FRITZ REHEIS
DIE RESONANZ-STRATEGIE
Warum wir Nachhaltigkeit neu denken müssen
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© 2019 oekom verlag MünchenGesellschaft für ökologische Kommunikation mbHWaltherstraße 29, 80337 München
Umschlaggestaltung: BÜRO JORGE SCHMIDT, MünchenKorrektorat: Maike Specht, BerlinLektorat: Manuel Schneider, oekom verlag; Katharina Spangler, Berlin
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-96238-554-5
Inhalt
VORWORT»Schneller, höher, weiter! – Aber wohin?«
EINLEITUNGHöllenfahrt der Moderne
Kontrollverlust, organisierte Unverantwortlichkeit, Doppelmoral
Nachhaltigkeit als Verschiebebahnhof
Die Zeitdimension der Nachhaltigkeit
Was den Leser erwartet
KAPITEL 1Zeit und Resonanz
Die Zeit als roter Faden
Zeit und Veränderung
Lineare Zeit und Evolution, zyklische Zeit und Ökologie
Chaos und Ordnung
Kreislauf und Rhythmus
Die Wiederkehr des Gleichen
Rhythmische Abweichungen und die Wiederkehr des Ähnlichen
Systemzeit und Eigenzeit
Schwingung und Resonanz
Alles schwingt
Zeitbaum und Äste
Vielfalt, Gemächlichkeit und die Kreativität des Fehlers
Geschichtete Resonanz
Fazit
KAPITEL 2Umwelt und Regenerativität
Die Sonne
Schöpferische Kraft
Hardware und Software
Von der Chronobiologie zur künstlichen Intelligenz
Stoff-Wechsel
Technik und Vorsorge
Mensch und Arbeit I
Nachhaltige Forstwirtschaft
Quellen und Senken
Der Reproduktionsring
Praktische Resonanz I: Regenerativität
Hundertprozentig solar
Verstreuung reduzieren
Reparatur, Produktlebensdauer, Recycling
Von der Wiege zur Wiege
Kultivierung der Natur
Natur als Resonanzraum erfahren
Fazit
KAPITEL 3Mitwelt und Reziprozität
Das Zwischenmenschliche
Evolutionärer Ursprung
Sprache und Verständigung
Beziehung und Moral
Austausch und Stabilität
Mensch und Arbeit II
Große Transformation und europäische Arroganz
Rituale und Solidarität
Das Prinzip der Wechselseitigkeit
Praktische Resonanz II: Reziprozität
Rechte der Menschen ernst nehmen
Verstehen und Verstandenwerden
Lebendige Demokratie
Atmende Demokratie
Kultivierung der Gesellschaft
Gesellschaft und Politik als Resonanzraum erfahren
Fazit
KAPITEL 4Innenwelt und Reflexivität
Der Lebenslauf
Verlängerung, Beschleunigung, Flexibilisierung
Reifung und Beziehung
Gesundheit und Prävention
Krankheit und Therapie
Körper, Seele, Geist
Mensch und Arbeit III
Zivilisatorisches Minimum
Bedürfnis und Befriedigung
Handlung und Zielsetzung
Subjektivität und Leiblichkeit
Eingreifen und Begreifen
Praktische Resonanz III: Reflexivität
Genießen
Anerkennung als Wechselprozess
Identität und Willensfreiheit
Kultivierung des Alltags
Das Ich als Resonanzraum erfahren89
Fazit
KAPITEL 5Vom Geldwohlstand zum Zeitwohlstand
Moderne und Marktwirtschaft
Moderne und Aufklärung
Menschenwürde und Menschenrechte
Formale und materiale Seite der Rechte
Aufstieg und Niedergang der Marktwirtschaft
Pervertierung der Aufklärungsideale
Rücksichtslosigkeit gegenüber Zusammenhängen
Wie Märkte Hass säen
Geld, Kapital und Zeit
Geprägte Freiheit?
Geldwiderspruch und kapitalistische Verwertungslogik
Irreführung der Freiheit des Handelns
Exkurs: Finanzialisierung der Gesellschaft
Irreführung des Bewusstseins
Metaphern der Zwischenmenschlichkeit
Symphonie des Lebens, Lärm des Geldes
Und wem gehört eigentlich die Erde?
Zeit ist Geld? – Die Korrektur eines Irrwegs
Aufgabe, Leitlinien, Ressourcen
Strategie I: Zeitbewusster Lebensstil
Strategie II: Zeitbewusste Politik
Exkurs: Bedingungsloses Grundeinkommen und Umverteilung von Zeit
Strategie III: Zeitbewusste Wirtschaft
Zeitwohlstand und Bildung
Fazit
SCHLUSSRevolutionäre Pause – ein Vorschlag
Anmerkungen
Dank
Über den Autor
Vorwort
»Schneller, höher, weiter! – Aber wohin?«
»Schneller, höher, weiter!« Das ist das Mantra unseres Fortschritts. Immer schneller produzieren, transportieren und kommunizieren wir. Immer höher wachsen Berge von Gütern, Müll und Daten, wachsen Vermögen und Schulden. Immer weiter greifen wir in die Welt ein, die äußere und die innere. Wir steigern fast alles, was uns irgendwie in die Finger kommt. Wir gehorchen dem Steigerungsprinzip.
»Aber wohin?« Die Zweifel am Ziel unserer Anstrengungen lassen sich längst nicht mehr verdrängen. Die Welt sei aus den Fugen geraten, heißt es. Gefragt wird, was sie eigentlich noch zusammenhalte. Unbehagen, Besorgnis, Angst, aber auch Zorn, Wut und Hass greifen um sich. Die Gefühle variieren zwar je nach Betroffenheit und Nachrichtenlage, aber der Bedarf nach Orientierung wächst überall. Wie wollen wir leben? Wie leben wir tatsächlich? Und woher kommt die Diskrepanz?
Das Steigerungsprinzip mutet olympisch an. Wo es regiert, wird Genügsamkeit zum Fremdwort. Sein Ausbleiben, jeder Stillstand gilt als Alarmzeichen, als Vorbote einer Krise. Die Steigerung scheint zu beruhigen und für Sicherheit zu sorgen. Soziologen wie Hartmut Rosa sprechen von »dynamischer Stabilisierung«.1 Aber man muss nicht an die Rolle von Doping und Ökonomisierung im Sport erinnern, um die Kehrseite des Steigerungszwangs zu erkennen. Es gibt immer auch Grenzen, bei deren Überschreitung die Stabilität verloren geht.
Nehmen wir die Steigerung der Geschwindigkeit. Da bekanntlich mit der Höhe der Geschwindigkeit im Straßenverkehr auch die Unfallrisiken zunehmen, liegt die Idee nahe, einfach die Geschwindigkeit zu reduzieren und somit der generellen Beschleunigung die generelle Entschleunigung entgegenzusetzen. Das wäre ein grobes Missverständnis, mit dem ich, teils als Reaktion auf meine Bücher zum Thema »Entschleunigung«2, immer wieder konfrontiert worden bin. Der Notarzt muss schnell am Unfallort sein. Aber der, der ihn braucht, war vermutlich zu schnell. Deshalb hat es ihn aus der Kurve getragen. So wenig wie Schnelligkeit kann also auch Langsamkeit ein Wert an sich sein. Die Beseitigung des Hungers, der soziale Ausgleich, Abrüstung, Energiewende – all das muss schneller vorankommen. Dennoch sind wir in vielerlei Hinsicht zu schnell und vor allem atemlos. Seit ich auf der Welt bin, hat sich die Zahl der Menschen auf der Erde verdreifacht, die Summe aller jährlich produzierten Waren und Dienstleistungen sogar versiebenfacht. Mehr noch: Wir sind die erste Menschheitsgeneration, die einen vollen Überblick über die mit unserer Lebens- und Wirtschaftsweise verbundenen Risiken hat, und gleichzeitig vielleicht die letzte, die sie abwehren kann.3
Dass diese Risiken mit unserem Tempo zusammenhängen, habe ich Mitte der 1990er-Jahre in einer Bilanz der Destruktivität der Schnelligkeit zu belegen versucht.4 Dort habe ich aus besorgniserregenden Zukunftsprognosen zitiert. Heute, fast ein Vierteljahrhundert später, hat sich gezeigt, dass nahezu alles genau so gekommen ist – nur schneller. Flächenversiegelung und Klimawandel, Insekten- und Vogelsterben, Zwangsmigration und Terrorangst, Letztere jetzt auch auf den Inseln des Wohlstands und des Friedens. Die verheerenden Folgen der Beschleunigung sind heute im Wesentlichen klar: Nicht nur »nach uns«, auch »neben uns die Sintflut«.5 Was jedoch fehlt, ist eine überzeugende Alternative. Meine bisher eher rudimentären Überlegungen möchte ich hier fortführen, präzisieren und systematisieren. Wann ist eine Geschwindigkeit – aber auch eine Höhe, eine Weite – angepasst? Es geht um die Grenzen der Steigerung. Oder etwas antiquiert formuliert: um das rechte Maß.
