Endstation Nordstadt - Nicole Braun - E-Book

Endstation Nordstadt E-Book

Nicole Braun

4,0

Beschreibung

Kassel 1992. In der Nordstadt regiert Kiezgröße Horst Scharpinsky, dessen Großschuldner nacheinander von einer Selbstmordwelle ausgelöscht werden. Da er nicht an Zufall glaubt, setzt er den spielsüchtigen Anwalt Meinhard Petri darauf an, der Sache nachzugehen. Petris Auftrag führt ihn direkt ins Visier eines Serienmörders. Der selbsternannte Racheengel »Azrael« lädt Petri ein, die Seite zu wechseln. Als der ablehnt, beginnt ein Spiel um Menschenleben.

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Nicole Braun

Endstation Nordstadt

Kriminalroman

Zum Buch

Verzockt Kassel 1992. Der spielsüchtige Anwalt Meinhard Petri hat sich total verzockt. Zu Hause rausgeflogen sucht er sich eine heruntergekommene Wohnung im zwielichtigen Teil der Kasseler Nordstadt. Hier regiert Kiezgröße Horst Scharpinsky alias »Sharp«. Der hat Petri eine Menge Geld geliehen und zwingt ihn als Gegenleistung, einer Selbstmordwelle auf den Grund zu gehen, die seltsamerweise nur Sharps Großschuldner dahinrafft. Die Lösung liegt scheinbar auf der Hand: Hier kann nur Scharpinskys Erzrivale Sahid Bahat seine Finger im Spiel haben. Deshalb geht Petri seinen Auftrag eine Spur zu lässig an, doch dann erhält er bedrohliche Botschaften. Der selbsternannte Racheengel »Azrael« bekennt sich zu den Morden. Er schlägt Petri einen Handel vor: sein Wissen über die dreckigen Geschäfte von Scharpinsky gegen das Leben von dessen Schuldnern. Der Serienmörder diktiert die Regeln, und Petri lässt sich auf ein lebensgefährliches Doppelspiel ein.

Nicole Braun, geboren 1973 in Kassel, ist fest verwurzelt in der Region Nordhessen. Welches Setting wäre für ihre neueste Thriller-Reihe also besser geeignet als Kassel zur Zeit der spannenden 1990er. Die studierte Betriebswirtin gab 2014 ihren Job auf und lebt seither vom Schreiben, Lesen und Singen. Außerdem unterrichtet sie Kreatives Schreiben. Gemeinsam mit ihrem Mann und zwei Hunden wohnt sie im Herzen des nordhessischen Berglands. Bei langen Spaziergängen in den Wäldern findet sie Inspiration für immer neue spannende und düstere Geschichten.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Katja Ernst

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Tinvo / photocase.de

ISBN 978-3-8392-6886-5

Widmung

Für Horst

Teil I Kassel 1992

1 Azrael

Der Kerl hatte sich in die sauteure BOSS-Hose gepisst. Wahrscheinlich hatte er es selbst noch nicht bemerkt, weil er damit beschäftigt war, auf dem wackeligen Stuhl die Balance zu halten. Ich fand den Anblick einigermaßen amüsant, doch um ihn genießen zu können, nervte das erbärmliche Flennen des Typs zu sehr.

Das Gejammer erfüllte die leere Fabrikhalle. Um mich von seiner Position aus sehen zu können, musste er die Augen verdrehen. Er konnte den Kopf nicht in meine Richtung beugen, dafür sorgte der Strick, den ich an der Deckenkonstruktion befestigt und ihm um den Hals geknotet hatte.

Während er versuchte, jede falsche Bewegung zu vermeiden, fing er doch tatsächlich an zu verhandeln. Dabei war ich überzeugt gewesen, ich hätte ihm den Ernst der Lage klargemacht. Er schien ihn trotzdem nicht begriffen zu haben, offensichtlich musste ich deutlicher werden. Ich stupste mit dem Fuß an den Stuhl, gerade so fest, dass er ein wenig ins Wanken geriet. Sofort war Ruhe. Na also.

Ich schaute ihm lange ins Gesicht und versuchte, den Kerl darin zu erkennen, der seine Visage in jede Kamera hielt und Sätze sagte wie: »Bei den Entlassungen handelt es sich um notwendige und sozial vertretbare Maßnahmen.« Oder: »Wir stehen für Werte wie Integrität und Loyalität.«

Ob er auch nur eine Lüge bereute, wie er da so stand, flennend und vollgepisst? Auch nur eine Sache ändern würde, falls ich ihn jetzt laufen ließe?

Ich hatte ihn lange genug verfolgt. Einmal in der Woche ging er seinem Hobby nach und belohnte sich für einen harten Arbeitstag. Bevor er abends seinen Töchtern einen Kuss zur guten Nacht gab und ins Ehebett kroch, hatte er sich an mindestens einer minderjährigen Prostituierten vergangen, die nicht viel älter war als seine Töchter. Und am Sonntag saß er mit glänzenden Augen Händchen haltend neben seiner Gattin im Gottesdienst. Ich wusste wohl um den Kummer, den ich Frau und Kindern bescherte, und das ließ mich alles andere als kalt. Sie würden es verstehen, wenn sie erst die Wahrheit über ihn kannten, und außerdem würde ihr Trost siebenstellig sein.

Den Ort hatte ich mit Bedacht ausgesucht. Ich war beinahe ein bisschen stolz auf meine Wahl. Die leere Fabrikhalle, die in direkter Nachbarschaft zur B 83 vor sich hingammelte, bot den idealen Rahmen. Die perfekte Kulisse für den Abgang desselben Mannes, der diese Halle von Arbeitern entvölkert, das Inventar verscherbelt und sich mit der Abwicklung eine goldene Nase verdient hatte. Die Dachkonstruktion war zwar rostig, würde ihn aber sogar dann halten, wenn er strampeln sollte. Die Hände hatte ich mit dicken Stoffstreifen zusammengebunden und diese mit Klebeband festgezurrt, nachdem ich die Kabelbinder entfernt hatte. Die Stoffstreifen sorgten dafür, dass keine nennenswerten Abdrücke zurückblieben, wenn ich die Fesseln entfernte. Später, wenn die Zappelei vorbei wäre.

Ich sah ihn mir ein letztes Mal ganz genau an. Er schien kaum noch Widerstandswillen zu haben. Er hatte seine gesamte Energie mit Jammern und Lamentieren verpulvert und war übersät mit hektisch roten Flecken vom Hyperventilieren. Kein Problem. Die würden bis zur Leichenschau verschwunden sein, und die vollgepisste Hose würde man dem Todeskampf zuschreiben.

