Entscheidungen ohne Grund – Organisationen verstehen und beraten - Klaus Eidenschink - E-Book

Entscheidungen ohne Grund – Organisationen verstehen und beraten E-Book

Klaus Eidenschink

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Beschreibung

Sie verstehen nicht, wie es zu dieser Entscheidung kommen konnte? Sie fragen sich, warum der gewünschte Effekt nicht eingetreten ist, obwohl doch jeder Schritt wohlüberlegt war? Nichts wird in Organisationen mehr diskutiert als Entscheidungen. So wartet man gefühlt eine halbe Ewigkeit darauf, dass "mal" eine getroffen wird, und dann fällt sie auch noch anders aus als gedacht, obwohl im Vorfeld unzählige Menschen damit bemüht wurden, Fakten zu sammeln – denn Fakten sollen ja zu Objektivität verhelfen. Stellen sich die Folgen der Entscheidung als positiv heraus, wird die Person, die sie getroffen hat, in den Himmel gelobt. Ist das Gegenteil der Fall, wird sie womöglich vom Hof gejagt. Kurz: Organisationen agieren oft auf unsicherem Grund. Wie lässt sich dieses allzu bekannte Muster erklären? Eigentlich war doch alles "rein objektiv"? Die Autoren Klaus Eidenschink und Ulrich Merkes entschlüsseln diese und andere vermeintliche Widersprüche in Bezug auf Entscheidungen, denen Menschen in Organisationen täglich begegnen. Dabei liefern sie Erklärungen, die den Dynamiken in modernen Organisationen gerecht werden, und helfen, sie zu verstehen. Anstelle von rezepthaften Formeln bieten sie eine maßgeschneiderte Lösung, die selbst komplexen und schwer steuerbaren Veränderungsvorhaben zum Erfolg verhilft.

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BERATEN IN DER ARBEITSWELT

Herausgegeben von

Stefan Busse, Rolf Haubl, Heidi Möller und Silja Kotte

Klaus Eidenschink / Ulrich Merkes

Entscheidungen ohne Grund

Organisationen verstehen und beraten

Eine Metatheorie der Veränderung

Mit einer Abbildung

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: rudall30/shutterstock.com

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datametics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISSN 2625-6061

ISBN 978-3-647-99485-7

Inhalt

Zu dieser Buchreihe

1 Grundlegende Überlegungen

1.1 Ziel und Absicht

1.2 Prämissen

2 Leitunterscheidungen der Organisationsdynamik

2.1 Organisationen und Entscheidungen

2.2 Neun Leitunterscheidungen als Fokusse von Entscheidungen

2.3 Leitprozess Vergangenheitsbehandlung – beibehalten oder verändern?

Nichts kann nur agil sein!

Die Logik von Verkrustungen

Lernen und Identität

Irritationskompetenz ist entscheidend

Wer weiß, lernt nicht

2.4 Leitprozess Gegenwartsbehandlung – regel- oder situationsgerecht?

Lob der Routine oder Lob des Einzelfalls?

Formale und informelle Organisationsprozesse

Regeln können sich selbst nicht regeln

Regel oder spezifische Situation – wie entscheiden?

Die Wichtigkeit von Regelverstößen

2.5 Leitprozess Zukunftsbehandlung – gefahrentragend oder risikonehmend?

Handeln oder abwarten?

Entscheiden oder entschieden werden

Planung und Pläne

Das Unerwartete managen

Risikonehmende und Gefahrentragende

Risiken sind standpunktabhängig

Die Beherrschbarkeit von Risiken

Wie werden Risiken abgesichert?

Risikoloses Entscheiden

2.6 Leitprozess Vernetzung – verknüpfend oder entkoppelnd?

Regulation der Vernetzungsdichte

Vernetzung braucht Entkoppelung und Verknüpfung

Verknüpfen und Entkoppeln von Themen als Führungsaufgabe 51

Selbstverstärkende Effekte

2.7 Leitprozess Entscheidungsorientierung – innen- oder außenorientiert?

Die überlebensrelevanten Umwelten einer Organisation

Orientierung an der inneren Umwelt

Orientierung an der äußeren Umwelt

Von den Daten zur Information

Relevanz von Daten

Welche Daten sind entscheidend?

