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Unser noch aus der Zeit der Jäger und Sammler stammendes Gerechtigkeitsgefühl täuscht uns. Der Strafgedanke in seiner derzeitigen Ausprägung ist eigentlich überholt. Er fördert oft weder Gerechtigkeit noch das möglichst kooperative menschliche Miteinander. Der Täter-Opfer- Ausgleich muss wichtiger werden, wir dürfen das Strafen nicht mehr als Rache begreifen und müssen viel stärker in die Verhinderung von Straftaten investieren.
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Seitenzahl: 339
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Thomas Galli
Wie wir das Verbrechen besiegen können
Ideen für eine Überwindung der Strafe
1. Auflage 2024
© edition einwurf GmbH, Rastede
Folgende Ausgaben dieses Werkes sind verfügbar:
ISBN 978-3-89684-715-7 (Print)
ISBN 978-3-89684-716-4 (Epub)
Satz und Gestaltung:
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Thomas Galli
Ideen für eineÜberwindung der Strafe
Für Lisa, David, Lukas und Mathias
Einleitung: Eine Hinrichtung und der Ursprung der Strafe
Vergeltung Schadet
Vorzeitige Entlassung für Dr. M.?
Ronnie, der Gehilfe eines Friedhofsgärtners
Anna – Täterin oder Opfer?
Herr Ismaz, der Platzwart
Bill und der Teufel
Herr Muhrer hat immer alles richtig gemacht – fast immer
Herr Twoga, das Leben und der Tod
Johann und die Drehtür
Dustin und sein Sohn
Uri – ein guter Mann
Rudi – „Die Eier rausreißen“?
Verantwortung Nützt
Rationale Resozialisierung statt Irrglaube an Strafe
Vernunft als Grundlage
Evolutionärer Hintergrund
Die Macht der Gruppe
Gene und Umwelt
Staat und Gefängnis
Empfundene Gerechtigkeit
Schuld und Gerechtigkeit
Schuld und Vergeltung
Täuschende Instinkte
Schädliche Vergeltung
Sinn und Unsinn
Wir und die anderen
Resozialisierung
Norm und Individuum
Werte
Realitätsnahe Freiheitsbeschränkung und Arbeit mit Straffälligen
Verschiedene Welten
Opfer und Wahrheit
Der Ursprung des Übels
Existiert das Böse?
Risikofaktoren
Das Prinzip Verantwortung
Das Modell der rationalen Resozialisierung
Schluss
Anmerkungen
Literatur
Dank
Der Autor
Die Gruppe aus vielleicht dreißig Personen, die um die zwei jungen Männer herumstand, war gespannt, wer von den beiden länger aushalten würde. Die zwei waren Anfang zwanzig, drahtig und muskulös. Sie hatten, wie auch die Umstehenden, dunklere Haut. Es waren Brüder. Zwillingsbrüder. Dass zwei Kinder gleichzeitig geboren wurden, und auch noch überlebten, hatte die Gruppe zum ersten Mal erlebt. Waren das besondere Menschen, vielleicht mit übernatürlichen Fähigkeiten? Da die beiden unzertrennlich waren und immer nur als Einheit auftraten, wurden sie tatsächlich mit zunehmendem Alter mächtiger als jedes andere Mitglied der Gruppe. Und sie nutzten diese Macht, um andere unter Druck zu setzen und sich das zu nehmen, was sie wollten. Das waren vor allem Lebensmittel, aber auch Kleidungsstücke und Waffen.
Jetzt aber hatten sie keine Macht mehr. Ihre Augen waren vor Panik weit aufgerissen. Sie versuchten, Blickkontakt zu einem der Umstehenden zu bekommen, um vielleicht etwas Mitleid erregen zu können. Aber sie hatten keine Chance. Die Menschen um sie herum standen nun nicht mehr still. Sie fingen an zu tanzen, stießen Jubelschreie aus und schwangen ihre Speere über den Köpfen. Es konnte nun nicht mehr lange dauern. Die Zwillinge lagen auf dem Bauch. Hinter ihrem Rücken waren ihre Arme gefesselt und die Beine, so weit es ging, nach oben gewinkelt. Die an den Knöcheln verschnürten Füße waren mit einer Schlinge um den Hals verbunden. So wippten die beiden auf ihrer Körpermitte vor und zurück, und sobald ihre Beine schwächer würden und die Brüder sie nicht mehr oben halten könnten, würde sich die Schlinge um ihren Hals langsam zuziehen, und sie qualvoll ersticken. Die Gruppe geriet langsam in Ekstase.
Dies alles könnte so oder so ähnlich vor 10.000 oder 15.000 Jahren passiert sein. In den Addaura-Höhlen, vier Kilometer vom Zentrum der sizilianischen Stadt Palermo entfernt, wurden Höhlenmalereien mit einer Szene gefunden, die u. a. der Philosoph Hanno Sauer so deutet, dass die zwei jungen Männer zur Strafe hingerichtet worden sind.1 Um zu verstehen, warum wir heute noch strafen, und welche mittlerweile überholten Urinstinkte dabei eine Rolle spielen, müssen wir noch viel weiter in der Geschichte der Menschheit zurückgehen: in eine Zeit lang vor den ersten Höhlenmalereien. Der Philosoph Friedrich Nietzsche spitzt es zu: „Zürnen und Strafen ist unser Angebinde von der Tierheit her. Der Mensch wird erst mündig, wenn er dies Wiegengeschenk den Tieren zurückgibt.“2 Ganz rechtzugeben ist ihm, wenn man seine Zeilen wörtlich interpretieren wollte, nicht. Das Strafen ist – wie zu zeigen sein wird – vielmehr zum guten Teil auch eine menschliche Erfindung und Eigenheit, die bei den ersten Menschen durchaus ihren Sinn hatte. Es wird angenommen, dass unsere Vorfahren bereits vor etwa 500.000 Jahren damit begonnen haben, unsolidarisches, unkooperatives und zu aggressives Verhalten zu sanktionieren.3
Erste Strafgesetze
Viele tausende Jahre später wurden die ersten Gesetze schriftlich gefasst. Bekannt ist etwa der „Codex Hammurabi“, eine der ältesten erhaltenen Gesetzessammlungen der Welt. Sie geht zurück auf den babylonischen König Hammurabi, der etwa von 1728 bis 1686 vor Christus gelebt hatte.4 Einige Paragraphen5 mögen beispielhaft verdeutlichen, dass man auch zu der Zeit wenig zimperlich mit Menschen umging, die bestimmte Regeln nicht einhielten:
§ 1
Wenn ein Bürger einen Bürger des Mordes bezichtigt hat, ihn aber nicht überführt, so wird der, der ihn bezichtigt hat, getötet.
§ 8
Wenn ein Bürger ein Rind, ein Schaf, einen Esel, ein Schwein oder ein Schiff gestohlen hat, gehört es einem Gotte oder gehört es einem Palaste, so gibt er das Dreißigfache davon; gehört es einem Untergebenen, so ersetzt er das Zehnfache davon; wenn der Dieb nichts zu geben hat, so wird er getötet.
