Entführung ins Glück - Kristi Ann Hunter - E-Book

Entführung ins Glück E-Book

Kristi Ann Hunter

4,7

Beschreibung

England, 1812: Da für Lady Miranda kein standes gemäßer Ehemann in Sicht ist, vertraut sie ihren Kummer Briefen an, die an einen verschollenen Freund ihres Bruders adressiert sind. Einen Freund, dem sie nie begegnet ist und der die Briefe natürlich nie erhalten soll. Doch als Marlow, der neue, geheimnisvolle Kammerdiener ihres Bruders, unwissentlich einen dieser Briefe verschickt, ist Miranda zunächst schockiert - denn der Verschollene antwortet. Nach und nach entwickelt sich eine tiefe Brieffreundschaft. Ob Miranda doch noch auf die Erfüllung ihres Traumes hoffen darf?

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Über die Autorin

Kristi Ann Hunter hat zwar Informatik studiert, träumte aber immer davon, einmal Autorin zu werden. Mittlerweile hat sie bereits diverse Preise für ihre Romane eingeheimst und war noch viel häufiger nominiert, z. B. für einen Christy Award.

Sie liebt dunkle Schokolade (mindestens 85 %!), romantische Komödien und Gesellschaftsspiele. Sie lebt mit ihrem Ehemann und den drei Kindern in Georgia.

Für den Schöpfer.

Er hat uns alle nach seinem Ebenbild erschaffen, und doch hat er jeden von uns einzigartig gemacht.

1. Mose 1,27

Und für Jacob,

der mich zu jedem meiner Helden inspiriert.

Prolog

Hertfordshire, England, 1800

Es ist kein glücklicher Tag, wenn der Käsekuchen eines achtjährigen Mädchens auf der Erde landet. Und es ist keine Überraschung, wenn das Mädchen es nicht einfach ruhig hinnimmt, dass der Junge, der ihn dorthin befördert hat, darüber auch noch lacht.

Dicke Tränen traten in Lady Miranda Hawthornes Augen, als sie den Kuchen betrachtete, der jetzt in einem traurigen Haufen auf dem Boden lag. Ihre kleinen Hände ballten sich zu wütenden Fäusten.

„Du bist ein Esel, Henry Lampton!“ Miranda hob den Kuchen auf und schleuderte ihn mit tränenüberströmten Wangen auf den schadenfroh lachenden Jungen. Als sie sah, wie der cremige Kuchen an seinem Hemd hinabglitt und das Lachen aus seinem Gesicht verschwand, hatte das etwas ausgesprochen Befriedigendes.

Miranda konnte ihre Rache jedoch nicht lange auskosten, denn ihre Mutter stand plötzlich neben ihr und führte sie entschlossen von den Gästen weg. Mutter sprach kein Wort, bis sie die Tür hinter ihnen zugezogen hatte und sich mit ihr allein im Arbeitszimmer befand.

„Miranda, eine Dame zeigt ihre Enttäuschung nie in der Öffentlichkeit.“ Mutters Ermahnung klang wie immer ruhig, aber streng.

Obwohl Miranda wusste, dass ihre Mutter es gut meinte, erschauerte sie jedes Mal, wenn sie die Worte hörte: „Miranda, eine Dame macht nie …“ Gelegentlich hieß es auch: „Miranda, eine Dame macht immer …“ Auch dann folgte so etwas wie: „Miranda, eine Dame schenkt ihren Gästen immer ihre Aufmerksamkeit, auch wenn sie sie langweilig findet.“

Miranda war inzwischen klug genug, nichts zu erwidern, wenn ihre Mutter sie ermahnte. Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass der quälende Vortrag noch länger ausfiel, wenn sie den Versuch unternahm, sich zu verteidigen. Deshalb wartete sie schweigend, bis ihre Mutter sie wieder entließ.

Statt zu dem Fest zurückzukehren, lief sie jedoch in ihr Zimmer, warf sich aufs Bett und schlug angesichts dieser maßlosen Ungerechtigkeit auf ihr Kissen ein.

Ein weißes Blatt Papier, das auf dem Tisch neben dem Bett lag, erregte ihre Aufmerksamkeit. Der letzte Brief ihres Bruders war sicher interessanter, als im Geiste eine Liste all der Dinge zu erstellen, die ihr laut Mutters „Lektionen für eine vollendete Dame“ verboten waren.

Als Griffith vor zwei Jahren ins Internat gezogen war, hatte Mutter es für eine ausgezeichnete Idee gehalten, dass Miranda ihrem Bruder Briefe schrieb, um ihre Handschrift zu verbessern. Die ersten Briefe hatten nur ihren Namen und einen Satz über ihre Lieblingspuppe enthalten, aber im Laufe der Zeit hatte sich zwischen ihr und ihrem Bruder eine echte Freundschaft entwickelt.

Die Briefe an ihn hatten außerdem den Vorteil, dass Miranda ihrer Verbitterung Luft machen konnte.

Voller Vorfreude brach sie das Siegel und konnte es nicht erwarten zu lesen, was ihr ältester Bruder in den vergangenen Wochen erlebt hatte.

Meine liebste Schwester,

ich hoffe, es geht dir gut. Dein letzter Brief war so lang, dass ich sehr dankbar bin, ein Herzog zu sein. Diese Menge an Papier muss ja ausgesprochen teuer sein. Wenn du dich das nächste Mal in der Kirche langweilst, solltest du vielleicht lieber nicht versuchen, die Rückwand der Bank mit den Füßen einzutreten.

Miranda runzelte die Stirn. Was hätte sie denn sonst machen sollen? Die Predigt war an jenem Tag besonders langweilig gewesen, und Mutter hatte sie eine Woche zuvor ermahnt, dass eine Dame nie in der Kirche einschlief. Dass Miranda an jenem Nachmittag zur Strafe noch einmal eine geschlagene Stunde auf einem Stuhl hatte still sitzen müssen, war ausgesprochen hart gewesen.

Marsh hat dafür gesorgt, dass wir einer Gruppe älterer Jungen entkommen sind, die uns zwingen wollten, ihre Aufgaben zu erledigen. Ich bin sehr dankbar, dass Gott noch einen anderen jungen Mann von hohem Rang hierhergeführt hat. Marsh ist ein bisschen wild, obwohl er seinen Herzogstitel schon in seiner Kindheit geerbt hat. Er tut sich fast genauso schwer damit, ein vornehmer Herr zu sein, wie du dich damit tust, eine Dame zu sein.

Einem Blatt Papier die Zunge herauszustrecken war natürlich völlig sinnlos, aber Miranda empfand es trotzdem als befreiend. Griffith tat zweifellos alles, um seinen Freund ein wenig zu zähmen. Ihr Vater hatte Griffith gut erzogen, bevor er vor drei Jahren auf tragische Weise ums Leben gekommen war.

Ich weiß, dass es schwer ist, aber streng dich mehr an, Selbstbeherrschung zu lernen. Mutter war vor Sorge ganz außer sich, als du dich auf dem Boden gewälzt und schallend über den Inhalt eines Buches gelacht hast.

Als sie an diese Szene zurückdachte, verzogen sich Mirandas Lippen zu einem Schmunzeln. Dieses Buch war wirklich ausgesprochen lustig gewesen.

Miranda, eines Tages wirst du Mutter dankbar sein, dass sie dich in so jungen Jahren schon so gut erzogen hat. Es wäre hilfreich, wenn du versuchen würdest, dir ihre Ermahnungen zu Herzen zu nehmen.

Glaubte er denn, das würde sie nicht versuchen? Glaubte er, es mache ihr Spaß, auf dem blauen Samtstuhl neben dem Schreibtisch ihrer Mutter sitzen und sich einen Vortrag über das für eine Dame angemessene Verhalten anhören zu müssen?

Miranda hüpfte vom Bett und ging zu ihrem Schreibtisch unter dem Fenster. Sie nahm eine Schreibfeder und ein Blatt Papier zur Hand und überlegte, wie sie den heutigen Vorfall mit dem Kuchen so beschreiben könnte, dass Griffith ihn verstand.

Sie versuchte, sich wie eine Dame zu benehmen. Wirklich! Aber wie konnte man seine Gefühle im Zaum halten, wenn man sich freute, wenn man traurig war oder Angst hatte? Musste man diesen Gefühlen nicht irgendwie Ausdruck verleihen?

Das war wie in den Geschichten, die Griffith ihr immer über seinen Freund erzählte. Marshington verstand, dass man die Regeln manchmal ein wenig beugen musste, wenn man etwas erreichen wollte. Wie damals, als er das Fenster offen gelassen hatte, damit die Arbeitsblätter der älteren Jungen durch den Windzug durcheinandergebracht wurden. Und weil sie das Chaos wieder in Ordnung hatten bringen müssen, hatten sie das Training verpasst, und Marshington und Griffith hatten endlich Cricket spielen können, ohne dass ihnen Bälle an den Kopf geflogen waren.

Marshington hätte sich bestimmt nicht damit begnügt, Henry mit dem Kuchen zu bewerfen. Er hätte eine Möglichkeit gefunden, den Jungen zu zwingen, ihr ein neues Stück zu bringen. Vielleicht sogar einen ganzen Kuchen.

Er hätte sie gerettet, statt ihr Vorträge zu halten. Genauso wie er Griffith in seinem ersten Monat im Internat davor bewahrt hatte, von den Älteren schikaniert zu werden.

Ihr kam eine Idee.

Sollte sie es wagen?

Sie tauchte die Feder in die Tinte, hielt aber einen Augenblick inne. Die Feder schwebte lange über dem Briefpapier und ein Tropfen Tinte fiel auf das noch leere Blatt. Sie atmete tief ein, dann senkte sie die Federspitze und begann zu schreiben.

