergangszeit an, innerhalb derer die Sicherungsverwahrung weiter vollzogen werden durfte. Bis zum Ende dieser Übergangszeit mussten neue gesetzliche Regelungen geschaffen werden und die faktische Gestaltung der Sicherungsverwahrung musste sich deutlicher von der Strafhaft unterscheiden.
Einen Hoffnungsschimmer gab es allerdings für Welco. Er lag bemerkenswerterweise im Begriff der »Gefahr«. Von Verwahrten wie Welco, die länger als zehn Jahre in Sicherungsverwahrung lebten, musste nun nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts eine hochgradige Gefahr künftiger schwerster Gewalttaten drohen. Und in den letzten Entscheidungen des zuständigen Gerichts, in denen die Fortdauer von Welcos Sicherungsverwahrung angeordnet worden war, stand nichts von einer hochgradigen Gefahr. Die Rede war immer nur von einer Gefahr. Nun würden die Gutachter und das Gericht doch hoffentlich nicht feststellen, dass er seit der letzten Überprüfung noch gefährlicher geworden sei und sich die von ihm ausgehende Gefahr zu einer hochgradigen Gefahr entwickelt hätte?
II.
Welco war wegen mehrerer Banküberfälle verurteilt worden.
Er kam, wie man so sagt, aus gutbürgerlichen Verhältnissen. Beide Eltern praktizierten als Ärzte. Der Vater als Gynäkologe, die Mutter als Kinderärztin. Sie liebten ihn. Als er zwei Jahre alt war, starben seine Eltern bei einem Autounfall. Verwandte, die sich um ihn kümmern konnten, gab es nicht. So kam der kleine Welco zu Pflegeeltern. Der Vater Diakon, die Mutter Sekretärin. Eigene Kinder waren ihnen verwehrt geblieben. Anständige Menschen, keineswegs unfreundlich, aber sie konnten offenbar nie Liebe zu ihrem Pflegekind entwickeln. Vielleicht hätten sie auch für ein anderes, ein eigenes Kind keine Liebe empfinden können, vielleicht lag es an Welco, dass sie ihn nicht lieben konnten. Oder er empfand nur das Gefühl des Nicht-geliebt-Seins. Jedenfalls gab er seinen Pflegeeltern keine Schuld. Auch nicht dafür, dass er ihnen seinerseits keine Liebe entgegenbrachte und nie wirklich zu sich selbst fand, um sich selbst zu akzeptieren. Er konnte sich nicht erklären, woran es lag. Gab er sich selbst die Schuld dafür, sich und sein Leben nicht zu lieben? Oder war Schuld das Gefühl, das entstand, wenn man sich nicht akzeptierte?
Es war seltsam, als er irgendwann im Gefängnis landete, denn er hatte schon immer empfunden, in einer Art Gefängnis zu leben. Getrennt von den Gefühlen, die er kaum seine Gefühle nennen konnte und die doch allein das wahre, das spürbare, das lebendige Leben waren. Aber er wusste, dass sie da waren, und das machte es noch schlimmer. Es bereitete ihm Schmerzen, nicht an sie heranzukommen, und er litt sehr unter seiner Einsamkeit. Er fühlte sie auch dann, wenn er zum Beispiel in der Schule mit anderen zusammen war, und wusste nicht, was schlimmer für ihn war: die tatsächliche Einsamkeit, über die sich die anderen Menschen mit der Gewissheit hinwegretten können, jederzeit wieder Kontakt zu den Mitmenschen aufnehmen zu können, oder die gefühlte Einsamkeit im Beisein von anderen. Er dachte oft darüber nach, warum das überhaupt einen Unterschied ausmachte. Getrennt von anderen Menschen war man doch ohnehin, sobald man den Mutterleib verließ. Stellte das Gefühl der Einsamkeit nur eine Illusion dar, eine Selbsttäuschung im Dienste der Evolution, die nur erfolgreich sein konnte, wenn es die Menschen zueinander trieb? Dann war auch das Gefühl des Geborgenseins, des Sich-vereint-Fühlens mit anderen eine Illusion und Selbsttäuschung. Aber der Versuch, sich das alles bewusst zu machen, half nicht. Genauso wenig würde es gegen den Hunger helfen, sich bewusst zu machen, dass das Essen im Sinne der Evolution geschah. Die anderen Menschen waren wie seine Gefühle. Sie existierten, und er nahm sie wahr, aber er gehörte nicht dazu, er kam nicht an sie heran. Irgendwie funktionierte er dennoch. Das musste er auch, um zumindest gelegentlich Anerkennung zu bekommen. Anerkennung war keine Zuneigung, aber besser als die völlige Missachtung, die er ansonsten befürchtete. Funktionieren nach ihrer Sicht der Dinge, im Sinne der Eltern. Sie halfen ihm nie, seinen eigenen Weg zu finden und ein Selbstwertgefühl zu entwickeln.
