Inhaltsverzeichnis
Buch
Autor
Danksagung
Einleitung »Die Kirche rät: Mehr Zeit für Sex«
Teil I - DIE BESCHLEUNIGUNGSKRANKHEIT Symptome und Prognosen
Kapitel 1 - Im Hamsterrad Nur nicht aus dem Tritt kommen!
Lernen im Laufschritt
Gehetztes Arbeiten
Ruheloses Konsumieren
Werbung als Turbolader
Copyright
Buch
Schnell einsteigen, schnell ausrangiert werden! Und zwischen Einstieg und Ausstieg liegt ein Leben, das weitgehend vom Diktat der Uhr bestimmt ist. Dieses Diktat macht den meisten von uns zu schaffen. Kein Wunder also, dass vier von fünf Deutschen klagen, alles verändere sich zu rasch. Wir leiden an der Beschleunigungskrankheit. Immer mehr Menschen spüren, wie ihr Körper und ihre Psyche, wie Partnerschaften, Familien und soziale Netze im Hamsterrad gesellschaftlicher Dynamik Schaden nehmen, wie natürliche Rhythmen verloren gehen. Vor diesem Hintergrund zeigt Fritz Reheis Alternativen und individuelle Ausstiegsmöglichkeiten auf, vom Sabbatical bis zur bewussten Auseinandersetzung mit Situationen, in denen wir uns besonders unter Druck fühlen.
Autor
Fritz Reheis, Jahrgang 1949, studierte Deutsch, Geschichte, Sozialkunde und Pädagogik. Er promovierte in Soziologie und absolvierte ein Erweiterungsstudium in Philosophie für das Lehramt an Gymnasien. Seit 1983 unterrichtet er als Gymnasiallehrer in Neustadt bei Coburg. Zusätzlich ist er seit zwölf Jahren nebenamtlich als Lehrbeauftragter für Politik, Zeitgeschichte, Soziologie und Pädagogik an mehreren Hochschulen tätig. Buchveröffentlichungen u.a.: »Konkurrenz und Gleichgewicht als Fundamente der Gesellschaft« (1986), »Die Kreativität der Langsamkeit« (1996).
Dank
Viele haben an diesem Buch mitgewirkt, die meisten, ohne es zu wissen: Menschen, die mich während meines bisherigen Lebens immer wieder gehetzt haben. Sie haben in mir das tiefe Bedürfnis nach Entschleunigung geweckt. Menschen, die mir immer wieder gezeigt haben, dass man sich dagegen auch wehren kann. Sie haben mich zur »Eile mit Weile« ermutigt. Menschen, die mit mir über viele Jahre hinweg die Wandlungen des Kapitalismus diskutiert haben. Sie haben mich in meiner Überzeugung bestärkt, dass auch nach seinem angeblichen Endsieg 1989/1990 die Suche nach einer besseren Form des Lebens und Wirtschaftens weitergehen muss. Und schließlich Menschen, die sich konkret als Testleser dieses Buches zur Verfügung gestellt und den Rohentwurf einer schonungslosen inhaltlichen und stilistischen Kritik unterzogen haben. Von ihnen habe ich unendlich viel gelernt - von Tim Daugs, Thorsten Droigk, Ines und Andreas Förster, Ilse Fuckner, Franz Garnreiter, Benita Lippold, Hellmut Müller, Ulrich Neumann, Gerhilde Reheis und Gerhard Riemann. Ihnen allen sowie auch meinem äußerst konstruktiven Lektor Gerhard Juckoff ein herzliches Dankeschön!
GOTT SCHUF DIE ZEIT. VON EILE HAT ER NICHTS GESAGT.
Über dem Eingang einer Tiroler Almhütte
Einleitung »Die Kirche rät: Mehr Zeit für Sex«
»Die Kirche rät: Mehr Zeit für Sex. Das Erzbischöfliche Ordinariat in München hat an alle Ehepartner appelliert, sich vom weit verbreiteten Termindruck zu befreien und so mehr Zeit auch für Sexualität zu finden. In einer Gesellschaft, in der häufig schon Kinder Terminkalender benutzen, müssten die Menschen ein ›neues Zeitgefühl‹ entwickeln, das mehr Gelegenheit biete für ›Kommunikation und Streitkultur, für Religion und Spiritualität, aber auch für mehr Intimität und Sexualität‹, heißt es in der Mitteilung der Pressestelle.«1
Leider keine Zeit
Eine bemerkenswerte Zeitungsmeldung aus der Süddeutschen Zeitung vom 13. 1. 2000. Bemerkenswert nicht nur, weil es die katholische Kirche ist, die zu mehr Sex aufruft. Bisher war die Kirche eher als lustfeindliche Institution bekannt. Bemerkenswert nicht nur die Begründung: Es geht der Kirche offenbar nicht, wie zu erwarten gewesen wäre, um die Zeugung neuer Gotteskinder. Motiv des geistlichen Ratschlags ist vielmehr die Sorge um das Familienleben und die eheliche Partnerschaft. Sex wird also endlich als menschliches Bedürfnis ernst genommen. Damit reiht sich die kirchliche Autorität ein in die Reihe jener medizinischen Autoritäten, die seit langem daran erinnern, wie gesund Sexualität für den Menschen ist.2
Bemerkenswert ist diese Pressemitteilung des Erzbischofs vor allem aus einem anderen Grund: Dass Sex meist Spaß macht, entspannend und gesund ist und vermutlich sogar unser Leben verlängert, liegt ja bekanntlich an der physischen und psychischen Grundausstattung des Menschen, die er während seiner unvorstellbar langen Entwicklungsgeschichte erworben hat. Dass wir heute zur Nutzung dieser segensreichen Mitgift extra aufgefordert werden müssen, zeigt, wie zweifelhaft die Art von Fortschritt offenbar ist, der sich unsere Gesellschaft verschrieben hat. Diese Gesellschaft, die sich selbst gern als »modern«, »hoch entwickelt« und »aufgeklärt« bezeichnet, folgt nämlich einem recht merkwürdigen Programm. Das Programm treibt uns im Laufe unseres Lebens dazu an, dass wir auf unserer Suche nach Wohlbefinden und Glück eine Unmenge von Energie und Zeit fürs Geldverdienen und Geldausgeben aufwenden. Und dieses Programm hat uns im Laufe der Menschheitsgeschichte einen gigantischen technischen Fortschritt und, damit einhergehend, ungeheure Möglichkeiten und Zeitgewinne beschert. Aber dieses Programm sorgt offenbar zugleich dafür, dass wir uns diese Gewinne immer wieder abjagen lassen. Ein Programm also, das dafür verantwortlich ist, dass uns am Ende der rastlosen Suche nach kostspieligen äußeren Genussquellen nicht einmal mehr Zeit bleibt für die Nutzung jener Quelle, die Gott oder die Evolution in unser Inneres gratis eingebaut hat.