Lieber Marshington …

Was sie hier tat, war schockierend, ja sogar skandalös, aber das machte es ja gerade so aufregend. Es war befreiend. Eine kleine Rebellion, ohne dass ihre Mutter davon wusste, die sie unbedingt zu einer Dame erziehen wollte, und ohne die Ermahnung ihres perfekten älteren Bruders.

Sie würde diesen Brief natürlich nie abschicken. Eine Dame sandte nie einen Brief an einen Mann, mit dem sie nicht verwandt war. Aber allein schon seinen Namen zu schreiben vermittelte ihr das Gefühl, etwas Unerhörtes zu tun.

Während sie den Vorfall mit dem Kuchen beschrieb, ohne auf die richtigen Formulierungen oder eine schöne Handschrift zu achten, geschah etwas Unerwartetes: Sie wurde ruhiger. Und sie erkannte, dass ihre Mutter vielleicht – aber nur vielleicht – recht haben könnte.

Den Kuchen auf Henry zu werfen hatte ihr nicht weitergeholfen.

Aber vielleicht würde es ihr weiterhelfen, wenn sie dem besten Freund ihres Bruders Briefe schrieb.

1

Hertfordshire, England, Herbst 1812

Lady Miranda Hawthorne würde ihre Schwester an diesem Abend unterstützen und wenn es sie umbrächte. Allerdings fühlte sich ihr Gesicht angesichts des gezwungenen Lächelns schon jetzt ein wenig taub an. Sie massierte sich die Wangen und hoffte, dass es sich dadurch weniger künstlich anfühlen würde.

Die junge Frau drehte den Messinggriff, riss schwungvoll die Tür auf und trat hinaus in den Korridor. Ihr Gang war tadellos, ihre Haltung perfekt. Sie würde sich durch nichts dazu verleiten lassen, die endlosen Lektionen ihrer Mutter über das für eine Dame angemessene Verhalten über Bord zu werfen.

Dann lief sie gegen eine Wand.

Nun ja, es war nicht direkt eine Wand. Wände tauchten schließlich nicht mitten auf dem Flur auf und trugen ein wollenes Jackett.

„Entschuldigen Sie, Mylady.“

Wände sprachen auch nicht.

Miranda blickte an der Wand hinauf, die in Wirklichkeit ein kräftig gebauter Mann war. Sie trat einen Schritt zurück und brachte so viel Abstand wie möglich zwischen sich und den Unbekannten. Ihr Blick wanderte nach oben. Und noch weiter nach oben.

Die letzten spärlichen Strahlen der Sonne fielen durch ein großes Fenster am Ende des Korridors und warfen schwache goldene Quadrate auf den Boden und auf die breite Brust dieses Mannes.

Er war kein Mitglied ihrer Familie. Alle ihre Verwandten hatten blonde Haare, selbst diejenigen, deren Verwandtschaftsgrad so weitläufig war, dass sie nicht einmal behaupten würden, mit ihnen verwandt zu sein, wenn Mirandas Bruder kein Herzog wäre. Der schwach beleuchtete Flur verhinderte, dass sie seine Haarfarbe genau erkennen konnte, aber das vor ihr stehende „Hindernis“ hatte sehr dunkle Haare, die in seinem Nacken zu einem kurzen Zopf zurückgebunden waren.

Mit einem tiefen Atemzug machte sie sich bewusst, welche Stellung sie innehatte. Sie war eine Dame. Sie war die Tochter eines Herzogs und die Schwester eines Herzogs. Irgendwo in ihrem Inneren musste also die aristokratische Arroganz stecken, die so viele ihrer Freundinnen ganz natürlich ausstrahlten. Falls dieser Eindringling schändliche Absichten hatte, waren Worte ihre einzige Verteidigung. Seine langen Arme könnten sie zum Stehenbleiben zwingen, bevor sie auch nur zwei Schritte weit käme.

Er hatte sich allerdings noch nicht bewegt. Stattdessen stand er wortlos im Korridor, während sie ihn fragend musterte.

„Verzeihung.“ Miranda hätte am liebsten vor Stolz gejubelt. Ihr kurz angebundener, arroganter Tonfall verriet, dass sie ganz gewiss niemanden um Verzeihung bat. „Wer sind Sie?“

Sie versuchte, ihm in die Augen zu schauen, aber sein direkter Blick machte sie nervös. Die interessante Geruchskombination aus Seife und einem Hauch Tannenwald störte ihre Konzentration. Deshalb starrte sie auf sein Kinn. Da der Flur in Schatten gehüllt war, würde er nicht sehen können, worauf sie ihren Blick richtete. Hoffte sie zumindest.

Er hielt ein schwarzes Abendjackett hoch. „Ich bringe Seiner Durchlaucht das Jackett für den Abend. Ich musste es noch einmal bügeln.“

Miranda kniff die Augen zusammen. „Sie mussten es noch einmal bügeln? Sollte nicht Herbert die Kleidung des Herzogs bügeln? Ich frage Sie noch einmal: Wer sind Sie?“

„Ich –“

Hinter ihr wurde eine Tür geöffnet. Beide wandten den Kopf. Ihr Bruder Griffith trat aus seinem Zimmer. „Da sind Sie ja, Marlow.“

Mirandas Blick wanderte zwischen den beiden Männern hin und her. Beide waren groß, auch wenn Griffith ein wenig größer war. Er war ein blonder Riese mit einer muskulösen Figur und breiten Schultern. Griffiths Auftreten war ebenso eindrucksvoll wie sein Titel. Dieser neue Mann, Marlow, war ein bisschen kleiner und nicht ganz so kräftig – und er hatte natürlich keinen Adelstitel –, aber irgendwie wirkte der Kammerdiener stärker.

Dieser Gedanke war lächerlich. Griffith war der Herzog von Riverton und im besten Mannesalter.

Griffith legte den Arm um ihre Schultern und deutete auf die menschliche Wand. „Miranda, das ist mein neuer Kammerdiener.“

Sie blinzelte überrascht. „Wo ist Herbert?“

Griffith schüttelte den Kopf, bevor er sich umdrehte, um sich von Marlow in seine Jacke helfen zu lassen. „Liebe Miranda, Herbert ist alt. Er hat sich zur Ruhe gesetzt. Er hat mir 15 Jahre gedient, und vorher hat er mindestens 30 Jahre lang Vater gedient. Hast du erwartet, dass er hier arbeitet, bis er stirbt?“

Miranda zog beide Brauen hoch und blickte ihn finster an. „Nein, aber ich dachte, du hättest das erwartet. Ich hatte dir schon vor drei Jahren vorgeschlagen, dass du ihm eine Rente zahlen solltest.“

Sie drehte sich um, um den neuen Kammerdiener zu begrüßen. Als er sich verbeugte und zum Gruß mit dem Kopf nickte, umspielte ein kleines Lächeln seine Mundwinkel. Im Gegensatz zu allen Kammerdienern, denen sie bis jetzt begegnet war, senkte er nicht den Blick.

Ihr stockte der Atem, als sie in seine auffallend grauen Augen sah. Sie hatte Grau bislang immer für eine ausgesprochen langweilige und leblose Farbe gehalten, aber die Augen dieses Mannes ließen sich eher mit geheimnisvoll und lebendig beschreiben. Sie waren tiefgründig und geheimnisvoll.

Miranda schüttelte diese verrückten Gedanken ab und nickte höflich. „Es freut mich, Sie kennenzulernen, Marlow. Ich hoffe, die Arbeit hier gefällt Ihnen.“

„Danke, Mylady.“ Der Kammerdiener verbeugte sich. Dann rückte er Griffiths Krawatte zurecht. Mit einem leichten Nicken trat er zur Seite.

Griffith bot ihr seinen Arm an und sie schritten durch den Korridor.

„Wann hast du ihn eingestellt?“, flüsterte Miranda, als sie die Treppe erreichten. Sie warf rasch einen Blick hinter sich und sah, dass der Kammerdiener sich in die andere Richtung entfernte.

„Heute Morgen. Bis jetzt bin ich mit ihm ganz zufrieden.“

„Das hoffe ich doch sehr. Wenn du nach nicht einmal zwölf Stunden schon mit ihm unzufrieden wärst, wäre das keine gute Voraussetzung für eine weitere Beschäftigung.“

Sie traten zu ihrer Mutter in den Salon.

„Miranda, du siehst hübsch aus.“

Während die Arme ihrer Mutter sie leicht berührten, versuchte Miranda, sich daran zu erinnern, dass das Kompliment ein Zeichen ihrer Zuneigung war. Die Bemerkung, dass ihre Mutter dies nur sagte, weil sie ein pastellfarbenes Kleid trug, verkniff sie sich. In der vergangenen Saison hatte ihre Mutter ihr erlaubt, diese Farbe anstelle der Weiß- und Beigetöne zu tragen, in die sie Miranda in ihren ersten beiden Jahren gekleidet hatte. Die kommende Saison wäre ihre vierte, und Miranda hoffte, diese Farben, die für ihren Teint nicht gerade vorteilhaft waren, endlich ganz ablegen zu können.

„Es tut mir leid, dass William dich auf dieser Reise nicht begleiten konnte.“ Miranda setzte sich auf das mit grünem Brokat überzogene Sofa, da sie wusste, dass sie wahrscheinlich eine Weile warten müssten, bis ihre jüngere Schwester Georgina erschien.

