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Berlin, 07.06.1942. Auf einer Parkbank in der Nähe der Siegessäule wird eine Leiche entdeckt. Zunächst deutet alles auf Selbstmord hin. Kommissar Tom Sydow will jedoch nicht so recht daran glauben. Zumal es sich bei dem Toten um ein „hohes Tier“ der Gestapo handelt. Der befürchtete Ärger stellt sich auch prompt ein, denn Sydow beharrt auf einer genauen Obduktion. Eine Maßnahme, die sein Gegenspieler, Gestapo-Obersturmführer Moebius, mit allen Mitteln zu verhindern versucht. Ihm geht es nur um eines: Wieder in den Besitz der Akten zu gelangen, die der Tote auf Geheiß von Geheimdienstchef Reinhard Heydrich beiseite geschafft hat. Doch nicht nur die Gestapo und Sydow sind hinter den brisanten Dokumenten her. Ein gnadenloser Wettlauf um den Besitz von Heydrichs „Giftschrank“ beginnt ...
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Seitenzahl: 285
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Uwe Klausner
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Katja Ernst
Korrektorat: Susanne Tachlinski, Katja Ernst
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von Getty Images, Busy Berlin,
Die als ›fiktive Hauptpersonen‹ aufgelisteten
Charaktere sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Reale Hauptfiguren
Reinhard Heydrich (1904–1942), Oberleutnant der Reichsmarine, SS-Obergruppenführer, Leiter der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD) der NSDAP, Chef des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), Organisator des Massenmordes an den europäischen Juden, geschäftsführender Statthalter für das ›Protektorat Böhmen und Mähren‹
Adolf Eichmann (1906–1962), ›Judenreferent‹ im RSHA, ab 1939 für Deportation und Ermordung zuständiger Referatsleiter im RSHA, 1962 in Jerusalem hingerichtet
Heinrich Müller (1900–1945?), Chef des Amtes IV im RSHA (Gestapo), 1945 in Berlin verschollen
Jozef Gabcík (1912–1942), Jan Kubiš (1913-1942) und Josef Valcík (1914–1942), am Attentat auf Heydrich beteiligte Widerstandskämpfer
Karl Hermann Frank (1898–1946), Heydrichs Stellvertreter in Prag, 1939 Polizeichef und Staatssekretär, 1946 in Prag gehängt
Winston Churchill (1874–1965), britischer Premierminister von 1940–1945 bzw. 1951–1955
Stewart Menzies (1890–1968), Chef des britischen Auslandsgeheimdienstes MI6
Edvard Beneš (1884–1948), Mitbegründer, Außenminister, Regierungschef und Präsident der Tschechoslowakei
Josef Stalin(1878–1953), Generalsekretär der KPdSU und sowjetischer Diktator
Lawrenti Berija (1899–1953), sowjetischer Geheimdienstchef, 1953 exekutiert
Fiktive Hauptfiguren
Rebecca Kahn, 22 Jahre, Tochter eines jüdischen Arztes aus Berlin
Tom von Sydow, 29, Hauptkommissar der Berliner Kripo
Erich Kalinke, 27, genannt ›Klinke‹, sein Assistent
Friedemann Bonin, 56, untergetauchter Sozialdemokrat und ehemaliges Mitglied der Berliner Philharmoniker
Kruppke, 28, Untersturmführer und Gestapo-Agent
Carl Gustav Moebius, 41, Obersturmführer und Gestapo-Agent
Irene von Möllendorf, 35, Witwe von SS-Sturmbannführer Alfred von Möllendorf
›Der Marder‹, 29, Agent des britischen MI6
Magda Jannowitz alias ›Natascha‹
Gunther und Brünnhilde So soll es sein! Siegfried falle! Sühn er die Schmach, die er mir schuf! Des Eides Treue hat er getrogen: mit seinem Blut büß er die Schuld! Allrauner, rächender Gott! Schwurwissender Eideshorst! Wotan! Wende dich her! Weise die schrecklich heilige Schar, hierher zu horchen dem Racheschwur!
HagenSterb er dahin, der strahlende Held! Mein ist der Hort,mir muss er gehören. Drum sei der Reif ihm entrissen. Alben-Vater, gefallner Fürst! Nachthüter! Nibelungenherr! Alberich! Achte auf mich! Weise von Neuem der Nibelungen Schar, dir zu gehorchen, des Ringes Herrn!