Auch hier ist der Verkehr ein gutes Beispiel. Jede Geschwindigkeit muss an Straße und Witterung, an technische Eigenschaften des Fahrzeugs, an die Menge des verfügbaren Treibstoffs, an das Können des Fahrers und natürlich – siehe Notarzt – immer auch an den Zweck der Fahrt angepasst sein. Generell ist etwas angepasst, wenn es zur Gesamtheit der Voraussetzungen passt, auf denen es beruht.
Die Voraussetzungen des Verkehrs haben viel mit Zeit zu tun. Das beginnt schon beim zeitaufwendigen Bau einer Straße und der Festlegung des Straßenverlaufs, die der Einsparung von Reise- und Transportzeit dienen sollen. Es geht weiter mit der Zeit, die der Fahrer zur Reaktion auf die plötzlich auftauchende Kurve und das Fahrzeug zum Abbremsen der Geschwindigkeit benötigt. Und die Zeit spielt schließlich im oben genannten Beispiel eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, dass der Arzt rechtzeitig beim Unfallopfer eintrifft.
Dieses Buch will zeigen, dass die Zeitdimension auf der Suche nach verlässlicher Orientierung und brauchbaren Maßstäben ganz grundsätzlich weiterhelfen kann. Bekanntlich benötigt fast alles, was wir tun, seine Zeit, und Ungeduld ist selten zielführend. Eine Geschichte aus China erzählt von einem Bauern, der so lange an den Keimlingen einer Pflanze zupfte, um ihnen beim Wachsen zu helfen, bis sie welk wurden und abstarben. Und ein deutsches Sprichwort sagt, dass die Sau vom ständigen Wiegen nicht fetter wird. Der Mensch muss sich bei dem, was er tut, trotz aller Ungeduld immer auch an die zeitlichen Gegebenheiten anpassen, die seinem Tun vorgegeben sind. Dieses Buch fragt deshalb ganz grundsätzlich nach Eigenzeiten und nach den Bedingungen, unter denen sie zusammenpassen: nach der »Synchronisation« von Handlungen, Vorgängen und Gegebenheiten.
Nun ist aber allgemein bekannt, dass das Bemühen um Synchronisation in vielen Bereichen nicht zwangsläufig zu dem führt, was beabsichtigt ist. Naheliegendes Beispiel ist die zwischenmenschliche Kommunikation. Wir wissen im Voraus oft nicht, ob Bilder, Sätze oder Ideen wirklich beim Gegenüber ankommen, auf welche Anspielung etwa das Publikum im Kabarett reagiert, welcher Film ein Flop wird und welcher Millionen von Menschen bewegt. Kurz: Wir wissen nicht, wann sich »Resonanz« einstellt. Resonanz, ursprünglich ein Begriff aus Physik und Musik, spielt aber nicht nur dort und im Zusammenhang mit der zwischenmenschlichen Kommunikation eine Rolle. Der Mensch ist, so der Soziologe Hartmut Rosa, als soziales Wesen ganz grundsätzlich auf Resonanz angewiesen, darauf also, dass ihm die soziale Mitwelt nicht als taub und stumm begegnet, sondern dass sie antwortet, dass sie als etwas Lebendiges erfahren wird.6
Man kann das Phänomen der Resonanz jedoch noch wesentlich weiter fassen. Anknüpfend an die bisher wenig bekannte »Allgemeine Resonanztheorie« des Molekularbiologen Friedrich Cramer7 möchte ich zeigen, dass der Resonanzbegriff außer auf Soziales auch auf all jene Beziehungen gewinnbringend angewendet werden kann, die der Mensch zum einen mit der äußeren Natur, zum anderen mit sich selbst eingeht. Aus einer resonanztheoretischen Perspektive ist Resonanz ein Prinzip, das die soziale Mitwelt genauso umfasst wie die natürliche Umwelt und die personale Innenwelt. Wo Kommunikation in ein wechselseitiges Anschreien mündet, wo das Klima verrückt spielt und wo sich innere Erschöpfung breitmacht, passen menschliche Anstrengungen und die durch sie erzeugten Konsequenzen jedenfalls nicht wirklich zusammen. In all diesen Bereichen gibt es keine Garantie, dass das passiert, was beabsichtigt ist, dass also die Synchronisation zum gewünschten Ergebnis führt. Ich kann mich noch so sehr um Klarheit bemühen und werde doch missverstanden. Ich kann die Pflanze noch so liebevoll behandeln, und sie gedeiht dennoch nicht. Ich kann mir selbst gegenüber noch so achtsam sein und werde dennoch nicht wirklich glücklich. Resonanz ist zwar das untrügliche Zeichen dafür, dass die Bemühungen um Synchronisation erfolgreich waren – aber sie kann eben auch ausbleiben.
Das Beispiel Musik illustriert, wozu Resonanz, wenn sie sich ereignet, fähig ist. Zwar ergreifen die Schallwellen der besten Musik nicht zwangsläufig jeden Menschen in jeder Situation in seinem Innersten. Wo die von ihr ausgehenden Schwingungen aber in einem Menschen wirklich ankommen, können sie ungeahnte geistige, emotionale und körperliche Kräfte entfesseln, Menschen sogar heilen. Und Musik hat die Fähigkeit, unter denen, die von ihren Schallwellen berührt werden, Gemeinschaft zu stiften und ganze Generationen zu prägen, wie etwa die Beatles und die Stones bewiesen haben. Der Resonanzbegriff ist nicht einfach eine poetische Metapher, sondern ein Instrument zur präzisen Analyse komplexer zeitlicher Sachverhalte und Entwicklungen, die mit dem Streben nach Synchronisation im Idealfall einhergehen können.
Die Analyse des Zusammenhangs von Zeit, Synchronisation und Resonanz ermöglicht – das ist der erste Teil der Botschaft dieses Buches –, besser zu verstehen, was mit dem Terminus »nachhaltige Entwicklung« gemeint ist.8 Im Wort »nachhaltig« ist ja die Zeitdimension bereits enthalten, über die Begriffe »Synchronisation« und »Resonanz« kann sie nun explizit gemacht werden. Resonanz als Mit-, Nach- und Zurückschwingen, so wird sich zeigen, verweist analytisch auf zugrunde liegende Schwingungen und diese wiederum auf Kreisbewegungen, die miteinander in Wechselwirkung stehen.
Der zweite Teil der Botschaft besteht aus Überlegungen zu praktischen Konsequenzen, die aus dieser Analyse abzuleiten sind. Wenn wir nämlich anerkennen, wie bedeutsam die fundamentalen Kreisläufe beziehungsweise Schwingungen sind, die sich gegenseitig anstoßen und verstärken können, liegt es nahe, daraus eine ebenso fundamentale praktische Konsequenz zu ziehen: Statt immerzu alles Mögliche zu steigern, könnten wir die Wiederkehr des Ähnlichen zum Leitbild erheben. Kreisläufe sind es nämlich, so wird sich zeigen, die die Welt im Innersten zusammenhalten, als Voraussetzung für jene kreativen Abweichungen, die für Fortschritt sorgen.
Unsere Praxis derart neu auszurichten erfordert allerdings einen radikalen Eingriff in unsere Wirtschaftsordnung. Die Formel »Zeit ist Geld«, an der wir uns seit wenigen Generationen orientieren, hat uns gewaltig in die Irre geführt. Der »Lärm des Geldes« ist längst dabei, die »Symphonie des Lebens« zu übertönen. Wir sollten die Formel »Zeit ist Geld« deshalb schrittweise, aber gründlich durch die Formel »Zeit ist Sein und Sein ist Zeit« (Cramer) ersetzen. Wir können dabei an jenen Erfolg anknüpfen, der dem Begriff »Entschleunigung« in den letzten beiden Jahrzehnten beschieden war. Er hat seinen Resonanztest jedenfalls schon bestanden.