Ein kleines Lächeln war auf dem Gesicht ihrer Mutter zu sehen, als sie sich neben Miranda setzte. „Das tut mir auch leid. Das nächste Mal werde ich länger bleiben und er wird mich begleiten.“

Griffith nahm in einem Klubsessel Platz. „Kommst du zu Weihnachten wieder?“

Mutter schüttelte den Kopf. „Wir haben beschlossen, über die Feiertage an die Küste zu fahren und dort zu feiern. Wie ihr wisst, haben wir noch keine Hochzeitsreise gemacht.“

Als ihre Mutter von ihrem zweiten Ehemann sprach, wirkte sie um Jahre jünger, obwohl sie schon immer jünger ausgesehen hatte als andere Frauen in ihrem Alter. Wenn sie so lächelte, könnte man sie fast für Mirandas Schwester halten.

Mutter tätschelte Mirandas Hand. „Ich kann euch allen nicht genug dafür danken, dass ihr uns dieses Jahr von allen Verpflichtungen befreit habt.“

Griffith erhob sich und küsste seine Mutter auf die Wange. „Das war doch selbstverständlich, Mutter. Seine Kinder sind verheiratet und deine sind auch schon fast alle erwachsen. Es war nur angemessen, dass ihr euch euer eigenes Zuhause einrichten konntet, ohne Rücksicht auf uns zu nehmen.“

Miranda nickte zustimmend. Aber sie musste zugeben, dass das vergangene Jahr für sie selbst auch befreiend gewesen war. Da sie nicht länger unter ständiger Beobachtung gestanden hatte und von ihrer Mutter nicht unablässig daran erinnert wurde, wie sich eine Dame zu verhalten hatte, hatte sie sich ein wenig entspannen können. Sie hatte ihr Leben genossen und sogar ein paar neue Freundinnen gefunden. Dass ihre Mutter seit einer Woche wieder hier war, stellte eine große Herausforderung für Mirandas Selbstbeherrschung dar.

Mutter warf einen besorgten Blick zur Tür. „Aber bin ich Georgina gegenüber zu egoistisch? Es war für sie nicht leicht, dass ich ausgezogen bin. Vielleicht sollte ich hierbleiben. Oder sie mit nach Blackstone nehmen.“

Miranda hatte noch nie erlebt, dass ihre Mutter etwas infrage gestellt hätte. Ihr ganzes Leben lang hatte sie diese Frau immer nur selbstsicher, selbstbewusst und unerschütterlich erlebt. Es schmerzte sie, Zweifel und Schuldgefühle im Blick ihrer Mutter zu sehen. Vor allem, da diese Schuldgefühle daher rührten, dass sie endlich einmal an sich selbst gedacht hatte, und das war etwas, wozu alle ihre Kinder sie überredet hatten.

Griffith legte seiner Mutter eine Hand auf die Schulter. „Und jetzt, da es darauf ankommt, bist du für sie da. Du unterstützt Georgina bei ihrem Debüt, auch wenn dies nur bei einer kleinen Gesellschaft auf dem Land stattfindet.“

„Miranda hat es damals gutgetan, klein anzufangen. Ich wollte, dass es Georgina ebenso ergeht.“

Ihre älteste Tochter räusperte sich und richtete ihren Blick auf eine rot-grüne Vase auf der anderen Seite des Zimmers. Dieser sogenannte „Vorteil“ hatte Miranda wenig geholfen. Schließlich war sie immer noch unverheiratet und fürchtete, dass sich an diesem Zustand in absehbarer Zukunft auch nichts ändern würde.

In diesem Augenblick rauschte eine groß gewachsene Achtzehnjährige in einem blendend weißen Kleid ins Zimmer. Es war einfach nicht fair, dass Georgina Weiß tragen konnte und darin wie ein Engel aussah, obwohl sie und Miranda eine ähnliche Hautfarbe hatten. Sie strahlte einen besonderen Glanz aus, der sie ein wenig unnahbar und übernatürlich wirken ließ.

Miranda erinnerte sich noch gut an das energiegeladene Mädchen mit den wilden blonden Locken von früher. Sie hatte sich gemausert. „Du siehst heute sehr schön aus, Georgina.“

„Danke, liebe Schwester. Du siehst heute Abend auch gut aus. Dieses Blau passt deutlich besser zu deinem Teint als Weiß. Es freut mich, dass du in diesem Jahr mehr Farbe in deine Garderobe bringen konntest.“

Ihre kleine Schwester war ein bisschen verwöhnt. Hatte Georgina gerade versucht, ihr ein Kompliment zu machen, oder wollte sie ihre Schwester daran erinnern, dass sie nicht länger zu der Gruppe ganz junger Frauen gehörte, die versuchten, den besten Ehemann zu ergattern?

Wie dem auch sei, ein Kompliment aus Georginas Mund war etwas Seltenes und Wunderbares. Sie sollte es einfach annehmen. „Danke. Mir gefällt es auch, eine andere Farbe zu tragen. Vielleicht steche ich aus dem Meer an Weiß später ein wenig heraus.“

Miranda verzog leicht das Gesicht, als Georgina hämisch grinste und ihre Mutter die Stirn runzelte. Diese letzte vielsagende Bemerkung hatte sie eigentlich für sich behalten wollen. Aber man brauchte nicht viel Fantasie, um auf die Idee zu kommen, dass die Herren sie reizvoller finden könnten, wenn sie nicht mehr so blass und krank aussah.

Ungebeten tauchte das leichte Lächeln des Kammerdieners vor ihrem inneren Auge auf, begleitet von der Erinnerung an seinen Geruch. Miranda hätte am liebsten das Fenster geöffnet, damit der kühle Abendwind den Geruch dieses Mannes aus ihrer Erinnerung vertrieb. Die Aussicht, das Leben als alte Jungfer zubringen zu müssen, musste sie mehr belasten, als ihr bewusst gewesen war, wenn ihr schon ein Kammerdiener nicht mehr aus dem Sinn ging.

Wenn es sich dabei auch um einen sehr gut aussehenden Kammerdiener handelte.

Nachdem sie sich einige Minuten unterhalten hatten, stiegen sie in die bereits wartende Kutsche. Miranda saß mit ihrem Bruder mit dem Rücken in Fahrtrichtung, um ihrer Mutter und ihrer Schwester die Plätze zu überlassen, die einen besseren Ausblick boten. Georgina lehnte sich zur Seite, um aus dem Fenster zu schauen. Ihr aufgeregtes Plappern erfüllte während der gesamten Fahrt die Kutsche.

Eifersucht regte sich in Miranda. Sie war schon lange nicht mehr so aufgeregt gewesen oder hatte einer Abendgesellschaft voller Vorfreude entgegengeblickt. Gesellschaftliche Veranstaltungen waren für sie inzwischen einfach etwas, woran sie teilnahm. Sie waren auf ihre Art immer noch unterhaltsam, aber auch ausgesprochen alltäglich geworden.

Mutter sprach mit ruhiger Stimme auf Georgina ein, aber Miranda achtete nicht auf das, was sie sagte. Wahrscheinlich erinnerte Mutter sie daran, welches Verhalten von ihr erwartet wurde. Miranda hatte diese Ermahnungen schon so oft gehört, dass sie sie im Schlaf aufsagen konnte.

Minuten später hielt die Kutsche, und sie stiegen aus, um den kurzen Weg zur Eingangstür zu Fuß zurückzulegen. Mutter drückte Georginas Arm und beugte sich vor, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern. Georginas Lächeln wurde noch breiter – wie war das überhaupt möglich? –, und sie nickte, bevor sie Mutters Wange küsste.

Miranda blickte sich um und betrachtete die anderen Gäste, die zur Eingangstür strömten. Sie kannte sie alle. Die gleichen Gesichter wie in den vergangenen drei Jahren.

Die vier gingen zwischen den kunstvoll geschnitzten Laternenpfosten hindurch zum Eingang. Es kam ihr vor, als sei eine Ewigkeit vergangen, seit sie selbst zum ersten Mal diesen jetzt so vertrauten gepflasterten Weg zurückgelegt hatte. Das laute Klappern der Wagenräder und der Pferdehufe hatte damals wie Musik in ihren Ohren geklungen. Jetzt empfand sie es einfach nur als laut.

Miranda bewegte sich langsam und war fest entschlossen, all das wahrzunehmen, was ihr in den vergangenen Saisons vielleicht entgangen war, weil es noch so neu und aufregend gewesen war.

Als sie den Ballsaal betrat, hatte sich bereits ein Kreis von Bewunderern um Georgina geschart. An die Stelle der unschuldigen Aufregung während der Kutschfahrt waren eine gut eingeübte Anmut und ein leichter Hauch von Koketterie getreten. Sie schwebte in ihrem strahlend weißen Kleid bereits über die Tanzfläche, und die Schar der jungen Männer, die ihre Bewegungen verfolgten, kündigte an, dass sie den Rest des Abends sehr begehrt sein würde.

Miranda drängte die Eifersucht zurück. Sie nahm ein Glas Limonade und schlenderte auf die andere Seite des Saals, um sich mit einigen verheirateten Freundinnen und einer Gruppe Mütter zu unterhalten, die ihre Töchter vom Rand der Tanzfläche aus beobachteten.

Er hatte in den vergangenen neun Monaten mindestens zwanzig Namen benutzt, aber keiner hatte ihm so große Schwierigkeiten bereitet wie dieser. Nicht zu vergessen, dass er Marlow, der Kammerdiener eines der angesehensten und mächtigsten Männer des Landes, war, was ihn große Anstrengung kostete.

Jetzt musste er denken, handeln und sogar atmen wie Marlow, der Kammerdiener des Herzogs von Riverton. Über den Schreibtisch dieses Mannes gingen jeden Tag unzählige wertvolle Informationen. Welche dieser Informationen für Napoleon von Bedeutung waren, wusste er nicht.

Der kleinste Fehler konnte das Ende der gesamten Mission bedeuten. Seiner letzten Mission.