»Heydrich durchschaute die Geheimnisse des Dritten Reiches. Er wusste von Hitlers Krankheiten und Jugendsünden, hatte sogar seine Bekanntschaften um 1910 und den mysteriösen Selbstmord seiner ›Lieblingsnichte‹ Geli Rauball 1931 untersuchen lassen. Auch die Sünden der übrigen Mitglieder der Naziführungsriege kannte Heydrich.«
(Mario Dederichs: Heydrich.
Berlin
Bahnhof Grunewald 19.01. | 9.00h
Sie wollte leben. Einfach nur leben. Und nicht abtransportiert werden wie ein Stück Vieh.
Rebecca schlug den Mantelkragen hoch und trat frierend auf der Stelle. Es war kalt an diesem Morgen. So bitterkalt, dass jeder Atemzug schmerzte und sich ihre Schritte auf dem vereisten Bahnsteig wie ein Gang über ein Meer von Glassplittern anhörten.
»Name?«, bellte der SS-Oberscharführer und baute sich breitbeinig vor ihr auf.
»Rebecca Kahn.«
»Alter?«
»22.«
»Wohnhaft in?«
Rebecca fröstelte. Ausnahmsweise jedoch nicht wegen der Kälte. Es lag an der Art und Weise, wie sie dieser Kerl taxierte. Der klirrende Frost war nichts dagegen.
»Berlin-Schöneberg, Hohenstaufenstraße…«
»Schon gut! So genau will ich es gar nicht wissen!«, kanzelte sie der Uniformierte mit dem vorspringenden Kinn ab. Dann strich er ihren Namen durch. »Hauptsache, eine arisierte Wohnung mehr! Und jetzt mach, dass du weiterkommst!«
Doch Rebecca rührte sich nicht vom Fleck. Sie konnte einfach nicht anders. »Was macht Sie so sicher, Herr Oberscharführer?«, antwortete sie und strich eine störrische dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht.
Für den Bruchteil einer Sekunde geriet die stramme Haltung des SS-Mannes ins Wanken. Die Augen dieses Prototyps eines nordischen Recken wurden größer, nur um sich kurz darauf zu schmalen Schlitzen zu verengen.
»Was war das gerade eben, Judenbalg?«, knurrte er und wippte auf den Absätzen seiner blankpolierten Stiefel hin und her.
Rebecca setzte zu einer Erwiderung an. Es wurde jedoch nichts daraus. In das Menschenknäuel hinter der Absperrung kam Bewegung, und ihre Mutter tauchte auf. Grauhaarig, Mittelscheitel, Silberbrosche. Berlinerischer als die Berliner und preußischer als die Preußen. Sozusagen die Disziplin in Person. Und das, obwohl Vater anno 1938 von der SA wie ein räudiger Hund totgeschlagen worden war. Ein wehmütiges Lächeln trat auf Rebeccas Gesicht. Mutter war einfach nicht klein zu kriegen. Vaters Arztpraxis hatte sie per Strohmann einfach weitergeführt. Als ob nichts gewesen wäre. Bis gestern Abend. Da war selbst sie mit ihrer Weisheit am Ende gewesen.
»Rebecca, mein Kind, wo bleibst du denn?«, ereiferte sich die stattliche Matrone und zog sie mit sich fort. Dem SS-Mann blieb glatt die Luft weg. »Na, komm schon, oder willst du etwa hier Wurzeln schlagen?«
Ja, das wollte sie. Wurzeln schlagen. Und wenn, dann in Berlin. Selbst auf die Gefahr hin, untertauchen zu müssen. Zwei Jahre, höchstens drei. Dann wäre der Krieg sowieso vorbei. Rebecca setzte eine entschlossene Miene auf. Lieber ein Leben in Angst als Deportation. Lieber auf der Flucht vor der Gestapo als eine ungewisse Zukunft. Lieber frei sein als Freiwild für die SS.
So sie denn überhaupt in Riga ankommen würde.
In diesem Moment stand Rebeccas Entschluss fest. Daran konnte selbst ihre Mutter nichts ändern.