Er begann mich zu langweilen. Sein Winseln versank in einer Mischung aus Selbstmitleid und Bettelei.

Genug!

2

Horst Scharpinsky ließ das Glasauge wie ein Taschenspieler durch die Finger rotieren und zwinkerte mit der leeren Augenhöhle. Das tat er gern, um Eindruck zu schinden, und in der Regel dann, wenn ihm ein armes Würstchen gegenübersaß, das sein Handlanger Sergej zu einer Unterredung unter drei Augen zitiert hatte.

Mich jedoch beeindruckte das, was Scharpinsky tat, kaum noch. Ich hatte das ein paarmal zu oft erlebt.

Er hing lässig in einem überdimensionalen Ledersessel, drehte das Glasauge mit der rechten Hand in der Luft und spielte mit der linken an einer scheinbar tonnenschweren Goldkette, die um seinen Hals baumelte. Hinter ihm hatte sich Sergej aufgebaut und die Arme vor der breiten Brust verschränkt.

Meine Augen wanderten zwischen Scharpinsky und Sergej hin und her. Die Demütigung, den Blick zu senken, wollte ich mir ersparen. Von Sergej am helllichten Tag am Kragen aus der Kanzlei und in den Keller von Scharpinskys Sexshop gezerrt zu werden, war beschämend genug gewesen.

Diejenigen, die eine Wahl hatten, schlichen mit gesenktem Haupt in das Büro von Scharpinsky oder machten einen Riesenbogen darum. Seit mein Schuldenberg bei ihm so hoch geworden war, dass ich ihn in zehn Leben nicht würde abtragen können, gehörte ich nicht mehr zu denen, die es sich aussuchen konnten. Ich hatte jede Chance auf Würde verspielt.

Irgendjemand musste dieser unangenehmen Situation ein Ende bereiten, und da Scharpinsky sie offensichtlich genoss, musste ich wohl derjenige sein.

»Was kann ich für Sie tun, Herr Scharpinsky?«, fragte ich.

»Sharp, bitte. Meine Freunde nennen mich Sharp. Sie sind doch mein Freund oder, Petri?«

Ich war todsicher, dass Horst Scharpinsky nicht einen einzigen Menschen kannte, der sich freiwillig als seinen »Freund« bezeichnete.

»Was also kann ich für Sie tun, Sharp?«

Das Glasauge stoppte für einen Moment zwischen Scharpinskys Fingern. »Meine Klienten sterben mir weg wie die Fliegen.«

Ohne es zu wollen, musste ich zu Sergej gucken. Der starrte in den Raum und pumpte demonstrativ die Brust durch Einatmen auf.

»Nein, nein«, wiegelte Scharpinsky ab. »Sergej hat damit nichts zu tun. Angeblich handelt es sich um Selbstmorde. So steht es in den Polizeiakten.«

Ich fragte mich, woher er wusste, was dort stand, dann fiel mir ein, dass ich nicht der Einzige war, der Scharpinsky mehr als nur einen Gefallen schuldete.

»Und was kann ich diesbezüglich für Sie tun?«

»Die Polizei hat in sämtlichen Fällen die Ermittlungen eingestellt. Über eine halbe Million Mark ist mir auf diese Weise schon durch die Lappen gegangen.«

Die Toten hatten also offensichtlich Schulden bei Scharpinsky und sein Geld mit ins Grab genommen. Ich wartete die Fortsetzung seiner Geschichte ab.

»Da stinkt was. Wenn sich die Mitglieder der besseren Gesellschaft nacheinander umbringen, ist allein das seltsam genug, aber dass es ausschließlich meine Kunden trifft, kann kein Zufall sein.«

»Die bessere Gesellschaft hat bei Ihnen Schulden?«

Scharpinsky grinste schief und lehnte sich zurück. Das Glasauge rotierte wieder zwischen seinen Fingern. »An Ihrem Türschild steht doch auch ›Anwalt für Strafrecht‹, und trotzdem zählen Sie zu meinen Kunden.«

Das entsprach leider der Wahrheit. »Um wen handelt es sich denn?«

»Mann, lesen Sie keine Zeitung? Halbseitige Kondolenzanzeigen – das fällt doch auf.«

»Tut mir leid.«

»Haben Sie das mit dem Verleger nicht mitbekommen? Roman Levin? Hinterlässt seiner Gattin einen erfolgreichen Verlag plus eine Villa im Mulang und mir 300.000 Mark, die ich nie wiedersehen werde.«

»Können Sie nicht bei seiner Frau …?« Ich schaute zu Sergej, der unbeweglich an mir vorbeistarrte.

»Sie wissen so gut wie ich, dass ich das nicht kann. Meine Schuldner haften nicht mit Gegenwerten, sie verkaufen mir ihre Seele. Nicht wahr, Petri?«

Klar, dass er mich daran erinnern musste. »Wofür brauchte ein Mann wie dieser Levin Geld von Ihnen? Man sollte annehmen, er habe selber genug besessen.«

»Das sollte man von Ihnen auch annehmen, oder?«

Scharpinskys Logik war bestechend, und sie traf direkt in meine Eingeweide. Ich versuchte, es mir nicht anmerken zu lassen. »Wissen Sie, wofür Levin sich das Geld geliehen hat?«

»Ich bitte Sie. Verschwiegenheit ist unser oberstes Prinzip. Ich stelle keine Fragen. Ich verleihe Geld, und Sergej sorgt dafür, dass doppelt so viel zu mir zurückkehrt.«

In Gedanken verdoppelte ich die Summe, wegen der Sergej mich heute Nachmittag am Schlips aus der Kanzlei geschleift hatte. Mir wurde schlecht. »Sie haben erwähnt, dass es mehrere Fälle sind.«

»Ja. Die Reichen und Schönen von Kassel. Ein Wunder, dass die Sache noch nicht von der Presse breitgetreten wird.«

»Und alle hatten sich ähnlich viel Geld von Ihnen geliehen?«

»Jeder Einzelne weit über 100.000 Mark.«

»Und wie viele Schuldner sind Ihnen bereits …?«

Scharpinsky hatte weniger Probleme mit der Wortwahl als ich. »… abhandengekommen?« Er drehte sich zu Sergej um.

Der zuckte die Schultern.

Ich war mir sicher, dass Sergej maximal bis zehn zählen konnte; mehr Finger gab es in der Regel nicht zu brechen.

Scharpinsky drückte das Glasauge in die Höhle und zwinkerte einige Male, dann zog er einen Zettel vom Tisch und glitt mit dem Zeigefinger die Zeilen entlang. »Mit dem Verleger sind es drei«, sagte er schließlich.