Er drängte diesen Gedanken zurück, da er nicht daran erinnert werden wollte, wie viele Männer bei ihrem letzten Auftrag verletzt, gefangen genommen oder getötet worden waren. Er musste vorsichtig und wachsam sein, wenn er tatsächlich irgendwann aus diesem Geschäft aussteigen wollte.

Und er weigerte sich, als „Marlow“ zu sterben. Der Name war schrecklich. Genau aus diesem Grund hatte er ihn für diesen Auftrag gewählt. Dieser Name würde ihn davon abhalten, sich in seiner Haut zu wohl zu fühlen und zu vergessen, dass er sich als Dienstbote des mächtigen Herzogs von Riverton in diesem Haus aufhielt und nicht als sein Freund.

Sobald die Familie zur Tanzveranstaltung aufgebrochen war, hatten die Dienstboten das Haus für die Nacht vorbereitet. Während die letzten Hausmädchen in den oberen Stockwerken beschäftigt waren, bereitete Marlow das Schlafzimmer für Griffiths Rückkehr vor – nein, für die Rückkehr Seiner Durchlaucht.

Er hatte das Zimmer des Herzogs gleich nach seiner Ankunft an diesem Nachmittag durchsucht. Alles in ihm sträubte sich vehement gegen den Gedanken, dass sein ältester Freund Kenntnis von den verräterischen Aktivitäten haben könnte, die sich auf seinem Landsitz abspielten, aber Marlow konnte es sich nicht leisten, diese Möglichkeit außer Acht zu lassen.

Zunächst einmal war jeder verdächtig.

Die unbewohnten Schlafzimmer waren leicht zu durchsuchen und konnten schnell von seiner Liste gestrichen werden. Diese Zimmer regelmäßig zu benutzen wäre zu auffällig. Seine Zielobjekte benutzten für ihre schändlichen Aktivitäten wahrscheinlich einen viel öffentlicheren Raum. Es war immer am leichtesten, sich vor aller Augen zu verstecken.

Vor Lady Mirandas Zimmer blieb er mit der Hand auf dem Türgriff stehen. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, als er sich daran erinnerte, dass sie aus ihrem Zimmer marschiert war, als zöge sie in eine Schlacht.

Ihre leidenschaftliche Entschlossenheit hatte ihn überrascht. Er wusste, dass er viel zu lange unter falschen Identitäten gelebt hatte, aber ihm war nicht bewusst gewesen, dass allein schon der Anblick von ehrlichen Gefühlen eine so starke Wirkung auf ihn haben würde.

Die Sekunden verstrichen und seine Hand lag weiterhin auf dem Türgriff. Er musste ihr Zimmer durchsuchen. Nur weil sie eine schöne Frau mit leidenschaftlichen Emotionen war, schloss sie das nicht von vornherein von jedem Verdacht aus. Einige würden sie deshalb sogar für besonders verdächtig halten. Seine Instinkte sagten ihm, dass sie aus dem gleichen Holz geschnitzt war wie ihr Bruder, aber er konnte es sich nicht leisten, dieser vagen Intuition zu vertrauen. Er brauchte Beweise.

Entschlossen zog er die Hand zurück. Er wollte sich gerade mit der Hand durch die Haare fahren, doch dann fiel ihm ein, dass er diese zu einem Zopf zurückgebunden hatte. Diese perfekte – und lästige – Frisur war ein wichtiger Teil seiner Tarnung und musste für den Fall, dass ihn jemand sah, tadellos bleiben. Er machte seiner Frustration Luft, indem er auf dem Absatz kehrtmachte und seine Jackenaufschläge mit einer unwirschen Bewegung zurechtrückte.

Mirandas Zimmer wäre morgen auch noch da. Er könnte seine Suche in den öffentlicheren Räumlichkeiten beginnen und sich später mit seinem sonderbaren Zögern auseinandersetzen. Dass er Zweifel hatte, hieß nicht, dass sie unschuldig war, sondern nur, dass er sich bei seiner Untersuchung von seinen Instinkten leiten ließ. Er war sich fast sicher, dass der Gesuchte ein Mitglied des Personals war. Deshalb wollte er lieber mit den Zimmern anfangen, zu denen fast alle Dienstboten Zugang hatten.

Als er geräuschlos die Treppe hinunterging, glaubte er diese Erklärung fast selbst.

2

Habe ich dich eben etwa mit Mr Ansley tanzen sehen?“

Miranda drehte sich um. Ihre Freundin, Mrs Cecilia Abbot, die frühere Miss Cecilia Crosby, stand lächelnd vor ihr. Die beiden Frauen hatten sich in der Ecke dieses Ballsaals schon oft flüsternd unterhalten.

„Ja.“ Miranda trat neben Cecilia und beobachtete gemeinsam mit dieser den Saal, während sie sich unterhielten. „Er wollte wissen, ob meine Schwester gern auf die Jagd geht. Offenbar plant seine Familie einen Jagdausflug.“

„Der arme Mann! Mit Ausflügen in die Natur wird er Georginas Interesse bestimmt nicht wecken.“

Dass er keinen Titel hatte, stellte ein viel größeres Hindernis dar als seine Liebe zur Jagd, aber Miranda war Cecilia dankbar, dass sie das nicht so deutlich aussprach. „Sie hat mir heute Morgen erst gesagt, dass sie sich schon allein deshalb auf London freut, weil es dort nicht so viel Natur gibt. Dort beschränken sich die Aktivitäten im Freien darauf, im Hyde Park spazieren zu fahren und durch die Lustgärten zu schlendern.“

„Hm.“ Cecilia blickte sich im Saal um, bevor sie Miranda aus dem Augenwinkel anschaute. „Du hast auch mit Lord Osborne getanzt.“

Miranda errötete leicht. Sie hatte gehofft, dass das niemandem aufgefallen wäre. „Ja, das stimmt.“

Cecilia räusperte sich. „Hat er sich ebenfalls nach Georgina erkundigt?“

Wenn ihr jemand anders diese Frage gestellt hätte, hätte Miranda wahrscheinlich gelogen. Selbst im Gespräch mit ihren zahllosen anderen Freundinnen hätte sie gelacht und erzählt, wie entzückend der Tanz gewesen wäre. Aber Cecilia hatte keinerlei gesellschaftliche Ambitionen. Sie war nicht einmal während der Saison nach London gezogen, sondern lieber in Hertfordshire geblieben, um einen Mann zu finden, der sie so liebte, wie sie war.

Die Glückliche!

Miranda strich mit ihrem Handschuh über ihren Rock und schaute den Tänzern zu. „Er hat gefragt, ob wir über die Wintermonate in die Stadt ziehen werden. Er hat angeboten, mit uns auf dem Serpentine Schlittschuh zu laufen, falls er zufriert.“

„Was für ein grauenhafter Grund, um den ganzen Winter in London festzusitzen!“ Cecilia verzog angewidert das Gesicht.

„Mr Quinn hat sich wiederum erkundigt, ob Georgina das Theater genauso sehr liebt wie ich.“ Miranda lächelte und hoffte, dass es natürlich aussah. Wenn sie die Stirn zu sehr runzelte, würde sie nur ungebetene Aufmerksamkeit auf sich ziehen. „Wenigstens hat er sich erinnert, dass ich gern ins Theater gehe.“

Cecilia betrachtete sie mitfühlend. „Sie tanzen nicht alle nur wegen Georgina mit dir. Oder wegen deines Bruders, des Herzogs. Das weißt du doch.“

„Möglich. Aber ich habe heute Abend deutlich mehr Aufforderungen zum Tanz bekommen, als bei den üblichen Bekannten der Familie und Ehemännern von Freundinnen zu erwarten gewesen wäre“, erwiderte sie.

„Das liegt daran, dass du allen anderen einen Korb gibst.“

„Nicht allen.“ Miranda schaute zu, wie ihre Schwester sich auf der Tanzfläche drehte und Lord Eversly anlächelte, der fast dreißig Kilometer entfernt wohnte. War er etwa den ganzen Weg nur deshalb gekommen, um Georgina kennenzulernen?

Miranda kannte diese Männer seit mindestens vier Jahren. In dieser Zeit hatten sie es kaum für nötig befunden, ein Wort mit ihr zu wechseln. Geschweige denn, mit ihr zu tanzen.

Georginas Schar von Bewunderern war im Laufe des Abends stetig gewachsen. Zufriedenheit und Abscheu rangen in Miranda um die Vorherrschaft, während sie eine Hand auf die Perlenverzierungen an ihrem Kleid legte.

„Wird es in London die ganze Zeit so sein, Cecilia? Ich bin nicht sicher, ob ich diese Demütigung ertragen kann. Alle werden mich mit ihr vergleichen und dabei werde ich nicht gut abschneiden. Im Gegenteil, alle werden mich für eine alte Jungfer halten.“

Miranda zwickte sich in den Finger, um die Tränen zurückzudrängen.

„Eine Dame zeigt in der Öffentlichkeit nie ihre Gefühle.“

Die Erinnerungen an die häufigen Ermahnungen ihrer Mutter erschienen ihr so real, als stünde diese neben ihr. Sie vernahm diese Worte sogar in Mutters Stimme.

„Du bist ganz gewiss keine alte Jungfer. Es ist erst deine vierte Saison. Und es gibt mehr vermögende Frauen, die lieber warten. Nur die Verzweifelten tun so, als müsse man unbedingt in der ersten Saison einen Mann finden.“

Miranda schwieg. Was Cecilia sagte, stimmte. Miranda hatte mehr Angst davor, dass vor allem ihre feste Entschlossenheit, einen Mann zu finden, dem es um sie ging und nicht nur um die Beziehungen ihrer Familie, sie um eine glückliche Ehe bringen würde. Was sollte sie tun, wenn ihre Schwester vor ihr die große Liebe fand?