§ 129
Wenn die Ehefrau eines Bürgers beim (Zusammen-)Liegen mit einem anderen Manne ergriffen worden ist, so bindet man sie beide und wirft sie ins Wasser; wenn der Herr der Ehefrau seine Ehefrau am Leben lässt, so lässt auch der König seinen Knecht am Leben.
§ 153
Wenn die Ehefrau eines Bürgers um eines anderen Mannes willen ihren Ehemann umbringen lässt, so wird man sie pfählen.
Gut 3000 Jahre später waren die Strafen noch nicht viel humaner. Eher im Gegenteil. Die „Peinliche Halsgerichtsordnung“ Kaiser Karls V. von 1532 („Carolina“) gilt als erstes allgemeines deutsches Strafgesetzbuch. Als Hinrichtungsart war dort u. a. auch das lebendige Begraben vorgesehen (Art. 192), und in besonders strafwürdigen Fällen wurden den Hinzurichtenden vorher mit glühenden Zangen Fleischstücke herausgerissen (Art. 194).
Aus heutiger Sicht wird man viele dieser Strafen für unverhältnismäßig grausam und für die eigentlichen Verbrechen halten. Etwas relativiert wird die Härte der Bestrafungen allerdings dadurch, dass die Zeiten früher allgemein viel härter als heute waren.6 Der Codex Hammurabi und die „Carolina“ zeigen exemplarisch, dass wir in den letzten Jahrhunderten weitgehend zu zivilisierteren Formen von Strafe gefunden haben – wobei etwa in den mit uns befreundeten USA Hinrichtungen von Straftätern noch vielfach mit „Justice is served“ kommentiert werden. Auch unterscheiden unsere heutigen Strafgesetze nicht mehr zwischen verschiedenen Klassen von Menschen und sind nicht mehr in dem Maße Instrumente der Unterdrückung.7 Der Grundgedanke ist jedoch erhalten geblieben: Auf bestimmte Verhaltensweisen Einzelner, die gegen grundlegende Regeln des Zusammenlebens verstoßen, wird durch Zufügung eines Übels reagiert.
Menschen, die anderen zum Teil großen Schaden zufügen, indem sie stehlen, betrügen, verletzen, vergewaltigen oder morden, gibt es, der hunderttausende von Jahren alten Geschichte der Strafe zum Trotz, bekanntlich nach wie vor. So wurden im Jahr 2022 in der Kriminalstatistik des Bundeskriminalamts etwa 5,63 Millionen Straftaten registriert. Die meisten Straftaten werden im Eigentums- bzw. Vermögensbereich erfasst (z. B. Diebstahl), über 197.000 Fälle betreffen jedoch auch Gewaltdelikte.8 Diese Zahlen erfassen wohlgemerkt nur die offiziell registrierten Delikte, die Dunkelziffer nicht aufgedeckter (potenzieller) Straftaten muss noch dazu gerechnet werden. So hat eine groß angelegte Studie des Bundeskriminalamts ergeben, dass in den letzten zwölf Monaten vor der Befragung 13,5 Prozent der deutschen Bevölkerung Opfer einer Straftat9 im Netz (meist in Form von Waren- oder Dienstleistungsbetrug) geworden ist.10 Allerdings wird nur etwa jede fünfte Cybertat überhaupt angezeigt.11 Auch außerhalb des Internets sind nach dieser Studie innerhalb eines Jahres jeweils über 12 Prozent der Bevölkerung betrogen oder bestohlen worden12, wobei nur ein Bruchteil dieser Taten zur Anzeige kam.
Verbrechen und Strafe
Die Aufgabe, einen möglichst gewaltfreien und konstruktiven Umgang miteinander zu finden, wird angesichts globaler Herausforderungen wie der Klimakrise und der wachsenden Weltbevölkerung zunehmend wichtiger.13 Wir Menschen können uns immer weniger aus dem Weg gehen und sind stärker aufeinander angewiesen. Viele Straftaten sind Gewalt, und Strafen sind es auch. Niemand von uns will Opfer einer (schweren) Straftat oder wegen eigenen Fehlverhaltens unverhältnismäßig hart bestraft werden.
Strafen stehen nach wie vor im Zentrum der Bekämpfung von Kriminalität und sind für die meisten Menschen nicht wegzudenken. Knapp 662.000 Personen wurden 2021 in Deutschland rechtskräftig strafrechtlich verurteilt14, der weit überwiegende Teil zu Geldstrafen. Bei uns ist die härteste Strafe die lebenslange Freiheitsstrafe.15 Weltweit sitzen mehr als elf Millionen Menschen in Haft.16 In etwa 50 Ländern droht der dortigen Bevölkerung im schlimmsten Falle immer noch die Todesstrafe.17
Öffentliche Rufe nach mehr und härteren Strafen werden auch bei uns immer wieder laut, wenn über schlimme Vorfälle breit medial berichtet wird. So wurden etwa nach der tragischen Tötung einer Zwölfjährigen durch zwei zwölf und dreizehn Jahre alte Mädchen mit über 30 Messerstichen18 politische Forderungen nach Herabsetzung der Strafmündigkeit für Jugendliche19 erhoben.20 Auch für reale oder medial aufgeblähte Probleme wie die sogenannte Clan-Kriminalität oder prügelnde Jugendliche in Badeanstalten werden Strafen häufig als das Mittel der Wahl angesehen.21
Verbrechen22 und Strafe, so scheint es, gehören jedenfalls zusammen. Intuitiv entspricht dies wohl der Auffassung der meisten von uns. Was aber, wenn uns diese Intuition, unsere Instinkte, unsere Strafbedürfnisse und unser Gerechtigkeitsempfinden täuschen, und die „gute, alte“ Strafe gar nicht mehr das bewirkt, was sie vor Hunderttausenden von Jahren bewirkt hat? Was wäre, wenn sie, gesamtgesellschaftlich gesehen, eher destruktiv ist, zur Spaltung beiträgt, und soziale Ungleichheit verstärkt? Was wäre, wenn wir auf neuen Wegen viel mehr im Kampf gegen das „Böse“ im Menschen erreichen könnten?
Ich habe viel Erfahrung mit dem sammeln können, was Strafe, vor allem die Freiheitsstrafe, bewirkt. Gut fünfzehn Jahre lang war ich in verschiedenen Gefängnissen tätig, zuletzt als Leiter einer Anstalt. Dann verließ ich den Staatsdienst, und arbeite seither als Rechtsanwalt im Strafrecht. Ich vertrete Täter und Opfer.