»Erst drei?« Im selben Augenblick bereute ich meinen Einwurf.

»Erst? Wissen Sie, Anwalt, das waren nicht so kleine Fische wie Sie. Drei fette Karpfen im Teich sind tot. Über eine halbe Million hat sich in Luft aufgelöst – da muss was passieren.«

»Ich habe immer noch keine Ahnung, was ich damit zu tun habe.«

»Es gibt ein paar weitere potenzielle Kandidaten. Von denen soll mir keiner mehr flöten gehen.«

»Ich kann schlecht jemanden daran hindern, Selbstmord zu begehen.«

Scharpinsky lehnte sich über den Tisch nach vorn. »Witzig, der Herr Anwalt. Das weiß ich selbst. Aber es muss aufhören. Da hat es ein Hecht auf meine Karpfen abgesehen, und ich will ihn zur Strecke bringen. Und Sie werden mir die notwendigen Informationen besorgen.«

»Wie war das mit der Verschwiegenheit gegenüber Ihren Kunden?«

»Deswegen kann ich es ja nicht selbst machen.«

»Wie stellen Sie sich das vor? Ich kann mich schlecht in die Arbeit der Polizei einmischen, und außerdem habe ich genug zu tun.«

»Das kann wohl kaum mein Problem sein«, sagte Scharpinsky. »Das verstehen Sie doch?«

Sergej hatte die Arme runtergenommen, verschränkte die Finger und ließ die Gelenke knacken.

Ich verstand.

3

Ich nahm den offiziellen Ausgang aus dem Fleur durch den Sexshop im Erdgeschoss. Scharpinskys Puff lag im Keller und war über zwei Wege zu verlassen: Wenn die Luft rein war, ging man durch den Sexshop hinaus auf die Holländische Straße, wenn die Polizei vor der Tür stand, gelangte man über eine Treppe in den Hinterhof und konnte Richtung Bunsenstraße verduften.

Während unserer Unterredung hatte es geregnet, und die Lichter der Leuchtreklamen waberten auf dem nassen Asphalt. Der letzte Schnee im Rinnstein war geschmolzen und hatte Unrat freigelegt, für den sich niemand verantwortlich fühlte: Unmengen an Kippen, verblassende Fetzen der Silvesterböller, die die Häuserschluchten der Nordstadt zum Beben gebracht hatten, Kondomverpackungen und Kronkorken. In den obersten Stockwerken der gegenüberliegenden Häuser blinkten rote Herzen in den Fenstern. Darunter lungerten Kerle mit tief ins Gesicht gezogenen Kapuzen vor den Eingängen herum. Sie pressten sich, so weit es ging, unter die schützenden Vordächer und warteten auf Kundschaft, die Stoff brauchte oder Sex.

Ich verdrückte mich mit Sharps Liste in einen windgeschützten Winkel zwischen zwei Wohnblocks und studierte sie. Auf Anhieb erkannte ich zwei der Männer darauf. Richter Drömer war mir selbstverständlich ein Begriff, außerdem Franz Schuhmann – ein Insolvenzverwalter, der skrupellos zerschlug, was ihm in die Finger geriet. Diese beiden waren noch am Leben, genauso wie ein Mann namens Hans Vaas. Die Einträge der Herren Ratstetter, Zanetti und Levin kennzeichnete ein kleines schwarzes Kreuz. Von Letzterem hatte ich in der Zeitung gelesen, dass er mit einer Überdosis Schlaftabletten in seinem Ferienhaus in der Badewanne ertrunken war.

Obwohl ich weit davon entfernt war, mich widerstandslos in Sharps Erpressung zu fügen, trieb mich doch die Neugier. Die Adresse von Schuhmanns Büro kannte ich von etlichen Schreiben, mit denen man Mandanten von mir mitgeteilt hatte, dass man ihre Lohnforderungen leider nicht mehr eintreiben könne. Ich steckte die Liste ein und zog den Mantel enger um mich. Dann ließ ich mich gemeinsam mit dem Unrat, den der Wind über die Bürgersteige vor sich her wehte, bis zu meiner Wohnung wenige Straßen von Scharpinskys Puff entfernt treiben. Dort parkte mein senfgelber Ford Taunus. Aufgrund chronischen Spritmangels hatte ich ihn in der letzten Zeit so selten wie möglich bewegt. Nach einigen Versuchen startete der Motor. Gemeinsam mit dem Feierabendverkehr verließ ich die Stadt Richtung Waldau.

Das Grau des regnerischen Tages und die Dämmerung verschwammen ineinander, die tristen Bauten des Industriegebiets waren zu Schatten geworden.

Zu Schuhmanns Büro hätte ich in eine Seitenstraße abbiegen müssen, aber ich wurde abgelenkt. In einiger Entfernung rotierte der blaue Schein von mindestens drei Einsatzfahrzeugen über die Fassade einer Fabrikhalle. Getrieben von einer Vorahnung lenkte ich den Ford in Richtung der Lichter.

Vor der Halle parkten wie erwartet zwei Polizeifahrzeuge, außerdem ein Krankenwagen und ein Leichenwagen. Ich stellte den Ford in einiger Entfernung am Rand des Geländes ab und näherte mich dem Halleneingang, aus dem gerade zwei Männer einen Sarg auf einem Rollwagen schoben.

Bevor ich einen Blick in das Innere der Halle erhaschen konnte, stellte sich mir ein Mann in den Weg.

»Können Sie mir verraten, was Sie hier suchen?« Kommissar Richard Sachs hatte extra tief eingeatmet und sich aufgepustet. Völlig unnötig, denn muskelbepackt, wie er war, könnte er sich ohne Probleme zwei Hänflingen meiner Sorte in den Weg stellen. Zu seinem Pech war ich mindestens einen Kopf größer als er und sah ohne Probleme über seinen kurz rasierten Schädel hinweg. Mein alter Freund Kommissar Matthias Frank hatte mir einmal anvertraut, dass Sachs gerade eben so die Mindestgröße für den Polizeidienst erreicht hatte. Dass Sachs karrieremäßig im Schatten des altgedienten Kommissars Frank vor sich hin dümpelte, machte es nicht besser. Sachs nutzte jede Gelegenheit, um sich in den Vordergrund zu spielen, und allzu oft gab er dabei im Gegensatz zu Matthias Frank eine unglückliche Figur ab.