Sein Abitur fiel mittelmäßig aus. Als er beschloss, danach nicht zu studieren, sondern eine Lehre zu absolvieren, waren seine Pflegeeltern enttäuscht. Er lernte Drucker, arbeitete jedoch nie als solcher, da er nach Abschluss der Lehre sofort einen Job als Verkäufer in einer Buchhandlung fand. Er liebte Bücher, sofern man da von Liebe sprechen mag. Sie waren für ihn von früher Kindheit an mehr als nur die Flucht aus seiner leb- und lieblosen Realität. Die Bücher halfen ihm zu überleben. Zu leben. Dort fand er zumindest ein Stück Sinn für sich selbst. Während es am Anfang, mit Karl May und anderen, eher darum ging, sich hineinzudenken, hineinzufühlen, hineinzuleben in die Figuren und durch sie teilzunehmen an einem Leben, das so viel aufregender, emotionaler, wirklicher war als das unterdrückte, kranke, rein funktionsorientierte Dasein im Haus der Pflegeeltern, hatte er bald das Gefühl, durch das Lesen verstanden zu werden. Er las über Gedanken oder Gefühle anderer Menschen und entdeckte seine eigenen Gedanken und Gefühle darin. Erst Hesse, später Dostojewski. Ab und an konnte er so die Gitterstäbe durchbrechen und an dem teilnehmen, was andere so selbstverständlich als Leben bezeichneten.
Einen anderen, nur kurzfristig erfolgreichen Zugang zu diesen Gefühlen suchte er, indem er erst Alkohol und Haschisch, später Kokain und Crystal konsumierte. Seine Pflegeeltern merkten überhaupt nichts davon. Wenn sie über Jugendliche sprachen, die Drogen nahmen, dann war das, als sprachen sie von Menschen auf einem anderen Stern. Nicht im Entferntesten kamen sie auf den Gedanken, dass ihr eigener Sohn Drogen nehmen könnte. Aus ihrer Sicht konnte er zufrieden und dankbar für sein Leben sein und war außerdem zu klug, um zu Drogen zu greifen. Das taten nur Menschen vom sozialen Rand. Und dumme Menschen. Und die nahmen Drogen auch nicht aus Not, sondern aus Übermut, und schädigten damit weniger sich selbst als vielmehr die Gesellschaft. Menschen, die Drogen konsumierten, stellten eine Gefahr für die Gesellschaft dar, nicht die Gesellschaft brachte Menschen in die Gefahr, Drogen zu nehmen. Diese Leute waren in den Erzählungen seiner Pflegeeltern abgehalfterte, heruntergekommene Typen. Durchgehend tätowiert, ohne Arbeit oder die Schule schwänzend, hingen sie an Bahnhöfen herum und prostituierten sich, um das notwendige Geld für den nächsten Schuss zu besorgen. Sie hatten keine Manieren, pöbelten fremde Menschen an und klauten, was sie in die Finger bekamen. Nun, Welco war nichts von alledem. Er gab sich immer höflich, schwänzte nie die Schule und war selbstverständlich nicht tätowiert.
Auch der Mann, von dem er die Drogen bekam, war ganz anders, als seine Pflegeeltern sich solche Menschen vorstellten. Mitschüler hatten sich über ihn unterhalten, und Welco hatte mitgehört, dass dieser Mann Drogen in bester Qualität zu einem fairen Preis verkaufen würde. Und sie schwärmten von der Wirkung der Drogen, außerdem habe die Wissenschaft längst bewiesen, dass Alkohol und Tabak gefährlicher seien. Die Mitschüler, die das sagten, empfanden offenbar, anders als er selbst, Spaß am Leben, waren selbstbewusst und hatten Freundinnen. Dennoch dauerte es sehr lange, bis Welco sich dazu durchrang, es auch einmal mit Drogen zu versuchen.
Er hatte sich in eine Mitschülerin verliebt, traute sich aber nicht, sie anzusprechen. Wenn sie nur in der Nähe war, lief er rot an und hatte das Gefühl, sich nur noch mit Mühe auf den Beinen halten zu können. Er nahm sich vor, etwas gegen seine Angst, seine Hemmungen und seine Komplexe zu nehmen. Nur einmal, oder nur so lange, bis er sich traute, das Mädchen anzusprechen. Dann würde alles leichter werden, und er bräuchte keine Drogen mehr.
Er wandte sich an einen seiner Mitschüler, ob er ihm bei seinem nächsten Kauf etwas mitbringen könnte. Leisten konnte er es sich ohne Probleme. Seine Eltern gaben ihm ein ordentliches Taschengeld, das er zum größten Teil sparte, da er weder Hobbys pflegte noch abends ausging. Dem Mitschüler war die Sache zu heikel, aber er nannte ihm die Telefonnummer des Mannes. Er solle dort einfach anrufen. Welco konnte nicht glauben, dass es so einfach gehen sollte. Im Fernsehen wurde es anders dargestellt. Aber es klappte ganz problemlos. Er rief an und sagte, er wolle etwas kaufen. »Was denn?«, fragte der Mann am anderen Ende der Leitung. »Ich kenne mich da nicht so aus. Gegen die Angst, um etwas lockerer zu werden, was kann man da nehmen?« – »Da habe ich was für dich.«
Sie vereinbarten ein Treffen in einem Park in der Nähe der Schule, und so fing alles an. Sie trafen sich regelmäßig, und der Mann verkaufte Welco immer mehr. Der Mann war höflich, fragte Welco nach Problemen beim Konsum und riet ihm, bestimmte Höchstmengen nicht zu überschreiten. Er verkaufte grundsätzlich nichts an Jugendliche unter 16 Jahren, und wenn er mitbekam, dass einer seiner Kunden ein Suchtproblem entwickelte, verkaufte er ihm nichts mehr. Wie ein Händler von Motorrädern, der seinen Kunden rät, nicht zu schnell zu fahren und immer einen Helm aufzusetzen. Im Hauptberuf war der stets gut gekleidete Mann Justiziar einer kleinen Software-Firma. Er nahm selber auch ab und zu Kokain, aber hatte es gut unter Kontrolle.