„Außerdem“, sprach Cecilia weiter, „bist du doch keine alte Jungfer, wenn du Heiratsanträge ablehnst. Im vergangenen Jahr hast du zwei bekommen, nicht wahr?“

„Ja“, murmelte Miranda, die an diese beleidigenden Anträge gar nicht denken wollte. Sie hatten nur ihre Entschlossenheit gefestigt, sich mit nicht weniger als der bedingungslosen Liebe eines Mannes zufrieden zu geben. Sie war mittlerweile nicht mehr überrascht darüber, dass viele Männer nur deshalb heiraten wollten, um sich politische oder materielle Vorteile zu verschaffen. In ihrer ersten Saison hatte sie sich jedoch aufgrund ihrer Unerfahrenheit in den Grafen von Ashcombe verliebt, nur um dann herausfinden zu müssen, dass es ihm lediglich darum ging, mit der Mitgift auch einen Teil von Griffiths Grundbesitz zu bekommen.

„Jetzt Schluss damit!“ Cecilia hakte sich bei Miranda unter. „Du fängst an, mürrisch auszusehen. Komm, lass uns doch einmal schauen, welch interessanten Klatsch sich die Damen da drüben erzählen, die wirklich zu den alten Jungfern zählen. Im Gegensatz zur landläufigen Meinung verfügen sie immer über die neuesten Informationen.“

Die Gruppe der unverheirateten Damen stand weit von der Tanzfläche entfernt. Nachdem sie sich ein neues Glas Limonade genommen hatten, um den Anschein zu erwecken, sie würden eine Tanzpause einlegen, schlenderten Miranda und Cecilia in ihre Richtung. Sie blieben mit dem Rücken zu der Gruppe stehen, um den Frauen unauffällig zu lauschen.

„Habt ihr schon gehört? Mr Barrister ist gestern aus London zurückgekehrt. Er erzählt, dass Lady Marguerite schon wieder versucht, ihren Neffen für tot erklären zu lassen!“

Miranda wandte sich unauffällig um und warf einen Blick auf die Frau, die gerade an ihrer Erfrischung nippte und den Rest des Saals offenbar völlig vergessen hatte.

Eine andere Frau öffnete ihren Fächer und wedelte sich Luft zu. „Das wird ihr nie gelingen! Solange sie keine Beweise hat, kann sie den Herzog nicht für tot erklären.“

Miranda schaute Cecilia mit großen Augen an. Das war wirklich eine interessante Neuigkeit. Es kam nicht alle Tage vor, dass eine Frau versuchte, ein Herzogtum für ihren Sohn zu ergattern. Sie drehte leicht den Kopf, um die Frauen trotz der Musik besser zu verstehen.

„Und wenn er tatsächlich tot ist? Wie lange werden sie warten?“

„Sein Verwalter sagt, dass er regelmäßig Briefe von ihm bekommt, in denen er Anweisungen gibt, wie er sein Vermögen und seine Geschäfte verwalten soll.“

„Die könnte ja jeder schreiben. Ich habe gehört –“

„Hätten Sie Lust, mit mir zu tanzen?“

Miranda zuckte angesichts dieser abrupten Störung so zusammen, dass ein wenig Limonade auf ihren Handschuh schwappte. Sie hob den Blick. Mr Barrister, von dem die Frauen gerade gesprochen hatten, stand höchstpersönlich vor ihr und hielt ihr die Hand hin, um sie auf die Tanzfläche zu geleiten.

„Ja, sehr gern.“ Miranda reichte der kichernden Cecilia ihr Glas und bemühte sich, ein wenig mehr zu lächeln. „Mit dem größten Vergnügen.“

Sie zwang sich, in seine hellblauen Augen zu schauen, während sie sich zwischen den anderen Tanzpaaren bewegten. Viele junge Frauen schrieben sehr schlechte Gedichte über Mr Barristers strahlend blaue Augen. Miranda fand sie jedoch bei Weitem nicht so reizvoll wie graue Augen, die an einen stürmischen Himmel erinnerten.

Sie stolperte und wäre beinahe gegen die Frau gestoßen, die neben ihr tanzte. Woher war dieser Gedanke denn so plötzlich gekommen? Während sie mit Mr Barrister tanzte, sollte sie eigentlich nicht an die Augen eines anderen Mannes denken. Vor allem sollte sie aber nicht an einen Kammerdiener denken!

Die nächste Stunde verging glücklicherweise ohne besondere Vorkommnisse, aber Miranda atmete trotzdem erleichtert auf, als ihre Mutter ihr mitteilte, dass sie jetzt nach Hause fahren würden.

„Wenn wir ein wenig früher gehen, machen wir den Leuten bewusst, dass Georgina noch sehr jung ist.“ Mutter wickelte ihr Tuch um ihre Schultern und verließ den Ballsaal. „Ich selbst brauche auch meinen Schlaf. Vor mir liegt morgen eine lange Heimfahrt.“

„Wann kommst du wieder?“

„Ich werde erst wiederkommen, um euch zu helfen, für London zu packen. Ende Februar, nehme ich an. Wenn wir von unserer Reise an die Küste zurückkehren, werden wir erst einmal Lord Blackstones Tochter eine Weile besuchen.“ Ihre hellblauen Augen wurden feucht. „Sie will, dass die Kinder ,Großmutter‘ zu mir sagen.“

„Warum auch nicht? Du wirst sie lieben, als seien es deine eigenen Enkel. Und Lord Blackstone wird unsere Kinder genauso lieben wie die seiner eigenen Töchter.“

Mutter schnaubte leise. Augenblicklich war sie nicht länger emotional, sondern die strenge Mutter, die Miranda nur allzu vertraut war. „Vorausgesetzt, einer von euch heiratet irgendwann einmal und bekommt Kinder.“

Miranda verkniff sich ein Stöhnen.

„Eine kluge Dame guter Herkunft hat die Verantwortung, ihre Gaben an die nächste Generation weiterzugeben. Einige behaupten zwar, der Verstand sei auf den Vater zurückzuführen, aber ich versichere dir, dass das nicht der Fall ist.“

Mirandas Stöhnen verwandelte sich in ein Grinsen. Mutter benutzte ihre Ermahnungen, wie sich eine Dame zu verhalten habe, sogar, um ihre Tochter zum Heiraten zu ermutigen. Sie konnte es offenbar nicht erwarten, ihre Kinder unter die Haube zu bringen.

Griffith und Georgina gesellten sich zu ihnen und sorgten so dafür, dass Miranda sich keine passende Antwort überlegen musste.

„Was für ein herrlicher Abend!“ Georgina lehnte sich mit einem tiefen, zufriedenen Seufzer zurück. „Ich denke, erwachsen zu sein gefällt mir. Habt ihr gesehen, wie viele Bewunderer ich hatte?“

Mutter drückte sanft Georginas Hand.

„Du scheinst einen vorzüglichen Abend gehabt zu haben.“ Miranda war stolz darauf, dass ihr ein Lächeln gelang. Es fühlte sich fast echt an.

Georginas Miene wurde ernst. „Natürlich würde ich nur wenige von ihnen in Erwägung ziehen. Wir sind hier ja nur auf dem Land. In London wird es zweifellos Herren geben, die eine bessere gesellschaftliche Stellung innehaben.“ Sie schaute Miranda mit ihren grünen Augen, die für eine Achtzehnjährige zu erwachsen dreinblickten, vorwurfsvoll an. „Miranda, du hättest mir erzählen können, wie wunderbar es ist, so viel Aufmerksamkeit zu bekommen.“

Wenn jemand Miranda vorgeworfen hätte, ihre Schwester angeknurrt zu haben, hätte sie das rundweg abgestritten. Doch niemand sagte etwas. Miranda konnte sich also damit trösten, dass die anderen nichts gehört hatten, falls sie ihrem Ärger tatsächlich mit einem abschätzigen Laut Luft gemacht haben sollte.

Als sie nach Hause kamen, tänzelte Georgina durch die Eingangshalle. Das Licht des Kronleuchters fiel auf sie und verwandelte sie in das strahlendste Objekt im Raum.

Miranda schüttelte den Kopf. War sie nach ihrem Debüt in der Gesellschaft auch so aufgedreht gewesen? Wahrscheinlich. Ihr Auftreten war durchaus ein Erfolg gewesen, aber nicht so unvergleichlich, wie das ihrer Schwester es augenscheinlich werden würde.

Nachdem sie ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange gegeben und ihren Geschwistern zugewinkt hatte, ging Miranda die ersten Stufen hinauf. „Gute Nacht. Falls ich dich morgen früh nicht mehr sehen sollte, Mutter, wünsche ich dir schon jetzt eine gute Fahrt!“

„Du gehst schon ins Bett?“ Das Schmollen in Georginas Stimme war nicht zu überhören. „Können wir uns nicht noch ein wenig unterhalten? Fandest du Lord Everslys Tanzkünste nicht himmlisch? Ich denke, er war heute Abend mein bester Partner.“

„Ich habe heute nicht mit Lord Eversly getanzt.“ Miranda hatte noch nie mit Lord Eversly getanzt. Nicht einmal in London, wo sie sich auf dem Höhepunkt der Saison zwei- bis dreimal in der Woche begegneten. Lord Eversly gab sich nie viel mit heiratswilligen jungen Damen ab. Dass er an diesem Abend mit Georgina getanzt hatte, deutete schon an, dass ihre Schwester zu den begehrtesten Debütantinnen der Saison gehören würde.

Miranda schaute Georgina an und umklammerte krampfhaft das Treppengeländer. „Es freut mich, dass du einen so schönen Abend hattest. Ich verspreche dir, dass wir morgen alles ausführlich Revue passieren lassen.“

Sie betete, dass ihr ein guter Schlaf helfen würde, diese lächerlichen Gefühle loszuwerden, um ihrer Schwester nicht die gute Laune zu verderben. Die Treppe verschwamm vor ihren tränenbenetzten Augen, als sie sich umwandte und auf ihr Zimmer ging.