Die hier vorgestellte Alternative ist konservativ und revolutionär zugleich: Sie fordert dazu auf zu bewahren, was uns wichtig ist, sowie umzustürzen, was uns Angst macht und auch moralisch nicht gerechtfertigt werden kann. Statt »schneller, höher, weiter« plädiert diese Alternative für ein völlig anderes Fortschrittsziel: »Genug, für jeden, für immer!«9 Ein wahrlich utopisches Ziel. Aber wenn die Realität immer perspektivloser wird, sind nur noch Utopien realistisch (Oskar Negt).10
EINLEITUNG
Höllenfahrt der Moderne
Die Stadt Dschagannath war in der indischen Mythologie das Zentrum der Verehrung des Hindugottes Krischna.1 Dort, so erzählt man sich, soll jeden Sommer ein 14 Meter hoher, hölzerner Wagen mit 16 Rädern und einem Bild Krischnas von Tausenden von Menschen rund einen Tag lang durch die Straßen gezogen worden sein. Er sei voll bepackt mit Menschen gewesen und habe im Laufe der Fahrt, besonders wenn es bergab ging, enorm an Tempo zugelegt, sodass es regelmäßig zu tödlichen Unfällen gekommen sei. Manche Gläubige sollen sich im Rausch dieses Festes sogar ganz bewusst vor den Wagen geworfen haben.
Für den englischen Soziologen Anthony Giddens ist die Geschichte vom Dschagannath-Wagen ein Sinnbild für das Wesen der Moderne, für die Risiken ihres Fortschrittsbegriffs.2 Auch die Moderne sei eine mit ungeheurer Energie angetriebene Riesenmaschine, die der Kontrolle des Menschen zu entgleiten drohe. Entscheidend sei, so Giddens, dass es bei all dieser Bewegungsenergie immer schwieriger werde zu klären, wer eigentlich dafür verantwortlich ist, wenn Menschen unter die Räder kommen (sozialer Aspekt) oder der ganze Wagen in den Abgrund rast (ökologischer Aspekt). Wenn sich heute der Eindruck verdichtet, die Welt sei aus den Fugen geraten, so lässt sich auch dieses Bild unschwer in die Geschichte von der »Höllenfahrt« integrieren: Man stelle sich nur vor, der hölzerne Wagen wird aus Altersschwäche wacklig und brüchig, seine Räder lösen sich von den Achsen, und der Wagen fällt schließlich auseinander. In der indischen Mythologie war es die Gottheit, der die Menschen geopfert wurden oder der sie sich selbst opferten. In der modernen Realität sind es die ständig beschworenen »Sach«zwänge, denen wir unterworfen sind oder denen wir uns selbst unterwerfen: allen voran der Zwang des Wirtschaftswachstums. Dabei handelt es sich in Wahrheit um einen Zwang, der vom Menschen – nicht von der Sache – ausgeht, also von einem Naturzwang klar abgegrenzt werden muss. Genau dieser menschengemachte Zwang des Wirtschaftswachstums ist es, dem wir das Mantra des »Schneller, höher, weiter« zu verdanken haben.
Kontrollverlust, organisierte Unverantwortlichkeit, Doppelmoral
Ein aktuelles Beispiel für diesen Wachstumszwang findet sich in der Frage, womit wir unsere Autos antreiben sollen. Lange Zeit hieß es, der Dieselmotor sei dem Benzinmotor vorzuziehen. Ein Argument war, dass bei der Verbrennung von Diesel weniger Kohlendioxid entstehe und Dieselmotoren deshalb das Klima nicht so stark belasten würden. Heute wissen wir, dass Dieselmotoren stattdessen solche Mengen an Stickoxiden in die Luft blasen, dass in vielen Großstädten an zahlreichen Kreuzungen und Straßen die Grenzwerte um ein Vielfaches überschritten werden und diese Motoren für Zehntausende von Todesfällen zumindest mitverantwortlich sind. Offensichtlich haben wir innerhalb einer zwanghaft wachsenden Wirtschaft nur die Wahl zwischen der Pest der Klimazerstörung und der Cholera der Atemwegserkrankungen. Die Forderung nach räumlich oder zeitlich begrenzten Fahrverboten stößt auf heftigsten Widerstand, der Entzug der Zulassung für Autos mit einem besonders hohen Schadstoffausstoß wird so lange wie möglich hinausgeschoben. Stattdessen machte ein schwäbischer Unternehmer ernsthaft den Vorschlag, spezielle Luftreinigungsanlagen zu bauen und an allen belasteten Orten aufzustellen,3 und die Verantwortlichen diskutieren lieber über die Entschärfung der Grenzwerte. Mittelfristig setzt man auf die Elektrifizierung der weltweiten Autoflotte, ohne zu wissen, woher all die Batterien, der Strom und vor allem die gigantische Menge an Metallen, die für diese Antriebstechnologie erforderlich sind, kommen sollen. Hauptsache, die Wirtschaft wächst weiter.
Wie der »Sach«zwang des Wirtschaftswachstums zum Kontrollverlust über unsere Art des Wirtschaftens und Lebens führt, zeigt sich besonders deutlich in den vielfältigen Rückkoppelungseffekten unseres Verhaltens. Solche Rückkoppelungen, die in der Sozialwissenschaft »Rebound-Effekte« genannt werden, gelten als Hauptproblem, wenn es darum geht, das Ziel der Energieeinsparung über eine Effizienzstrategie (meist als Steigerung der Energieeffizienz bei technischen Geräten) erreichen zu wollen. Wenn Licht und Verkehr weniger Energie kosten, wird eben das Lichtdesign großzügiger ausgelegt (mehr Lichtquellen, längere Beleuchtung) oder der motorisierte Individualverkehr attraktiver (mehr Autoverkehr, längere Strecken, höhere Geschwindigkeiten).
Rückkoppelungseffekte, die zum Kontrollverlust führen, begegnen uns im privaten Alltag genauso wie in der großen Politik. Im reichen Norden der Welt reagieren beispielsweise viele Menschen auf Belastungen am Arbeitsplatz nicht nur, indem sie ihre Gesundheit, ihre Familien und ihre sozialen Beziehungen vernachlässigen, sondern auch mit einem besonders aufwendigen, also kompensatorischen Konsumverhalten. »Work hard, play hard«,4 heißt dann die Devise. Solche Kompensationsstrategien bauen die Belastungen selten ab, sie vergrößern sie eher. Das gilt vor allem für den ökologischen Fußabdruck, den sie dabei hinterlassen. Im ärmeren Süden der Welt werden immer noch Kinder als Sozialversicherung gezeugt, was in aller Regel die Armut noch vergrößert.
Weitere Beispiele für Rückkoppelungen mit Kontrollverlust ließen sich fast beliebig aufzählen: Der Süden wie der Norden der Welt nimmt regelmäßig die Senkung des Grundwasserspiegels in Kauf, sobald die Wasservorräte knapp werden und das Wasser aus immer tieferen Schichten heraufgepumpt wird. Oder: Weltweit sehen sich Kommunen aufgrund des Mangels an bezahlbarem Wohnraum dazu gezwungen, neues Bauland auszuweisen und die Sozial- und Umweltstandards beim Bauen abzusenken. Rückkoppelungen, die uns die Kontrolle rauben, ergeben sich auch dort, wo Wohnungen und Gewerbegebiete auf die grüne Wiese gesetzt werden und die Verantwortlichen alsbald auch für entsprechende Straßen sorgen müssen, die wiederum Verkehr anziehen und weitere Straßen nötig machen. Um Rückkoppelungen handelt es sich auch, wenn ökonomische Entwicklungen nach dem sogenannten Matthäus-Prinzip voranschreiten: Wer hat, dem wird gegeben, wer nichts hat, dem wird auch der kleine Rest noch aus der Tasche gezogen. Dieses Prinzip findet sich in vertikaler wie horizontaler Hinsicht: Reiche und Mächtige werden reicher und mächtiger, Metropolen, ihre Speckgürtel, die Zentren der Weltwirtschaft wachsen, das Land, die Peripherien dümpeln vor sich hin, werden abgehängt und vergessen.
