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Rothenburg ob der Tauber im Jahre 1418. Geheimnisvolle Vorfälle halten die Freie Reichsstadt in Atem. Am Anfang steht der Selbstmord einer 14-jährigen Färbertochter, deren eilig bestatteter Leichnam auf rätselhafte Weise verschwindet. Kurze Zeit später schlägt der Leichendieb erneut zu. Als dann auch noch die Frau des Baders tot aufgefunden wird, macht sich große Angst breit. Auf Bitten des örtlichen Franziskanerkonvents beginnt Bruder Hilpert von Maulbronn - ein über die Grenzen seines Klosters hinaus bekannter Meisterdetektiv - den mysteriösen Dingen auf den Grund zu gehen…
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Seitenzahl: 331
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Uwe Klausner
Engel der Rache
Bruder Hilperts fünfter Fall
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2012
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Julia Franze
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung des Bildes »Porträt einer Frau« von
Rogier van der Weyden; http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Rogier_van_der_Weyden_029.jpg?uselang=de
Universität Heidelberg
Augustinerkloster[2], eine halbe Stunde vor dem Mittagsläuten │ [11.30 h]
»Und nun, Vorschneider, waltet Eures Amtes!«
Knapp zwei Dutzend Studenten, Bruder Hilpert mit eingeschlossen, wichen instinktiv zurück, als sich der schafsäugige und mit dunkler Robe sowie roter Samtkappe bekleidete Prosektor[3] auf Geheiß des Professors einen Weg durch ihre Reihen bahnte und mit ausdrucksloser Miene an den Seziertisch trat. Vorlesungen waren eine Sache, Sektionen etwas ganz anderes. Das war den zukünftigen Doctores bewusst. Entsprechend gedämpft war die Stimmung, hatten doch allerlei Gerüchte, makabere Details und sogar Spottverse die Runde gemacht.
Doch nun, in der Vorlesung über die Geschichte der Medizin, gab es kein Zurück mehr für sie. Das galt auch für Bruder Hilpert, Bibliothekarius des Klosters Maulbronn, der dem Ereignis mit gemischten Gefühlen entgegensah. Von Natur aus ein wissbegieriger Mensch, hatten ihn bis zuletzt Zweifel geplagt, aber da er sich keine Blöße geben wollte, ließ er sich nichts anmerken und heftete den Blick auf die weiß getünchte Wand hinter dem Seziertisch, an der ein lateinischer Sinnspruch zu lesen war: ›Hic est locus, ubi mors gaudet succurrere vitae‹[4] hieß es da, was Bruder Hilpert aufgrund einer Sehschwäche, welche ihm immer häufiger zu schaffen machte, nur mit Mühe entziffern konnte.
Auf ein Zeichen des Professors, der dank eines erhöhten Sitzplatzes am Fußende den besten Überblick besaß, trat sein Famulus[5] an das Kopfende des in der Mitte des Kapitelsaales postierten Schragentisches. Dann schlug er das Leinentuch zurück, mit dem der für die Sektion ausgewählte Leichnam verhüllt gewesen war. Bruder Hilperts Schätzung zufolge war der Tote, auf den sich die Blicke richteten, in seinem Alter, also Mitte dreißig. Beim Anblick des bläulich roten Striemens an seinem Hals erübrigte sich jeglicher Kommentar, und der hagere Bibliothekarius fragte sich im Stillen, was der dunkelhaarige, kräftige und mittelgroße Mann, von dem die Leichenstarre komplett Besitz ergriffen hatte, auf dem Kerbholz gehabt haben mochte.
Da diese Frage eine akademische war, schob der Zisterziensermönch sie beiseite und konzentrierte sich auf die Erläuterungen des Professors, der wie Gottvater über den Häuptern seiner Eleven thronte und abwartete, bis der Prosektor seine Instrumente ausgepackt, das Skalpell zur Hand genommen und den Körper des Unbekannten vom Brustbein bis zum Becken aufgetrennt hatte. Manch einer der Umstehenden wich beim Anblick der wie Magma aus dem Abdomen[6] hervorquellenden Darmschlingen entsetzt zurück. So auch Bruder Hilpert, der sich der Ablenkung halber auf die Gesichter der Umstehenden und den knapp 50 Jahre alten und mit einer nicht gerade wohlfeilen Robe mit weiten Ärmeln bekleideten Professor konzentrierte. Dieser wiederum, sich seiner Würde durchaus bewusst, machte es spannend, schien das makabere Spektakel förmlich zu genießen. »Wie ihr, Discipuli[7], erkennen könnt«, ließ er sich schließlich herab, das Wort an die Mitglieder der Medizinischen Fakultät zu richten, etliche gerade einmal halb so alt wie der Bibliothekarius, »hat mein wackerer Famulus bei seinem Schnitt das Omentum[8] durchtrennt und die Gedärme freigelegt, welche ihr vor euch auf dem Seziertisch liegen seht. Würde vielleicht jemand die Güte besitzen und sie in den Eimer dort drüben … sei bedankt, Laurentius Mittermeier, für deine Hilfe.« Der Angesprochene, offenbar einer der unteren Semester, kam der Bitte des Professors eilfertig nach, musste jedoch seine ganze Selbstüberwindung aufbieten, um die übel riechenden, triefenden und glitschigen Schlingen einzusammeln und in das bereitstehende Behältnis zu stopfen.