Die Familie machte viel Lärm, als sie an diesem Abend nach Hause kam. Warum auch nicht? Im Gegensatz zu ihm schlichen sie schließlich nicht herum und versuchten, Verstecke ausfindig zu machen, in denen geheime Informationen verborgen waren.

Dass die Familie zurückkehrt war, bedeutete, dass er heute nicht mehr weitersuchen konnte. Auch wenn es ihm nicht sonderlich gefiel, war seine derzeitige Tarnung mit zusätzlicher Arbeit verbunden. Es spielte keine Rolle, dass sein „Herr“ in den Plan eingeweiht war. Er musste Griffith trotzdem aus seinem maßgeschneiderten Anzug helfen und sich um seine Garderobe kümmern.

Marlow schlüpfte aus Lady Blackstones Zimmer. Da sie am nächsten Morgen abreiste, hatte er nur an diesem Abend Gelegenheit gehabt, ihre Sachen zu durchsuchen, auch wenn es nahezu undenkbar war, dass sie etwas mit dem Verrat zu tun haben könnte, den er untersuchte.

Er presste sich in die Fensternische, als Lady Miranda die Treppe heraufkam. Sie wirkte gedankenverloren und fast traurig. Ihre tiefen, zitternden Atemzüge hallten auf dem Flur wider.

Nein. Ihre Atemzüge gingen ihn nichts an. Sie ging ihn nichts an. Augenblicke später schloss sich ihre Tür leise hinter ihr. Er steuerte auf Griffiths Zimmer zu und bemühte sich, mit gleichmäßigen Schritten an Lady Mirandas Tür vorbeizugehen.

Sie war nur eine Ablenkung.

Und Ablenkungen konnten zu Misserfolgen und sogar zum Tod führen.

Diese spezielle Ablenkung hätte fast dafür gesorgt, dass er die sich ihm bietende Gelegenheit nicht genutzt hätte, Lady Blackstones Zimmer vor ihrer Abreise zu durchsuchen. Er konnte nicht zulassen, dass diese Mission nur deshalb scheiterte, weil ihm Lady Miranda nicht aus dem Kopf ging. Bei der nächsten sich ihm bietenden Gelegenheit würde er ihr Zimmer durchsuchen, auch wenn dieser Gedanke ihn nervös machte.

Er betrat nur wenige Momente vor Griffith dessen Schlafzimmer.

„Wie war Ihr Abend, Durchlaucht?“ Marlow half Griffith aus seiner Jacke und begann, sich um die übrigen abendlichen Pflichten zu kümmern.

„Ermüdend.“ Griffith, der gerade in einen dunkelgrünen Hausmantel schlüpfen wollte, hielt inne. „Wie war dein Abend?“

„Wünschen Sie heute Abend noch etwas, Durchlaucht?“

Griffith seufzte. „Du willst es also wirklich durchziehen?“

Marlow biss sich auf die Zunge, um sich eine Antwort zu verkneifen. Er musste den Kammerdiener glaubwürdig spielen. Alles andere würde nur die Gefahr erhöhen, dass man seine wahre Identität aufdeckte.

„Nein.“ Griffith band den Gürtel an seinem Mantel zu. „Ich werde zu Bett gehen. Ich muss die Zeit nutzen, in der ich ungestört schlafen kann. Wenn die Saison erst einmal anfängt, wird Georgina mich noch früh genug um den Schlaf und um den Verstand bringen.“

Marlow verbeugte sich und war froh, dass Griffith diese Situation nicht nutzte, um ihm seine Aufgabe zu erschweren. Wenn Marlow nur seine anderen Pflichten genauso effizient erledigen könnte! Aber er musste seine Rolle perfekt spielen, um den Täter zu überlisten, der dieses Haus ebenfalls als Tarnung benutzte. Diese Aufgabe mit der Arbeit als Griffiths Kammerdiener zu verbinden, war schon schwer genug.

Marlow lud sich Schuhe und Stiefel auf den Arm und verließ das Ankleidezimmer. Er wollte beides gleich heute Abend putzen. Dann hätte er in den nächsten Tagen ein wenig mehr Zeit für seine Nachforschungen.

Der penetrante Geruch von hochwertigem Leder und verschwitzten Füßen stieg von den Stiefeln und den Abendschuhen auf. Er konnte es nicht erwarten, diese Arbeit hinter sich zu bringen.

Nachdem sie sich zum Schlafen fertig gemacht hatte, konnte sich Miranda nicht überwinden, unter die Decke zu schlüpfen und die Augen zu schließen. Wenn sie ihre aufgewühlten Gefühle nicht endlich beruhigen würde, würde es ihr nie gelingen einzuschlafen. Und dann wäre sie am nächsten Morgen müde und gereizt und wahrscheinlich den ganzen Tag lang unerträglich. Nein, sie wollte lieber noch eine Weile wach bleiben und Frieden finden.

Ihre Mutter hatte ihr häufig eingebläut: Eine Dame sorgt dafür, dass ihre Familie nie unter ihren Launen leidet.

Bekam Georgina die gleichen Ermahnungen zu hören? Wenn ja, verstand sie es viel besser, sie zu ignorieren, als Miranda das jemals gelungen war.

Miranda setzte sich an den Ankleidetisch und spielte mit der Kette, die Sally noch nicht weggeräumt hatte. Die Goldkette drehte sich auf dem Tisch und zog die tropfenförmigen Diamanten über die polierte Oberfläche. Sie berührten einander wie Paare, die über die Tanzfläche schwebten. Die Geräusche, die die Anhänger von sich gaben, wenn sie gegeneinanderprallten, klangen ebenfalls wie Musik.

Wenn sie ehrlich war, tobte vor allem ein Gefühl in ihr: Eifersucht. Und das behagte Miranda überhaupt nicht. Sie war kein zwölfjähriges Mädchen mehr, sondern eine zwanzigjährige Frau, die bald einundzwanzig werden würde. Dass die Männer ihr nicht so viel Beachtung schenkten wie ihrer Schwester, war nicht fair, aber es war ganz gewiss nicht Georginas Schuld. Miranda hingegen hatte mehrere Heiratsanträge abgelehnt. Deshalb konnte sie nur sich selbst die Schuld dafür geben, dass sie keinen Mann und keine eigene Familie hatte.

Warum war sie dann eifersüchtig? Das Gefühl hatte nichts damit zu tun, dass Georgina von so vielen Bewunderern umgeben gewesen war. Miranda hatte ihre Chancen gehabt, aber sie hatte festgestellt, dass den meisten Männern die Eigenschaften fehlten, die sie sich bei einem Ehemann wünschte. War es die Arglosigkeit ihrer Schwester? Dass sie die Möglichkeit zu einem Neuanfang hatte?

Frustriert warf Miranda die Kette in die Schmuckschatulle und schloss den Deckel. Sie fühlte sich unwohl. Es war, als würde sich ihr Herz irgendwo in der Nähe ihres Magens befinden.

Sie stützte die Arme auf den Tisch und vergrub ihren Kopf in den Händen. „Gott“, murmelte sie, „was ist nur mit mir los? Ist das wirklich dein Plan für mich? Ich will nicht allein bleiben.“

Als eine Träne auf den Frisiertisch fiel, fuhr Miranda hoch. Sie schob ihren Stuhl zurück und stand auf. Sie wollte nicht weinen. Sie wollte nicht länger hier sitzen und düsteren Gedanken nachhängen. Aber bei dem Gedanken, sich ins Bett zu legen, erschauerte sie.

„Tee“, sagte sie und schlug mit den Handflächen auf den Tisch. „Ich werde einen Tee trinken. Das wird mir guttun.“

Doch da gab es ein Problem: Das Personal war schon schlafen gegangen und Miranda wollte niemanden wecken.

„Also gut, Miranda. Wie schwer kann es schon sein, dir deinen Tee selbst zu kochen? Du hast doch schon Hunderte Male welchen ziehen lassen. Spielt es wirklich eine Rolle, dass du das Wasser nie selbst gekocht hast? Stell dich nicht so an!“ Miranda stöhnte. „Oh du meine Güte, ich weiß nicht, was armseliger ist: dass ich noch nicht einmal Tee kochen kann oder dass ich Selbstgespräche führe.“ Nichtsdestotrotz musste sie ein wenig schmunzeln.

Miranda nahm die Kerze von ihrem Frisiertisch und ging die Treppe hinab. Im Haus war es fast unheimlich still. Alles war in tiefe Dunkelheit gehüllt. Der Mond hatte hell am Nachthimmel gestanden, als sie vom Tanzsaal aufgebrochen waren, aber noch bevor sie zu Hause angekommen waren, waren dichte Wolken aufgezogen. Das wenige Licht, das durch die Wolken drang, wurde jetzt durch die schweren Vorhänge an den Fenstern ausgesperrt.

Da ihre Familie und alle Dienstboten bereits schlafen gegangen waren, kam ihr der große Landsitz kalt und einsam vor. Um diese Zeit war von der fröhlichen, gemütlichen Atmosphäre, die sie gewohnt war, nichts zu spüren.

Bevor Miranda den Fuß der Treppe erreicht hatte, trat sie auf den Rand ihres Hausmantels. Ein verzweifelter Griff um das Treppengeländer und eine schnelle Fußbewegung bewahrten sie vor einem Sturz. Sie dankte stumm ihrer Tanzlehrerin, die sie viele raffinierte Schritte gelehrt hatte. Dieses Können hatte ihr jetzt geholfen, nicht den Halt zu verlieren.