Strafe ist jedoch nicht nur das, was der Täter zu erleiden hat, so wenig wie ein Verbrechen das ist, was allein der Täter zu verantworten hat, und was ausschließlich das Opfer schädigt. Zu den Ursachen und Folgen von Straftaten gehört auch das soziale Umfeld. Strafen werden im Namen des Volkes ausgesprochen und vollstreckt, sie sollen das durch Straftaten verletzte Gerechtigkeitsgefühl der Allgemeinheit wieder heilen. Beteiligt an und betroffen von Straftaten und Strafen sind also wir alle als Mitglieder unserer Gesellschaft. Das wiederum macht das Strafen zu einem Thema, bei dem es besonders schwer ist, einen allgemeinen Konsens zu erreichen. Es fällt schwer, es abstrakt und annähernd objektiv zu betrachten. Es geht nicht um ein Fußballspiel, das man von außen kommentiert. Wir fiebern nicht nur mit einer Mannschaft mit, wir sind Teil dieser Mannschaft und stehen mit auf dem Platz. Und nicht nur das: wir alle wollen gewinnen, oder zumindest nicht verlieren. In diesen Kontext ist auch das Strafen einzuordnen.
Hinter dem Strafen stehen individuelle und gruppenbezogene Interessen und Bedürfnisse. In der Tendenz neigen wir dazu, jenen Böses zu unterstellen, die sich unseren Interessen widersetzen, oder die Ideen zu verteufeln, die unseren Idealen widersprechen. So ist bei manchen der Staat „der Böse“, bei anderen der Kapitalismus, bei den nächsten jeder einzelne Polizist, oder eben jedes Individuum, das sich nicht an die Regeln hält, die man selbst für notwendig erachtet. Die Ausgangssituationen, von denen aus das Thema Strafe behandelt wird, sind sehr unterschiedlich, auch was das Wissen über Kriminalität und deren Bekämpfung betrifft.
Im Rahmen von Lesungen, Vorträgen oder Diskussionsveranstaltungen habe ich nach der Veröffentlichung meiner Bücher (zuletzt: „Weggesperrt: Warum Gefängnisse niemandem nützen“)23 in den vergangenen Jahren viele unterschiedliche Meinungen, Einstellungen und Gefühle zu diesem Themenkreis mitbekommen.
So habe ich Feministinnen getroffen, für die Gefängnisse Ausdruck patriarchalischer Gewalt waren, die jedoch gleichzeitig härtere Strafen für Gewalt gegenüber Frauen forderten. Ich habe Inhaftierte befragt, ob sie die Institution Gefängnis für sinnvoll oder notwendig hielten. Viele sagten, sie selbst hätten eigentlich nichts im Gefängnis verloren, andere aber durchaus. Ich habe bei meinen Vorträgen Beamte des Justizvollzugs erlebt, die protestierend die Veranstaltung verlassen haben, weil sie dachten, ich wolle mit der Frage nach dem Sinn von Gefängnissen ihr Wirken kritisieren, oder ihre Arbeitsplätze in Frage stellen. Ich habe mit Opfern von Straftaten diskutiert, die schwer traumatisiert und (nachvollziehbarer Weise) nicht bereit dazu waren, über neue Wege im Umgang mit Kriminalität nachzudenken, und mit (Ex-)Inhaftierten, die voller Hass auf das System waren. Politisch links stehende Personen wollten rechte Gewalt und Wirtschaftskriminalität härter bestrafen, eher konservativ oder rechts orientierte Menschen die Kriminalität von Ausländern.
Und ich habe Vertreter verschiedener, zum Teil extremer Positionen kennengelernt. Auf der einen Seite Menschen, die wieder die Einführung der Todesstrafe fordern (selbstredend nicht für ihresgleichen), auf der anderen Seite Aktivisten, die nicht nur Gefängnisse, sondern auch die Polizei, jedwede staatliche Gewalt und teilweise sogar den Staat an sich abschaffen wollen. Dieser Ansicht bin ich nicht. Wir brauchen Staat, Justiz und Polizei. Eine allzu idealisierende Betrachtung der fernen, nichtstaatlichen Vergangenheit ist aus meiner Sicht nicht angebracht.
Vielfach wird in diesem Zusammenhang auch die Abschaffung des Kapitalismus gefordert. Auch wenn es auch aus meiner Sicht ein erstrebenswertes Ziel ist, den Kapitalismus jedenfalls in seinen derzeitigen Auswüchsen zu überwinden, ist es allerdings keineswegs ausgemacht, dass die Gewalt untereinander damit automatisch signifikant abnimmt. Dass es in einem nicht kapitalistischen System weniger oder sinnvollere Strafen gäbe, erscheint ebenfalls sehr fraglich.
Ich glaube, dass die bessere Zeit vor uns, nicht hinter uns liegt.
Idee der Gerechtigkeit
Bei allen unterschiedlichen Ausgangssituationen und gegensätzlichen Ansichten und Interessen gibt es ein Band, das uns von Natur aus zusammenhält: Die Gerechtigkeit. Was gerecht ist und was nicht, wird individuell und abhängig von Zeit und Ort unterschiedlich beurteilt. Wir alle sind jedoch Nachkommen von Menschen, die irgendwie kooperiert haben. Sonst hätten sie nicht lange überlebt. Fast jeder Mensch hat daher ein Gespür dafür und ein Bedürfnis danach, dass es innerhalb einer Gesellschaft grundsätzlich einen Ausgleich von verschiedenen (auch den eigenen) individuellen und kollektiven Interessen geben muss.24
Diese Idee der Gerechtigkeit, die nicht unbedingt ihrem Inhalt, aber ihrem Wesen nach eine gemeinsame ist, lässt uns deshalb jedenfalls mehr sehen als nur die unmittelbaren, eigenen Interessen. Die Mehrheit der Menschen, mit denen ich zu diesem Thema in Kontakt komme, ist durchaus bereit, den Status quo unseres Strafsystems zu hinterfragen, ihn unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit und eng damit zusammenhängend dem der Vernunft zu betrachten, und zumindest teilweise über Veränderungen nachzudenken. Dass unsere heutigen Gefängnisse wenig sinnvoll sind, um Kriminalität wirksam zu bekämpfen, leuchtet inzwischen vielen ein. Dass wir ohne irgendeine Strafe in Form der Übelszufügung, deren Schwere sich an der begangenen Tat orientiert, auskommen, scheint für die meisten jedoch schwer vorstellbar zu sein. Das Bedürfnis, Unrecht entsprechend hart zu vergelten, ist nach wie vor sehr stark ausgeprägt. Wobei es oft auch weniger ein Strafbedürfnis ist, das ich wahrnehme, sondern eher die Angst, auf Strafen zu einem guten Teil zu verzichten. Als wäre das Strafen eine Mauer, die wir im Laufe der Menschheit errichtet haben, und die uns vor Feinden schützt. Dies wiederum erschwert es nach meiner Erfahrung, über grundlegende Alternativen nachzudenken, die den Schwerpunkt von der rückwärts orientierten Strafe auf einen zukunftsorientierten Umgang mit Kriminalität verlegen.