Bruder Hilpert wandte sich schaudernd ab. Ganz anders der offenbar grenzenlos von sich überzeugte Professor, der nach einem amüsierten Räuspern mit seinen Erläuterungen fortfuhr. »Wie jedermann weiß«, dozierte er mit majestätischem Blick auf sein Publikum, welches ihn wie eine verschüchterte Schafherde umlagerte, »kann man nur dann einen ungehinderten Blick auf die inneren Organe unserer Spezies werfen, wenn zuvor der Dünndarm entfernt worden ist. Eine Aufgabe, der Ihr Euch, Famulus, nunmehr widmen werdet. Nicht gerade einfach, wenn man bedenkt, dass es beileibe nichts Ungewöhnliches ist, wenn der Dünndarm eine Länge von über elf Ellen[9] erreicht. Eine Distanz, welche annähernd der Breite dieses Raumes entspricht. Im Anschluss daran gilt es, mithilfe des Requisits, zu dem mein furchtloser Helfer in diesem Moment greift, die Knochen des Brustkorbs zuerst zu brechen und im Anschluss daran zu entfernen. Nur so, erlauchte Magnifizenzen, wird es uns möglich sein, einen Blick auf das Innere des Thorax[10] zu werfen und die Organe, welche Gegenstand meiner heutigen Ausführungen sind, genauer in Augenschein zu nehmen. Einstweilen irgendwelche Fragen?« Der Professor machte eine kurze Pause, zupfte die Robe zurecht und blickte seine Schüler, von denen etliche der Ohnmacht nahe waren, der Reihe nach an. Wie nicht anders zu erwarten, wagte niemand, das Wort zu ergreifen, und so setzte er seine Ausführungen fort. »Nein? Wenn dem so ist, möchte ich mit meinem Diskurs fortfahren. Im Folgenden, Discipuli, werden wir uns näher mit den Organen befassen, welche dank der fachkundigen Handgriffe des Prosektors nunmehr besser zu erkennen sind. Ad rem![11] Wie so häufig, geschätzte Studiosi, ist es das bleibende Verdienst des Hippokrates, Licht ins Dunkel heidnischer Vorstellungen und Mutmaßungen gebracht zu haben, war er doch der Erste, dem es gelang, Sinn und Zweck der wichtigsten Organe auf – wie ich meine – bislang unübertroffene Art und Weise zu erläutern. Beginnen wir mit dem Herzen, auf das unser ehrenwerter Prosektor gerade mit seinem Zeigestock deutet. Das Herz, von alters her Sitz menschlicher Leidenschaften, ist durch unauflösbare Bande mit dem Blut verknüpft, desgleichen die gelbe Galle mit der Leber, die schwarze mit der Milz und der Schleim mit dem Gehirn. Dementsprechend weist der menschliche Corpus vier verschiedene Säfte auf, welche ihrerseits mit den vier Elementen – also Luft, Feuer, Erde und Wasser – in Beziehung gesetzt werden können. Das heißt, die Luft entspricht dem Blut, das Feuer der gelben, die Erde der schwarzen Galle und das Wasser zu guter Letzt dem Schleim. Sind die oben erwähnten Körpersäfte gleichmäßig auf den menschlichen Organismus verteilt und befinden sich im Einklang miteinander, wird demjenigen, welcher sie beherbergt, schwerlich Böses widerfahren. Mit einem Wort: Er wird sich, so Gott will, allzeit bester Gesundheit erfreuen und allzeit guten Mutes sein. Gewinnt