Doch zurück zur erzbischöflichen Pressemitteilung. Auch für »Kommunikation und Streitkultur, für Religion und Spiritualität« sollten wir uns mehr Zeit nehmen. In der Tat: Wie oft heißt es: »Leider keine Zeit.« Das Wort »Zeit« ist eines der am häufigsten gebrauchten Wörter der deutschen Sprache und der Satz vom Keine-Zeit-Haben vermutlich einer der beliebtesten Sätze. Mag dieser Satz manchmal auch als Ausrede dienen, allzu oft ist er ehrlich gemeint. Außer für die Sexualität fehlt uns Zeit für die Familie, für Verwandte und Freunde, fürs Lesen, für den Sport, fürs Verreisen, für die Beschäftigung mit uns selbst - auch für die Frage nach dem Woher und Wohin, nach dem Sinn des Lebens. Allzu oft geht uns bei all dem täglichen Getue und Gehetze das, was uns eigentlich lieb und teuer ist, verloren.
In unserem Umgang mit Zeit zeigt sich ein eigenartiger Widerspruch: Zwar sind wir unablässig bemüht Zeit einzusparen. Wir rüsten uns mit einem gigantischen Arsenal Zeit sparender Maschinen aus. Wir kochen mit Schnellkochtöpfen, fahren mit Hochleistungslimousinen, kommunizieren mit Handys und Internet, produzieren auf Roboterstraßen usw. Wir streichen Pausen und schaffen das Warten ab, wo immer der Fluss der Nonstop-Aktivitäten behindert werden könnte. Wir arbeiten rund um die Uhr, rund um die Woche, rund um das Jahr. Wir konsumieren, was das Zeug hält, verlängern die Ladenöffnungszeiten, verkürzen die Sperrstunden und locken bereits im Herbst mit Schoko-Nikoläusen und im Winter mit Schoko-Osterhasen. Wir ernähren uns im Winter von eingeflogenen Sommerfrüchten. Viele machen im Sommer Winterurlaub und im Winter Sommerurlaub. Wir tun längst mehrere Dinge gleichzeitig, wir entwickeln uns zum »Simultanten«, wie der Münchner Zeitforscher Karlheinz A. Geißler diesen Sozialcharakter treffend nennt.3 Wir essen während des Fernsehens, wir telefonieren während des Autofahrens, wir erholen uns beim Einkaufen im Erlebniskaufhaus, und manche kaufen und verkaufen angeblich ihre Aktien während des Mittagessens. Aber bei all dem Bemühen um Schnelligkeit, Pausenlosigkeit und Gleichzeitigkeit ist immer irgendwie unklar, wo die eingesparte Zeit eigentlich bleibt. Wann werde ich den Zeitdruck wirklich los? Wann verschwindet die Uhr aus meinem Hinterkopf? Wann bin ich endlich ganz bei mir? Wächst nicht mit dem Bemühen um effiziente Kontrolle und Nutzung der Zeit oft sogar der Berg nicht erledigter Aufgaben und nicht ausgeführter Pläne? Vermehrt sich beim Kampf gegen die zerrinnende Zeit nicht manchmal sogar der Stress?
Die Beschleunigungskrankheit
Schlimmer noch: Beim genaueren Hinsehen zeigt sich, dass unser Umgang mit Zeit noch viel weiter reichende Folgen hat. Aus der Physik des Alltags wissen wir, dass Beschleunigungsphasen nicht nur mit einem besonders hohen Energieaufwand einhergehen, sondern dass mit dem Tempo eines bewegten Körpers auch dessen Steuerung schwieriger wird. So kann eigentlich nicht verwundern, dass die Beschleunigung mit einer fatalen Zwangsläufigkeit immer wieder Rückschläge produziert: Beschleunigungsfallen. 4 Wer zu schnell fährt, der landet schnell im Graben. Wer sich nicht Zeit zum Nachdenken nimmt, der macht schnell einen Fehler. Und wer Raubbau an seinem Körper und seiner Seele treibt und rücksichtslos mit seiner sozialen und natürlichen Umwelt umgeht, der kann eines Tages eine saftige Rechnung präsentiert bekommen. Beschleunigungsfallen werfen uns hinter jenen Punkt zurück, von dem aus wir ursprünglich schneller werden wollten. Das Jagen und Hetzen von Menschen, Tieren, Pflanzen und die Missachtung ökologischer Kreisläufe führen nicht selten zur Erschöpfung und - wie zu zeigen sein wird - am Ende zum Ausbruch enormer Zerstörungspotenziale mit oft tödlichen Konsequenzen. Dass wir alledem nicht hilflos ausgeliefert sind, das ist die eigentliche Botschaft dieses Buches. Und weiter: Wenn wir dem Jagen und Hetzen gemeinsam Einhalt gebieten und uns im Leben mehr Zeit lassen, geht es uns allen besser. Nicht Verzicht ist also angesagt, sondern wir sollten mit dem Verzichten endlich aufhören.