Sie riss sich los und blieb stehen. Das Gedränge auf dem Bahnsteig nahm zu. Es mussten Hunderte sein, wenn nicht mehr. Alles bekannte Gesichter. Leute aus der Nachbarschaft, aus demselben Viertel. Und immer wieder diese Kommandorufe. Scharf, durchdringend, gnadenlos. Rebecca hielt es nicht mehr aus.
Sie wollte leben. Einfach nur leben.
Was folgte, geschah mit rasanter Geschwindigkeit. Ohne dass Rebecca groß zum Nachdenken gekommen wäre. Für sie, die sie dem Tod zu entrinnen versuchte, bewegte sich die Welt jedoch wie in Zeitlupe voran.
Rebecca stellte ihren Koffer ab und sah sich um. SS-Männer, Polizei und Bahnbeamte in rauen Mengen. Trotzdem. Sie musste es riskieren. Etwas anderes blieb ihr nicht übrig.
Während sie sich die Hände in der Manteltasche wärmte, stieß sie auf etwas Kaltes, Metallisches. Das EK I ihres Vaters. Mit das Einzige, was sie in der Hektik hatte mitnehmen können.
Als sei dies ein Zeichen für sie, wanderte ihr Blick hinüber zu ihrer Mutter, die soeben in einen Güterwaggon stieg und den Blick über die Köpfe der wartenden Menge schweifen ließ.
Ihre Blicke trafen sich. Und ihre Mutter nickte ihr zu. Als wisse sie genau, was in ihrem Kopf vor sich ging.
Rebecca erwiderte ihren Blick und hob die Hand zum Gruß. Zeit, Abschied zu nehmen. Für immer. Der Schmerz war wie ein Keulenschlag für sie, ging durch Mark und Bein. Aber weinen konnte sie trotzdem nicht. Sie würde es nachholen. Später einmal, wenn sie der Hölle entronnen war.
Nur wie, das war die Frage.
Rebecca wandte sich ab und bewegte sich so unauffällig wie möglich auf die Bahnsteigkante zu. Das fiel zunächst nicht weiter auf, weil es an Gleis17 von Menschen nur so wimmelte. Die Lokomotive stieß einen schrillen Pfiff aus. Kurz darauf stieg eine schmutziggraue Dampfwolke in die Luft und hüllte den Bahnsteig ein.
Das war ihre Chance. Jetzt oder nie. Jetzt oder dem sicheren Tod entgegengehen.
Sie wollte leben. Einfach nur leben.
Deshalb zögerte Rebecca keinen Augenblick. Sie sprang auf das gegenüberliegende Gleis, kletterte an der anderen Seite wieder hoch und begann zu rennen. Rannte, was das Zeug hielt.
Kurz darauf ein Schrei. Und Hunderte entgeisterte, zwischen Furcht und Hoffnung schwankende Blicke. So intensiv, dass sie sich ihr wie Nadelstiche in den Rücken bohrten.
Da ließ der Herr Schwefel und Feuer regnen vom Himmel herab auf Sodom und Gomorrha und vernichtete die Städte und die ganze Gegend und alle Einwohner der Städte und alles, was auf dem Lande gewachsen war. Und Lots Weib sah hinter sich und ward zur Salzsäule. Rebecca geriet ins Straucheln, rappelte sich auf und rannte weiter. Das nächste Gleis. Und kurz darauf wieder das nächste. Was hinter ihr vor sich ging, konnte sie nicht sehen. Wollte es auch nicht. Aber dann geschah etwas Seltsames. Plötzlich war sie nicht mehr sie selbst, sondern steckte im Körper ihrer Mutter. Sie sah sich über die Gleise rennen, sah die Blicke der Umstehenden, den SS-Mann, der sein MG 42 in ihre Richtung schwenkte. 1.500 Schuss pro Minute. Er ließ sich Zeit, seiner Sache absolut sicher. Von der herannahenden S-Bahn nahm er kaum Notiz.
Als er abdrücken wollte, war es jedoch zu spät. Der Zug ratterte vorbei und nahm ihm die Sicht. Der SS-Mann fluchte. Der Zug schien überhaupt kein Ende zu nehmen. Ein rot-gelber Waggon nach dem anderen. Und dann, als sein Blickfeld endlich wieder frei war, von der Geflüchteten keine Spur.
Es war zu spät. Rebecca war ihm entwischt. Daran konnten selbst die Hunde nichts ändern, die von der Leine gelassen wurden. Vor dem Stacheldrahtzaun, unter dem sich ihr vermeintliches Opfer soeben hindurchgezwängt hatte, war Endstation für sie.