Das kann schnell gefährlich werden. Wo soziale Ungleichheit durch Wirtschaftswachstum bekämpft wird, nimmt man in Kauf, dass mit wachsendem materiellen Wohlstand weder die sozialen Unterschiede verschwinden noch Menschen dadurch wirklich dauerhaft zufriedener und Gesellschaften friedlicher werden. Nationalstaaten sind vielmehr darum bemüht, soziale Spannungen durch Steigerung des Wirtschaftswachstums auszugleichen, um so die im Wettbewerb zu kurz gekommenen Menschen ruhigzustellen, ohne dass den Gewinnern etwas weggenommen werden muss – immer auch mit entsprechenden Konsequenzen für den ökologischen Fußabdruck. Ein Aspekt dieses Fußabdrucks ist bekanntlich der Klimawandel, der positive Rückkoppelungen besonders anschaulich demonstriert, wenn wir etwa an die sich systematisch verstärkende Emission von Treibhausgasen denken, die mit dem Auftauen der Permafrostböden einhergeht. Und wo natürliche Ressourcen in Polizei, Militär, Rüstung und Krieg investiert werden, um die sozialen Konflikte auf einer enger werdenden Welt unter Kontrolle zu halten, kann es nicht verwundern, dass dies zur weiteren Verknappung genau dieser Ressourcen beiträgt. Genau dadurch entstehen aber neue Unsicherheiten, die wiederum verstärkte militärische Anstrengungen als unabwendbar erscheinen lassen (Krieg um Öl, Wasser, Metallvorkommen). All diese sogenannten positiven Rückkoppelungen haben natürlich nichts Positives an sich: In der Umgangssprache heißen sie treffend »Teufelskreise«. Sie sind besonders gefährlich, da sie immer wieder zu Kipppunkten führen, an denen der über längere Zeit zunehmende Kontrollverlust regelmäßig in eine Katastrophe mündet: wenn sich etwa der Deich doch als zu niedrig erweist oder aus den sich stetig verschärfenden Spannungen plötzlich ein Krieg wird.
Insgesamt bilden diese sich selbst verstärkenden Dynamiken die Fundamente für jenen Zustand, den der Soziologe Ulrich Beck treffend als »organisierte Unverantwortlichkeit« bezeichnet hat.5 Sie erschüttert nicht nur das Vertrauen in die Verantwortlichen, die immer weniger zu identifizieren sind, sondern erzeugen zudem Opfer, die gleich unter einer doppelten Ungerechtigkeit leiden: Die am wenigsten Schuldigen werden erstens am härtesten bestraft, und die so Bestraften haben zweitens auch die geringsten Mittel, sich gegen das, was ihnen zustößt, zur Wehr zu setzen. Der Klimawandel ist hierfür nur ein Beispiel unter vielen.
Wo Verantwortliche immer schwerer zu finden sind oder, als Getriebene und Ratlose, nicht ohne Grund selbst Mitleid auf sich ziehen, wird besonders gern an die Moral appelliert. Die konzentrierte Sorge um die Moralität der Menschen gilt vielen als Allheilmittel, als letzte Zuflucht auf der Suche nach Kontrolle. Daran knüpft sich die Hoffnung, dass durch eine in Familien, Schulen und Medien stattfindende Werteerziehung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen das Verhalten von Konsumenten und Produzenten, von Wählern und letztlich auch von gewählten Politikern so beeinflusst werden könnte, dass die prognostizierten Fehlentwicklungen und Katastrophen doch noch abzuwenden seien.
Im merkwürdigen Kontrast zu diesem Versuch der moralischen Aufrüstung steht allerdings die allgegenwärtige Doppelmoral vieler Verantwortlicher. Doppelmoral und Entleerung des Moralbegriffs zeigen sich derzeit in keinem Politikfeld so deutlich wie beim Thema Migration und Flucht. Sobald man zur Kenntnis nimmt, dass der Großteil der Fluchtursachen durch den globalen Norden selbst geschaffen worden ist – durch perspektivlose Interventionskriege, durch Paktieren mit und Aufrüsten von zwielichtigen Bündnispartnern, durch jahrhundertelange Ausbeutung ganzer Erdteile und zuletzt durch systematische Destabilisierung des Weltklimas und andere Formen der Zerstörung von Lebensgrundlagen –, verliert die herrschende Migrations- und Asylpolitik jede Glaubwürdigkeit. Der globale Norden verhält sich wie ein Hausbesitzer, der, nachdem er sich im Garten seines Nachbarn reichlich bedient und dessen Gemüsebeete und Beerensträucher ziemlich verwüstet hinterlassen hat, den Zaun um sein eigenes Anwesen zu einer unüberwindlichen Hürde ausbaut und dem Nachbarn, wenn er anklopft und um Hilfe bittet, nur unter strengsten Auflagen (restriktive Kriterien im Asyl- und Einwanderungsrecht) die Tür öffnet.6
Nachhaltigkeit als Verschiebebahnhof
Wo die Kontrolle über unsere Wirtschafts- und Lebensweise verloren geht und versucht wird, die organisierte Unverantwortlichkeit moralisch oder ethisch zu rechtfertigen, handelt es sich im Grunde um eine systematische Hin-und-her-Schieberei der Lasten und der Verantwortung. Bezogen auf ökologische Probleme: Waren es früher höhere Schornsteine, die den Dreck einfach besser verteilen sollten, oder kanalisierte Flüsse, die Hochwasser und Überschwemmungen nach sich zogen, so ist es heute ebendas Hin- und Herschieben zwischen globalem Klimawandel und lokaler Luftverschmutzung. Dieser Verschiebebahnhof lässt sich genauso innerhalb des sozialen Bereichs beobachten. Hier werden Versorgungsdefizite zwischen Kindern und Alten, Bildung und Gesundheit, Stadt und Land oder Integrationsaufgaben und Entwicklungshilfe hin- und hergeschoben. Und eine solche systematische Verschiebung von Lasten und Verantwortung findet schließlich auch vom Sozialen zum Ökologischen statt. Etwa wenn angesichts knapper werdender fossiler Treibstoffe großflächig Biotreibstoffe angebaut werden, dadurch die für die Nahrungsproduktion verfügbare Fläche schrumpft, sich die Ernährungslage für die Armen vor Ort verschlechtert und somit die Wahrscheinlichkeit sozialer Spannungen billigend in Kauf genommen wird. Dass die Ökologie dabei meist trotzdem keine große Rolle spielt, weil der massenhafte Anbau von Energiepflanzen mit dem für Monokulturen charakteristischen Einsatz von Chemie einhergeht, sei nebenbei angemerkt. Meist zieht die Ökologie den Kürzeren. Aus einem naheliegenden Grund: Ein großer Teil der Leidtragenden der ökologischen Belastungen ist, im Gegensatz zu den Opfern sozialer Belastungen, heute noch gar nicht geboren, kann sich also noch nicht zur Wehr setzen.
Dass genau diese Verschiebung von der sozialen zur ökologischen Problemdimension ein langfristiger historischer Trend ist, wird zum Beispiel durch den 2015 veröffentlichten Bericht der UN über den Stand der Umsetzung der Millenniumsziele belegt.7 Darin heißt es, dass in den vergangenen 15 Jahren zwar die Bekämpfung des Hungers und des Analphabetismus Fortschritte gemacht hat, aber auf der anderen Seite auch die Klimaveränderungen und die Zwangsmigration weltweit enorm zugenommen haben. Aus naheliegenden Gründen sagt die UN nichts zu der Frage, ob die sozialen Erfolge mit den ökologischen Misserfolgen ursächlich zusammenhängen. Aber der Verdacht liegt nahe, dass ein solcher Zusammenhang tatsächlich existiert, zumal die für die Zukunft zu erwartende Konfliktdynamik – Kampf um knapper werdende Ressourcen und Verschärfung der Klimaveränderung – wenig Anlass für Optimismus gibt. Vielmehr scheint es, wie die Politikwissenschaftlerin Birgit Mahnkopf vermutet, eine Art Junktim zwischen Wirtschaftswachstum und Naturzerstörung zu geben, einen »Produktivitätspakt«, der die politische Versöhnung der auf den Sozialstaat besonders angewiesenen, traditionell sozialdemokratisch ausgerichteten Arbeiterschaft mit der herrschenden Marktwirtschaft zum Ziel hat. Dieser »Produktivitätspakt« verspricht eine wenigstens zeitweilige »Lösung der sozialen Frage«, nimmt dafür aber die Zuspitzung der «ökologischen Frage« in Kauf.8
Unabhängig davon, wie der Zusammenhang von sozialen und ökologischen Entwicklungen im Detail beschaffen ist, wird als Allheilmittel seit geraumer Zeit die Orientierung am Leitbild der nachhaltigen Entwicklung gepriesen. Das Wort »Nachhaltigkeit« ist zunächst die Übersetzung des in internationalen Dokumenten verwendeten Begriffs »sustainability«, also Dauerhaftigkeit, Durchhaltbarkeit, Zukunftsfähigkeit oder auch Enkeltauglichkeit. Als grundlegend für die Theorie der nachhaltigen Entwicklung gilt neben der ökologischen und der sozialen auch die wirtschaftliche Dimension. Diese drei werden seit der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung von 1992 in Rio de Janeiro als Grundelemente der nachhaltigen Entwicklung bezeichnet.