Allerdings war ihre Kerze ausgegangen.

3

Miranda stand in völlige Dunkelheit gehüllt in der Eingangshalle. Vermutlich war das ihre gerechte Strafe, weil sie sich nicht die Zeit genommen hatte, eine kleine Laterne anzuzünden. Wie hatte sie nur so dumm sein können, mit einer ungeschützten Kerze durchs dunkle Haus zu gehen! Sie hielt sich die Hand vors Gesicht und wackelte mit den Fingern. Sie sah nichts. Nicht einmal der kleinste Schatten war zu erkennen.

„Das erschwert die Sache natürlich beträchtlich.“

Jetzt stand sie vor der Wahl, im Erdgeschoss nach Streichhölzern zu suchen, um ihre Kerze wieder anzuzünden, oder sich die Treppe hinauf und zurück in ihr Zimmer zu tasten. Den Rückweg in absoluter Dunkelheit zurücklegen zu müssen, behagte ihr überhaupt nicht. Deshalb tappte sie langsam über den Marmorboden vorwärts. Als sie die Sicherheit des Treppengeländers verließ, hatte sie das Gefühl, in einem Meer aus Dunkelheit zu versinken.

Sie steckte ihre inzwischen kalte Kerze in die Tasche ihres Hausmantels. Dann streckte sie die Hände aus und tastete sich zentimeterweise an der Wand entlang weiter.

Wer hätte gedacht, dass sich Dunkelheit so schwer anfühlte? Die Finsternis bedrängte sie regelrecht von allen Seiten und sie hätte am liebsten größere, schnellere Schritte gemacht oder wäre auf die Knie gesunken und auf dem Boden weitergekrochen. Hauptsache, etwas gab ihr wieder Halt.

Mit einem entschlossenen Seufzen steuerte Miranda auf den Frühstückssalon im hinteren Teil des Hauses zu. In den anderen Zimmern gab es wahrscheinlich auch Streichhölzer, aber sie hatte keine Ahnung, wo das Personal diese aufbewahrte.

Das war der Fluch eines effizienten Haushalts.

Sie kam nur langsam voran. Eine Hand strich über die Erhebungen und Vertiefungen der Prägetapete, die andere hatte sie suchend ausgestreckt, um etwaige Hindernisse frühzeitig zu bemerken.

Miranda schürzte die Lippen und begann zu pfeifen. Ein Stallknecht hatte ihr als Kind das Pfeifen beigebracht, aber sie hatte nie Gelegenheit gehabt, es zu üben, da ihre Mutter es kategorisch verboten und für ungesund erklärt hatte. Die Töne, die aus ihrem Mund kamen, klangen weniger wie eine Melodie sondern vielmehr wie eine willkürliche Wiederholung von drei Noten. Aber alles war besser als die Totenstille des schlafenden Hauses.

Als sie tastend um die Ecke bog, sah sie einen kleinen Lichtschein, der aus der Bibliothek in den Flur fiel und in der Dunkelheit tanzte. Ihre Erleichterung wich schnell einer großen Neugier. Wer war außer ihr noch wach? Georgina hatte sich bestimmt in ihr Zimmer zurückgezogen, wo sie ihrer Zofe von ihrem herrlichen Abend erzählen konnte. Aber ihre Schwester hatte sich ohnehin nie sehr für die Bibliothek interessiert.

Obwohl die Tür nur leicht angelehnt war und das Licht in die andere Richtung fiel, konnte Miranda genug sehen, um sich selbstsicher durch den Korridor zu bewegen. Sie schob die Tür ganz auf und erwartete, Griffith anzutreffen, der irgendein Buch suchte, das er für eines seiner Projekte brauchte.

Doch statt auf Griffith stieß sie nur auf seine Stiefel – vielmehr einen ganzen Berg von seinen Stiefeln –, die auf dem Fußboden vor dem Sofa lagen. Griffiths neuer Kammerdiener saß auf dem Sitzmöbel. Auf seinem Schoß hatte er einen Stiefel ihres Bruders, vor ihm auf dem Tisch lag ein aufgeschlagenes Buch.

„Marlow?“

Er riss seinen Blick von dem Buch los, sprang auf und machte in einer fließenden Bewegung einen Diener. „Mylady, was kann ich für Sie tun?“

„Was machen Sie hier?“ Das schien sie diesen Mann oft zu fragen. Normalerweise hatte sie nicht das Bedürfnis, ihren Bediensteten solche Fragen zu stellen.

„Ich poliere die Stiefel des Herzogs, Mylady.“

„Natürlich.“ Miranda war versucht, die Augen zu verdrehen, aber sie verkniff es sich.

„Eine Dame bewahrt vor dem Personal immer Haltung.“

Und eine Dame verdrehte auch nicht die Augen.

Marlow stand vollkommen still da und sah sie an. Das machte sie ein wenig nervös.

„Ich kann nicht schlafen.“ Warum hielt sie es für nötig, ihm ihre Anwesenheit zu erklären? Das hatte sie noch nie getan, aber seltsamerweise hatte sie das Gefühl, Marlows Privatsphäre gestört zu haben.

„Soll ich Ihnen eine Tasse warme Milch bringen? Oder vielleicht einen Tee?“

„Ich war auf dem Weg in die Küche, um mir Tee zu kochen, als meine Kerze ausging.“ Sie zog die Kerze aus ihrer Tasche und hielt sie hoch.

Marlow öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn dann aber schnell wieder. Nach einem Moment setzte er erneut an. „Verzeihen Sie, Mylady, aber wissen Sie, wie man Tee macht?“

„Natürlich.“ Jede Dame konnte einen Tee ziehen lassen.

„Entschuldigen Sie, Mylady.“

Sie standen einige Sekunden wortlos da. Er beobachtete sie stumm, während ihr Blick durch das Zimmer glitt. Griffith sollte die Bücherregale umstellen lassen. Diese Raumaufteilung war alles andere als einladend.

Marlow räusperte sich. „Ich glaube, im Ofen in der Küche brennt kein Feuer mehr.“

„Ja, das denke ich auch.“ Ihre Fingernägel sahen ein bisschen ungepflegt aus. Hatte sie wieder daran gekaut, ohne es zu merken?

Er räusperte sich erneut. Tat er das immer, bevor er etwas sagte? „Können Sie eigentlich ein Feuer anzünden?“

Sie gab sich geschlagen und setzte sich auf den Stuhl an einem kleinen Eckschreibtisch. Miranda verzichtete darauf, sich wie eine Dame zu benehmen, und ließ sich mit einem resignierten Seufzen auf das weiche Polster plumpsen. „Nein. Das kann ich nicht.“

„Wenn Sie erlauben, Mylady, hole ich Ihnen einen Tee.“ Er machte eine perfekte Verbeugung und wandte sich zur Tür.

„Danke, Marlow“, sagte Miranda, als er schon fast aus dem Zimmer war.

Während sie auf seine Rückkehr wartete, spielte Miranda mit den Federn und dem Papierstapel auf dem Schreibtisch. Der kleine Schreibtisch war einer ihrer Lieblingsplätze, wenn sie Briefe schrieb. Ein Stapel Briefe, die an Freundinnen aus London und mehrere entfernte Verwandte adressiert waren, lag bereits dort und wartete darauf, am Morgen frankiert und zur Post gebracht zu werden.

Sie nahm ein Blatt von dem blauen Papier aus ihrem Stapel, da ihre Gefühle wie so oft sehr aufgewühlt waren. Dann tauchte sie eine Feder in die Tinte und begann zu schreiben.

Lieber Marshington,

Georgina hatte heute ihr kleines Debüt in Hertfordshire. Bereits hier hat sie ziemlich viele Verehrer; wenn sie in ein paar Monaten nach London kommt, wird sie zweifellos von Bewunderern umschwärmt werden.

Kann man sich gleichzeitig freuen und traurig sein? Ich glaube, ich freue mich ehrlich über ihren Erfolg, aber mir haben diese vielen Männer, die sie jetzt umschwärmen, kaum Beachtung geschenkt, als ich vor ein paar Jahren mein Debüt hatte.

Miranda brachte ihre Gefühle hastig kritzelnd zu Papier. Dass sich darauf hier auch ein Tintenfleck und dort ein verwischtes Wort befanden, spielte keine Rolle. Niemand außer ihr würde diese Worte je zu Gesicht bekommen, und sie nahm sich selten die Zeit, ihre Briefe noch einmal zu lesen.

Irgendwann sollte sie die Briefe wahrscheinlich einmal verbrennen, aber sie konnte sich nicht dazu durchringen. Stattdessen bewahrte sie ihre Briefstapel in einer Truhe unter ihrem Bett auf.

Diese Briefe hatten ihr immer wieder geholfen, nicht den Verstand zu verlieren. Sie war längst über das Alter hinaus, in dem Fantasiefreunde akzeptabel waren. Dass ihr „Freund“ eigentlich kein Produkt ihrer Fantasie war, sondern einfach nichts von ihrer Existenz und den Briefen wusste, war nur ein schwacher Trost.

Trotzdem ließ sie auch viele Jahre nach dem ersten Brief die Vorstellung nicht los, dass Griffiths alter Freund sie verstehen würde.

Ich weiß, dass ich relativ intelligent bin, dass ich passabel aussehe und dass ich einen Haushalt leiten kann. Wobei: Heute Abend musste ich feststellen, dass ich noch nicht mal Feuer machen kann. Warum sollte mich also irgendein akzeptabler Mann umwerben wollen?

Wenigstens ein einziges Mal würde ich gern jemanden kennenlernen, der sich von Griffith nicht einschüchtern lässt. Leider gibt es hier keine anderen Herzöge. Ein Herzog würde vor einem anderen nicht katzbuckeln. Du bist natürlich ein Herzog, aber wir sind uns nie begegnet. Deshalb ist es im Moment ziemlich unwahrscheinlich, dass du mich umwerben würdest.