Rebecca nahm das wütende Gekläffe kaum wahr. Eine Atempause, mehr nicht, fuhr es ihr durch den Sinn. Nur weiter, immer weiter. Durch die Unterführung, den Feldweg entlang und ins nächstbeste Gebüsch.
In dem Maße, wie sich das Gestrüpp ringsum verdichtete, wuchs Rebeccas Zuversicht. Sie hatte es tatsächlich geschafft, ihren Bewachern zu entkommen. Jetzt nur nicht schlappmachen, hämmerte sie sich ein. Und hastete unverdrossen weiter. Weder Dornen noch Hecken noch irgendwelche anderen Hindernisse konnten ihr etwas anhaben. Wie lange sie durch das Unterholz rannte, wusste sie schon bald nicht mehr.
Erst als die Dunkelheit hereinbrach, blieb Rebecca schwer atmend stehen. Sie hatte keine Ahnung, wo genau sie sich befand. Aber das war auch nicht wichtig. Wichtig war allein, dass sie am Leben war.
Dem Tode entronnen. Fürs Erste jedenfalls.
Keuchend vor Anstrengung ließ sich die junge Frau mit dem südländischen Teint und den ausdrucksstarken dunklen Augen auf einen Baumstumpf nieder. Die Temperatur lag weit unter null, und der Himmel war vollkommen klar. Myriaden von Sternen funkelten auf sie herab, und als sich ihr Blick wieder der Erde zuwandte, brach Rebecca Kahn in hemmungsloses Schluchzen aus.
Dann riss sie den gelben Stern von ihrem Mantel ab und schleuderte ihn wütend ins Gebüsch.
Alles, was sie wollte, war leben. Einfach nur in Frieden leben.
Villa Marlier, Am Großen Wannsee 56–58 20.01. | 14.00h
»Das Protokoll, Obergruppenführer!«
Der Todesgott des Dritten Reiches lächelte, aber die blauen Wolfsaugen blickten kalt und starr.
»Danke, Sie können gehen.« Als die spinnenbeinförmigen Finger die Akte mit der Aufschrift ›Geheime Reichssache‹ umschlossen, verzog der knapp 38-jährige Hüne in der SS-Uniform keine Miene. Er war 1,89 m groß, blond und durchtrainiert, ein Mann nach Hitlers Geschmack. Und zum Fürchten. Selbst Himmler, Reichsführer-SS, traute ihm nicht über den Weg. Er kannte kein Pardon, und das Wort ›Skrupel‹ existierte für ihn nicht.
Die Akte war dünn, nur wenige Seiten lang. Aber sie hatte es in sich. Reinhard Heydrich, Leiter des Reichssicherheitshauptamtes und Hitlers Mann in Prag, nahm sich Zeit damit. An der gelösten Stimmung im Speisezimmer der Nobelvilla änderte dies jedoch nichts. Die anwesenden Spitzenbeamten, SS-Leute und Parteibonzen amüsierten sich glänzend. Kaviar von der Krim, französischer Champagner und Lachs aus Norwegen. Alles vom Feinsten. Heydrich ließ sich eben nicht lumpen. Mit jeder Minute stieg der Alkoholkonsum, und das Speisezimmer, das einen ungestörten Blick auf die Winteridylle rund um den Wannsee bot, war in dichten Zigarrenrauch gehüllt.
»Zufrieden?« Wenn es jemand wagen konnte, Heydrich bei seiner Lektüre zu unterbrechen, dann der 35-jährige SD-Mann, der ihm neugierig über die Schulter sah.
Aber Heydrich war nicht in Stimmung, und das bekam Adolf Eichmann umgehend zu spüren.
»Zufrieden? Was soll das heißen?«, blaffte die Fistelstimme seines Herrn, worauf der servile Judenreferent im RSHA instinktiv Haltung annahm. »Apropos Zufriedenheit–wie geht es mit den Deportationen voran?«
»Bestens!«, antwortete Eichmann, schenkte sich einen Rémy Martin nach und stellte die Flasche auf dem Kaminsims ab.