Ich konnte es mir nicht verkneifen, aus dem aufgeplusterten Kerl die Luft rauszulassen. »Wo ist denn Kommissar Frank?«

Sachs knirschte mit den Zähnen. »Hat sich in den Innendienst versetzen lassen.«

»Niemals!«, entfuhr es mir. Das konnte nur ein Scherz von Sachs sein, wahrscheinlich steckte Frank mitten in einem anderen Einsatz. »Frank geht doch niemals in den Innendienst.«

»Das besprechen Sie dann wohl besser mit ihm selber, und jetzt würde ich Sie bitten, das Gelände zu verlassen.«

Ich linste über Sachs hinweg und erhaschte einen kurzen Blick in das Innere der Halle. Man hatte Scheinwerfer aufgestellt, die die Szene wie eine Filmkulisse wirken ließen. Exakt in der Mitte lag ein umgekippter Stuhl, darüber baumelte eine Schlinge aus grobem Seil. Ich hatte eine ungefähre Vorstellung davon, was hier geschehen war.

»Suizid?«, fragte ich dennoch.

»Ich wüsste nicht, was Sie das angeht.« Sachs’ Aufmerksamkeit wurde von einem Wagen abgelenkt, der mit quietschenden Reifen auf das Gelände gerast kam. Eine Frau und ein Mann mit Kameras im Anschlag sprangen heraus und fotografierten wild drauflos. Schnell drehte ich mich weg, aber die Aufmerksamkeit der Journalisten wurde ohnehin von den Männern angezogen, die gerade den Sarg verluden. Offensichtlich war ich nun Sachs’ geringeres Problem. Er stürzte auf die beiden zu und gab damit den Weg für mich frei. Während ich ein paar Schritte in die Halle tat, vernahm ich von draußen lautes Gezeter.

Im Innern gab es nicht mehr zu entdecken als das, was ich vorhin bereits erkannt hatte. Ein Stuhl, ein Seil. Das Ganze ergänzt durch Absperrband und Menschen in Schutzanzügen, die fotografierten und den Boden nach Beweismitteln absuchten. Die weitläufige Halle ähnelte tausend anderen leerstehenden Fabrikhallen – bröckelnder Beton, rostiger Stahl, zerborstene Oberlichter –, wenn nicht mittendrin diese Schlinge von der Decke gebaumelt hätte. Hier gab es nichts weiter zu sehen.

Draußen war Sachs immer noch in eine Diskussion mit den Presseleuten verwickelt. Die Frau deutete auf einen Mercedes, der neben dem Eingang zur Halle parkte und den ich hinter den Einsatzfahrzeugen zuvor gar nicht bemerkt hatte. »Können Sie uns bestätigen, dass es sich um Franz Schuhmann handelt?«

Mir genügte als Antwort das Kennzeichen »KS-FS«.

Sachs gestikulierte wild herum. »Das ist ein Tatort und Sie verziehen sich jetzt. Alles Weitere erfahren Sie später von der Presseabteilung.«

Die zwei Journalisten verrenkten sich die Hälse, um einen Blick in die Halle zu werfen, doch ein Beamter schob gerade das Tor zu.

Ich tippte mir an die Stirn, um Sachs beiläufig zu signalisieren, dass ich auf dem Sprung war, und schlich zu meinem Auto, bevor die Journalisten womöglich auf die Idee kamen, mich abzulichten. In diesem Zusammenhang in der Presse aufzutauchen, würde den letzten Rest Wohlwollens, den ich bei Scharpinsky genoss, vollends zerstören.

Sachs lief hinter mir her und holte mich ein, kurz bevor ich am Wagen ankam. »Was hatten Sie hier eigentlich zu suchen?«

»Ich bin ganz zufällig vorbeigefahren.«

Klar, dass er mir kein Wort glaubte. »Darüber reden wir noch.«

»Gibt es Hinweise darauf, dass es keine Selbsttötung war?«

Sachs’ Miene durchzog ein feistes Grinsen. »Einen Unfall können wir ziemlich sicher ausschließen.« Dann zog er ab.

Zurück in der Nordstadt hinderte mich ein hartnäckiges Magenknurren daran, auf direktem Weg nach Hause zu gehen, da in meinem Kühlschrank mal wieder gähnende Leere herrschte. Mit der Hand rührte ich in der Manteltasche. Ein paar Markstücke klimperten um die gefaltete Liste herum, die Sharp mir überlassen hatte.

Ich könnte beim Türken ein Fladenbrot kaufen, es mit nach Hause nehmen und die Glotze dudeln lassen, während ich es allein in mich hineinstopfte. Oder ich könnte die restlichen Stunden des Tages bei Matt im Vesuvio absitzen, wie die meisten Abende im letzten Jahr, und anschreiben lassen. Ich entschied mich für Pizza und eine Unterhaltung mit Matt und seiner Frau Rosetta.

Kaum hatte ich die Tür zum Vesuvio geöffnet, fühlte ich mich augenblicklich zu Hause. Matt – Matteo Ferrugio – stand hinter dem Tresen und grölte einen italienischen Gassenhauer. Irgendwas von Tozzi oder Ramazzotti, für mich klangen die alle gleich. Das schwarze Haar klebte ihm in öligen Wellen an der Stirn und durch das verschwitzte weiße Hemd schien seine üppige Brustbehaarung durch.

Als er mich bemerkte, brüllte er durch den Raum: »Meinardo, meine Freund, entra! Setz dich und trink eine Rote mit mir. Heut isse ein Tag zum Feiern!«

Die Gäste hoben kurz die Köpfe, registrierten, dass ich zur Tür hineingekommen war, und senkten sie wieder über ihre Teller. Die lautstarken Ausbrüche von Matt hielten hier niemanden vom Essen ab.

Ich arbeitete mich bis zum Tresen vor. So dicht an der Küche biss der Knoblauchgeruch mehr, als dass er duftete.

»Was gibt es denn zu feiern?«, fragte ich.

Er zog einen Wisch hinter sich aus dem Regal und wedelte damit durch die Luft. »Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis! Da futterst du seit Jahren die Nutten von Kassel fett und trotzdem musse du denen bei die Behorde jedes Jahr die Arsch kussen.«

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte ich.

»Das hat mit die Gluck nichts zu tun«, raunte Matt über die Theke gelehnt. »Sondern mit ein paar braune Scheinchen. Oder glaubst du, das funktioniert in Kassel anders als in Sicilia?« Er zog mit dem Zeigefinger das Unterlid herunter.

»Trotzdem Glückwunsch.« In Wahrheit gratulierte ich mir selbst, denn wenn Matt sein Lokal dichtmachen müsste, würde ich den einzigen Ort verlieren, der als Ersatz für ein Zuhause taugte.