Ich bin jedoch überzeugt, dass Strafen, wie wir sie heute kennen, keine Gerechtigkeit schaffen, und sich wenig dazu eignen, das Schlechte bzw. „Böse“ zu bekämpfen, wo immer man es auch verorten mag. Es kann daher nicht nur darum gehen, wen wir wie bestrafen. Entscheidend ist es vielmehr, dass wir den Gedanken, durch Zufügung eines Übels könnte Sinnvolles geschaffen werden, grundsätzlich weitgehend überwinden.
Das evolutionär begründete Vergeltungsbedürfnis ist in unserer staatlich strukturierten Massengesellschaft und angesichts des Entwicklungsstandes des Menschen überholt. Das Ausleben dieses Bedürfnisses bewirkt vielfach das Gegenteil von dem, was es ursprünglich bewirken sollte. Ein wenig ist es vergleichbar mit unserer Lust auf Süßes: für die ersten Menschen war das Lustgefühl sinnvoll, da Süßes knapp, aber energiereich war.25 Heute ist Zucker bekanntlich im Übermaß vorhanden und Ursache vieler Zivilisationskrankheiten. Anders als viele Tiere können wir Menschen unsere Urinstinkte allerdings reflektieren, und lernen, sie so modifiziert auszuleben, dass sie sich auch unter den Bedingungen der Zivilisation als nützlich erweisen.26
Einfache Antworten darauf, wie man „das Verbrechen“ am besten bezwingen kann, gibt es nicht. Eine Gesellschaft völlig ohne Verbrechen, ohne Gewalt untereinander ist auch kaum vorstellbar. Die zu starke Verortung des Unrechts in der Entscheidung eines Individuums wirkt jedoch destruktiv. Diese Verortung ist auch ein wesentlicher Grund dafür, dass die Binsenweisheit „Prävention im Kindes- und Jugendalter ist besser als Strafe im Erwachsenenalter“ noch viel zu wenig in die Tat umgesetzt wird. Wenn der Täter sich einfach anders hätte verhalten können, und wir die Strafe haben, um das von ihm verübte Unrecht aus der Welt zu schaffen und den Täter dabei auch noch zu resozialisieren, warum sollten wir uns dann der komplexen Thematik der Prävention ausführlicher widmen?
Der Glaube an das, was wir derzeit unter Strafe verstehen, ist jedoch ein Irrglaube. Das will ich in diesem Buch vor allem anhand von Fällen aus meiner Praxis zeigen.27 Die Spannweite der Straftaten reicht dabei vom Diebstahl eines Schokoriegels bis zum mehrfachen Mord.
Rationale Resozialisierung
Anhand konkreter Beispiele skizziere ich im ersten Teil des Buches Hintergründe und Entwicklung von Verbrechen und Strafe und zeige einiges von dem auf, was in unserer derzeitigen Strafpraxis Sinn macht und was nicht. Im zweiten Teil setze ich der Strafidee ein ebenfalls durch viele Beispiele veranschaulichtes Modell der rationalen Resozialisierung entgegen.
Dies bedeutet für mich nicht den völligen Verzicht auf staatliche Gewalt bzw. Zufügung eines Übels. Auch geht es nicht um Verständnis für ungerechtes, schädigendes Verhalten einzelner, oder um die Missachtung des Leids, das sie anderen zufügen. Vielmehr ist mein Interesse, bessere Wege zu finden, Schäden und Leid zu reduzieren. Dabei sollen Täter nicht aus der Verantwortung für ihre Taten entlassen, sondern im Gegenteil in Verantwortung genommen werden. Die Bedürfnisse der Opfer sollen nicht missachtet, sondern ihnen soll mehr Rechnung getragen werden, als es bisher der Fall ist. Wir alle, und nicht nur diejenigen, die damit ihr Geld verdienen, können und sollten wieder mehr Verantwortung im Umgang mit Kriminalität übernehmen.
Neben all den negativen, zum Teil auch tragischen Folgen gerade für die unmittelbaren Opfer, hat jedes Verbrechen zudem auch das Potenzial, unsere Gesellschaft zu verbessern. Grundlegendere individuelle und soziale Probleme werden oft erst (schmerzlich) spürbar durch Straftaten.
Die Strafe wurde „erfunden“ zur Förderung der Kooperation. Oft genug ist jedoch auch die Straftat Symptom mangelnder Kooperation. Wir müssen dieses Potenzial nur nutzen, indem wir die Energie, die das Bedürfnis nach Rache, Vergeltung und Gerechtigkeit in uns auslöst, konstruktiver einsetzen.
An diesem Morgen fuhr ich mit einiger Wut im Bauch in meine Kanzlei. Am Vortag hatte ich das Schreiben eines Inhaftierten bekommen, den ich als Rechtsanwalt in einem gerichtlichen Verfahren vertreten hatte. Es ging dabei um seine vorzeitige Entlassung zur Bewährung. Dr. M. (der eigentlich keinen Doktortitel hatte, sich aber so ansprechen ließ, was mit zu seiner Verurteilung geführt hatte), war wegen zahlreicher Betrügereien zu sechs Jahren Haft verurteilt worden. U.a. hatte er eine Maklerfirma für Immobilien betrieben und Anzahlungen, die Verkäufer und Kaufinteressenten „schwarz“ austauschten, um Steuern und Gebühren zu sparen, in die eigene Tasche gesteckt. Auch als Vermögensverwalter und Investor hatte er sich betätigt. Damit und mit anderen krummen Geschäften hatte er über ein kompliziertes Geflecht aus Firmen Millionen ergaunert. Mit seinem stets penibel gestutzten Vollbart, seinem sonnengebräunten Gesicht, seinem Wohlstandsbauch und hochwertiger Kleidung und Autos dürfte es ihm nicht zu schwergefallen sein, Kunden und Geschäftspartner zu täuschen. Von dem Geld war, als er verhaftet worden ist, nichts mehr übrig. Zumindest konnten die Behörden es nicht ausfindig machen.
Mit seiner Haftdauer gehörte er zu den nur etwa 10 Prozent der Inhaftierten in Deutschland, die Strafen von mehr als fünf Jahren zu verbüßen haben. Die meisten müssen deutlich weniger Zeit in Haft verbringen. Die größte Gruppe der Gefangenen verbüßt Haftstrafen von bis zu neun Monaten.28
Fast 95 Prozent aller Inhaftierten sind wie Dr. M. männlich. Die Tatsache, dass Männer deutlich häufiger straffällig werden, zeige sich nach der Forschung der Kriminologin Susanne Karstedt auch im internationalen Vergleich:
„Frauen sind nicht nur deutlich weniger kriminell, sie sind weniger aggressiv, sie begehen deutlich weniger Selbstmorde. Frauen sind offensichtlich auch psychisch resistenter als Männer. Und psychisch resistenter heißt eben auch weniger anfällig für Alkoholsucht oder Drogensucht. Sie sind insgesamt, sagen wir mal, das Geschlecht, das sich normenkonformer verhält.“29
Bei Vermögensdelikten, wie sie Dr. M. begangen hatte, kommt hinzu, dass Männer immer noch eher die Möglichkeit haben, hohe Positionen etwa in der Wirtschaft einzunehmen und dort auch größeren Schaden anzurichten. Auch werden Männer oft nach ihrem finanziellen Status beurteilt und haben so eine Motivation, diesen gegebenenfalls auch mit illegalen Mitteln aufzuwerten.