2.8 Leitprozess Qualitätsfokus – schnell oder gründlich?

Woran bemisst sich Qualität?

Gründlich: Wann ist es genug?

Schnell: Wann braucht es Mut zur Lücke?

Die innere Logik unterschiedlicher Organisationsbereiche

Wie konsistent sind die Beurteilungskriterien?

2.9 Leitprozess Sozialkomplexität – vertrauend oder kontrollierend?

Umgang mit Unberechenbarkeit

Kontrolle – der unliebsame und wichtige Zwilling

Zur Funktion von Vertrauen

Vertrauen muss die eigene Blindheit begrenzen

Vertrauen in Funktionen und Bereiche

Die Wichtigkeit von Misstrauen

Hyperstabile Musterbildung

2.10 Leitprozess Entscheider – beteiligend oder ausschließend?

Der Zwang zur Selektivität

Informelle Wege

Interessenlagen und Sachverstand

Welche Rolle spielen »die Entscheider«?

Die Entlastungsfunktion von Entscheidungsgremien

Einfluss nehmen und verlieren können

Informelle Hintergrundprozesse

2.11 Leitprozess Personal – passend oder unpassend?

Welche Rolle spielt der Mensch in Organisationen?

Die Zumutung der Organisation

Die Prämisse »Person«

Die Passung der Person

Erwartungen an Rollen und Stellen

Von der Wichtigkeit, »unpassende« Mitarbeitende zu haben

Die Funktion von Mitgliedschaft

Die Funktion von Karriere

Die Funktion von »Potenzialen« von Mitgliedern

2.12 Entscheidungen ohne Grund

3 Konsequenzen für Beratung in Organisationen

3.1 Organisationen brauchen Beratung in der Zeitdimension

3.2 Organisationen brauchen andere Beobachtungen

3.3 Organisationen brauchen Rätselfreundinnen und -freunde

3.4 Organisationen brauchen Konflikt und Konsens

3.5 Organisationen brauchen einen Blick auf ihre innere Spaltung

3.6 Organisationen brauchen Kompetenz für »Glück und Leid«

3.7 Organisationen brauchen Kompetenz für Gefühle der Mitarbeitenden

4 Was brauchen die Beraterin und der Berater?

5 Zuletzt

Literatur

Zusätzliche Literatur

Zu dieser Buchreihe

Die Reihe »Beraten in der Arbeitswelt« wendet sich an erfahrene Beratende und Personalverantwortliche, die Beratung beauftragen, die Lust haben, scheinbar vertraute Positionen neu zu entdecken, neue Positionen kennenzulernen, und die auch angeregt werden wollen, eigene zu beziehen. Wir denken aber auch an Kolleginnen und Kollegen in der Aus- und Weiterbildung, die neben dem Bedürfnis, sich Beratungsexpertise anzueignen, verfolgen wollen, was in der Community praktisch, theoretisch und diskursiv en vogue ist. Als weitere Zielgruppe haben wir mit dieser Reihe Beratungsforschende, die den Dialog mit einer theoretisch aufgeklärten Praxis und einer praxisaffinen Theorie verfolgen und mitgestalten wollen, im Blick.

Theoretische wie konzeptuelle Basics als auch aktuelle Trends werden pointiert, kompakt, aber auch kritisch und kontrovers dargestellt und besprochen. Komprimierende Darstellungen »verstreuten« Wissens als auch theoretische wie konzeptuelle Weiterentwicklungen von Beratungsansätzen sollen hier Platz haben. Die Bände wollen auf je rund 90 Seiten den Leserinnen und Lesern die Option eröffnen, sich mit den Themen intensiver vertraut zu machen, als dies bei der Lektüre kleinerer Formate wie Zeitschriftenaufsätzen oder Hand- oder Lehrbuchartikeln möglich ist.