Nun denn. Ich glaube, ich höre Marlow mit meinem Tee kommen.

Viele Grüße

Miranda

Sie faltete den Brief eilig zusammen und schob ihn unter den Briefstapel, als Marlow mit einem Teetablett die Bibliothek betrat.

„Ihr Tee, Mylady“, sagte er mit einer Verbeugung.

Mirandas Blick wanderte von dem Kammerdiener zu dem Teeservice. Der tröstliche Duft nach frisch aufgebrühtem Tee stieg ihr in die Nase, und sie konnte spüren, wie mit jedem Atemzug die Entspannung wuchs.

Sie sollte ihm eine Tasse anbieten. Es war mitten in der Nacht, und es war niemand da, der sie sehen könnte. In diesem Fall bräuchte sie sich doch wirklich nicht an die Etikette zu halten.

Dann hörte sie es erneut: „Eine Dame ist zu jeder Zeit eine Dame.“

Nicht schon wieder! Sie verdrängte die wohlvertraute Stimme ihrer Mutter aus ihrem Kopf und hatte große Mühe, sich dabei ein Grinsen zu verkneifen. Es würde noch ein paar Stunden dauern, bis das Haus aus seinem Schlaf erwachte. Außerdem betrachteten seine grauen Augen sie mit einer faszinierenden Direktheit. Es war … schlichtweg erfrischend.

Sie trat vom Schreibtisch zum Sofa und versuchte, sich unauffällig die Hände an ihrem Hausmantel abzuwischen. War ihr beim Schreiben so warm geworden? „Würden Sie mir Gesellschaft leisten?“

Er blickte sie überrascht an.

Mirandas Herz begann in ihrer Brust zu hämmern. Sie waren allein. So allein, wie sie noch nie mit einem Mann gewesen war, weder mit einem Dienstboten noch mit irgendeinem anderen Mann.

Sie sollte ihre Einladung zurücknehmen. Diese grauen Augen lösten bei ihr eine starke Unruhe aus. Sie schienen viel zu viel zu sehen. Es war, als könnte er in ihre Seele blicken und ihre Gedanken und Gefühle lesen. Was für ein lächerlicher Gedanke! Dieser Mann regte ihre Fantasie viel zu sehr an.

„Es wäre mir eine Ehre, Mylady.“ Obwohl er mit einem Ja antwortete, zögerte er, bevor er auf der anderen Seite des niedrigen Tisches Platz nahm.

Miranda begann, den Tee einzuschenken. Sie erkundigte sich, ob er Milch und Zucker wolle, und reichte ihm seine Tasse, bevor sie sich mit ihrer eigenen Tasse zurücklehnte. Sie hatte die Etikette bereits in den Wind geschlagen. Dann konnte sie jetzt auch auf eine steife Haltung verzichten.

„Wie sind Sie zu der Stelle bei meinem Bruder gekommen, Marlow? Mir war nicht bewusst, dass er sich nach einem neuen Kammerdiener umgesehen hat. Es war natürlich höchste Zeit. Herbert muss inzwischen schon sechzig sein.“

„Wir haben uns zufällig im Dorf getroffen. Ich hatte gerade, ähm, meine letzte Stelle verloren. Ihr Bruder fand mich sympathisch, und jetzt bin ich hier.“

„Wirklich? Das klingt so gar nicht nach Griffith“, murmelte sie. Griffith tat nie etwas, ohne es sich vorher genau zu überlegen und einen bis zwanzig gute Gründe für eine Entscheidung zu haben.

„Dann bin ich für diese Stelle noch dankbarer.“ Marlow nippte stumm an seinem Tee und wartete offenbar darauf, dass sie das Gespräch in die Hand nahm.

Wollte sie ein Gespräch mit ihm führen? Ja. Ja, das wollte sie. Wenn auch vielleicht nur, damit sie das Gefühl hatte, irgendetwas selbst in die Hand nehmen zu können. „Haben Sie früher schon als Kammerdiener gearbeitet?“

„Ja, Mylady.“

Miranda trank einen großen Schluck Tee und dachte angestrengt nach, worüber sie sich mit ihm unterhalten könnte – irgendetwas, was nichts mit der Arbeit zu tun hatte. Sie wollte wirklich nicht wissen, wie es war, seinen Lebensunterhalt damit zu verdienen, einem Herrn beim Anziehen zu helfen, vor allem nicht, wenn dieser Herr ihr Bruder war. Aber da sie beschlossen hatte, sich mit ihm zu unterhalten, war sie nicht bereit, diesen Versuch so schnell aufzugeben.

Ihr Blick wanderte zu ihm zurück, als würde ihr ein geeignetes Thema einfallen, wenn sie ihn nur lange genug anschaute. Doch dabei wurde ihr nur bewusst, dass sie sich geirrt hatte, als sie gedacht hatte, kein Mann könnte eine Jacke so gut ausfüllen wie ihre Brüder. Entweder trug Marlow Schulterpolster oder seine Muskeln füllten seine Jacke perfekt aus. Sie räusperte sich und blickte wieder auf ihre Teetasse. Winzige blaue Blumen auf weißem Porzellan waren wesentlich ungefährlicher.

„Haben Sie hier in der Nähe Familie?“

„Nein, Mylady. Ich bin allein. Es kann sein, dass ich in Derbyshire ein paar Verwandte habe, aber ich habe seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihnen.“

„Sie sind in Derbyshire aufgewachsen?“

„Nein, in Kent.“

Sie schaute ihn verwirrt an. Es war nicht ungewöhnlich, dass aristokratische Familien weit voneinander entfernt lebten, da viele Adelige in London einen Ehepartner fanden, der aus einem anderen Teil des Landes stammte. Aber Angehörige der Arbeiterschicht?

„Wie kam es, dass Sie voneinander getrennt wurden? Kent ist weit von Derbyshire entfernt.“

„Ein kleiner Umzug hier, ein großer Umzug da, und man landet dort, wohin einen die Arbeit führt.“ Sein Blick wanderte in die Ferne, und sie vermutete, dass er gerade an seine weit verstreut lebende Verwandtschaft dachte. Mit einem kleinen Lächeln und einem Achselzucken nippte er wieder an seinem Tee.

„Ich verstehe“, sagte Miranda, obwohl sie es eigentlich überhaupt nicht verstand. Ein Dienstbote müsste schon seine Arbeitsstellen schon ziemlich häufig wechseln, um den weiten Weg von Kent nach Derbyshire zurückzulegen und dann weiter nach Hertfordshire zu kommen. Marlow konnte nicht viel älter sein als Griffith. „Was lesen Sie da?“

Marlow warf einen Blick auf das Buch, das aufgeschlagen neben dem Stiefelberg lag. „Shakespeares ,Was ihr wollt‘.“

„Ist das die Komödie, in der eine junge Frau vorgibt, ein Mann zu sein, und in den Dienst eines Herzogs tritt?“

Er nickte.

„Ich habe nie verstanden, wie das gelingen soll. Ich kann mir nicht einmal eine Tasse Tee kochen, geschweige denn andere Menschen bedienen.“ Sie warf einen finsteren Blick auf die Teekanne, als wäre ihre Unfähigkeit, Tee zu kochen, die Schuld der Kanne. „Abgesehen von den praktischen Aspekten müsste man ja allem zuwiderhandeln, wozu man von Kindesbeinen an erzogen wurde.“

Marlow räusperte sich. „Ich glaube, Mylady, dass dahinter der Gedanke steckt, dass man zu allem bereit ist, wenn die Situation es erfordert. Ich glaube, alle Menschen, auch Adelige, können verborgene Talente in sich entdecken, wenn das nötig ist, um bestimmte Ziele zu erreichen.“

Nach mehreren Augenblicken unbehaglichen Schweigens stellte er seine Tasse wieder auf das Teetablett. „Wenn Sie ausgetrunken haben, räume ich das Geschirr weg, Mylady.“

„Natürlich.“ Sie stellte ihre Tasse schweigend ab und erhob sich. Das Lächeln, mit dem sie den Kammerdiener bedachte, war nicht so gezwungen, wie sie erwartet hatte. Dieses kurze Gespräch war alles andere als angenehm gewesen, aber Zeit mit ihm zu verbringen war aufregender gewesen als alles andere, was sie in letzter Zeit getan hatte. „Danke für den Tee.“

Mit einem letzten Blick auf den Kammerdiener entzündete sie ihre Kerze und ging in ihr Zimmer zurück. Es war erstaunlich, dass jetzt so wenig Licht ausreichte, dass sie den Weg problemlos zurücklegen konnte.

Als sie ihr Zimmer erreicht hatte, spürte sie, dass ihre Nerven sich beruhigt hatten, und der Gedanke, schlafen zu gehen, erschien ihr jetzt nicht mehr so unangenehm. Eine kleine Stimme wandte zwar ein, dass dies mehr dem Tee und dem Gespräch geschuldet war als dem Brief, in dem sie Marshington ihr Herz ausgeschüttet hatte, aber sie weigerte sich, das zuzugeben.

Er stellte das Teeservice mit größter Vorsicht auf den Küchentisch, obwohl er es am liebsten gegen die Wand geschleudert hätte. Doch damit würde er die Haushälterin wecken. Er bezweifelte zwar nicht, dass es ihm gelingen würde, sie zu besänftigen, aber es war besser, wenn niemand herausfand, dass er mit der Dame des Hauses Tee getrunken hatte.

Die Dienstboten würden zweifellos die Nase rümpfen und ihn spüren lassen, was sie von seinem eingebildeten Verhalten hielten.