Das Problem dabei ist, dass der Norden der Welt hauptsächlich an der Umwelt, der Süden hauptsächlich an der Entwicklung interessiert ist. Zur Veranschaulichung der nachhaltigen Entwicklung und dieser divergierenden Interessen hat man lange Zeit mit einem Drei-Säulen-Modell hantiert. Die ökologische, die soziale und die wirtschaftliche Säule sollen, so die intendierte Vorstellung, gleich stark ausgeprägt sein, damit sie das Dach – die nachhaltige Entwicklung – sicher tragen können. Drei gleich starke Säulen, das soll Balance und Stabilität signalisieren. Nur: Was bedeutet es für dieses Modell, wenn zutrifft, was oben behauptet wurde? Wenn also beim Versuch, die soziale Lage erträglicher zu machen, tatsächlich ständig Lasten vom Sozialen auf die Ökologie abgeschoben werden? Heißt das, dass die soziale Säule ständig Baumaterial verbraucht, das eigentlich für die ökologische Säule vorgesehen ist? Heißt das vielleicht sogar, dass man versucht, die Säulen durch Styroporverstärkung für die ökologische Säule gleichwertig erscheinen zu lassen, dass also auch den ökologischen Anliegen immer häufiger lediglich mit Symbolpolitik begegnet wird?
In dem oben zitierten Zwischenbericht zu den Millenniumszielen räumt die UN ein, dass die Staaten die Nachhaltigkeitsziele nur erreichen können, wenn die Ursachen der Nichtnachhaltigkeit geklärt und zudem Ökonomie, Soziales und Ökologisches als Einheit begriffen würden. Letzteres ist in der Tat der Kern des Problems. Nur: Wie kann dieses Problem gelöst werden? Eine Nachhaltigkeits- und Entwicklungspraxis, die Ökonomie, Soziales und Ökologie tatsächlich integriert, setzt eine Nachhaltigkeits- und Entwicklungstheorie voraus, die alle drei Säulen in ein und derselben Sprache thematisiert. Nur so kann die Substanz der Säulen offengelegt, können die Tragkräfte von Granit und Styropor aufeinander bezogen werden. Nur auf einer integrativen theoretischen Basis kann auch die praktische Basis der nachhaltigen Entwicklung solide ruhen.
Ein solcher radikalintegrativer Ansatz fehlt meines Wissens bisher. Zwar ist zur ökonomischen und politischen Instrumentalisierung des Nachhaltigkeitsbegriffs und auch zu Detailfragen jeder Säule eine kaum überschaubare Menge an Literatur erschienen.9 Was die theoretische – nicht die empirische, auf Operationalisierung zielende! – Integration der drei Säulen betrifft, ist der aktuelle Kenntnisstand jedoch nicht wesentlich über die Erkenntnisse hinausgekommen, die die vom Deutschen Bundestag beauftragte Enquete-Kommission »Schutz des Menschen und der Umwelt – Ziele und Rahmenbedingungen einer nachhaltigen zukunftsverträglichen Entwicklung« in ihrem Abschlussbericht zur nachhaltigen Entwicklung bereits 1998 veröffentlicht hat.
Dieser Enquete-Bericht listet für jede der drei Säulen eine überschaubare Reihe von »Nachhaltigkeitsregeln« auf. Im Anschluss daran formuliert der Bericht das Problem der Integration der drei Säulen ebenso klar wie trivial: Da zwischen den Dimensionen jede Menge Wechselwirkungen existierten, ist jeder Versuch der Optimierung innerhalb einer der Dimensionen so lange unzureichend, wie die Konsequenzen solcher Versuche auf die jeweils anderen Dimensionen nicht geklärt sind. »Die ökonomische, ökologische und soziale Dimension eines Problems sind schließlich lediglich unterschiedliche Blickwinkel auf ein und denselben Wirklichkeitsbereich.«10
Auf diese Erkenntnis folgen allerdings im Enquete-Bericht nur vage praktische Hinweise – so zum Beispiel, dass man sich bei der Umsetzung des Leitbilds auf das Vorsorgeprinzip besinnen und Risiken minimieren solle. Das Problem ist nur: Diese Regeln entspringen je unterschiedlichen Theoriesprachen, deren wechselseitige Kompatibilität völlig ungeklärt ist. Die Regeln zur ökonomischen Säule entstammen dem Mainstream der herrschenden Wirtschaftstheorie, die bekanntlich neoklassisch ausgerichtet ist. Die Regeln zur sozialen Säule sind in der Sprache des Verfassungsrechts, der Theorie des Sozialstaats und der sozialen Sicherungssysteme verfasst. Und die Regeln zur ökologischen Säule sprechen die Sprache der naturwissenschaftlichen Ökologie.11
Auch in den wissenschaftlichen Dokumenten zum Leitbild der nachhaltigen Entwicklung finden sich also keine überzeugenden Konzepte zu einer integrativen Durchdringung des Leitbilds. Diese Texte dokumentieren im Grunde nur, dass der den sozialen und politischen Alltag beherrschende Verschiebebahnhof sich auch in den Diskurs der Wissenschaften hinein verlängert hat.
Die Zeitdimension der Nachhaltigkeit
Die Rede von den drei Dimensionen der Nachhaltigkeit vermag also das Integrationsproblem nicht wirklich zu lösen. Übrig bleiben Einzelteile, von denen niemand weiß, ob sie zusammenpassen. Auf diesen fundamentalen Mangel wies das Kommissionsmitglied Jürgen Rochlitz in einem Sondervotum hin und entwarf deshalb ein »Magisches Viereck«: In ihm bildet die Ökologie die Basis, auf der einerseits das Soziale, andererseits Kultur und Bildung aufbauen, überwölbt von der Ökonomie als Dach.12 Dieses Modell zeigt zum einen die unterschiedliche Verortung und den divergenten Stellenwert von Ökologie und Ökonomie. Die Ökologie ist die Basis der Ökonomie, die Ökonomie ihr Überbau. Oder zeitlich abgegrenzt: Die Ökologie ist nichts anderes als eine Langzeitökonomie, die Ökonomie nichts anderes als eine Kurzzeitökologie. Rochlitz kommt es zudem darauf an, die zentrale Bedeutung des kulturellen Wandels und der darin verankerten Bedeutung von Bildung herauszustellen. Es geht Rochlitz darum, »Fortschritt« neu zu definieren. Dazu gehören der »behutsame« Umgang mit der Natur, der Umbau der »Durchlaufwirtschaft« in eine »Kreislaufwirtschaft«, die Ausbreitung einer »Mode des Langlebigen« und eines »Lebensstils der behutsamen Langsamkeit« – ein Prozess, der »eine lange Zeitspanne« benötigen wird, »wenn nicht die Natur uns zu einem schnelleren Vorgehen zwingt«.13
Diese Einbeziehung der Kultur in das Konzept einer nachhaltigen Entwicklung weist die Richtung: Wer von ihr spricht, darf über den Umgang mit Zeit nicht schweigen. Der Zusammenhang zwischen nachhaltiger Entwicklung und Zeit muss im Zentrum jeder fundierten Beschäftigung mit diesem Leitbild stehen. Denn allein schon der Begriff »nachhaltige Entwicklung« zwingt dazu, die Zeitlichkeit des menschlichen Lebens und Wirtschaftens in den Fokus zu stellen. Wie sonst könnte man erklären, was »nachhaltig« und was »Entwicklung« eigentlich bedeuten? Wenn Rochlitz von »Behutsamkeit«, »Achtsamkeit« und »Langsamkeit« spricht, thematisiert er genau diese Zeitdimension. Die nachfolgenden Überlegungen zielen darauf ab, die drei Dimensionen der Nachhaltigkeit von ihrem Bezug zur Zeitlichkeit her zu verstehen. Wenn das gelingt, so meine Überzeugung, ist eine wesentliche Voraussetzung dafür geschaffen, die Höllenfahrt der Moderne zu stoppen und die Dynamik in eine neue Richtung zu lenken. Natürlich handelt es sich dabei nur um eine theoretische Voraussetzung, der eine praktische Neuorientierung von Interessenlagen und Machtverhältnissen folgen muss. Solange viele von dieser Höllenfahrt ökonomisch derart profitieren, wie das heute der Fall ist, bleibt die Vorstellung von ihrem Ende jedenfalls eine bitter notwendige Utopie.