Thema des Buches ist die fatale Beschleunigung unseres Lebens und ihr heilsames Gegenstück: die Entschleunigung. Im 1. Kapitel sehen wir uns das Leben im Hamsterrad an, also die Symptome der Beschleunigung samt der zerstörerischen Spuren, die sie hinterlässt. Im 2. Kapitel wagt das Buch eine Prognose, indem es die Alarmsignale der Hetzjagd ernst nimmt und aufzeigt, was geschieht, wenn nichts geschieht, wenn alles also so weitergeht wie bisher. Daraufhin wird im 3. Kapitel geprüft, welche Fluchtwege dem Einzelnen offen stehen und in welche Sackgassen er dabei immer wieder geraten kann, aufgrund jener Spielregeln, die gerne als »Sach«-Zwänge bezeichnet werden.
Angesichts dieser ziemlich ausweglos erscheinenden Situation stellt das 4. Kapitel die Frage nach dem eigentlichen Motor der Beschleunigung. Und siehe da: Es sind nicht die viel beschworenen »Sach«-Zwänge, sondern die vom Menschen selbst geschaffenen Zwänge der herrschenden Wirtschaftsordnung. Ich nenne diese Wirtschaftsordnung »Turbokapitalismus« und stelle seine Funktionsweise im 5. Kapitel dar. Er ist es, der das Hamsterrad letztlich antreibt. Deshalb kann nur der Mensch selbst diese Zwänge wieder aus der Welt schaffen. Im 6. Kapitel frage ich ganz grundlegend, welches Tempo uns eigentlich besser täte. Das Buch sucht nach Maßstäben für einen angemessenen Umgang mit Zeit.
Im Anschluss an Symptomatik (inklusive Prognostik) und Diagnose (inklusive Ätiologie, also Entstehungsgeschichte) der Beschleunigungskrankheit stelle ich verschiedene therapeutische Ansätze zur grundlegenden Entschleunigung unserer Lebens- und Wirtschaftsweise vor. Im 7. Kapitel soll gezeigt werden, dass mit etwas wirtschaftlicher Fantasie überraschend viele Alternativen zum Turbokapitalismus erkennbar werden. Im 8. Kapitel berichte ich von Entschleunigungsinitiativen, die heute schon existieren, das Hamsterrad bremsen und Sand in sein Getriebe streuen können. Dies kann insbesondere dann erfolgreich sein, wenn diese Initiativen miteinander verknüpft werden. Solche Verknüpfungen vervielfachen die menschliche Energie, sie wirken also »synergetisch«. Im 9. Kapitel will das Buch dem Leser schließlich einen Vorgeschmack davon vermitteln, wie durch einen angemesseneren Umgang mit Zeit ein lustvolleres Leben möglich wird. Hier lüftet das Buch sein Geheimnis: Was genau ist es, das wir gewinnen können, wenn wir aufhören, die Arbeitshetze durch die Konsumhetze heilen zu wollen?
Das Buch will freilich nur die breite Palette von bisher verschütteten Möglichkeiten vor dem Leser ausbreiten. Ihm selbst bleibt es dann überlassen, daraus jenes Konzept zu basteln, das zu seiner persönlichen Situation am besten passt.
»Beschleunigungskrankheit« ist eine Metapher. Sie vergleicht den Zustand einer Gesellschaft mit dem eines Lebewesens. Das Wort »krank« bezeichnet seit dem Mittelalter einen Zustand der Schwäche. Heute wissen wir, dass eine solche Schwäche auf das gestörte Zusammenwirken einzelner Organe zurückzuführen ist. Diese Störung beeinträchtigt die Lebensqualität, erzeugt Leiden und macht Heilungsanstrengungen erforderlich. Mein Buch soll zeigen, dass auch in der gegenwärtigen Gesellschaft das Zusammenwirken der einzelnen Elemente - der Arbeit und der Kommunikation, der Werte und der Normen, der Technologien und der Institutionen - gestört ist. Wie im Falle der Krankheit eines Lebewesens, so stellt sich auch bei der Krankheit einer Gesellschaft die Frage nach der richtigen Therapie: Wie kann der Patient zur Einsicht in seinen wahren Zustand gelangen? Kann sich der Patient selbst heilen, oder benötigt er Hilfe? Welche Instanz hat genügend Abstand zur Erkrankung und ist kompetent genug, Hilfe zu leisten? Reicht eine punktuelle Hilfe aus, die sich auf ein Organ bzw. einen bestimmten gesellschaftlichen und kulturellen Bereich beschränkt, oder muss das gesamte körperlich-psychische System bzw. das gesamte Zusammenspiel von Wirtschaft, Gesellschaft, Politik etc. auf den Prüfstand und in die Therapie einbezogen werden? Die Krankheitsmetapher eröffnet also interessante Perspektiven in der Debatte um die Be- und Entschleunigung unseres Lebens.5 Sie veranschaulicht vor allem, dass sich die Kritik am Turbokapitalismus nicht in abstrakte System- und Wertediskussionen verstricken muss, sondern dass es eigentlich um etwas ganz Einfaches und Sinnliches geht: das Wohlbefinden, das Wohlfühlen, das Genießen und die Lust des Menschen.