Nach Zweidritteln der Zeit, also vier Jahren, war eine vorzeitige Entlassung für Dr. M. grundsätzlich möglich. Dabei kommt es nicht, wie viele denken, in erster Linie auf eine gute Führung in Haft an. Das Verhalten während des Strafvollzuges hat eine eher untergeordnete Bedeutung. Es ist nur einer von mehreren Gesichtspunkten bei der Prüfung einer positiven Sozialprognose, die vor allem Voraussetzung für eine vorzeitige Entlassung ist. Das Gericht musste also davon überzeugt werden, dass mein Mandant mit hoher Wahrscheinlichkeit in Freiheit nicht wieder straffällig werden würde.
Bei Dr. M. standen die Chancen auf eine Entlassung zum Zweidrittelzeitpunkt nicht gut. Die Justizvollzugsanstalt, in der er seine Haft verbüßte, und die Staatsanwaltschaft waren gegen eine Entlassung. In einem Gespräch mit dem zuständigen Richter deutete dieser mir gegenüber an, dass er zuungunsten meines Mandanten entscheiden werde, aber eine vorzeitige Entlassung zu einem späteren Zeitpunkt für realistisch hielte, wenn dieser bis dahin zumindest ein Opfer-Empathie-Training (OET) absolvieren würde. Dr. M. (der sich zwar nicht mehr offiziell als Dr. bezeichnete, aber von den Mitgefangenen nach wie vor so ansprechen ließ) war erstmals in Haft und hatte mit seiner aktuellen Ehefrau drei minderjährige Kinder. Der Richter wollte ihm diese eine Chance noch geben.
Mehr Empathie
Empathie, die bei Dr. M. nun durch das Training gefördert werden sollte, ist generell ein ganz zentrales Thema. Sowohl hinsichtlich der Begehung von Straftaten, als auch in Bezug auf das Strafen. Empathie kann als die Fähigkeit zum „Mit-Erleben“30 bzw. dazu, gedanklich in die Haut eines anderen zu schlüpfen, verstanden werden.31
Grundsätzlich kann sich diese vor allem in der (frühen) Kindheit erworbene32 Fähigkeit, die Bedürfnisse anderer zu erkennen und zu berücksichtigen, hemmend auf die Begehung von Straftaten auswirken.33 Der langfristige Rückgang von Tötungsraten in Westeuropa (unter zwei pro 100.000 Einwohner pro Jahr) wird u. a. auf eine Sozialisierung hin zu mehr Empathie zurückgeführt.34
Studien deuten darauf hin, dass Frauen mehr Fähigkeit zur Empathie besitzen.35 Bei Mädchen lässt sich bereits im Vorschulalter eine gegenüber gleichaltrigen Jungen beschleunigte Empathie- und damit zusammenhängende36 Schamentwicklung beobachten.37 Erwachsene (Lehrer und Eltern) regulieren das Verhalten von Mädchen viel stärker als das von Jungen. Eltern beschämen Töchter viel öfter als gleichaltrige Söhne.38 Wahrscheinlich ist auch das ein Grund dafür, dass Frauen deutlich weniger häufig straffällig und inhaftiert werden.
Anders als vielfach vermutet, ist allerdings nicht jede Straftat empathielos, und nicht jeder Straftäter weniger empathiefähig als der Durchschnitt der Menschheit. Das gilt in extremer Hinsicht für Sadisten, denen gerade das Leid des Opfers ein Lustgefühl bereitet. Dazu müssen sie sich in dieses hineinfühlen. Empathie ist hier die Motivation zur Tat, sodass diese nicht trotz, sondern gerade aus Empathie begangen wird.39
Aber auch bei nicht sadistisch veranlagten Menschen erhöhen Gefühle wie Ärger die Aggressionsbereitschaft40 und vermindern die Empathie. Auch großer Stress führt oft dazu, dass man die ganze Energie für die Bewältigung der Situation verwendet und keinen Raum mehr für Empathie mit anderen hat.41 Jeder, der Kinder hat, wird ein Lied davon singen können. Sie können einen zur sprichwörtlichen „Weißglut“ und dazu bringen, kaum Verständnis oder Gefühl mehr für die kindlichen Bedürfnisse zu haben.
Empathie hängt eng mit Mitgefühl oder Mitleid zusammen, ist jedoch mit diesen nicht deckungsgleich, u. a. da Mitleid zur Folge hat, dass (vorgestelltes) fremdes Leid wie eigenes Leid erlebt wird. Sogenannte Spiegelneuronen spielen dabei eine Rolle.42 Es ist hirnphysiologisch nachweisbar, dass sensorische Zellen im Gehirn, die auf Schmerzsignale reagieren, auch dann feuern, wenn Menschen mit ansehen müssen, dass einer anderen Person Schmerz zugefügt wird.43 Bereits Babys reagieren auf den Schmerz von anderen. Sie fangen an zu weinen, wenn andere Babys auch weinen, und versuchen, einer leidenden Person zu helfen, indem sie diese beruhigen.44 Da Menschen solches eigenes Leid lindern bzw. vermeiden wollen, führt Mitleid dazu, andere zu schonen bzw. ihnen zu helfen. Es wirkt daher auch kriminalpräventiv.