Welco halfen die Drogen tatsächlich. Er fühlte sich zumindest am Anfang glücklich und selbstbewusst. So selbstbewusst, dass er sich wohl auch getraut hätte, seine Mitschülerin anzusprechen, allerdings war ihm gar nicht mehr danach. Ihm genügte der Drogenrausch, der so viel schöner und intensiver war, als es eine Beziehung jemals sein könnte. Mit der Zeit aber wurden seine Probleme durch die Drogen größer, als sie es vor dem Konsum gewesen waren. Das Schlimmste an den Drogen war, dass sie ihm für eine kurze Zeit, für ein paar Augenblicke, eine besserer Welt zeigten. Es gab sie also, diese Welt. Auch in ihm, in seinem Kopf. Warum blieb sie nicht dauerhaft, und warum war sie wieder verschwunden und kam nicht zurück, wie viele Drogen er auch nahm? Welco hatte noch nie gut schlafen können. Er durfte selbst als kleines Kind nie im Bett seiner Pflegeeltern schlafen und konnte als Jugendlicher nur einschlafen, wenn er sich ganz eng in einen Teppich einrollte. Auch das half nun nichts mehr. Obwohl er nur ein- oder zweimal in der Woche Aufputschmittel nahm, konnte er ohne künstliche Stoffe überhaupt nicht mehr zur Ruhe kommen. Am Anfang versuchte er es mit Rotwein, musste aber bald zwei Flaschen davon trinken, um wenigstens zwei oder drei Stunden vor dem Aufstehen wegzudämmern. Morgens fühlte er sich dann wie gerädert. Um nicht aufzufallen, schwänzte er dennoch keinen einzigen Tag die Schule. Er kaufte sich bei seinem Händler Crystal, das am Anfang hervorragend wirkte. Er war frisch und leistungsfähig, auch wenn er kaum geschlafen hatte. Aber es war ein Teufelskreis, er schlief immer schlechter und brauchte abends immer stärkere Beruhigungsmittel. Irgendwie schaffte er es dennoch, zur Schule zu gehen. Seine Angst, negativ aufzufallen, war stärker als jede Droge. Positive Gefühle riefen die Drogen bei ihm längst nicht mehr hervor, aber es gelang ihm mit der Zeit, aufputschende und beruhigende Mittel so auszutarieren, dass er einigermaßen arbeitsfähig blieb.
Doch der Mann, bei dem er seine Drogen kaufte, geriet irgendwann ins Visier der Polizei, und mit ihm auch Welco. Einige Monate nachdem er in dem Buchladen zu arbeiten begonnen hatte, wurde er zum ersten Mal wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz inhaftiert. Er hatte größere Mengen bei sich zu Hause gehortet und wurde verdächtigt, selbst damit zu handeln. Für seine Pflegeeltern Grund genug, sich von ihm loszusagen, wobei das kaum einen Unterschied zu vorher machte. Nur gab es jetzt keine Höflichkeitstelefonate und Glückwünsche zum Geburtstag mehr. Der Buchhändler aber, für den er arbeitete, hielt während der mehrmonatigen Haft zu ihm. Er war für Welco Vaterfigur und Freund geworden. Nach der Haft konnte er in der Buchhandlung weiterarbeiten. Aber es war nicht wie zuvor. Die wirtschaftliche Situation gestaltete sich immer prekärer, die Konkurrenz durch die großen Buchhandelskonzerne und das Internet erdrückte den kleinen Laden. Und Welco wurde den Verdacht nicht los, dass viele Kunden nicht mehr kamen, weil sie wussten, dass er, ein ehemaliger Gefangener, hier arbeitete. Das Geschäft lebte hauptsächlich von langjährigen Stammkunden, die zwar von einem Verkäufer, der mit Drogen Kontakt hatte und im Gefängnis gewesen war, als Teil eines der Krimis, die sie so gerne lasen, fasziniert gewesen wären, ihn jedoch in der Realität nicht ertragen konnten. Der Buchhändler ließ ihn das nicht spüren, und er belastete ihn auch nicht mit den existenziellen Sorgen des Geschäfts, aber Welco wusste, dass er sie hatte und dass sie ihm schlaflose Nächte bereiteten. Er fühlte sich schuldig, und er wollte dem Mann, der so viel mehr als nur ein Arbeitgeber für ihn war, helfen.