Entschleunigung
Das Wort »Entschleunigung« ist eine sprachliche Neuschöpfung mit beachtlicher Ausbreitungsgeschwindigkeit. Von Entschleunigung war zum ersten Mal Anfang der 90er-Jahre in wissenschaftlichen Fachpublikationen der Evangelischen Akademie Tutzing6 und des Wuppertal-Instituts für Klima, Umwelt, Energie7 zu lesen. Einen Konjunkturschub erhielt der Begriff Ende der 90er-Jahre durch das viel beachtete Buch Die beschleunigte Gesellschaft mit dem Untertitel »Kulturkämpfe im digitalen Kapitalismus«.8 Darin sieht der Kommunikationswissenschaftler und SPD-Vordenker Peter Glotz einen Kulturkampf zwischen modernen Beschleunigern und antimodernen Entschleunigern heraufziehen. Dieser Kulturkampf ist bisher ausgeblieben. Im Gegenteil: Die Entschleunigungsbotschaft ist hoffähig geworden und begegnet uns in Feuilletons, Managementseminaren, Talkshows und als Blickfang in Katalogen für besonders bequeme Polstermöbel. Und natürlich auch im Internet, wo die Suchmaschine Google im Sommer 2003 über 3000 Fundstellen für das Suchwort »Entschleunigung« registriert hat. Selbst das Magazin der Deutschen Bahn AG, das in Hochgeschwindigkeitszügen ausliegt, preist die »Kunst der Entschleunigung« - bei Tempo 250.9
Was auch immer unter »Entschleunigung« verstanden werden mag: Es muss in Bezug auf den Titel dieses Buches ein mögliches Missverständnis von vornherein ausgeräumt werden: Genauso wenig wie Beschleunigung und Schnelligkeit Werte an sich sind, sind Entschleunigung und Langsamkeit von sich aus schon erstrebenswert. Der Notarzt muss schnell am Unfallort sein, aber der, der ihn braucht, weil er vorher mit seinem Auto an den Baum geknallt ist, wäre besser langsamer gefahren. Es geht also um angemessene Geschwindigkeiten und Veränderungen, und zwar in einem sehr umfassenden Sinn: im Umgang mit uns selbst, mit unseren Mitmenschen und mit der uns umgebenden Natur. Und dabei zeigt sich, dass unsere Wirtschaftsund Lebensweise in vielerlei Hinsicht zu schnell und zu atemlos geworden ist. Deshalb wird Entschleunigung als letztlich globales und langfristiges Projekt unverzichtbar - das wir freilich schnellstens (!) auf die Tagesordnung setzen sollten.10
Teil I
DIE BESCHLEUNIGUNGSKRANKHEIT Symptome und Prognosen
Kapitel 1
Im Hamsterrad Nur nicht aus dem Tritt kommen!
»Manchmal glaube ich, mein Mann ist mit seinem Beruf verheiratet.« Das hört die Hamburger Paartherapeutin Angelika Kempfert öfters. Und sie spürt, dass viele Frauen den Beruf des Partners als »ihren persönlichen Feind« ansehen.1 In der Tat: Der Zeitdieb Nummer eins ist vermutlich die Arbeit, und sexuelle sowie andere Probleme in der Partnerschaft hängen in vielen Fällen mit Arbeitsstress zusammen. Wer vom Büro erschöpft nach Hause kommt und auch nach Feierabend und am Wochenende nicht richtig abschalten kann, der tut sich natürlich auch schwer mit dem Genuss der eigenen Sinnlichkeit, erst recht mit der Öffnung für seine Mitmenschen. Auf die Arbeitswelt werden wir in der Schule vorbereitet. Sie ist auch der Ort, an dem wir zum ersten Mal im Leben mit systematischer Zeitknappheit konfrontiert werden. Deshalb beginnt in diesem Kapitel unser Blick in das Innere des Hamsterrades bei der »Schullaufbahn«, wandert dann in die Arbeits- und Konsumwelt, in die Führungsetagen von Wirtschaft und Staat. Gefragt wird schließlich, wie unsere individuelle Lebensgeschichte und sogar die Formung unserer Persönlichkeit unmerklich vom Zeitdruck geprägt werden.
Lernen im Laufschritt
»Die meisten Lehrer erklären etwas und stellen schon die Frage, ob man das verstanden hat. Man hat oft noch gar nicht alles mitgeschrieben und soll schon die Frage beantworten. Es geht alles viel zu schnell. Man hat keine Zeit, sich zu überlegen, ob man das verstanden hat.« So äußert sich eine Schülerin im österreichischen Klagenfurt in einem Interview über ihre Erfahrungen mit Zeitdruck in der Schule. Und eine andere Schülerin präzisiert: »Man hat … zwölf Gegenstände, die sind wie zwölf parallele Einbahnstraßen angeordnet. Jeder fährt in seiner Geschwindigkeit dahin, und als Schüler bist du dem völlig ausgeliefert. Du musst jede Stunde auf eine andere Straße wechseln, sitzt jede Stunde in einem anderen Auto mit den gleichen Passagieren, nur mit einem anderen Chauffeur.«2
Der Lehrer und Erziehungswissenschaftler Bruno Posod, der die Aussagen von insgesamt 1400 Schülerinnen und Schülern, Lehrkräften und Eltern ausgewertet hat, kommt zu einem vernichtenden Urteil: 45 Prozent der 14- bis 19-Jährigen verspüren »oft« oder sogar »immer« Zeitnot im Zusammenhang mit schulischer Arbeit. 70 Prozent gaben an, auf ihre individuellen Zeitbedürfnisse werde in der Schule nur »manchmal«, »selten« oder »nie« Rücksicht genommen. Und 95 Prozent berichteten, dass sie in der Schule nur »manchmal«, »selten« oder sogar »nie« lernen, auf ihre Gefühle zu achten bzw. diese auszudrücken.3
Zu viel Stoff und zu wenig Zeit - darin waren sich fast alle befragten Schüler, die meisten Eltern und auch viele Lehrer einig. Natürlich gab es auch Kinder und Jugendliche, denen es zu langsam geht, die sich unterfordert fühlen. Und bisweilen bestimmt bekanntlich auch Langeweile den Schulalltag. Aber das kann ebenfalls belastend sein, weil die Kinder spüren, dass ihre Bedürfnisse in der Schule nicht wirklich ernst genommen werden. Insgesamt jedoch überwog die Erfahrung des Zeitdrucks in den Berichten. Erziehung zur Schnelligkeit scheint eine der zentralen Wirkungen, vielleicht sogar das zentrale Ziel von Schule zu sein. Im Übrigen zeigt die regelmäßige Erfahrung von Grundschullehrern, dass auch manche Eltern schon wenige Wochen nach der Einschulung ängstlich darüber wachen, dass ihr Sprössling gegenüber anderen Kindern in Parallelklassen oder Nachbarschulen nur ja nicht in Verzug gerät - in der Befürchtung, damit bereits am Anfang der Schullaufbahn in der Konkurrenz um Lebenschancen benachteiligt zu werden. Posod sieht in der einseitigen Schnelligkeitsorientierung eine Gefahr, weil dadurch die Fähigkeit zum genauen Wahrnehmen, zum Nachdenken über das Wahrgenommene, zur intensiven Durchdringung, zum Überprüfen und Bewerten des Gelernten zu kurz kommt. Dies mag Schülern, Eltern und Lehrern zwar nicht bewusst werden, ist aber dennoch charakteristisch dafür, was die Schullaufbahn den Kindern zumutet und vorenthält.