Die Autorinnen und Autoren der Reihe werden Themen bearbeiten, die sie aktuell selbst beschäftigen und umtreiben, die aber auch in der Beratungscommunity Virulenz haben und Aufmerksamkeit finden. So werden die Texte nicht einfach abgehangenes Beratungswissen nochmals offerieren und aufbereiten, sondern sich an den vordersten Linien aktueller und brisanter Themen und Fragestellungen von Beratung in der Arbeitswelt bewegen. Der gemeinsame Fokus liegt dabei auf einer handwerklich fundierten, theoretisch verankerten und gesellschaftlich verantwortlichen Beratung. Die Reihe versteht sich dabei als methoden- und schulenübergreifend, in der nicht einzelne Positionen prämiert werden, sondern zu einem transdisziplinären und interprofessionellen Dialog in der Beratungsszene angeregt wird.

Wir laden Sie als Leserinnen und Leser dazu ein, sich von der Themenauswahl und der kompakten Qualität der Texte für Ihren Arbeitsalltag in den Feldern Supervision, Coaching und Organisationsberatung inspirieren zu lassen.

Stefan Busse, Rolf Haubl, Heidi Möller und Silja Kotte

1 Grundlegende Überlegungen

»Alles sollte so einfach wie möglich gemacht werden, aber nicht einfacher.«1

Albert Einstein

1.1 Ziel und Absicht

Wir verbinden eine Hoffnung und zwei Absichten mit diesem Buch.

Die Hoffnung ist, Leserinnen und Leser zu finden, die Freude beim Mit-Denken haben und wissen, dass man Gedanken, wenn sie unvertraut sind, wie guten Wein ertasten und ergründen muss. Dies kann einem weder der Wein noch das Buch abnehmen.

Die erste Absicht, die wir verfolgen, ist es, ein Verständnis von Beratung vorzustellen, dessen wesentliche Leistung darin besteht, vorhandene Theorien zur Dynamik von Psyche, Gruppen und Organisationen in ihrem Perspektivenreichtum integrativ zu nutzen. Dazu muss man ihre Unterschiedlichkeit und Widersprüchlichkeit nicht auflösen, sondern zuordnen können. Dies geschieht dadurch, dass wir ein Theoriedesign anbieten, in dem Polaritäten und Spannungen unerlässlich und willkommen sind. Wir wählen die Bezeichnung metatheoretisch, weil damit ein Rahmen aufgespannt wird, der sehr disparaten Theorien eine sinnvolle Funktion und Landkarte gibt.

In diesem Text beschränken wir uns auf den organisationstheoretischen Aspekt unserer Arbeit. Die Beschäftigung mit einer Vielzahl pragmatischer Beratungsweisen, Managementmoden, Organisationstheorien, deren ungünstigen Einseitigkeiten und Konkurrenz hat uns immer wieder frustriert. Das hat uns nach einem Theorieansatz suchen lassen, der dem, was in Beratung und Management funktioniert, einen sinnvollen Platz gibt und der gleichzeitig erklären kann, warum manches unter spezifischen Umständen eben auch nicht funktioniert oder unpassend ist. Wir versuchen, zu differenzieren und einzuordnen und dabei offen zu bleiben für Neues.

Die andere Absicht ist, verbreitete Annahmen über (Wirtschafts-) Organisationen zu hinterfragen. Unsere Beobachtung ist, dass viele Organisationstheorien und viele Vorgehensweisen in der Beratungspraxis ungünstige (denkerische) Prämissen enthalten. Man sucht nach dem Optimalen und Richtigen (Kühl, 2002), nach besserer Kontrolle (von Oetinger, 2000), nach mehr Motivation und mehr Humanität (Gairing, 2002, 2017; Kieser, 2001, S. 101 ff.) – man versucht, zu verbessern. Diese Verbesserungskonzepte sind explizit oder latent normativ. Sie beruhen auf der Idee, eine Organisation könne wie ein Auto optimiert, wie ein Haus renoviert oder wie ein Sportler, eine Sportlerin trainiert werden. Auch wenn dies natürlich zum Teil irgendwie geht, verfehlt man aus unserer Sicht das Eigentliche am Phänomen Organisation. Dieses Eigentliche ist, dass Organisationen eine Theorie brauchen, die erklärt, wieso soziale Systeme nicht ohne Konflikt auskommen, wieso alles Passende auch Unpassendes erzeugt, warum es keine konsistenten und widerspruchsfreien Zielkonzepte geben kann, warum Komplexität grundsätzlich überfordert, warum Kommunikation der Kernprozess von Organisationen ist – in Summe: warum Organisationen nur durch ständigen Zerfall stabil bleiben können! Schon an dieser Formulierung mag man erkennen, dass man nicht ohne Paradoxien auskommt, will man Organisationen verstehen (Clam, 2004).