Die eigentlich naheliegende Idee, nachhaltige Entwicklung über ihre Zeitlichkeit zu präzisieren, verfolgte die bisherige Literatur zur nachhaltigen Entwicklung meines Wissens in keiner Weise weiter.14 Das verwundert umso mehr, als in den praktischen Bemühungen um die Umsetzung des Leitbildes – vom Mülltrennen über das ethisch anspruchsvolle Einkaufen bis zum Vergleich von Wahlprogrammen und zum zivilgesellschaftlichen und politischen Engagement für Umwelt- und Entwicklungsanliegen – Zeit eine zentrale Rolle spielt: meist als Ressource, die zu knapp bemessen ist, und als Horizont des Denkens und Handelns, der zu wenig weit in die Zukunft reicht. Positiv gewendet, stellt sich die Frage, welcher Umgang mit Zeit im Hinblick auf die ökologische, die ökonomische und die soziale Dimension von nachhaltiger Entwicklung angemessen ist.
Lösen wir uns von dem im Vorwort angesprochenen Beispiel des Autofahrers, der wegen seiner hohen Geschwindigkeit jetzt auf einen noch schnelleren Notarzt angewiesen ist, dann kommen wir zu zwei grundlegenden Fragen. Erstens: Welche vorgegebenen Zeiten sind zu respektieren, wenn wir in die Welt um uns und in uns selbst eingreifen? Und wie viel zeitlichen Spielraum haben wir, um das zu erreichen, was wir erreichen wollen? Das gilt für den geistigen Austausch (Kommunikation), die materielle Interaktion (Kooperation, Handel) mit anderen Menschen, das Zusammenspiel zwischen Mensch und Natur (die Versorgung von Pflanzen und Tieren mit Nahrung etc., die Behandlung der ökologischen Quellen und Senken unseres Wirtschaftens) und natürlich auch für den Umgang mit unserem eigenen Körper, unserer Seele, unserem Geist (Anstrengung und Entspannung, Nähe und Abstand zu anderen Menschen, Achtsamkeit und Nachdenken). Die Hypothese lautet: Es ist die Zeitdimension, die alles – also Ökologie, Ökonomie, Soziales und auch Kultur – miteinander vergleichbar macht. Durch die Zeitdimension kann, so die Hoffnung, der Verschiebebahnhof transparent werden, weil jede zeitliche Veränderung in einem Bereich im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf andere Bereiche untersucht und verglichen werden kann – ein Vergleich, der gegenwärtig hauptsächlich über das Geld erfolgt und uns offensichtlich in die Irre geführt hat und weiter in die Irre führt.
Was den Leser*) erwartet
Viele Sachbücher über das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung konzentrieren sich auf den Ernst der Lage, ohne eine Perspektive anzubieten, die aus ihr herausführen könnte. Durch ihren pessimistischen Grundtenor lassen solche Veröffentlichungen den Leser oft ratlos zurück. Andere Titel konzentrieren sich auf konkrete Rezepte: für das Verhalten des Einzelnen (meist in seiner Konsumentenrolle) oder auch für die Gestaltung der Verhältnisse durch die Politik (meist unter der Überschrift ökologisch-soziale Marktwirtschaft). Die kulturellen und sozialen Grundlagen dieser Rezepte analysieren sie aber selten und nehmen sie oft genug als naturgegeben hin.
Im vorliegenden Buch erwartet den Leser etwas Drittes: Ausgehend von wenigen Bemerkungen zum Ernst der gegenwärtigen Lage, die die Kapitel jeweils einleiten, fragt es nach den grundlegenden Bedingungen des menschlichen Lebens und Zusammenlebens. Der Mensch wird dabei als Geschöpf der Natur, der Kultur und Gesellschaft und seiner selbst begriffen. Diese Perspektive ist nicht identisch mit den drei Dimensionen des oben skizzierten Standardmodells der nachhaltigen Entwicklung. Sie ist vielmehr weiter gefasst, aber genau dadurch in der Lage, diese drei Dimensionen über die Zeitdimension zu integrieren. Aus diesen Bedingungen zieht das Buch Konsequenzen für die Neuausrichtung unseres Lebens und Zusammenlebens. Dabei werden das Verhalten und die Verhältnisse, die ihm vorausgesetzt sind, gleichermaßen beleuchtet, weil erst aus dem wechselseitigen Bezug beider Seiten eine zugleich realistische und optimistische Perspektive auf die Welt entstehen kann.
Im 1. Kapitel skizziere ich zentrale Aspekte der Zeitlichkeit der Welt und damit den theoretischen Hintergrund der Analyse. Dabei führe ich neben der Unterscheidung von zyklischer und linearer Zeit, von Kreisläufen, Rhythmen und Synchronisationsprozessen den Begriff der Resonanz grundlegend ein. Wie im Vorwort angekündigt, wird Resonanz als Mitschwingen begriffen, auf das wir hoffen, wenn wir zeitlich dimensionierte Veränderungen aneinander anzupassen versuchen, wenn wir uns also um Synchronisation bemühen. In den folgenden drei Kapiteln konkretisiere ich den Resonanzbegriff durch den Bezug auf Natur, Gesellschaft und Person. Dabei geht es um die Frage, welche Bedingungen jeweils existieren müssen, wenn Resonanzen erklingen sollen: im Umgang mit unserer natürlichen Umwelt (2. Kapitel), unserer sozialen Mitwelt (3. Kapitel) und uns selbst (4. Kapitel). Dabei schauen wir uns in einem ersten Schritt jeweils vor allem die linearen Entwicklungen als Verkörperungen des dynamischen Moments, in einem zweiten Schritt die zyklischen Veränderungen als Garanten der Stabilität näher an und fragen anschließend, welche praktischen Konsequenzen aus unseren Erkenntnissen folgen könnten und sollten. Im 5. Kapitel versuche ich zu erklären, auf welche soziokulturellen Ursachen die verstummten Resonanzen zurückzuführen sind und wie ein Weg zur Ermöglichung dauerhafter Resonanzen gefunden werden kann.15
Historisch knüpft diese Vision an jene Bestrebungen an, die im 19. Jahrhundert als Antwort auf die soziale Frage (Sozialismus) und ab den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts als Antwort auf die Umweltkrise (Ökologiebewegung) entstanden sind. Zudem ermöglicht diese Vision, die beiden Hauptströmungen der Kapitalismuskritik zu integrieren: die Kritik an Ungerechtigkeit und materieller Verelendung (in Europa hauptsächlich in Griechenland, Spanien, Frankreich und England zu hören) und die Kritik an Entfremdung und psychisch-geistiger Verelendung (in Europa hauptsächlich in Deutschland erhoben).16 Ordnet man die vorliegende kapitalismuskritische Vision in das vertraute Schema für politische Positionen ein, so kann sie als zugleich konservativ und revolutionär gelten, beides in einem radikalen Sinn – der sich von den geistigen Wurzeln dieser Strömungen her inspirieren lässt.
Vom Leser werden keine speziellen Kenntnisse, wohl aber wird die Bereitschaft verlangt, sich auf ein paar geistige Dehnübungen einzulassen. Wir können nämlich unsere persönliche und politische Nahwelt nicht wirklich verstehen, wenn wir den Blick nicht auch auf die räumliche und zeitliche Ferne lenken. Und das ist nicht immer ganz leicht. Das Buch überlässt es aber dem Leser, jenen Einstieg zu wählen, der seinen Interessen am meisten entspricht. Manche werden mit der Theorie beginnen, andere mit der Umwelt, der Mitwelt oder der Innenwelt. Die Ungeduldigen lesen zu diesen Kapiteln nur die Fazits und blättern gleich zum jeweils dritten Teil jedes Kapitels oder gar zum 5. Kapitel weiter, das die konkreten Vorschläge zur Korrektur des Irrwegs unterbreitet. Durch diese Offenheit für individuelle Einstiege hofft das Buch auf breite Resonanz.