Ich sah mich um. Die meisten Gäste mummelten schweigend das Essen in sich hinein. Ein Pärchen saß sich gegenüber. Ob das Glänzen in ihren Augen an ihrer Stimmung, am Wein oder etwas ganz anderem lag, ließ sich nicht ausmachen; selbst wenn die beiden total zugedröhnt gewesen wären, hätte man ihnen schon Blut abnehmen müssen, um es mit Sicherheit sagen zu können. An einem anderen Tisch entdeckte ich drei aufgetakelte Mädchen stumm nebeneinander. Ihre Röcke waren für die Jahreszeit zu kurz, und ihre knabenhaften Körper verrieten, dass sie kaum 18 sein konnten. Ihre Blicke wieselten wie die von hungrigen Straßenhunden durch den Raum.

Luca Ferrugio – Matteos alter Herr – saß in einer Ecke und war eingeschlafen. Sein Körper war zu einem atmenden Buckel zusammengefallen, das Kinn hing ihm auf der Brust. Das Gebiss war halb aus dem geöffneten Mund gerutscht, aber den zwischen die Beine geklemmten Spazierstock hielten seine Hände fest umklammert.

Ich deutete auf den alten Kerl. »Auch gut für ihn. Das mit der Verlängerung, meine ich. Der käme ja gar nicht damit klar, wenn er woanders sein Nickerchen halten müsste.«

Matt grinste. »Gestern ich hab gedacht, er wär tot. Ich hab ihm eine Grappa unter die Nase gehalten und schwupps – er war wieder da. Hat die Grappa runtergeschuttet und auf die Cosa Nostra geflucht. In Italiano versteht sich.«

»Versteht sich.«

»Was darf’s sein, meine Freund?«, fragte Matt.

Ein randvolles Glas Rotwein stand bereits vor mir auf dem Tresen. »Nur eine Kleinigkeit.«

Matt legte den Kopf schief. »Kanns anschreibe«, flüsterte er.

»Dann nehme ich eine Vierjahreszeiten ohne Peperoni.«

»Studierte Weichei«, meinte er lächelnd und brüllte anschließend die Bestellung in die Küche.

In der Durchreiche tauchte das runde Gesicht von Rosetta auf. Sie strahlte von einem Ohr zum anderen. »Wo is meine Lieblingsanwalt?«, rief sie.

Ich bückte mich über den Tresen und winkte ihr zu.

»Wann wirst du endlich eine richtige Kerl? Pizza ohne Peperoni isse wie Liebe ohne …« Sie klatschte die flache Hand auf die Faust.

Matt grinste und nickte wissend, und ich hatte Bilder vor Augen, auf die ich gerne verzichtet hätte.

»Los, Freund, wir setzen uns.« Matt war hinter dem Zapfhahn hervorgekommen und plötzlich um einiges kleiner geworden. Um den Größenunterschied zwischen sich und Rosetta auszugleichen, hatte er sich eine Stufe hinter dem Tresen installieren lassen. Ich hatte ihr Hochzeitsfoto gesehen: Man hatte Matt auf eine Kiste gestellt und die Schleppe von Rosetta darum drapiert, um sie zu kaschieren. Trotzdem guckte Matt selbstbewusst wie ein König in die Kamera. Sizilianische Männer waren vielleicht klein, aber stolz auf jeden Zentimeter.

Wir setzten uns an einen Tisch. Ich hatte den freien Blick in den Raum gewählt. Seit einiger Zeit ertrug ich es nicht mehr, Eingangstüren den Rücken zuzudrehen.

»Auf die deutsche Behorden!« Matt erhob das Glas.

Wir stießen an.

Er musterte mich durchdringend. »Meinardo, du siehse unglucklich aus.«

Matt war der einzige Mensch, dem ich nichts vormachen musste. In Wahrheit kam mir in letzter Zeit immer öfter der Verdacht, dass ich eigentlich niemandem mehr etwas vormachen konnte, egal, wie viel Mühe ich mir gab. Wenn man erst mal am Bodensatz kratzte, half weder Anzug noch Krawatte.

»Sharp hat mich an den Eiern.«

Scharf sog Matt die Luft ein. »Merda, das isse schlimm.«

Ich nickte und nahm einen Schluck Wein. Nicht die Sorte, die ich gerne getrunken hätte, dafür umsonst und mit Liebe eingeschenkt.

»Ziemlich schlimm sogar«, sagte ich. Ich brauchte nichts zu erklären. Kiezgröße Scharpinsky war jedem ein Begriff, der sich zwischen Wiener und Wolfhager Straße aufhielt und den Kopf senkte, sobald ein Polizeiauto vorbeifuhr.

»Geld oder Drogen?«

»Himmel, Matt! Keine Drogen.«

Er guckte kurz erleichtert, doch schnell verdüsterte sich seine Miene wieder. »Wobei … Geld isse nich unbedingt eine kleinere Problem.«

»Nicht im Mindesten. Er will, dass ich meine Schulden bei ihm abarbeite.«

»Klingt fair.«

»Ja, falls ich erfolgreich bin. Ansonsten kannst du mich mit Betonschuhen aus der Fulda fischen.«

»Nein, so was mache nur die Mafia«, Matt grinste. »Sharp wurde dich vielleicht …« Das Grinsen verschwand.

»Genau. Ich hab überhaupt keine Chance. Was er da von mir verlangt, ist eine Nummer zu groß für einen kleinen Anwalt wie mich. Und außerdem hab ich ja noch meine Klienten. Wenn ich kein Geld verdiene, kann ich mich auch ohne Sharps Hilfe aufhängen.«

»Da has du dich ganz ordentlich in der Scheiße geritten, meine Freund. Was solls du denn tun fur ihn?«

»Ihm ist eine Reihe gut situierter Schuldner durch Selbstmord abhandengekommen. Das Geld kann er abschreiben. Und ich soll rausfinden, warum, und verhindern, dass es so weitergeht.« Als mir klar wurde, dass es bereits weitergegangen war, wurde mir schummrig. Es war keine gute Idee gewesen, den Wein auf leeren Magen in mich reinzuschütten. Bevor ich Matt von Schuhmanns Selbstmord erzählen konnte, trat seine Frau Rosetta an den Tisch. Sie balancierte einen Teller und stellte ihn vor mir ab, dann nahm sie meinen Kopf, presste ihn zwischen ihre Brüste und rubbelte mir den Schopf. Ich befreite mich aus ihrer Umklammerung, sie kniff mir in die Wange. »Meine Lieblingsanwalt, du. Und jetzt iss, siehse schlecht aus.«

Matteo hatte die Szene grinsend verfolgt. Rosetta holte die Weinflasche vom Tresen, goss die Gläser voll und setzte sich neben ihren Mann. Nun verschwand Matteos Gesicht zwischen ihren Brüsten. Sie gurrte, während sie seine Locken kraulte.