Wir wollen eine Organisationstheorie und eine darauf bauende Beratung skizzieren, die die inneren Widersprüche von Organisationen nicht auslöschen wollen, sondern ihnen gewachsen sind und sie zu nutzen wissen. Komplexität, Wandel, Unkalkulierbarkeit, Multiperspektiven, Konflikte, Viel- und Doppeldeutigkeiten sind das Fundament unserer Überlegungen (Clam, 2002). Die Folgen dieser Denkart sind herausfordernd: mehrwertige Logik, Rückbezüglichkeiten, perspektivengebundene und doppelte Wahrheiten, Paradoxien und eine Entscheidungstheorie, die sich nicht auf objektive Richtigkeit

bezieht, sondern Entscheidungen als ein Geschehen »ohne Grund« ansieht. Unsicherheit wird so zur wesentlichen und notwendigen Ressource.

1.2 Prämissen

Um dies denkerisch abbilden zu können, darf und kann man nicht mit Mitteln arbeiten, die auf einer klassischen rationalen, zweiwertigen Logik aufbauen, sondern die das »Dritte«, die Perspektive, aus der etwas beobachtet wird, mit ins Kalkül nehmen. Damit steht unsere Denkart in der Tradition der Systemtheorie, wie sie von Niklas Luhmann (1987, 2000a, 2005a, 2012a) und vielen seiner Schülerinnen und Schüler (Baecker, 2003, 2011; Fuchs, 2015; Kühl, 2011; Nagel u. Wimmer, 2002; Wimmer 2004; Wimmer, Glatzel u. Lieckweg, 2014) entwickelt worden ist. Wir wollen die Merkmale dieses denkerischen Zugangs in sechs Punkten skizzieren.

▶Organisationen sind Prozess und nicht Ding

Wir sehen die Aufgabe einer Organisationstheorie nicht darin, zu klären, was Organisationen sind oder idealerweise sein sollten, sondern wie sie sich organisieren und wie dieser »Prozess des Organisierens« beeinflusst werden kann (Weick, 1998). Die Stabilität der Organisation wird so das erklärungsbedürftige Phänomen. Der Blick richtet sich dann nicht primär auf die Veränderung, sondern auf die Fähigkeit von Organisationen, Funktionales wie Dysfunktionales dauerhaft aufrechtzuerhalten. Ein solches Denken in Funktionalitäten erlaubt es, Veränderung wie Stabilisierung als wichtig anzusehen. Jedes Ereignis einer Organisation ist singulär und trägt nur dann zu einer Stabilität bei, wenn sich Strukturen ausbilden. Man kann als Telekomvorstand nicht einfach ein Stahlwerk kaufen wollen. Das würde als unpassend angesehen werden. Strukturen – »Wir verkaufen Kommunikationsmöglichkeiten.« – schränken den Fundus ein, aus dem die Organisation wählen und entscheiden kann. Organisationen sind folglich laufend damit beschäftigt, wie sie ihre Möglichkeiten zugleich (!) begrenzen und aufrechterhalten. Sie müssen sich ihre Entscheidungen »merken« und dabei ständig abtasten, ob sie die gebildeten Strukturen gegen die Umwelt »verteidigen« oder sich selbst an die Umwelt »anpassen«. In hochdynamischen Umwelten braucht es eine Theorie, die die organisationale Überprüfung dieses »Abtastens« zu reflektieren hilft. Wir stellen mit unseren Leitprozessen ein Analyseschema zur Verfügung, das hierzu dient. Damit erweitern und präzisieren wir das Konzept der Entscheidungsprämissen von Luhmann (2000a, S. 222 ff.).