Das Lernen im Laufschritt hat weitere Konsequenzen, die über die von Posod beklagte vernachlässigte Sinnesschulung und Verstandesschärfung hinausgehen. Der Zeitdruck lässt oft nicht einmal zu, das Gelernte zu wiederholen, zu üben oder gar anzuwenden. So bleibt den Kindern das verdiente Erfolgserlebnis, welches Lernprozesse abschließen sollte und zu neuem Lernen motivieren kann, verwehrt. Nicht selten werden Wiederholung, Übung und Anwendung an Eltern und Nachhilfelehrer delegiert. Zeitdruck verhindert ferner, dass Themen von mehreren Seiten aus beleuchtet werden, wodurch sie oft erst wirklich interessant werden. Zeitdruck ist regelmäßig dafür verantwortlich, dass aufkeimendes Interesse an bestimmten Themen nicht weiter berücksichtigt und damit sofort wieder erstickt wird. Eltern und Lehrer wundern sich dann, wenn Schüler von Schuljahr zu Schuljahr immer passiver und uninteressierter werden. Der Zeitdruck ist dafür verantwortlich, dass, wie die zweite der zitierten Schülerinnen treffend bemerkt, die Lernenden mit der Aufgabe, aus den einzelnen Fächern und Unterrichtsinhalten ein Gesamtbild der Welt zu konstruieren, weitgehend allein gelassen werden. Natürlich bleibt unter solchen Bedingungen keine Zeit, um Kinder und Jugendliche an der Auswahl der Themen und Methoden ihres Unterrichts zu beteiligen. Und auch für selbstständiges Arbeiten und die Arbeit in Gruppen fehlt meist die Zeit. Hinterher beschweren sich dann Arbeitgeber und Hochschullehrer darüber, dass Schulabgänger den Anforderungen von Arbeitswelt und Universität nicht genügen.
Dem Zeitdruck ist es auch zuzuschreiben, dass die Körper der Kinder in der Schule Schaden erleiden. Denn das Diktat des Tempos beginnt dort, wo der natürliche Bewegungsdrang der Kinder gebrochen wird, wo man Kinder und Jugendliche fünf, sechs, bisweilen acht oder zehn Schulstunden auf harte Stühle zwängt, sie zum Stillschweigen verdammt und natürliche Widerstandsreaktionen als Unterrichtsstörungen bestraft. Das alles nur, um den Kindern schneller etwas eintrichtern zu können. Hier kann nicht nur die natürliche Neugierde der Kinder, die sich oft im Bewegungsdrang ausdrückt, irreversibel geschädigt werden. Hier wird auch die Grundlage für die spätere Volkskrankheit Nummer eins, die chronischen Rückenschmerzen, nicht selten mit Bandscheibenvorfällen einhergehend, gelegt. Wenn Kinder, wie von Posod diagnostiziert, ihre Gefühle quasi an der Schultüre abgeben müssen, so dürfte dies für die Einstellung der Kinder zum Lernen, zur Bildung, zu kulturellen Werten insgesamt nicht besonders förderlich sein. Sie gewöhnen sich daran, auch ohne innere Beteiligung einfach zu funktionieren. So wird die Schule zu jenem Ort, an dem junge Menschen vor allem lernen, sich anzupassen, eine Rolle perfekt zu spielen, sich von sich selbst zu entfremden. Das, was eigentlich für sie im Leben wichtig ist, findet woanders statt. Längst haben wir die ursprüngliche Bedeutung des Wortes »Schule« vergessen: »Schule«, abgeleitet vom lateinischen scola, stand einst für die Mußestunden im Kloster, also in jener Institution, die im Mittelalter für Bildung und Erziehung zuständig war.
Gehetztes Arbeiten
»Ich hab ja nicht nur die Lastwagen zu entladen oder zu beladen, sondern auch die ganze Lagerhaltung der Fabrik zu überwachen. Da sollte man drei Hände haben. Das Schlimmste ist ja: Die Arbeit ist eingeteilt, jetzt kommt ein anderer und sagt, diese Ware da, dann muss ich wieder alles ändern. Abschalten kann man da nicht.«4
Mit diesen Worten erinnert sich der Lagerverwalter D. ein Jahr nach seinem Herzinfarkt an seine damalige Arbeitssituation. Hier findet sich fast alles, was Arbeitsmediziner über das gehetzte Arbeiten, auf welches das Lernen im Laufschritt vorbereitet, unzählige Male festgestellt haben: Herr D. sah sich einem ständigen Zeitdruck ausgesetzt, er hatte wenig Kontrolle über seine einzelnen Arbeitshandlungen, in seinen Arbeitsablauf wurde ständig von außen eingegriffen, er konnte viele Arbeitsgänge nicht zu Ende bringen, und er fand keine Ruhepausen. »Bitte nicht hetzen! Wir sind hier auf der Arbeit und nicht auf der Flucht.« Diese Aufforderung an Kunden, Kollegen und Chefs, die manche Pinnwand neben dem Arbeitsplatz ziert, bringt genau diese Erfahrung zum Ausdruck.
Dass die Belastungen am Arbeitsplatz in den letzten Jahren enorm zugenommen haben, erfahren die meisten von uns tagtäglich am eigenen Leib. Eine Vergleichsstudie zur modernen Bürokommunikationstechnik in Europa und in den USA hat zum Beispiel ergeben, dass das viel gepriesene digital vernetzte Büro eher als »nervtötende Belästigungsmaschinerie« empfunden wird. Geklagt wird vor allem über die ständigen Unterbrechungen des Arbeitsflusses durch Anrufe, Telefaxe und E-Mails. In Großbritannien müssen Büroangestellte durchschnittlich 171 E-Mails pro Tag bearbeiten, in den USA sind es sogar 200.5 Und wenn eine technische Neuerung als angebliche Erleichterung auf den Markt kommt, zeigt sich in der Regel zweierlei: Zunächst entstehen Mehrbelastungen durch Einarbeitung und Ausmerzung von Kinderkrankheiten, sobald es aber läuft, kommen für den Arbeitnehmer neue Aufgaben dazu, die sich meist ohne die neuen technischen Möglichkeiten gar nicht gestellt hätten.