Strafen als „empathischer Sadismus“
Dass jedoch auch hoch empathische und zum Mitleid fähige Menschen dazu in der Lage sind, anderen Leid zuzufügen, zeigen nicht nur manche Straftaten, sondern vor allem auch das Strafen selbst. Wenn wir wollen, dass Menschen, die kriminelle Handlungen begangen haben, bestraft werden, müssen wir uns Gedanken darüber machen, was für den zu Bestrafenden überhaupt ein Übel, ein Leid, eine Strafe darstellt. Wir müssen uns dazu in den anderen hineinfühlen. Der Kulturwissenschaftler Fritz Breithaupt bezeichnet Strafen daher als „empathischen Sadismus“.45 Wenn wir dann jedoch auch mitleiden würden, würde uns das vom Strafen abhalten. Allerdings zeigen Studien, dass unser Mitleid deutlich gesenkt wird, wenn jemandem, der als böse empfunden wird, ein Leid zugefügt wird.46 In bildgebenden Verfahren des Gehirns kann im Gegenteil sogar beobachtet werden, wie in solchen Fällen Gehirnregionen, die für Lust und Belohnung zuständig sind, durch die Beobachtung von Schmerzen der anderen Person aktiviert werden.47
Entsprechend groß war früher das öffentliche Interesse an Hinrichtungen. Als Beispiel mag ein Bericht aus der Mainzer Zeitung vom 22. November 1803 über die Hinrichtung des als „Schinderhannes“ berühmt gewordenen Räuberhauptmanns Johannes Bückler und seiner Mittäter dienen:48
„Die Wälle und benachbarten Anhöhen wimmelten von Neugierigen. Über die Hälfte gehörten sie zum weichen, zärtlichen Geschlechte, von denen sogar ein großer Theil die Metzeley von 20 Menschen ohne sonderliche Anfälle von Weichheit mit ansehen konnte.“
Als 1783 die Kurmainzer Landesregierung vorschlug, den steinernen Galgen vor dem Stadttor abzureißen, um dem Publikum den Anblick der dort bis zur Verwesung hängenden Hingerichteten zu ersparen, gab es massive Proteste dagegen.49
Heute sind zwar die Hauptverhandlungen vor Gericht grundsätzlich öffentlich, der eigentliche Vollzug der Strafe findet aber hinter hohen Mauern und weitgehend im Verborgenen statt. Bekanntlich funktionieren dafür nach wie vor z. B. viele Filme, indem sie unsere Straflust befriedigen: Dem unschuldigen Opfer muss geholfen werden, und dem Bösen muss es am Ende richtig schlecht gehen, damit der Zuschauer zufrieden ist. Wie stark die Interessen Anderer die eigenen durch Empathie oder Mitgefühl beeinflussen, hängt also mit vielen weiteren inneren Einstellungen zusammen wie etwa ideologischen oder religiösen Überzeugungen, und insbesondere auch dem individuellen Gefühl von Gerechtigkeit.
Hinzu kommt noch ein anderer Punkt: Unsere Fähigkeit zur Empathie ist durch die Kapazitäten unseres Gehirns begrenzt. Wir können nicht allen anderen Menschen gegenüber empathisch sein, und erst recht nicht mit allen mitleiden, sondern müssen dies vor allem auf uns nahestehende Personen begrenzen. Diesen gegenüber zügeln wir unsere egoistischen Impulse stärker als im Umgang mit Fremden. Empathie ist mit dem Gefühl gekoppelt, zu einer Gemeinschaft ähnlicher Menschen zu gehören.50 Der Autor Rutger Bregman bezeichnet Empathie und Fremdenfeindlichkeit daher als „zwei Seiten derselben Medaille“.51
Zur Gruppe der Straftäter will keiner gehören, erst recht nicht zur Gruppe der Gefangenen. Denen gegenüber halten sich Empathie und Mitgefühl daher auch aus diesem Grund in Grenzen. Emotional ist das nachvollziehbar, vernünftig ist es nicht. Gerade im Verstehenwollen des uns Fremden liegen eigene Entwicklungsmöglichkeiten. Offensichtlich bedeutet Verstehen auch nicht das Akzeptieren von Verhalten oder Einstellungen. Mehr Empathie wäre also grundsätzlich für uns alle sinnvoll, wobei ich noch von niemandem gehört habe, der ein OET absolviert hat, obwohl er es nicht musste. Inhaftierte werden dazu zwar auch nicht richtiggehend gezwungen, aber doch stark motiviert, indem etwa wie bei Dr. M. eine vorzeitige Entlassung davon abhängig gemacht wird.
Studien mit Inhaftierten z. B. aus Großbritannien zeigen, dass OET positive Effekte haben können und die Empathiefähigkeit der Teilnehmer vergrößern können.52 Der Soziologe Otmar Hagemann53 berichtet von Täter-Opfer-Gruppen im schleswig-holsteinischen Strafvollzug. Die Tätergruppe nimmt dort zuerst an einem OET teil, und die Gruppe der Opfer (nicht die konkreten Opfer der inhaftierten Täter) tauscht sich mit Hilfe von Mediatoren über Erfahrungen und Probleme aus. Dann kommen die beiden Gruppen zusammen. Die Teilnehmenden dieser Gruppen haben größte Zufriedenheit gezeigt.
Nach meiner Erfahrung sind die Chancen, die Empathiebereitschaft und -fähigkeit von Straffälligen zu fördern, höher, wenn auf der anderen Seite auch mehr Empathie für die Täter entwickelt wird. Nicht für die Tat, aber für das, was ihnen selbst in ihrer Biografie widerfahren ist. Dass die Tat selbst, vor allem bei schwereren Delikten, nicht toleriert oder bagatellisiert werden kann, steht dabei außer Frage. Aber um dazu beizutragen, dass derjenige so etwas nicht wieder macht, ist es hilfreich, vielleicht sogar notwendig zu verstehen, wie es dazu gekommen ist. Viele Straftäter, mit denen ich zu tun habe, fühlten sich gerade in Kindheit und Jugend nicht gehört und verstanden. Es kann nicht die Aufgabe des Opfers sein, Empathie für den Täter zu entwickeln. Das muss die Justiz tun, damit der Täter dann (mehr) Empathie für (sein) Opfer entwickeln kann.
Empathie entsteht also in einem wechselseitigen Prozess aus Geben und Nehmen. Schon deswegen greifen die beängstigenden Ideen zu kurz, Haftstrafen zu verkürzen, wenn sich Gefangene stattdessen mittels künstlicher Intelligenz falsche Erinnerungen einpflanzen lassen. Auf diese Weise sollen Straftäter ihre Taten aus Sicht der Opfer erleben und erinnern und so Empathie entwickeln.54
Irgendetwas müssen wir tun
Ich persönlich hatte allerdings eher Zweifel, ob bei Dr. M. ein Empathietraining wirklich sinnvoll war. Als zumindest über einen längeren Zeitraum erfolgreicher Betrüger musste er sich in sein Gegenüber hineindenken können. Nur das Leid der Betrogenen führte bei ihm weder zu Hemmungen noch zur Reue. Wer sich als Mittelpunkt der Welt sieht, wird kaum ein Gefühl dafür entwickeln können, dass es ihm selbst wie anderen ergehen könnte. Das Leben war für ihn ein Wettbewerb, in dem er der Gewinner sein musste. Um jeden Preis. Die anderen mussten leiden, damit er nicht litt.
Nicht selten wird im Strafvollzug allerdings nach dem Motto verfahren: „Irgendetwas müssen wir tun“, und dieses Irgendetwas war bei Dr. M. nun eben das Empathietraining. Es würde ungefähr drei Monate in Anspruch nehmen, und bestand aus etwa zehn Gruppenstunden mit begleitenden Einzelgesprächen. Ich riet meinem Mandanten daher, den Antrag auf vorzeitige Entlassung erst einmal zurückzunehmen, das OET zu absolvieren, und dann den Antrag erneut zu stellen. Er jedoch wollte dies nicht, sondern unbedingt zeitnah entlassen werden. Dies sei sein Recht, und er möge nicht jeden Glauben an den Rechtsstaat verlieren müssen. Außerdem habe er mehr „Empathie als der ganze Justizapparat zusammen“, und wolle nicht mit den anderen Inhaftierten auf eine Stufe gestellt werden.