▶Organisationen kultivieren Konflikte

So wie sich Organismen nicht zeitgleich anspannen und entspannen können, so wie die Psyche nicht gleichzeitig Nähe und Distanz genießen kann, so wie Teams nicht gleichzeitig etwas als erwünscht und unerwünscht definieren können – so können auch Organisationen nicht gleichzeitig an der gleichen Stelle Wertpolaritäten realisieren. Sie müssen – um nur einiges von dem zu nennen, was wir ausführlich beschreiben werden – einen Weg finden, sich am Innen wie am Außen zu orientieren, Regeln wie Freiräume zu etablieren, mit Vertrauen wie mit Kontrolle zu operieren … Wie alle Systeme müssen sie sich in Unvereinbarkeiten bewegen – und daher entscheiden. Wenn man versteht, welchen Entscheidungszwängen Organisationen ausgesetzt sind, ermöglicht dies, viele Geschehnisse – auch vermeintlich absurde – theoretisch so einzuordnen, dass ihre innere Logik sichtbar wird.

▶Organisationen sind Viel-Zweck-Instrumente

Wertkonflikte sind Alltag und Notwendigkeit. Daher entziehen sich Organisationen dauerhaften Optimierungen und müssen ständig in Bewegung bleiben, um ihren Regulationsnotwendigkeiten gerecht zu werden. Somit scheidet ein unterkomplexes Verständnis, in dem Organisation als (maschinelles) Mittel zu einem Zweck gesehen wird, aus (Kühl, 2011; Simon, 2007). Sie sind eher »Viel-Zweck-Instrumente«, die ihren Mitgliedern, ihren Kunden, ihren Inhaberinnen, ihren Kreditgebern und damit in Summe ihrem eigenen Überleben dienen. Das Überleben von Organisationen setzt nämlich voraus, dass sie viele relevante Umwelten (zur Unterscheidung System/Umwelt siehe Simon, 2006, S. 85 ff.) berücksichtigen können, weil sie sich in vielen Funktionssystemen der Gesellschaft bewegen müssen oder mit ihnen verflochten sind: Wirtschaft, Recht, Politik, Massenmedien, Erziehung, Wissenschaft (vgl. dazu einführend Luhmann, 2004). Jede Organisation schafft Stabilität durch ein Geflecht an sich höchst unwahrscheinlicher organisationaler Leistungen, die einander bedingen, voneinander abhängen und einander voraussetzen. Die »Erzeugnisse« an der einen Stelle lassen sich oft nicht ohne Änderungen an anderer Stelle variieren, sodass sich schon aus diesem Grund Organisationen mit Veränderungen schwertun. Nicht zuletzt deshalb entstand eine »Poesie der Reformen« (Luhmann, 2000a, S. 330), die mit der nüchternen Wirklichkeit vieler Change-Projekte in starkem Kontrast steht.

▶Organisationen sind Kommunikation (über Entscheidungen)

Soziale Systeme – und als solche verstehen wir Organisationen – bilden kommunikative Muster, die von Menschen getragen sind, aber von ihnen nicht kontrolliert werden können und auch nicht aus ihnen »bestehen« (Luhmann, 1987, 2000a, S. 39 ff.). Organisationen führen unabhängig von den Motiven der Mitglieder ein Eigenleben, das sich um den Fokus rankt, dass ununterbrochen Entscheidungen getroffen, kommuniziert und stabilisiert werden müssen (Luhmann, 2005a, S. 416f.). Entscheidungen in Organisationen (!) sind kommunikative Vorgänge, kein Vorgang im Kopf eines Individuums. Daher können Mitglieder von Organisationen nicht allein Entscheidungen treffen oder vorhandene verändern, weil sie immer auch darauf angewiesen bleiben, wie ihre Mitteilungen von anderen verstanden und aufgenommen werden. Entscheiden ist ein kommunikativer Akt und damit ein soziales Phänomen.