Die Münchner Sozialwissenschaftlerin Tatjana Fuchs hat die wichtigsten empirischen Untersuchungen der letzten Jahre gesichtet und fasst die Entwicklung der Arbeitsbedingungen und -belastungen in Deutschland in ihrer Studie Arbeit und menschliche Würde6 zusammen. Fuchs zufolge ist die vielfach wiederholte Behauptung, die körperliche Belastung am Arbeitsplatz habe abgenommen, falsch. Vielmehr hat sich in den 90er-Jahren der Anteil derjenigen Arbeitnehmer, die durch Lärm, das Heben und Tragen schwerer Lasten und durch körperliche Zwangshaltungen7 belastet waren, sogar erhöht. In erster Linie aber haben die psychischen Belastungen zugenommen, die freilich mit den körperlichen eng verknüpft sind. Diese Belastungen stehen in engem Zusammenhang mit der Arbeitsorganisation, der Arbeitszeit, der Arbeitsaufgabe und den sozialen Beziehungen bei der Arbeit. Besonders jene psychischen Belastungen, die aus starkem Zeit- oder Termindruck, hohem und fremd bestimmtem Arbeitstempo, ungünstigen Arbeitszeiten und unsicheren Beschäftigungsverhältnissen resultieren, sind dramatisch angestiegen. 1999 fühlten sich 43 Prozent der Beschäftigten dadurch besonders belastet und gestresst, dass sie viele Arbeiten gleichzeitig machen mussten. Und 50 Prozent der Arbeitnehmer litten unter ständigem Termin- und Leistungsdruck. 8
Manche haben so viel zu tun, unten das Wasser aufzuwischen, dass sie gar nicht dazu kommen, oben den Hahn zuzudrehen.
Gravierend wirkten sich, so Fuchs weiter, betriebliche Veränderungen, wie zum Beispiel die Auslagerungen von Unternehmensteilen, die Umstrukturierung von Betrieben und der Abbau von Personal, auf das Wohlbefinden am Arbeitsplatz aus. Von Personalabbau waren allein zwischen 1997 und 1999 rund 30 Prozent der Beschäftigten betroffen. Dort, wo verstärkt freie Mitarbeiter oder Aushilfen eingesetzt wurden, kam es bei den übrigen Beschäftigten zu mehr Stress und Arbeitsdruck. Bei Umstrukturierungen und Auslagerungen schnellte der Anteil der Arbeitnehmer, die selbst unter einer zunehmenden Stressbelastung litten, auf rund 65 Prozent in die Höhe.9 Fast ein Drittel der im Unternehmen verbliebenen Arbeitnehmer klagten über Existenzängste und Angst vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes.10 Diese Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen zeigt sich in ungünstigeren Arbeitszeiten wie Schicht- und Wochenendarbeit oder in ständiger Überstundenbereitschaft. Die Verschlechterung bezahlen die Betroffenen mit vermehrter Nervosität, Magenschmerzen, Schlafstörungen, psychischer Erschöpfung - und sicherlich auch mit den eingangs angesprochenen Störungen im Sexualleben und in der Partnerschaft. Die höchste körperliche und psychische Gesundheitsbelastung betrifft aber jene Arbeitnehmer, die befristet oder gar nur über Zeitverträge beschäftigt sind, die sich am Arbeitsplatz also quasi in einer Dauerprüfungssituation befinden.11 Arbeitnehmer mit Zeitverträgen haben, so Fuchs, das Heer der Arbeitslosen in Deutschland, Ost- und Südeuropa und im Rest der Welt, die vor der Tür stehen und ungeduldig auf Einlass warten, beständig im Nacken.
All dies, so das Resümee der Studie, erzeugt in unserer Arbeitswelt ein allgemeines Klima der Angst, vor allem auch deshalb, weil jeder weiß, dass er nach einer Phase der Arbeitslosigkeit meist nur unter schlechteren Bedingungen wieder Arbeit finden kann und somit ein womöglich dauerhafter sozialer Abstieg droht. Das Fazit der Studie: »Erstmals in der Geschichte der Industrialisierung bewirbt sich die jüngste Generation der Erwerbstätigen auf Arbeitsplätze, die schlechtere Rahmenbedingungen aufweisen als die Arbeitsbedingungen ihrer Eltern. Das ist ein dramatischer Umbruch.«12 Wir brauchen, so Fuchs abschließend, neben einer offensiven Personalvertretungs- und Gewerkschaftspolitik vor allem eine breite gesellschaftspolitische Diskussion über Zeit, und zwar nicht nur über Arbeitszeit, sondern über die Frage, wie wir in unserer Gesellschaft mit der Lebenszeit der Menschen insgesamt in Zukunft umgehen wollen.13
Ruheloses Konsumieren
»Ich kaufe nur Markenklamotten. Erstens gefallen mir die Sachen einfach am besten und zweitens: Alle tragen das … Klar gibt es da so etwas wie Gruppenzwang. Nur, das zuzugeben fällt eben nicht allen leicht … Man erkennt schon, ob ein Pulli teuer oder billig war … Vor allem bei Jungs achte ich darauf, ob die auch gut angezogen sind.«14
So viel zum Thema »Markenklamotten« von einer 14-jährigen Schülerin aus Coburg. Nach Auskunft der Kids-Verbraucher-Analyse 2000 ist der Besitz von Markenartikeln für 67 Prozent der befragten Sechs- bis 17-Jährigen ein »Muss«. Auch Jeans und Rucksäcke müssen ein Markenlogo tragen.15 Wehe den Eltern, die da nicht mithalten können! 100 Euro für eine Hose, das sei die »Schmerzgrenze«, meint die 14-Jährige. Eltern, die sich dem Markenzwang mit Argumenten widersetzen, stoßen schnell an ihre Grenzen. »Lewis« und »Fubo«, »Adidas« und »Nike« - das ist einfach »cool«. Schließlich geht es um soziale Anerkennung unter Gleichaltrigen, und für dieses Grundbedürfnis scheint kein Preis zu hoch. Außerdem: Wie halten es denn die Erwachsenen mit ihren Statussymbolen und Ästhetisierungsstrategien, zum Beispiel bei Autos, Reisen oder Schönheitsoperationen? Ärgerlich ist es für Kinder, Jugendliche und Erwachsene nur, wenn das soeben als »letzter Schrei« für teures Geld erstandene Modell kurz darauf durch ein noch neueres abgelöst wird. Dann schrumpft der Besitzerstolz recht schnell, und der Besitzer begibt sich alsbald erneut auf die Suche.