jedoch einer der Säfte die Oberhand, wird dies dem Betreffenden unter Umständen große Pein zufügen, je nachdem, ob es sich um Sanguiniker, Choleriker, Melancholiker oder Phlegmatiker handelt. Steht doch unwiderruflich fest, dass das Blut heiß und feucht, die gelbe Galle heiß und trocken, die schwarze kalt und trocken, und der Schleim, welcher das Gehirn durchströmt, bei jedem von uns kalt und feucht ist. Ergo: Es gilt, unsere Leidenschaften zu zügeln, ganz gleich, wie sie beschaffen sein mögen. Auf dass der Weltenverderber, auch Satan genannt, zu keiner Zeit die Oberhand über uns gewinnen möge!« Berauscht von den eigenen Worten, zog der Professor sein Schweißtuch unter der Robe hervor, betupfte die hohe, von schwindender Haarpracht bekränzte Stirn und fügte triumphierend hinzu: »Was für Hippokrates gilt, wurde im Übrigen durch allerlei Koryphäen bestätigt, per exemplum durch Galen, Leibarzt des römischen Kaisers Marcus Aurelius[12], durch Plinius den Älteren[13] sowie auch durch Pedanios Dioskurides[14], woraus folgt, dass …«
»Irren menschlich ist und besagte Herren völlig vergreiste Quacksalber waren!«
»… die von mir vorgetragenen Sachverhalte wohl fundiert und unwiderlegbar … was habt Ihr gerade eben gesagt?«
Aller Augen, auch die des Prosektors, dem der Zeigestab vor Schreck beinahe aus der Hand gerutscht wäre, waren zunächst auf Bruder Hilpert gerichtet, wandten sich jedoch unmittelbar darauf der Gestalt zu seiner Linken zu, welche sich von den übrigen Anwesenden allein schon aufgrund ihrer Kleidung unterschied. Bruder Hilpert wunderte sich, warum ihm die Person im schwarzen Umhang nicht schon früher aufgefallen war, unterschied sie sich doch komplett von den übrigen Studenten, von denen einer den anderen in puncto Kleidung zu übertrumpfen versuchte. Viel zu sehen war von ihrem Gesicht indessen nicht, dank einer Kapuze, welche der Gestalt beinahe bis zur Nasenspitze reichte und die Augenpartie komplett verhüllte. Das einzig Auffällige an ihrer Gewandung, unter der ein Paar schwarze Stiefel hervorlugten, war die silberne Spange, welche das pechschwarze Gewand zusammenhielt und dem Geschöpf ein beinahe mystisches Gepräge verlieh.
»Wer gibt Euch das Recht, unaufgefordert das Wort zu ergreifen – sprecht!«
Ohne einen Blick auf die Umstehenden zu verschwenden, verharrte die schwarz gewandete Gestalt auf der Stelle und stierte mit gesenktem Blick vor sich hin. Dann aber, der Gaffer offenbar überdrüssig, stieß sie ein verächtliches Schnaufen aus, machte eine wegwerfende Geste und wandte sich zum Gehen.
Zurück blieben zwei Dutzend Medizinstudenten, die Gesichter immer noch schreckensbleich, ein in seiner Ehre gekränkter Professor und ein fassungsloser Prosektor, der wie sein Herr und Meister vergeblich nach Worten rang. Zurück blieb aber auch ein hagerer Mittdreißiger im Habit der Zisterzienser, der den Vorfall, dessen Zeuge er gewesen war, so schnell nicht vergessen würde.