▶Organisationen erzeugen stabile Muster

Organisationen brauchen zur Umweltorientierung Stabilität und müssen, um Stabilität zu gewinnen, Komplexität reduzieren: das und nicht jenes, so und nicht anders, hier und nicht dort, der und nicht jene, heute und nicht morgen. Dieser Abbau von Unsicherheit läuft über Entscheidungen. Diese schaffen für einen gewissen Zeitraum, für bestimmte Mitglieder zu einer bestimmten Sachfrage Sicherheit (Luhmann, 2000a, S. 183 ff.). Darum bestehen Organisationen aus der Kommunikation über Entscheidungen, die jeweils Grundlage, Anknüpfungspunkt und Anschlussstelle für weitere Entscheidungen (und damit Identität und Stabilität) schaffen.

▶Organisationen sind zeitlich und damit paradox

Daraus folgt fast zwangsläufig, dass sich Organisationen als soziale Systeme kontinuierlich in Paradoxien verstricken, die allem Entscheiden innewohnen (siehe dazu Luhmann, Maturana, Namiki, Redder u. Varela, 2003, S. 119 ff.). »Verstricken« meint hier, dass keine Entscheidung für alle richtig, nebenwirkungsfrei, verlässlich, widerspruchsfrei und mit der restlichen Organisation abgestimmt sein kann. Organisationen organisieren folglich das Managen unerwünschter, unerwarteter, ungeplanter, in Kauf genommener Nebenfolgen (Fritz, 2000). Dies ist der wesentliche Grund, warum eine Theorie über die Dynamik von Organisationen neben der Sachdimension (Problemlösungen) und der Sozialdimension (Zusammenarbeit und Führung) essenziell die Zeitdimension reflektieren muss. Nur in und über Zeit können Paradoxien in Organisationen bearbeitet werden. Wenn Zukunft sowohl als gestaltbar und gestaltungsbedürftig angesehen wird, sich aber auch als unvorhersehbar und überraschungsreich jeglicher Kontrolle entzieht, dann braucht eine Organisationstheorie ein Verständnis von Zeit, das über die triviale Vorstellung eines gleichförmig verlaufenden Zeitstrahls hinausgeht. Damit gerät man allerdings in Konkurrenz zu grundlegenden Fundamenten naturwissenschaftlichen Denkens (Gendlin, 2015; Günther, 1991; Luhmann, 2008; Picht, 1969, 1991, 1999; von Foerster, 1999; von Weizsäcker, 1992; Whitehead, 1987), da man davon ausgehen muss, dass sich Organisationen nicht mit der Unterscheidung »richtig und falsch« denken und lenken lassen (siehe Luhmann et al., 2003, S. 132). Stattdessen werden die Fragen komplexer: Welche Entscheidung über ein Problem ist für wen zu einem gewählten Zeitpunkt im Hinblick auf welchen Kontext für welchen Zeitraum mit welchen Nebenfolgen und mit welchen Zielsetzungen auf welche Weise kommuniziert passend und unpassend?

Metatheoretisch nennen wir unseren Ansatz deshalb, weil wir unterschiedliche Theorien auf ihre Prinzipien untersucht haben und daraus eine organisationsunabhängige Beobachtungsstruktur – wir nennen sie »Leitunterscheidungen« – entwickelt haben, mit deren Hilfe sich Entscheidungsprozesse und -muster in Organisationen benennen, untersuchen und beschreiben lassen. Luhmann (2000a) beschränkt sich in seiner Konzeption von Entscheidungsprämissen auf deren drei – Entscheidungsprogramme, Kommunikationswege und Personal –, ergänzt durch den Begriff Kultur (S. 222 ff.). Wir werden im zweiten Kapitel neun darauf aufbauende, aber weiterführende Leitunterscheidungen der Organisationsdynamik vorstellen, erläutern und mit kleinen Fallbeispielen aus der Beratungspraxis unterlegen. Das dritte Kapitel dient dann der Darstellung der wichtigsten Konsequenzen eines metatheoretischen Ansatzes für Beratung und Management. Welche persönlichen Kompetenzen Beraterinnen und Berater brauchen, die auf der Basis dieser Denkart arbeiten wollen, ist im vierten Kapitel abschließend skizziert.

1https://www.zitate.eu/autor/albert-einstein-zitate/79661.

2 Leitunterscheidungen der Organisationsdynamik

2.1 Organisationen und Entscheidungen