Währenddessen widmete ich mich der Pizza. Die erste warme Mahlzeit seit Tagen. Rosetta hatte mich mit einer extra dicken Schicht Käse und Schinken bedacht. Ich hatte solchen Hunger, dass ich zu schnell aß. Der heiße Käse brannte mir augenblicklich eine Blase in den Gaumen, und ich spülte mit einem Schluck Wein nach.

Matteos Gesicht tauchte puterrot aus Rosettas Dekolleté auf. »Passe bloß auf. Mit Sharp isse nich zu spaße.«

»Ich weiß«, hauchte ich. Das Stück Pizza in meinem Mund war noch immer zu heiß, um es zu schlucken.

»Sharp?« Rosetta angelte nach einem kleinen Kruzifix, das an einer Kette zwischen ihren Brüsten baumelte, und küsste es. Dann verschwand der Gekreuzigte wieder in der üppigen Hautfalte. Ich konnte mir schlechtere Orte vorstellen, um an ein Kreuz genagelt rumzuhängen.

Matt legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Lass uns mal kurz allein, ja?«

Sie warf mir einen mütterlich besorgten Blick zu und stand auf. »Aber alles aufesse«, sagte sie im Weggehen.

»Und was willse jetzt mache?«, wollte Matt wissen.

»Was kann ich schon tun? Mich als freundlicher Anwalt den Witwen der Selbstmordkandidaten vorstellen und herausfinden, was da los war.«

»Nich dass du am Ende Ärger mit die Anwaltskammer bekomms.«

»Ach, Matt. Wenn das meine einzige Sorge wäre.«

Er nickte wissend. »Wenn du brauchs Hilfe oder musse einfach nur reden – unsere Tur isse immer offen.«

Vom Nachbartisch klapperte es laut. Matteos altem Herrn war tatsächlich das Gebiss aus dem Mund gefallen. Verschlafen guckte er in die Runde, dann sah er mich und seine grauen Augen blitzten. »Meinardo«, nuschelte er. »Come schtai?«

»Va bene, Luca«, antwortete ich.

Matt krabbelte unter dem Tisch herum. Endlich hatte er das Gebiss gefunden. Vorwurfsvoll zeigte er es dem alten Mann. Der hatte das Fehlen noch gar nicht bemerkt.

Ich schaufelte schnell den Rest Pizza in mich rein, bevor mein Appetit vollends zum Teufel war.

Matt hatte das Gebiss unter dem Wasserstrahl am Zapfhahn gesäubert und gab es seinem Vater zurück. Der ließ es in den Mund gleiten und klapperte ein paarmal damit wie ein Storch.

»Nachtisch?«, fragte Matt.

»Heut nicht, danke.«

»Eine Grappa?«

»Da sag ich nicht nein.«

Matt goss drei Gläser voll, stellte zwei auf unseren Tisch und eines vor seinen alten Herrn. »Desinfiziert«, rief er lauter als notwendig, und der Alte verzog den Mund zu einer schaurigen Grimasse.

Matt sah mich ernst an. »Ich bin nich Sharp, aber ich hab auch einflussreiche Freunde. Bevor du stecks tief in die Scheiße, komms zu mir. Capisce?«

Ich war mir nicht sicher, wovor ich größeren Respekt hatte. Vor Sharp und Sergej oder der sizilianischen Mafia. Ich schüttete den Grappa herunter. Das Brennen lenkte mich einen Augenblick ab.

Schließlich sagte ich: »Verstanden.«

4 Azrael

Beim Frühstück schlug ich die Zeitung auf. »Insolvenzverwalter erhängt sich in abgewickeltem Betrieb. Hielt er die Gewissensbisse nicht länger aus?«

Beinahe hätte ich den Kaffee auf die Schlagzeilen geprustet. Jetzt hatte ausgerechnet ich diesem Abschaum posthum glatt ein Gewissen verschafft; nur die Ironie des Lebens konnte so eine schräge Geschichte schreiben.

Die Zeilen verrieten mir nichts Neues. Der Mann hinterließ eine Frau und zwei Töchter. Sie fielen weich in ein dickes Vermögen, angehäuft auf dem Buckel Hunderter armer Wichte, die in der Schlange auf dem Arbeitsamt den Tag rumbrachten. Vielleicht hatte ich der Welt ein wenig Gerechtigkeit zuteilwerden lassen – Anstand konnte ich ihr selbst auf diese Weise nicht beibringen, sonst hätte die Zeitung titeln müssen: »Ausbeuter entzieht sich feige der Verantwortung«. Ich seufzte. An Wunder glaubte ich schon lange nicht mehr. Ich stellte mir vor, welche honorigen Mitglieder der Kasseler Gesellschaft bei der feierlichen Beerdigung salbungsvolle Worte für Schuhmann finden würde. Mir stieß der Kaffee sauer auf. Insgeheim hoffte ich, dass die alle allmählich anfingen, sich Sorgen zu machen. Wenn es einen nach dem anderen dahinraffte, konnte es ja möglicherweise auch die Übrigen mit Dreck an den Schuhsohlen treffen. Ich wusste, dass das Getuschel in den Reihen bereits begonnen hatte. Dort kursierten die wildesten Spekulationen, während die Polizei im Dunkeln tappte. Gut so.

Im Anhang des Artikels fand ich den Hinweis, dass die Polizei von Suizid ausging, man aber entsprechende Ermittlungsergebnisse abwarten müsse. Ich musste lächeln. Die mysteriöse Selbstmordserie hatte Aufsehen erregt, dennoch erkannte bislang niemand die Verbindung. Die Abstände hielt ich bewusst variabel. Die ersten Todesfälle trennten viele Monate, obwohl es mir schwergefallen war, so viel Geduld aufzubringen. Auf den nächsten musste ich nicht so lange warten, dennoch war keine Eile geboten. Es gab nicht den geringsten Grund, um aus der Ruhe zu geraten.

Ich schmierte mir ein Brötchen mit Marmelade und ließ es mir schmecken, während ich den Artikel ein zweites Mal las. In Gedanken sah ich Schuhmanns Tod vor mir ablaufen wie einen Film. Ich beobachtete, wie der Kerl auf den Hocker stieg, sich die Schlinge um den Hals legte, den Schemel mit den Fußspitzen wegkippte und baumelte und zappelte. Und bei all dem spielte ich in meiner Fantasie keine Rolle, und das sollte genau so sein. Die Schlagzeilen und die Aufmerksamkeit sollten die erhalten, die so geil darauf waren, dass sie beinahe alles dafür taten. Nur in dieser Geschichte mussten sie für den Ruhm eben sterben.