*
»Nanu, welche Laus ist denn dir über die Leber gelaufen?«, rief Berengar von Gamburg, Vogt des Grafen von Wertheim, schon von Weitem aus, als er Bruder Hilpert einsam und frierend am Rande des Kornmarktes stehen sah. Gegen die klirrende Kälte war kein Kraut gewachsen und ihm war, als seien seine Kukulle[15], die dazugehörige Tunika[16] und die Beinkleider aus Schafswolle samt den kuhledernen Schuhen aus Papier. Vom Turm der Heiliggeistkirche, nur einen Steinwurf weit entfernt, erklang gerade das Mittagsläuten, was Bruder Hilpert, dessen vergrübelte Miene sich beim Auftauchen seines besten Freundes kaum merklich erhellte, jedoch kaum wahrzunehmen schien. »Nichts für schwache Nerven, so eine Sektion, hab ich Recht?«
»Als ob ich das nicht schon vorher gewusst hätte, Berengar.«
»Wollt ihr wohl aufhören, euch zu zanken!«, kam Irmingardis, Berengars Verlobte, einer launigen Bemerkung ihres künftigen Gatten zuvor, hakte sich bei ihm und Bruder Hilpert unter und zog das ungleiche Paar mit sich fort. Dann richtete sie das Wort an Hilpert und fragte: »War es wirklich so schlimm?«
»Wie man’s nimmt!«, seufzte Bruder Hilpert, in sich gekehrt und noch eine Idee blasser als sonst. »Mein Fall war es jedenfalls nicht.«
»Und das ausgerechnet von dir!«, amüsierte sich Berengar, knapp 31 Jahre alt, beinahe sechs Fuß groß und von kräftiger Statur, die unter seinem Leinenhemd, dem schwarzblau gestreiften Wams mit den geschlitzten Puffärmeln und dem Überwurf aus Schaffell mehr als deutlich zur Geltung kam. »Schon vergessen, was wir in den letzten zwei Jahren erlebt haben?«
»Wie könnte ich!«, erwiderte Bruder Hilpert, während das verschworene Trio die Heiliggeistkirche passierte und auf die Schenke zusteuerte, wo Berengar und seine Verlobte Quartier genommen hatten. Bruder Hilpert fand zwar, dass sich das nicht gehörte, und hätte es lieber gesehen, wenn die beiden bis zu ihrer Hochzeit etwas mehr auf Sitte und Anstand geachtet hätten, unterließ es aber, seinen Freund zur Rede zu stellen. »Ein Grund mehr, nach Maulbronn zurückzukehren.«
»Das ist doch wohl ein Scherz, oder? Kann es sein, dass du deine Pflichten ein wenig zu ernst nimmst?«
»Apropos ›Pflichten‹ – hat sich das Verhältnis zwischen deinem Herrn und dem Kurfürsten wieder eingerenkt?«
»Soweit man das sagen kann – ja. Sieht so aus, als hätten sich die beiden zusammengerauft. Und weißt du, was das Beste daran ist? Er hat mir bis Pfingsten freigegeben. Überaus christlich, findest du nicht auch?«
»Bis Pfingsten? Alle Achtung. Genug Zeit, um allerlei gottgefällige Werke zu tun.«
»Du sagst es!«, pflichtete Irmingardis mit dem für sie typischen Lachen bei und warf ihm ein strahlendes Lächeln zu, wodurch sich die Vorbehalte, welche er in moralischer Hinsicht hegte, einstweilen in Luft auflösten. Irmingardis war nicht nur hübsch anzuschauen, was selbst ihm, der er seine Gelübde abgelegt hatte, nicht verborgen geblieben war, sondern trotz ihres Alters von knapp 24 Lenzen bereits eine lebenskluge und den Fährnissen des Erdendaseins in jeder Hinsicht gewachsene Frau. Ein Blick ihrer Rehaugen, und Berengar schmolz förmlich dahin, was Bruder Hilpert, der von der Tochter aus betuchtem Würzburger Patrizierhause überaus angetan war, ein ums andere Mal das Herz erwärmte. Wäre er Maler oder Bildhauer geworden und auf der Suche nach einem passenden Modell für eine Madonna gewesen, hätte er gewusst, für wen er sich entscheiden würde. »Weshalb wir Tante Jutta, Priorin vom Orden der Dominikanerinnen, anlässlich ihres Geburtstages am Tag der heiligen Gertrudis einen kleinen Besuch abstatten werden.«
»Das kann ja heiter werden!«, seufzte Berengar, dem die Aussicht auf eine Stippvisite bei Verwandten, noch dazu bei einer leibhaftigen Priorin, überhaupt nicht zu behagen schien. Mit Ausnahme seines Freundes Hilpert war er auf Angehörige des geistlichen Standes nicht übermäßig gut zu sprechen und machte aus seiner Meinung auch keinen Hehl. »Eine leibhaftige Priorin – riecht ja förmlich nach Fehdehandschuh!«
»Jutta Küchenmeister von Nordenberg?«, warf Bruder Hilpert geistesgegenwärtig ein, im Gegensatz zu Irmingardis, die verdrossen nach Luft schnappte, längst an Berengars Humor gewohnt. »Eine weithin berühmte und hochgelehrte Frau!«