Dass nicht nur Lernen und Arbeiten vom Diktat der Geschwindigkeit beherrscht werden, sondern auch die Freizeit und der in ihr stattfindende Konsum, ist seit langem bekannt. Viele kennen das aus eigener Erfahrung: Nach besonders anstrengenden oder frustrierenden Arbeitstagen geht es noch schnell in die Boutique oder in den Medienmarkt und das ganze Jahr wird auf die Pauschalreise ans Mittelmeer oder in die Karibik hin geplant und gelebt.
Die ausgeprägteste Form des ruhelosen Konsumierens ist die Kaufsucht. Eine bereits Anfang der 90er-Jahre veröffentlichte Studie der Universität Stuttgart-Hohenheim hat ergeben, dass Kaufsüchtige aus einem unwiderstehlichen inneren Drang anfallsweise im Abstand von mehreren Tagen bis zu zwei Wochen einkaufen. Dabei kommt es ihnen nicht auf das erworbene Gut, sondern auf die Gefühle beim Kaufen selbst an. Sobald sie aber einen Gegenstand haben, so berichten die Kaufsüchtigen, verwandelt sich das positive in ein negatives Gefühl.16 Die innere Unruhe des Kaufsüchtigen, der Zwang zur Dosissteigerung und der zunehmende Kontrollverlust - diese Symptome des Suchtverhaltens sind schon lange nicht mehr auf Randgruppen der Gesellschaft beschränkt. Die Sucht charakterisiert mittlerweile das Zentrum der Gesellschaft. Der »Junkie« gibt ein ideales generelles Konsummodell ab, weil er willenlos und deshalb in seinem Konsumverhalten hochgradig berechenbar ist. Süchtig zu sein ist in der Erlebnis-, Spaß- und Konsumkultur kein Makel mehr. Der Satz »Ich bin süchtig!« wird in Werbespots mittlerweile in einem ganz und gar positiven Sinn mit Eissorten, Handys oder dem Börsenspiel am Neuen Markt usw. in Verbindung gebracht.17 Der Konsumjunkie strebt nicht nur nach Selbstinszenierung, sondern auch nach Selbstfindung. An der Supermarktkasse werde die individuelle Biografie gebastelt und veredelt, schreibt Johannes Goebel in seinem Aufsatz Völker, leert die Regale!18.
Die westlichen Industriegesellschaften leiden an der »Affluenza« (so auch der Buchtitel), an einer Überflusskrankheit, meint der amerikanische Kulturkritiker John de Graaf: eine »schmerzhafte, ansteckende, über soziale Beziehungen weitergegebene Krankheit, deren Symptome in einem Überangebot an Konsumgütern, Schulden, Angstzuständen und einer Unmenge Abfall bestehen. Diese Symptome resultieren aus dem konzentrierten Streben nach mehr und immer mehr.«19 Das hat de Graaf zufolge Konsequenzen für unseren Umgang mit Zeit. Diese werde uns nämlich laufend durch die vielen Dinge um uns herum gestohlen, und zwar gleich mehrfach: Wir müssen die Dinge aussuchen und kaufen, nutzen, reparieren, entsorgen - und im Vorfeld müssen die meisten von uns erst für die nötige Kaufkraft sorgen - durch Aufwendung von Arbeitszeit.
Freizeitindustrie, Kulturindustrie und Werbeindustrie sind die Dealer und Produzenten des Stoffes, aus dem die Konsumgesellschaft gemacht ist. Dort wird mit großer Energie und Logistik an der Vermarktung und damit Enteignung unserer Lebenszeit gearbeitet. Besonders erfolgreich sind dabei all jene, die sich um die Ausbreitung des Medienkonsums bemühen. Das ist eine nicht gerade einfache Aufgabe, nachdem bereits über 30 Kabel-TV-Kanäle, über 300 Satellitenprogramme, zig Millionen Internetadressen mit Milliarden Internetseiten in fast jedem Haushalt zur Verfügung stehen. Begrenzt wird die weitere Ausdehnung der relativ billigen Mediennutzung weniger durch das Einkommen der Konsumenten als durch ihre Zeit. Erwachsene verbringen bereits sieben Stunden täglich mit audiovisuellen Medien, Tendenz steigend, meist freilich als Begleitunterhaltung neben anderen Aktivitäten.
Dass es bei Jugendlichen zwischen 14 und 19 Jahren »nur« sechs Stunden sind, ist aus der Sicht der Marktstrategen ein noch ungenutztes Potenzial. Die große Schwierigkeit bei der Einführung einer neuen Medientechnologie, so Internetmanager Stefan Weiler, bestehe darin, dass Kinder und Jugendliche einen relativ reglementierten Tagesablauf haben20: Schule, Mittagessen, Hausaufgaben.
Für die Nutzung von Handys zum Beispiel bleiben nur mehr die kleinen Zeitnischen des Tages: die Zeit an der Haltestelle und im Bus, in der Pause, in Freistunden, im Schwimmbad. Da mit Telefonieren und Verschicken von SMS-Nachrichten wenig Geld zu verdienen sei, komme alles darauf an, die 10- bis 17-Jährigen durch zusätzliche Angebote an sich zu binden: durch Musik, Horoskope, Fußballübertragungen und vor allem durch einprogrammierte oder aus dem Internet herunterladbare Spiele. »Unsere Zielgruppe sind die heute 10- bis 12-Jährigen«, bekannte im Jahr 2001 Kai-Uwe Ricke, damals Chef der zur Deutschen Telekom gehörenden T-Mobil.21 Schließlich müssen u. a. die 100 Milliarden Mark, die die Wirtschaft für den Erwerb der UMTS-Funklizenzen bereits im Jahr 2000 ausgegeben hatte, möglichst bald hereingespielt sein. Ob die Mobilfunker mit ihren Diensten am Ende erfolgreich sind oder ihre Finanzpläne scheitern, wird ganz entscheidend davon abhängen, wie viel freie Zeit sich der Verbraucher wegnehmen lässt.