Ich schaute mir noch einmal das Foto an, das beim Verladen des Sarges vor der Fabrikhalle entstanden war. Im Eingang zur Halle stand ein Mann im Halbprofil. Undeutlich verschwommen durch die grobe Pixelung des Zeitungsdrucks. Ich kniff die Augen zusammen, das Bild wurde ein wenig schärfer. Der Mann trug einen unmodernen Mantel, ausgetretene Schuhe, Haare und Bart wirkten ungepflegt. Die Kasseler Kriminaler, die ich kennengelernt hatte, legten mehr Wert auf ihr Äußeres. Wer auch immer er war, er kam in meiner Planung nicht vor, und das würde sich umgehend ändern.

5

Am Morgen plagte mich ein leichter Kater von Matts billigem Rotwein, begleitet von einem widerlichen Knoblauchgeschmack und einer ausgetrockneten Kehle. Ich kippte drei nach Chlor schmeckende Gläser Wasser herunter und putzte mir ausgiebig die Zähne. Das alles half nur mäßig, und ich verließ nach einem verzweifelten Griff in die bereits für die Wäsche aussortierte Kleidung die Wohnung.

Jemand hatte eine Werbung für »70 Jahre Zissel« hinter den Scheibenwischer des Ford Taunus geklemmt. Volksfest mit Umzug und Tamtam, genau meine Veranstaltung. Ich schnappte den Flyer und warf ihn in den Fußraum zu einer Sammlung an Knöllchen und Kassenzetteln. Der Ford gurgelte kurz, bevor der Motor sich erbarmte anzuspringen. Die Tankanzeige war einen Strich über Reserve. Bis Wilhelmshöhe sollte das locker reichen.

Das Grundstück am Mulang lag versteckt hinter einer soliden Backsteinmauer. Vor dem Tor beobachtete mich ein Kameraauge, während ich die Klingel betätigte. Den klapprigen Ford hatte ich eine Straße entfernt geparkt, denn die auffällige senfgelbe Kiste hatte mir schon so manchen Auftritt vermasselt, das konnte ich mir heute nicht erlauben.

Ich zog den Knoten des Schlipses gerade, atmete tief ein und blickte möglichst selbstsicher in die Kamera.

»Ja?«, fragte eine blecherne Stimme aus der Gegensprechanlage.

»Mein Name ist Meinhard Petri. Ich bin Anwalt und vertrete einen Geschäftspartner von Herrn Levin. Es gäbe ein paar Fragen zu klären.«

Am anderen Ende folgte Rauschen. Jemand schien zu überlegen. Lange zu überlegen. Als ich drauf und dran war, den Klingelknopf noch einmal zu drücken, ertönte ein Summen. Das Tor sprang automatisch auf und drehte sich wie von Geisterhand in den Angeln.

Kaum war ich wenige Schritte auf das Grundstück getreten, schwenkte das Tor hinter mir zu und fiel mit einem Scheppern ins Schloss.

Ich war angemessen beeindruckt. Der Garten und das Haus waren geradewegs einer Zeitschrift für modernes Wohnen entsprungen. Der Landschaftsgärtner hatte ganze Arbeit geleistet, jeder Grashalm sah aus wie nach Plan gesteckt und die Hecken waren mit einer Perfektion gestutzt, als hätte jemand eine Wasserwaage drangehalten. Während in sämtlichen Winkeln der Stadt Frühblüher anarchisch bunt aus dem Boden sprossen, wagte auf diesem Grundstück nichts, den Kopf aus der Erde zu stecken, was das perfekte Bild zerstört hätte. Auf Kassels Straßen stach einem an jeder Ecke der Geruch von diesen gelben Büschen, deren Name ich mir nicht merken konnte, in die Nase. Ich schnupperte. Hier roch es nach nichts.

Ich näherte mich dem Haus, das durch überdimensionale verspiegelte Fenster wie ein Geist auf mich hinabstarrte. »Geh weg«, schien es zu sagen. Zwischen den Villen am Mulang wirkte es wie ein Schuhkarton auf Stelzen, dessen Auftraggeber ein großer Fan des Bauhauses gewesen sein musste. Wie der für das Ding eine Baugenehmigung erhalten hatte, wussten wohl nur der Bauherr und jemand auf dem Amt, der sich das Beamtengehalt ein wenig aufgebessert hatte.

Ich drückte die Beklemmung weg und marschierte Richtung Eingang, begleitet von dem sicheren Gefühl, dass ich beobachtet wurde.

Der Eingang lag zwischen zwei Säulen. Ein Kubus aus Sichtbeton mit einer glatten Haustür aus Stahl, die sich mit einem Summen öffnete, kaum dass ich einen halben Meter von ihr entfernt war.

Ich trat ein und fand mich am unteren Ende einer Treppe wieder. Am oberen Absatz wartete eine Dame mittleren Alters in hellblauer Kittelschürze. Sie sah misstrauisch zu mir herunter und musterte mich auf die Art und Weise, auf die man auf keinen Fall gemustert werden möchte, wenn man geglaubt hatte, dem Anlass entsprechend korrekt gekleidet zu sein. Ihr Blick blieb an meiner Krawatte hängen. Vielleicht war Paisleymuster zum Jeanshemd doch die verkehrte Wahl gewesen, aber alle übrigen Krawatten hatten Flecken gehabt.

»Kommen Sie hoch, Herr Petri.« Sie rollte das »R«. Ein Akzent aus dem Osten.

Ich erklomm die Treppenstufen, bis ich neben der Frau stand. Jetzt wirkte sie winzig.

»Dort lang bitte. Frau Levin wird gleich bei Ihnen sein.« Erwartungsvoll hielt sie die Hände ausgestreckt, bis ich verstand, dass sie mir den Mantel abnehmen wollte. Ich legte ihn über ihre Unterarme und ging in die Richtung, in die sie gezeigt hatte.

Ich spürte ihre Anwesenheit im Rücken, bis ich das Wohnzimmer erreicht hatte. Als ich mich umdrehte, war sie verschwunden.

Zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten war ich beeindruckt. Zwischen dem weitläufig im Raum verstreuten Mobiliar hätte ohne Platznot eine Formation Walzer tanzen können. Von den hochglänzenden beigefarbenen Fliesen stieg eine angenehme Wärme auf. Klar, Fußbodenheizung. Eine Front aus bodentiefen, beinahe rahmenlosen Fenstern eröffnete die Aussicht auf das Kasseler Becken, nur abgelenkt durch einige Bäume auf dem darunterliegenden Grundstück. Durch die nackten Äste erahnte ich bekannte Kirchturmspitzen; sie ragten aus der Dunstglocke, die über der Stadt hing. Ich stellte mir vor, wie die Aussicht erst im Dunkeln sein musste, wenn sich die Wilhelmshöher Allee wie ein leuchtender Wurm durch die Stadt wand. Beinahe schade, dass der Ausblick bald eingeschränkt sein würde, sobald die Bäume austrieben.

Schritte näherten sich. Die Frau schob beim Schreiten die Schultern trotzig nach vorne, wobei die Schulterpolster unter ihrer Bluse vor- und zurückwippten. Ihre langen Beine steckten in schwarzem Samt, und während die meisten im Haus vermutlich etwas Bequemes bevorzugt hätten, trug sie Schuhe mit mörderischen Absätzen, in denen sie lief wie in Turnschuhen. Sie musste das stundenlang geübt haben, ihre hohen Hacken machten kaum ein Geräusch auf dem Fliesenboden. Für einen Körper wie ihren hätte manche Frau ein Vermögen hingeblättert, ich entdeckte jedoch an ihr nichts, was auf etwas anderes als die Gnade guter Gene schließen ließ. Mit einiger Erleichterung fand ich schließlich an ihren goldblonden Locken doch etwas, wo der Natur nachgeholfen worden war: An der Kopfhaut verriet sie ein glatter brünetter Ansatz.

Ich hatte eine Witwe in Sack und Asche erwartet, stattdessen stand mir eine Frau gegenüber, die weder gebeugt noch gebeutelt wirkte. Sie schien es zu genießen, dass ich sie anstarrte, verharrte demonstrativ und hielt den Rücken gerade. Es hätte mich nicht gewundert, wenn sie trotzig die Fäuste in die Hüften gestemmt hätte, stattdessen streckte sie mir die rechte Hand entgegen.

»Salvina hat gesagt, Sie seien ein Geschäftspartner meines Mannes gewesen.«

Ich war versucht zuzustimmen, die Steilvorlage war zu verführerisch. Doch ich war immer noch Anwalt, ganz gleich, wie tief ich bereits im Schlamm versunken war. »Da muss sie etwas falsch verstanden haben, wir waren keine Geschäftspartner. Mein Name ist Meinhard Petri. Ich bin Anwalt für Strafrecht.« Ich fummelte eine zerknautschte Visitenkarte aus der Jacketttasche und hielt sie ihr hin.

Sie nahm sie, aber würdigte sie keines Blickes. »Ich habe einen Anwalt«, sagte sie trocken.

»Ich vertrete die Interessen eines Mannes, der mit Ihrem Gatten Geschäfte gemacht hat.« So formuliert klang die Sachlage verdammt harmlos, allerdings nur, wenn einem das Knacken brechender Finger nicht ständig im Ohr lag. Unbewusst rieb ich mir die Hände.

»Und was kann ich für Sie tun? Sie haben sicher Verständnis, dass ich bisher nicht alle Angelegenheiten von Roman ordnen konnte.«

Sie wirkte extrem gefasst, beinahe bemüht, so als trüge sie unter der Bluse ein Korsett, das ihr das Rückgrat stützte.

»Mein Mandant hatte geschäftlich mit den Männern zu tun, deren Selbstmorde in den vergangenen Jahren hier in Kassel in den Medien Wellen geschlagen haben, und er fragt sich, ob es einen Zusammenhang zwischen ihnen gibt.«

Sie seufzte, und beim Ausatmen wich die Spannkraft aus ihrem Rücken. Sie ließ sich in einen schwarzen Lederkubus mit Chromgestell fallen. Eines dieser Möbelstücke, bei denen ich mich immer gefragt hatte, ob die Würfelform bequem sein konnte. Einen Augenblick später wusste ich, dass sie es nicht war.

Sie hatte mir einen Platz gegenüber angeboten, und ich rutschte auf dem kalten, harten Leder herum auf der verzweifelten Suche nach einer lässigen Haltung.

»Das hat mich die Polizei auch schon gefragt, und ich kann Ihnen nur sagen, dass ich die Herren nicht persönlich kannte.«

»Die Polizei hat Sie befragt?«

»Sicher. Ist es nicht üblich, bei Selbstmord nachzuforschen, wenn kein Abschiedsbrief vorliegt?«

»Sie haben recht, das ist üblich. Und Sie haben die anderen Männer nie getroffen?«

»Vielleicht ist man sich mal auf einer Abendveranstaltung begegnet.«

»Haben Sie eine Ahnung, für welchen Zweck Ihr Mann sich 300.000 Mark geliehen hat?« Die Taktik, mit der Tür ins Haus zu fallen, hatte der Wahrheit schon häufig auf die Sprünge geholfen.

Sie sah mich an, als sei ich verrückt geworden. Ich meinte, sogar ein leises Lächeln zu erkennen.

»Roman hatte es nicht nötig, sich Geld zu leihen. Wir haben nie über Finanzielles gesprochen und auch nie über den Verlag, aber glauben Sie mir, Geld war ganz bestimmt das geringste Problem.«

»Wer führt die Geschäfte, jetzt, wo Ihr Mann …?« Ich biss mir auf die Unterlippe.

Ihre Augen verengten sich und sie schob das Kinn nach vorne. Verwirrt stellte ich fest, dass sie die Frage weniger betroffen machte als ärgerlich. »Sein Sohn aus erster Ehe ist schon vor Jahren in die Geschäftsführung eingestiegen. Roman wollte ihm ohnehin in Kürze den Verlag übergeben und sich zurückziehen. Er hat sein ganzes Leben davon geträumt, selber mal etwas zu schreiben. Daraus wird nun nichts mehr.«

Ich fragte mich, welcher Teil ihrer Antwort Grund für den Ärger in ihrer Stimme war. »Hat er sich gut mit seinem Sohn verstanden?«

»So gut, wie zwei Leitwölfe sich eben verstehen können. Es gab immer wieder mal Unstimmigkeiten, aber am Ende wurden sie sich irgendwie einig.«

Dieses Thema machte sie eifersüchtig, das spürte ich. »Und Sie sind finanziell versorgt?«

Sie setzte sich sehr gerade hin. »Ich denke nicht, dass Sie das etwas angeht, oder?«