*) Die männliche Sprachform (anstelle von Doppelungen, Sternchenkon¬struk¬tionen u. Ä.) ist hier und im Folgenden selbstverständlich nur der sprachlichen Vereinfachung, also der Verbesserung des Leseflusses, geschuldet
KAPITEL 1
Zeit und Resonanz
Das Fortschrittsmantra »Schneller, höher, weiter« und die fehlende Antwort auf die Frage nach dem »Wohin?« müssen nicht zwangsläufig in einer »Höllenfahrt« enden. Menschen können auf Gefühle wie Unbehagen, Besorgnis, Angst, Verzweiflung, auch Zorn, Wut und Hass unterschiedlich reagieren. Viele versuchen, sich in eine private Nische zurückzuziehen, nach dem Motto: Ich kümmere mich um meine Familie, mein Haus, meinen Garten und hoffe, dass trotz aller Beunruhigungen doch alles irgendwie gut wird. Dieses Buch macht ein anderes Angebot. Es beginnt zwar auch mit dem Zurücklehnen und Durchatmen, aber es nutzt die sich dabei einstellende Ruhe und Kraft für das gründliche Nachdenken. Statt die überall auf uns eindringenden wohlfeilen Parolen und Ideologien für bare Münze zu nehmen, können wir einen anderen Weg wählen. Wir können versuchen, uns erst einmal gründlich zu orientieren und auch zuzulassen, dass sich dabei neue Fragen auftun und neue Sichtweisen auf die Welt einstellen. Eine solche Neuorientierung im Denken ist die notwendige – wenn auch nicht hinreichende – Bedingung für eine Neuorientierung im Tun, für den Einzelnen wie für die Gesellschaft insgesamt.
Dieses Kapitel stellt den Einstieg und erste grundlegende Konturen einer solchen möglichen Neuorientierung vor, ehe diese Neuorientierung in den darauffolgenden Kapiteln konkretisiert wird. Da diese Konturen eher allgemein formuliert sind, dieses Kapitel also noch recht abstrakt ist, kann der ungeduldige Leser es auch überspringen. Er kann später immer noch zurückblättern, um den einen oder anderen abstrakten Begriff oder Zusammenhang nachzulesen.
Die Zeit als roter Faden
Wie verhalten wir uns eigentlich im Alltag, wenn wir die Orientierung verloren haben? Zum Beispiel in einer fremden Stadt, wenn wir nicht mehr zum Hotel zurückfinden und erkennen müssen, dass wir in den engen Gassen jegliches Gefühl für die Himmelsrichtungen verloren haben? Wir versuchen, uns einen Überblick zu verschaffen. Und weil selten ein hoher Turm mit Treppe oder Aufzug in der Nähe ist, greifen wir zum Stadtplan, heute meist auf dem Smartphone. Stadtpläne blenden Einzelheiten, die sich schnell wieder ändern können, wie beispielsweise parkende Autos, Baustellen und Tische von Straßencafés, aus. Stadtpläne konzentrieren sich auf das Wesentliche, das zugleich das Beständige ist: Straßenzüge mit Straßennamen, allgemein bekannte Sehenswürdigkeiten, öffentliche Gebäude etc. Stadtpläne simulieren die Vogelperspektive und helfen uns so, die Orientierung wiederzufinden.
Wer die Orientierung verloren hat, gleicht jemandem, der in einem Labyrinth herumirrt. Mit welchen im Prinzip einfachen Mitteln man sich aus einer solchen Gefangenschaft befreien kann, erzählt uns eine Geschichte aus der griechischen Mythologie: Ariadne, die Tochter des Königs Minos, hatte sich in Theseus, den ihr Vater in einem steinernen Labyrinth auf Kreta gefangen hielt, verliebt. Um Theseus die Flucht zu ermöglichen, steckte Ariadne ihm in einem unbewachten Moment ein Wollknäuel zu. Dieses ließ Theseus während der Suche nach einem Ausgang langsam abrollen, sodass der Weg, den er bereits gegangen war, eine Markierung erhielt. Das bewahrte ihn davor, im Kreis zu gehen, ohne es zu bemerken. So fand er schließlich den Weg ins Freie. Wohlgemerkt: Nicht weil Ariadne ihm den Weg gewiesen hätte, sondern weil sie ihm das richtige Instrument an die Hand gegeben hatte, um diesen Weg selbst zu finden. Wer im Labyrinth gefangen ist, braucht also einen Ariadnefaden, am besten einen roten, weil man den besonders gut sieht. Und dieser Faden, der uns davor bewahrt, ständig im Kreis zu denken und mögliche Auswege aus dem geistigen Labyrinth der Gegenwart systematisch zu übersehen, soll die Zeit sein. Das ist der Vorschlag dieses Buches. Indem die Zeit dem Denken einen neuen, einen weiteren Rahmen verleiht, eröffnet sich eine Vogelperspektive auf die Welt.1 Die Zeit ist, genauso wie der Raum, etwas wahrhaft Universelles, sie ist in alles, was es in der Welt gibt, immer schon eingewoben. Anders formuliert: Es gibt nichts auf der Welt, was außerhalb der Zeit existieren könnte. Ich möchte zeigen, dass die Zeitdimension einen überzeugenden Rahmen bietet, um jene Phänomene und Probleme zu beschreiben und zu erklären, die ich in der Einleitung unter den Stichworten »Kontrollverlust« und »Verschiebebahnhof« diskutiert habe.
Zeit und Veränderung
Mit Zeit, ähnlich wie mit Gesundheit, Gerechtigkeit und anderen lebenswichtigen Themen, beschäftigen wir uns im Alltag vor allem dann, wenn sie uns zum Problem geworden ist.2 Da sich unser Leben ganz und gar in der Zeit (wie auch im Raum) vollzieht, machen wir sie uns meistens nicht bewusst. Dem Menschen geht es mit der Zeit genauso wie mit der Luft, mit der er sich ständig austauschen muss, oder wie dem Fisch mit dem Wasser. Wenn uns die Zeit in besonderen Situationen zu schaffen macht, dann oft, weil wir – nicht immer freiwillig – zu viel in einen gegebenen Zeitraum hineingepackt haben. Die Beschäftigung mit dem Zeitthema, so die Hoffnung, kann uns vielleicht einen Weg weisen, wie wir zwei Haltungen miteinander verbinden können, die für die meisten Menschen gleichermaßen erstrebenswert sind: eine realistische Haltung zur Gegenwart und eine zuversichtliche in Bezug auf die Zukunft.