In die Schlagzeilen gerät regelmäßig eine besonders zeitraubende Sorte von Konsum, bei der es fast nur auf Schnelligkeit ankommt: Computerspiele mit Gewaltdarstellungen. Drei Trends kennzeichnen die Dynamik in diesem Konsumsektor: Virtuelle Computerwelten und mediale Film- und TV-Welten werden immer mehr integriert, die Interaktionen zwischen den Spielern ausgeweitet und das Spielerlebnis intensiviert. Letzteres geschieht zunehmend auch mithilfe von raffinierten »Schnittstellen« zwischen Mensch und Maschine wie Datensichthelmen und Datenhandschuhen.22 In diesen immer realistischer gestalteten virtuellen Welten, in denen sich Kinder und Jugendliche manchmal länger als in der realen Welt aufzuhalten scheinen, dreht sich fast alles nur ums Kämpfen: Mann gegen Mann, Bande gegen Bande, Bande gegen Polizei, Staat gegen Staat, Gut gegen Böse. Relativ unabhängig davon, mit wie viel Blut die Spieler für ihre Treffer belohnt werden, besteht über die Wirkung solcher Spiele unter Medienpädagogen weitgehend Einigkeit. Der Journalist Rainer Fromm fasst in seinem Buch Digital spielen - real morden? den derzeitigen Kenntnisstand so zusammen: Jahrelanger Konsum führe mit großer Wahrscheinlichkeit zur Gewöhnung an Gewalt als etwas Alltäglichem, zur Desensibilisierung gegenüber Opfern von Gewalt und zur Förderung eines schlichten Schwarz-Weiß-Bildes von der Welt als Nährboden extremistischer Haltungen. Als besonders gefährdet gelten dabei genau jene Jugendlichen, die auch im realen Leben, in Familie, Schule und auf der Straße, ständig Gewalterfahrungen machen müssen und Schwierigkeiten haben, sich soziale Anerkennung auf anderen Wegen zu beschaffen.23 Hier ticken nach Auffassung vieler Experten menschliche und soziale Zeitbomben.
Werbung als Turbolader
Damit der Kreislauf der Konsumsucht richtig in Schwung kommt, ist es neben der Bereitstellung des Stoffes erforderlich, die entsprechenden Bedürfnisse zu wecken. Der Journalist Jost Kaiser bezeichnet die Werbetreibenden treffend als »Turbolader« der Konsumgesellschaft.24 Werbung bewirkt durch psychischen Druck eine Erhöhung der Konsumneigung der Menschen und damit ihrer ökonomischen Verwertbarkeit, so, wie Turbolader durch Erhöhung des Luftdrucks bei der Verbrennung von Treibstoff die Motorleistung erhöhen.
Zur Erzeugung dieses psychischen Drucks lässt sich der moderne Mensch einiges einfallen. Die bestbezahlten Psychologen arbeiten nicht im Erziehungs- und Gesundheitswesen, sondern kämpfen im Bereich von Marketing und Werbung um die Aufmerksamkeit der Konsumenten, die dafür enorme finanzielle Mittel aufbringen, ohne freilich eine andere Wahl zu haben. Ulrich Eicke hat in seinem Buch Die Werbelawine errechnet, dass die Deutschen bereits Ende der 80er-Jahre mehr Geld für Werbung als für Schulbildung ausgaben.25 Seitdem ist die Produktion von Werbung deutlich schneller als die allgemeine volkswirtschaftliche Produktion gewachsen. Weltweit haben sich die Werbeausgaben zwischen 1950 und 1996 versiebenfacht und erreichten im Jahr 2001 die stolze Summe von 494 Milliarden Dollar.26 Mit diesen Geldern werden u. a. jene Millionen-Gagen bezahlt, die Leute wie Boris Becker, Verona Feldbusch oder Catherine Zeta-Jones für ihre Tätigkeit als Werbeträger erhalten. Dabei geht es um astronomische Beträge. Letztere soll zum Beispiel mit Rücksicht auf ihren Mann Michael Douglas auf 30 Millionen Dollar verzichtet haben, die ihr ein amerikanischer Wäschehersteller für ein paar Fotos in Unterwäsche geboten hatte.27
Die Arbeit in der Werbebranche ist nicht nur ausgesprochen lukrativ. Keine andere Branche dürfte sich in den letzten Jahrzehnten auch als derart kreativ und dynamisch bei der Produktion von wirklicher Massenkultur erwiesen haben. Im Durchschnitt werden die Konsumenten täglich mit 1500 Werbebotschaften bombardiert, wobei sie nur rund zehn Prozent bewusst wahrnehmen und nur rund ein Prozent auch wirklich wirksam wird.28 Wie also soll da die eigene Botschaft landen können? Wenn sich zudem die Produkte kaum mehr voneinander unterscheiden, können nicht Produkteigenschaften im Zentrum von Werbebotschaften stehen, sondern es müssen Erlebniswelten um das Produkt herum aufgebaut werden. Diese Landschaften sollen dem Konsumenten schmeicheln, ihn quasi »veredeln«.
Die Jagd nach Aufmerksamkeit ist gleichzeitig ein Experimentierfeld, auf dem getestet wird, wie weit man moralisch gehen
Verlagsgruppe Random House
Das FSC-zertifizierte Papier München Super für Taschenbücher aus dem Goldmann Verlag liefert Mochenwangen Papier.
1. Auflage Taschenbuchausgabe Juli 2006 Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright © der Originalausgabe 2003 by
Riemann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Redaktion: Gerhard Juckhoff KF · Herstellung: Str.
eISBN : 978-3-641-01125-3
www.goldmann-verlag.de
Leseprobe
www.randomhouse.de