»So gut, dass eine der zu Deportierenden seit gestern flüchtig ist?«
Eichmann fiel vor Schreck fast das Cognacglas aus der Hand. »Die Fahndung läuft bereits auf vollen Touren!«, versuchte er erst gar nicht, sich herauszureden.
»Das will ich hoffen! Sonst noch irgendwelche Hiobsbotschaften?«
Eichmann zog ein Taschentuch aus der Uniformjacke und betupfte sich die Stirn. »Nein, Obergruppenführer!«, schnarrte er und schlug instinktiv die Hacken zusammen. »Alles läuft nach Plan!«
»Das will ich hoffen, Eichmann. Um Ihretwillen.«
»1002 Juden auf einen Schlag nach Riga zu verfrachten ist eben kein Pappenstiel.«
»1001, mein lieber Eichmann, 1001.«
»Ich denke, wenn wir unsere Anstrengungen verdoppeln…«
»Verdoppeln?« Heydrich klappte den Aktendeckel zu und trat bis auf Armlänge an Eichmann heran. »Habe ich da eben richtig gehört? Der Führer verlangt Ergebnisse, und zwar nicht erst in ein paar Jahren! Die Endlösung der Judenfrage muss weiter vorangetrieben werden. Effizient und mit rationalem Kalkül. Bar jeglicher Humanitätsduselei. Schon vergessen, worüber wir vorhin gesprochen haben?« Heydrich nahm die Akte und schlug mit dem Handrücken dagegen. »Das besetzte Europa muss judenfrei werden. Besser heute als morgen. Wir müssen und werden es von Westen nach Osten durchkämmen. Stück für Stück, Kilometer für Kilometer. Selbstverständlich ist zuerst das Reichsgebiet dran. Und da gibt es bedauerlicherweise erheblichen Nachholbedarf. Vor allem hier in Berlin. Die Zahl der zu Deportierenden geht in die Millionen. Und das genau ist der Punkt. Um eine reibungslose Durchführung der Endlösung zu gewährleisten, reicht eine Verdoppelung unserer Kräfte nicht aus. Was nützen mir die paar Tausend Juden, die seit Kriegsbeginn per Bahn von Berlin aus deportiert worden sind?«
»3957, Obergruppenführer.«
Heydrich kniff die Augenlider zusammen und fixierte seinen Untergebenen mit missbilligendem Blick. »Wissen Sie was, Eichmann?«, dämpfte er seine Fistelstimme, bis er kaum noch zu verstehen war. »Allmählich frage ich mich, ob Sie Ihrer Aufgabe überhaupt gewachsen sind.«
Eichmann schluckte. »Keine Sorge, Obergruppenführer. Ich werde mein Bestes tun.«
»Ich fürchte, das wird nicht reichen. Die Züge müssen pausenlos rollen, nicht nur alle paar Tage. Bedenken Sie, wie viele Juden allein hier in Berlin untergetaucht sind.«
»So an die 5.000, habe ich mir sagen lassen.«
»Umso schlimmer. Aber keine Bange. Bis zum Endsieg werden wir auch mit ihnen fertigwerden.«
»Ganz ohne Zweifel, Obergruppenführer.«
»Wie schön, dass wir in diesem Punkt einer Meinung sind.« Über Heydrichs Gesicht huschte ein zynisches Lächeln, und die Wolfsaugen flackerten kurz auf. »Falls Sie es noch nicht bemerkt haben sollten, Eichmann. Wir stehen vor einem logistischen Problem, das in der Geschichte seinesgleichen sucht. Sollten Sie folglich an der Durchführbarkeit der Endlösung Zweifel hegen oder sich Ihrer verantwortungsvollen Aufgabe nicht gewachsen fühlen, muss ich Sie ersuchen, mir dies umgehend…«
»Na, Obergruppenführer, Nachschub für Ihren Giftschrank?«
Heydrich konnte ziemlich ungemütlich werden, wenn man ihn einfach unterbrach. Selbst wenn es der Gestapochef höchstpersönlich war. Sein Glück, dass Heinrich Müller bereits leicht angetrunken war.
Einen Wimpernschlag lang schien Heydrichs Wolfsblick seinen Mann fürs Grobe zu durchbohren. »Informationen über unsere Gegner zu sammeln, ist bekanntlich unser aller Pflicht, oder nicht?«, fuhr er Müller barsch an.
Der trat denn auch prompt den Rückzug an.