»Hochgelehrt? Das glaubst aber auch nur du!«, hielt der Vogt des Wertheimer Grafen dagegen und setzte sogar noch eins drauf: »Wie lautet doch gleich die Bauernregel? ›Gibt es an Gertruden Eis, wird’s in der Liebe nimmer …‹«
»Welch Glück, Liebster, dass wenigstens dein Freund die Verdienste von Tante Jutta zu schätzen weiß!«, fuhr seine Verlobte ihm über den Mund, wohl wissend, dass Berengar nicht aus seiner Haut konnte und ihr mit jeder Faser seines Wesens ergeben war. »Wie wäre es, wenn du die Halbschwester meiner Mutter erst einmal kennenlernst, bevor du sie mit dem Bannfluch belegst?«
»Bleibt mir ja wohl nichts anderes übrig«, murrte Berengar, woraufhin sich seine Miene schlagartig erhellte und er seinen Freund, der die Neckereien seiner Begleiter mit amüsiertem Stirnrunzeln verfolgt hatte, aus dem Augenwinkel taxierte. »Wenn wir gerade von Kennenlernen reden – hättest du nicht Lust, uns zu begleiten, Bücherwurm? Und sei es nur, um mir seelischen Beistand zu leisten?«
»Als ob ausgerechnet du so etwas nötig hättest. Tut mir leid, Berengar, aber mein Entschluss steht unwiderruflich fest.«
»Papperlapapp! Schon vergessen, dass dich dein Abt bis zu unserer Hochzeit an Ostern von sämtlichen Pflichten entbunden hat? Aus Dankbarkeit, dass wir unseren vierten Fall gelöst haben? Nein? Dann frage ich mich, was so schlimm daran ist, wenn wir noch ein paar Tage am Hof des Kurfürsten verbringen und du uns anschließend begleitest.«
»Gar nichts, geschätzter Freund, gar nichts. Zumal sich auch mir die Gelegenheit zu einem Wiedersehen mit einem alten Freund bieten würde.«
»Tatsächlich?«
Bruder Hilpert nickte, schlug seine Kapuze zurück und öffnete die Tür der Schenke, aus der ihm der Geruch von Wildbret, gefüllten Pasteten und frisch gebackenem Fladenbrot entgegenschlug. »Bruder Alban vom Orden der Minderen Brüder zu Rothenburg«, entgegnete er, ließ seinen Freunden den Vortritt und fügte erklärend hinzu: »Weggefährte während meiner Pilgerfahrt nach Rom. Kaum zu glauben, wie lange das schon wieder her ist.«
»Na also!«, rief Berengar freudestrahlend aus, half seiner eineinhalb Köpfe kleineren Verlobten aus dem blauen Umhang und überreichte ihn dem Wirt, welcher eilfertig seine Dienste anbot. »Warum nicht gleich so.«
»Was tut man nicht alles für einen guten …«, begann Bruder Hilpert, im Begriff, sich seinen Begleitern anzuschließen. Dabei fiel sein Blick eher zufällig auf zwei Streithähne, welche unweit der Heiliggeistkirche aufeinander einredeten und so sehr in ihr Gezänk vertieft waren, dass sie den Bibliothekarius nicht bemerkten. Einer der beiden, allem Anschein nach Devotionalienhändler, war ihm völlig unbekannt, der andere, eine Gestalt mit dunklem Umhang, hingegen schon.
»Was ist denn los?«, fragte Berengar, nachdem Hilpert neben ihm Platz genommen hatte.
»Nicht der Rede wert!«, wiegelte Bruder Hilpert ab, roch an seinem Glühwein und nahm einen kräftigen Schluck. »Nur ein Bekannter, von dem ich hoffe, dass sich unsere Pfade nie mehr kreuzen werden!«
Rothenburg ob der Tauber, Tag der heiligen Gertrudis[17]
Rothenburger Richtstätte, knapp eineinhalb Stunden vor Sonnenaufgang│ [04.00 h]
»Wenn das rauskommt, wird es uns den Kopf kosten!«
Friedhelm, Henker zu Rothenburg ob der Tauber, stieß seine Schaufel in den Erdhaufen neben der etwa fünf auf neun Fuß[19] großen Grube und hielt schwer atmend inne. Im Verlauf der letzten halben Stunde hatte er sich mächtig ins Zeug gelegt, ohne Rücksicht auf die Böen, welche von Osten über den Schindanger[20] der Gehenkten fegten, Myriaden von Schneeflocken vor sich her peitschten und voller Ungestüm am Geäst der Ulme rüttelten, unter der er gerade eine Verschnaufpause einlegte. Der Scharfrichter spie verächtlich aus. Die Leute behaupteten, dies sei ein verwunschener Ort, freiwillig traute sich kein Mensch hierher. Vor allem nachts, hieß es, stiegen die Geister der Geräderten, Gehenkten und Gevierteilten aus ihren Gräbern und wanderten in stummer Prozession zum nahen Galgen, an dem sie geheime Zwiesprache hielten und den Ort ihrer Marter mit Flüchen belegten.
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