Eine unterdurchschnittlich ausgeprägte Fähigkeit, unmittelbare Bedürfnisse im Hinblick darauf zurückzustellen, langfristig gesehen größere Erfolgschancen zu haben, habe ich bei vielen Straftätern festgestellt. Illegales oder Schlechtes zu tun kann auch zumindest kurzfristig ein leichterer Weg zum Ziel als legales Verhalten sein.55 Dr. M. wäre auf legalem Wege wohl niemals so reich geworden.
Langfristig gesehen sind „böse“ Mittel, wie sie Dr. M. mit seinen Betrügereien und Manipulationen angewandt hat, jedoch nicht sehr effektiv.56 Das Umfeld bzw. die anderen Menschen wehren sich dagegen, und weisen denjenigen in seine Grenzen. Der Lebensstandard von Dr. M. war nun, in Haft, jedenfalls deutlich schlechter, als er bei einem legalen Lebenslauf gewesen wäre.
Dr. M. jedoch schien weiterhin nicht über den nächsten Tag hinauszudenken, obwohl er keineswegs dumm war. Wahrscheinlich war sein Trieb, immer das bekommen zu müssen, was er gerade wollte, weil er aufgrund seiner von ihm imaginierten natürlichen Überlegenheit ein vermeintliches Recht darauf hatte, stärker als jede vernünftige Erwägung. Wenn etwas nicht genau so funktionierte, wie er es sich vorstellte, wäre sein grandioses Selbstbild ins Wanken geraten. Ohne dieses Selbstbild jedoch war er wenig, und ebenso wenig entsprach das Bild seinen realen Fähigkeiten. Ein Gutachter hatte bei ihm eine narzisstische Persönlichkeitsstörung mit dissozialen Anteilen festgestellt. Diese Störungen kennzeichnet u. a. ein Gefühl der Grandiosität, ein stetes Bedürfnis nach Bewunderung und eine starke Neigung, andere herabzusetzen, zu manipulieren und auszunutzen. Die eingeschliffenen Verhaltensmuster von Menschen mit einer solchen Störung erscheinen durch nachteilige Erlebnisse, einschließlich Bestrafung, nicht änderungsfähig. Das alles passte zweifellos bestens zu Dr. M., wie auch ich ihn wahrnahm.
Unproblematisch sind diese Diagnosen im Zusammenhang mit Straffälligen nicht. Sie stecken die Betroffenen in eine Schublade, aus der sie kaum mehr herauskommen. Sie sind jetzt nicht nur Kriminelle, was schlimm genug wäre, sondern auch noch entsprechend gestörte Kriminelle. Das birgt die Gefahr, dass alles, was sie sagen oder tun, im Lichte dieser Diagnose interpretiert wird. Man glaubt ihnen nichts mehr, und legt fast alles, was sie tun, negativ aus. Das Gefühl, aus der Schublade, in die man sie gesteckt hat, ohnehin nicht mehr herauszukommen, kann eine Einstellung der Betroffenen zur Folge haben nach dem Motto: „Wenn ihr mir (nur) diese Rolle gebt, dann nehme ich sie eben an und verhalte mich entsprechend.“57
Die Rechtfertigung, überhaupt solche Diagnosen zu stellen, zieht die Strafjustiz aus der Notwendigkeit, die Schuldfähigkeit des Täters vor seiner Verurteilung, und danach seine Behandlungsbedürftigkeit und -fähigkeit sowie seine Gefährlichkeit in der Zukunft einschätzen zu können. Für die Störungen, die Dr. M. attestiert worden sind, gibt es allerdings kaum Behandlungsmöglichkeiten.
Biografie und Kriminalität
Bei Menschen, die psychisch krank sind und leiden, fällt es uns leichter danach zu fragen, welche Ursachen in Kindheit und Jugend dahinterstecken könnten. Und wie oft schieben wir bei uns selbst missliebige Eigenschaften, Verhaltensweisen oder Gefühle auf unsere eigene Biografie? Bei denjenigen, die weniger selbst an Störungen leiden und eher andere leiden lassen, fällt dies schon schwerer. Dabei sind die Hintergründe oft ähnlich, und gleichermaßen wichtig, um das verstehen zu können, was den Betroffenen oder sein Umfeld stark belastet.
Dr. M. beschrieb seine Kindheit gegenüber dem Gutachter als „normal“. Tatsächlich schätzte der Sachverständige seinen biografischen Hintergrund als höchst verstörend ein. Seine Mutter, eine Krankenschwester, war fast 30 Jahre jünger als sein Vater, ein Chefarzt. Die beiden waren nie verheiratet. Der Chefarzt wollte sich nicht binden, und erst recht keine Kinder. Dr. M.s Mutter trickste ihren Liebhaber jedoch aus und wurde schwanger. So wurde, überspitzt formuliert, Dr. M. das Kind eines Betruges. Und irgendwie ging es auch mit Täuschen, Tricksen und Manipulieren weiter. Seiner Mutter war es wohl in erster Linie darauf angekommen, durch das Kind unterhaltsberechtigt zu sein. Sie hatte sich jedenfalls von ihrem Partner noch während der Schwangerschaft getrennt, und gab Dr. M. die meiste Zeit über in die Obhut ihrer Schwester, bis es deren Mann zu viel wurde, und der kleine Dr. M. nun die meiste Zeit über bei seiner Großmutter verbringen musste. Seinen Mitschülern gegenüber behauptete er, seine Großmutter sei seine Mutter. Eine Vaterfigur hat Dr. M. nie gehabt. Dieses Fehlen einer Vaterfigur stelle ich auch bei vielen anderen Inhaftierten fest. Engere und längere Bindungen hatte Dr. M. nie erfahren, was wohl zum Teil erklärte, dass er von anderen Menschen so schnell und so viel es ging profitieren wollte, um dann zum nächsten weiterzugehen. Das fundamentale Gefühl des Ungeliebtseins versuchte er offenbar durch ein grandioses Selbstbild zu kompensieren. Die riesengroße Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung hat Dr. M. schließlich ins Gefängnis geführt.
Auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin nahmen wir den Antrag auf vorzeitige Entlassung also nicht zurück. Das Gericht beraumte wie üblich einen Termin zur mündlichen Anhörung an. Bei einer solchen Anhörung muss der Anwalt nicht unbedingt dabei sein, da alle Argumente schriftlich vorgetragen werden können, und es vor allem auch darum geht, dass sich das Gericht ein persönliches Bild vom Inhaftierten machen und mit ihm noch offene Fragen klären kann. Dr. M. wollte trotz allem unbedingt, dass ich ihn zu diesem Gerichtstermin begleite. Die Kosten in Höhe von 750 Euro würden mir vorab durch seine Frau überwiesen werden. Nachdem das Geld zwar am Tag des Gerichtstermins nicht auf dem Konto war, die Ehefrau des Mandanten mir jedoch per E-Mail mitgeteilt hatte, dass sie die Überweisung bereits veranlasst hätte, ging ich zu dem Termin. Schwerer Fehler. Es lief, wie es laufen musste. Das Gericht lehnte die vorzeitige Entlassung ab und legte eine Sperrfrist von sechs Monaten fest, innerhalb der kein neuer Antrag auf Entlassung gestellt werden durfte. Das versprochene Geld ging nie auf meinem Konto ein.