»Selbstverständlich!«, knickte er sofort ein. »Es ist nur wegen der Gerüchte, die in Parteikreisen im Umlauf sind.«
»Gerüchte?«
»In der Tat.« Müller riss sich die Cognacflasche unter den Nagel und schenkte Eichmann und sich nach. »Es scheint da einige Leute zu geben, die erhebliche Manschetten vor Ihnen haben, Obergruppenführer.«
Heydrich setzte ein hintergründiges Lächeln auf. »Und aus welchem Grund?«
»Nun ja«, druckste Müller herum, »es geht eben das Gerücht, Sie, Obergruppenführer, hätten praktisch gegen jeden etwas in der Hand. Sogar gegen Reichsführer Himmler. Und beileibe nicht nur gegen ihn. Selbst gegen Göring und Goebbels und wahrscheinlich sogar auch gegen den…«
»Und selbst wenn es so wäre«, antwortete Heydrich gedehnt und fuhr mit seinen Spinnenbeinfingern an der Oberkante der Akte entlang, »wo läge dann das Problem?«
Der Gestapochef hüstelte und mied seinen Blick. Dann nahm er sich zusammen und sagte: »Das Problem, Obergruppenführer, liegt darin, was passiert, wenn Ihre Geheimunterlagen inklusive des heutigen Konferenzprotokolls in die falschen Hände geraten.«
»Ihre Fantasie in Ehren, mein lieber Müller, aber unter welchen Umständen sollte das geschehen?«
Der Angesprochene und Eichmann tauschten einen vielsagenden Blick. Da der Gestapochef keine Lust verspürte, sich weiter als nötig aus dem Fenster zu lehnen, nahm Eichmann den Ball vorsichtig auf. »Wir wollen nicht hoffen, dass dieser Fall eintritt, aber was passiert, wenn Sie, Obergruppenführer, unvorhergesehenerweise… nun, wie drücke ich mich jetzt aus…«
»Was passiert, wenn mir etwas zustößt, meinen Sie?«, fuhr Heydrich dazwischen und lächelte maliziös. »Keine Sorge, Eichmann. Für diesen Fall habe ich bereits vorgesorgt.« Dann fügte er hinzu: »Insofern es den sagenumwobenen Giftschrank überhaupt gibt.«
Der Gestapochef öffnete seinen Uniformkragen und schüttete ein weiteres Glas Rémy Martin in sich hinein. »Wobei wir alle hoffen, dass dieser Tag X niemals Wirklichkeit werden wird!«, sagte er und stand Eichmann in puncto Servilität in nichts nach.
»Hoffen?«, gab Heydrich kurz angebunden zurück. »Dessen bin ich mir absolut sicher!«
Er hatte noch vier Monate, zwei Wochen und einen Tag zu leben.
Großer Wannsee, Ostufer 20.01. | 14.10h
Tod durch Erfrieren. Das Beste in ihrer Situation. Besser, als der Gestapo in die Arme zu laufen.
Weshalb sie nicht schon längst aufgegeben hatte, war ihr ein Rätsel. Genauso wie die Frage, wie lange sie noch würde durchhalten können.
Rebecca konnte nicht mehr. Die Temperatur lag weit unter null, und ihr Körper war wie erstarrt. Sie bewegte sich mechanisch. Fast wie in Trance. Nicht einmal ihr Mantel hielt sie jetzt noch warm. Ein paar Stunden noch, und sie würde erfrieren.
Ein paar Stunden. Wenn überhaupt.
Und dann war da noch die Frage, wohin.
Zurück nach Hause? Keinen Sinn. Dort wartete doch schon längst die Gestapo auf sie. Das heißt, wenn sie überhaupt bis nach Schöneberg kommen würde.
Also nichts wie weg aus Berlin. Richtung Potsdam, wo sie Verwandte hatte. Eine vage Hoffnung. Aber das Einzige, was ihr anscheinend übrig blieb.
Rebecca torkelte mehr, als dass sie ging. Für die Schönheit der Winterlandschaft hatte sie keinen Blick. Ein Gutes hatte die Sache allerdings. Mit Ausnahme von einem Schwarm Graugänse, einem Fischreiher und ein paar Schwänen war sie das einzige Lebewesen weit und breit. Das konnte ihr nur recht sein. Rebecca beschleunigte ihren Schritt, blieb aber kurz darauf wie elektrisiert stehen.