Stattdessen erreichte mich das erwähnte Schreiben von Dr. M., in dem er mir vorwarf, seine vorzeitige Entlassung „vermasselt“ zu haben. So hätte ich vor Gericht bestimmte Punkte nicht erwähnt, die zu seinen Gunsten sprachen, und bei deren Kenntnis die Entscheidung sicher anders ausgefallen wäre. Er selbst sei zu nervös gewesen, diese Punkte von sich aus anzusprechen. So hatte er etwa kurz vor dem Termin durch seine Frau eine Spende von hundert Euro an die Caritas überweisen lassen, um seine soziale Einstellung zu demonstrieren. Wer als Anwalt überleben und seiner Funktion gerecht werden will, muss nicht selten Argumente vortragen, hinter denen er eigentlich nicht uneingeschränkt steht. Hier war es mir aber zu peinlich, diese Spende an die Caritas, die noch dazu von seiner Frau getätigt wurde, als ernsthaftes Argument für eine vorzeitige Entlassung ins Feld zu führen.
Seine Kritik an mir war offensichtlich an den Haaren herbeigezogen, und gipfelte darin, dass er erwäge, mich bei der Rechtsanwaltskammer anzuzeigen. Bereits nach den ersten Zeilen war mir klar, worauf es ihm tatsächlich ankam: Er wollte das Honorar nicht bezahlen. Tatsächlich war dies dann die Quintessenz seiner Ausführungen. Offensichtlich hatte er von vorneherein nicht vorgehabt, zu bezahlen. Ich hätte ihn also wegen Betruges anzeigen können.
Strafe vs. Wiedergutmachung
Ich ärgerte mich zunächst maßlos, fast einen ganzen Arbeitstag für diesen Mann umsonst verschwendet zu haben. Es war eine Kränkung, hereingefallen zu sein. Vor allem aber hätte ich die 750 Euro gut brauchen können. Von diesem Geld wäre ohnehin nur ein Bruchteil bei mir persönlich hängen geblieben, da davon Steuern und Beiträge zur Rechtsanwaltskammer entrichtet und Kanzlei und Mitarbeiter bezahlt werden müssen. Bei meinen folgenden Mandanten würde ich daher etwas mehr berechnen müssen. Anders als andere Geschädigte kannte ich allerdings die Biografie von Dr. M. Das hieß nicht, dass er mit mir machen konnte, was er wollte, aber mein Ärger verflog schneller wieder, als es vielleicht sonst der Fall gewesen wäre. Der Schaden, den er mir zugefügt hatte, war läppisch im Verhältnis zu dem, was er in seiner Kindheit hatte erleben müssen. Wenn ich das Geld bekommen hätte, wäre die Sache für mich ohnehin bald erledigt gewesen. Das deckt sich mit dem Bedürfnis vieler Geschädigter von Vermögensdelikten, denen es weniger auf eine Bestrafung des Täters, und eher auf den Ersatz ihres Vermögensschadens ankommt.58 Auch die internationale Forschung zeigt, dass jedenfalls die Opfer von nicht schwersten Straftaten eine Wiedergutmachung der Bestrafung des Täters vorziehen.59
Was würde eine Strafanzeige gegen Dr. M. auch bewirken? Er würde vielleicht noch ein paar Monate mehr auf Kosten der Steuerzahler (also auch auf meine) in Haft verbringen, und dann eben von dort aus betrügen. Ihn zu verklagen würde ebenso nichts bringen, da er nichts hatte. Mit seiner Arbeit in der knasteigenen Bücherei verdiente er etwa zwei Euro pro Stunde. Seine Frau arbeitete als Altenpflegerin. Sie hatte sich bereits für ihn verschulden müssen. Als ich seine Frau anrief, um sie damit zu konfrontieren, dass das vereinbarte Honorar nicht von ihr beglichen worden ist, war diese in Tränen aufgelöst. Ihr war die Sache höchst peinlich. Ihr Mann hätte ihr wie schon häufig gedroht, sie zu verlassen und das alleinige Sorgerecht für die Kinder zu übernehmen, wenn sie mich nicht über ihre Zahlungsbereitschaft getäuscht hätte. Dass ihr Mann keine Chancen hatte, ihr das Sorgerecht zu nehmen, glaubte sie mir nicht. Zu groß war ihre Angst vor ihm. Zu sehen, wie er seine Frau (und sicher auch die Kinder) manipulierte und gnadenlos unter Druck setzte, machte mich noch wütender als sein Betrug mir gegenüber.
Wenn Dr. M. in Freiheit gewesen wäre und ich keine Sorge haben müsste, erwischt zu werden, hätte ich ihm für das, was er seiner Familie antat, in einem ersten Impuls am liebsten z. B. die Autoreifen zerstochen – auch wenn dies für mich mit einigem Aufwand verbunden gewesen wäre und seiner Familie auch nichts gebracht hätte.
Die Forschung zeigt, dass ich diesen Vergeltungswunsch mit vielen Menschen teile.60 Dieses Bedürfnis, auch dann einem Menschen ein Übel zuzufügen, wenn dieser nicht einem selbst, sondern einem Dritten, zu dem man keine nähere emotionale Bindung hat, ein Unrecht zugefügt hat61, hat seinen Hintergrund in dem Nutzen der Strafe für eine Förderung des kooperativen Verhaltens innerhalb der Gruppe. So kann Strafe eine altruistische Handlung sein, indem der Strafende etwas für die Gemeinschaft leistet, und dafür Arbeit, Unkosten und vielleicht Schaden (etwa durch Verteidigungshandlungen des Bestraften) auf sich nimmt.62
Lohn der Vergeltung
Der Wunsch, etwas Gutes oder Sinnvolles für die Gruppe zu tun, ist allerdings individuell unterschiedlich stark ausgeprägt und oft kaum stark genug, um die mit einer Bestrafung einhergehenden potenziellen Gefahren und Kosten in Kauf zu nehmen. Die Strafe nützt zwar mittelbar auch jedem Mitglied der Gruppe, jedoch ist dieser Nutzen für das Individuum nicht immer greifbar. Den meisten stellt sich Vergeltung daher als etwas Erstrebenswertes und Lohnendes dar. Der altruistisch Strafende handelt eher aus Lust an der Strafe, nicht aus Solidarität mit der Gruppe.63