Vor ihr lag der Wannsee, fast wie gemalt. Die Oberfläche glatt, in Ufernähe hie und da vereist. Darüber nichts als grauer Himmel. Von Blau keine Spur.
Wo genau sie sich befand, wusste Rebecca nicht. Sie wusste nur eines: Das Geräusch, das von irgendwoher aus der Nähe an ihr Ohr drang, passte nicht in die unwirtliche Szenerie.
Zuerst dachte sie, es seien die Nerven. Aber dann, in einem Moment blitzartiger Erkenntnis, schüttelte sie ungläubig den Kopf. Musik, weniger als 100 Schritt entfernt. Töne einer Violine, die ihr auf eigentümliche Weise vertraut vorkamen und die grimmige Kälte vergessen machten. Sanft und voller Melancholie.
›Ele chambda libi‹. Vaters Lieblingslied.
Trotz der Gefahr, in der sie schwebte, wirkte die Musik wie ein Magnet auf sie. Es gab nichts, was Rebecca dagegen tun konnte. Und so dachte sie nicht weiter nach, als sie in Richtung Seeufer abbog und den Tönen der Klezmer-Musik folgte.
Den Mann, den sie dort antraf, hatte sie noch nie zuvor gesehen. Er war mittelgroß, über 50 und bis auf einen opulent sprießenden Haarkranz völlig kahl. Sein hervorstechendstes Merkmal war ein roter Schal, den er über dem zerschlissenen Mantel trug. Als Rebecca durch den knöcheltiefen Schnee auf ihn zustapfte, lächelte er ihr kurz zu, ließ sich jedoch nicht stören.
»Friedemann Bonin, Berliner Philharmoniker!«, stellte sich der Violinist schließlich mit einer leichten Verbeugung vor und sah Rebecca erwartungsvoll an.
»Rebecca Kahn!«, antwortete sie ohne Zögern und schüttelte seine ausgestreckte Hand. Auf den Gedanken, dies könne ein Fehler sein, kam sie nicht. »Ein ungewöhnlicher Ort für ein Konzert, finden Sie nicht auch?«
»Unerträgliche Zeiten erfordern eben besondere Konzerte!«, antwortete Bonin, bettete die Violine in einen Kasten und wandte sich anschließend wieder Rebecca zu. »Hab ich recht?«
Rebecca nickte, wollte sich mit dieser Antwort jedoch noch nicht zufrieden geben. Das Fernglas, das Bonin um den Hals trug, machte sie stutzig. »Aber warum gerade hier draußen?«, hakte sie neugierig nach.
Bonin ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Zum einen, weil man als geschasster Sozi reichlich Zeit für derlei Extravaganzen hat.«
»Und zum anderen?«
»Zum anderen, weil ich böse Geister vertreiben will.«
Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Rebecca, der gesetzte ältere Herr mit dem Violinenkasten in der Hand sei nicht mehr ganz richtig im Kopf. Aber dem war beileibe nicht so. »Sehen Sie die Villa dort drüben, mein Kind?«, schien er ihre Gedanken zu erraten und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger zum gegenüberliegenden Ufer.
»Welche denn?«
»Die mit der Terrasse, dem Riesengarten und den Steinfiguren drin.«
Rebeccas Blick folgte Bonins Finger. Sie nickte, obwohl mit bloßem Auge nicht übermäßig viel zu erkennen war. »Und was ist mit ihr?«, fragte sie.
»Der Hort des Bösen!«, antwortete der Violinist lapidar.
»Und wieso?«
»Das erkläre ich Ihnen später, mein Kind. Und zwar dann, wenn Sie wieder bei Kräften sind.« Bonin hakte sich bei Rebecca unter und zog sie mit sich fort. »Höchste Zeit, dass wir uns verdrücken!«, fügte er mit Blick auf ein paar ausgefranste gelbe Fasern an Rebeccas Mantel hinzu. »Bevor die da drüben Ihre Witterung aufnehmen!«
»Es ging das Gerücht, dass sein Geheimsafe umfangreiche Dossiers über die anderen führenden Nazis enthielt, deren Bloßstellung sich als äußerst peinlich hätte erweisen können.«
(Callum MacDonald: The Killing of Reinhard Heydrich. The SS ›Butcher of Prague‹.
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