Wo die Zeit zum Problem geworden ist, handelt es sich meist um die gemessene, die quantifizierte Zeit. Wir fragen, wie lange noch Zeit bleibt, wie spät es ist und so weiter. Oder nach dem Datum, der Kalenderwoche, der Jahreszahl. Gemessen wird die Zeit hier durch Uhr beziehungsweise Kalender. Um sie messen und einteilen zu können, muss sie vorher gleichgemacht werden. Gleichmachen heißt, das Qualitative der Zeit, die Ereignisse, Erlebnisse, Gefühle, die in der Realität mit dem Vergehen von Zeit ja immer verbunden sind, auszublenden.3
Was aber ist die Zeit eigentlich, unabhängig davon, ob wir auf ihre Quantität oder Qualität schauen? Ist die Zeit nur eine Vorstellung in unseren Köpfen, oder ist sie in der Außenwelt real vorhanden? Eine ähnliche Frage ist auch in Bezug auf den Raum angebracht. Über diese Frage nach dem Wesen von Zeit und Raum streiten sich die Philosophen seit mindestens zweieinhalbtausend Jahren.4 Wichtig ist für uns jedenfalls, dass wir im realen Leben auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen sind, uns um Raum und Zeit wirklich zu kümmern, wobei manchmal der quantitative, manchmal der qualitative Aspekt im Vordergrund steht.5
Womit also könnte die gedankliche Neuorientierung mithilfe der Zeit beginnen? Die erste Schwierigkeit besteht darin, dass der Mensch über kein Organ zur direkten Wahrnehmung von Zeit verfügt. Was also tun? Eine in der Philosophie oft beschrittene Möglichkeit ist zu fragen, wie uns etwas eigentlich begegnet, und aus der Antwort das Wesen des uns begegnenden Objekts zu erschließen.6 Bezeichnend ist in Bezug auf die Zeit, dass wir ihr nie direkt begegnen können, sondern immer nur indirekt. Es sind immer erst Veränderungen nötig, um das Vergehen von Zeit wahrnehmen zu können:7 Veränderungen der Lage eines Objekts im Raum (wenn ein Paket transportiert, eine Information übermittelt wurde), der Größe (wenn eine Pflanze gewachsen, ein Kontostand geschrumpft ist) und der Gestalt (wenn ein Stein bearbeitet, ein Buch geschrieben ist). Diese Veränderungen sind sinnlich wahrnehmbare Indikatoren für das Vergehen von Zeit. Selbst wenn sich scheinbar nichts verändert, etwa in der Isolationshaft oder beim Meditieren, spüren Menschen, dass sich mit der Zeit ihr Inneres verändert, weil sie vielleicht immer müder oder immer entspannter geworden sind.8
Lineare Zeit und Evolution, zyklische Zeit und Ökologie
Seit den Anfängen der Thematisierung von Zeit im antiken Griechenland oder auch in China9 werden zwei Grundformen unterschieden: die lineare und die zyklische Zeit oder, wenn man es von den Veränderungen her formuliert, lineare und zyklische Veränderungen. Die lineare Zeit ist dadurch charakterisiert, dass sie mehr oder minder kontinuierlich voranschreitet, dass also immer wieder etwas vom Gleichen zu einer Sache, einem Lebewesen, einer Situation oder Ähnlichem hinzukommt. Überträgt man den Verlauf der Zeit zur Veranschaulichung auf den Raum, so muss die Zeit in diesem Fall als Linie dargestellt werden. Beispiele sind das Aufsteigen der Sonne am Morgenhimmel, das Größerwerden eines Baumes im Laufe der Jahre oder die Entfernung eines Zuges, nachdem er den Bahnhof verlassen hat und sich auf freier Strecke fortbewegt. Diese lineare Zeit, die sich wegen ihrer Gleichförmigkeit gut quantifizieren und messen lässt, nannten die alten Griechen »Chronos«. Entsprechend muss auch bei der Quantifizierung dieser linearen Zeit der Raum als Maßstab herhalten (die Millimeter, die der Sand in der Sanduhr höher steigt, oder die Zentimeter, die der Schatten auf dem Ziffernblatt der Sonnenuhr wandert). Die lineare Zeit wird auch als irreversible Zeit bezeichnet, weil lineare Veränderungen in der Regel nicht mehr rückgängig zu machen sind.
Auch die Vorstellung von der Evolution der Arten ist, trotz aller evolutionären Rückfälle und Sprünge, eine primär lineare Vorstellung. Um ihre Zeiträume und die Sprunghaftigkeit der Veränderungen, die für den Aufbau komplexerer Strukturen aus einfacheren notwendig sind, anschaulicher zu machen, überträgt man üblicherweise den unvorstellbar langen Zeitraum zwischen der Herausbildung des Sonnensystems und heute auf den vorstellbaren Raum eines Jahres.
1. Januar: Sonne und Erde existieren. März/April: Die ersten Lebewesen entstehen im Meer. November: Die ersten Tiere betreten das Land. 31. Dezember frühmorgens: Die meisten der heute existierenden Arten haben das Licht der Welt erblickt. Erst in der zweiten Tageshälfte erscheinen menschenähnliche Säugetiere. Je mehr Zeit vergangen ist, desto dichter folgen nun die Neuerungen, desto komplexer werden die Geschöpfe. Mit der Erscheinung des Menschen ergibt sich ein weiterer evolutionärer Sprung. Bezogen auf unser Modelljahr, geht es nun um Minuten, zum Schluss um Sekunden. Eine Minute vor dem Jahreswechsel entstehen die ersten sogenannten Hochkulturen, zwanzig Sekunden vor dem Jahreswechsel wird – so die kulturelle Überlieferung des Christentums – Jesus geboren, zehn Sekunden vor dem Jahreswechsel Karl der Große, eine Sekunde vor dem Jahreswechsel Bismarck.10 Die Evolutionsgeschichte folgt also nur in Annäherung einer geraden Linie. Es handelt sich vielmehr um eine stark nach oben gekrümmte Linie, eine Exponentialfunktion, die die gigantische Beschleunigung dieser Veränderungen vorstellbar macht. Woher dieses zunehmende Tempo konkret kommt, werden wir in den folgenden Kapiteln genauer untersuchen. So viel zunächst zur linearen Zeit und ihrer exponentiellen Variante.
Die zyklische Zeit folgt – oder die zyklischen Veränderungen in der Zeit folgen – einem ganz anderen Muster: der Wiederkehr. Wiederkehrende Veränderungen fallen viel weniger auf als die linearen, weil wir uns an sie meist gewöhnt haben oder sie überhaupt nicht wahrnehmen können. Wenn bei der zyklischen Zeit gleiche Situationen wiederkehren, stellen wir uns dieses Muster räumlich als Kreis vor, als ein Gebilde also, das sich nach dem Durchlaufen wieder exakt schließt. Die zyklische Zeit wird deshalb auch »reversible Zeit« genannt. Beispiele sind die Jahreszeiten, der Tag-Nacht-Wechsel, die Wellenbewegung des Meeres, die Jahresringe des Baumes, die Feste des Jahres, der Atem und der Herzschlag, das Absterben und die Neubildung von Körperzellen und das Ausscheiden von »Müll« in jeder einzelnen Zelle (Autophagie). Das zyklische Muster der Veränderung ist weniger durch Quantität als durch Qualität gekennzeichnet. Vermutlich sprachen die Griechen deshalb vom »Kairos«, vom rechten Augenblick, weil sich an einem ganz bestimmten Punkt der Kreis wieder schließt, wenn man sich einmal auf ihn eingelassen hat. Die Orientierung am rechten Augenblick ist, wie jeder weiß, zum Beispiel in der Landwirtschaft oder in der Medizin besonders wichtig, wenn es etwa um den günstigsten Moment für die Aussaat, die Ernte oder die Einnahme eines Medikaments geht. Auf diesen Augenblick können wir nur deshalb warten, weil wir in der Vergangenheit bestimmte Erfahrungen mit dem Wesen der betreffenden Kreisläufe gemacht haben und so darauf vertrauen können, dass der Augenblick auch diesmal ganz bestimmt wiederkommt. Insofern ist die Identifizierung des rechten Augenblicks im Kern nichts anderes als ein Akt des Wiedererkennens.11
Lineare und zyklische Muster der Veränderung kommen fast nie in Reinform vor. Meist begegnen uns im »wahren Leben« kombinierte Zeitmuster, wobei je nach Situation entweder die lineare oder die zyklische Form im Vordergrund steht.12 Das trifft im Übrigen auch auf das Geschlecht des Menschen zu: Traditionellerweise werden Männer mehr mit der linearen, Frauen mehr mit der zyklischen Zeit assoziiert, wofür es bekanntlich auch gute biologische Erklärungen gibt. Chronos und Kairos sind das, was der Soziologe Max Weber »Idealtypen« genannt hat: gedankliche Gebilde, die aus der komplexen Wirklichkeit einige wenige Eigenschaften herausgreifen, um die Wirklichkeit besser verstehen und dann auch handhaben zu können. Nimmt man wieder Anleihen bei räumlichen Formen, so muss man sich die Verbindung von linearer und zyklischer Zeit als Spirale vorstellen. Oder genauer als Spindel: Spindeln sind Spiralen, deren Durchmesser sich verjüngt, die also konisch geformt sind. Wenn wir uns Zeit als solch eine Spindel vorstellen, wollen wir ausdrücken, dass alles, was es gibt und was geschieht, ein Ende hat.
Was die wissenschaftliche Erforschung der Zeit beziehungsweise der Veränderungen in der Zeit angeht, so kann jedem der beiden Grundmuster, aus denen Spiralen oder Spindeln bestehen, ein zentrales Erkenntnisinteresse zugeordnet werden. Auf das lineare Muster zielt die höchst traditionsreiche Evolutionsforschung, also die Erforschung des Werdens in der Zeit. Das andere Erkenntnisinteresse, das auf das zyklische Muster zielt, ist hingegen wesentlich jüngeren Datums: die »Ökologie der Zeit«. Dabei handelt es sich um ein interdisziplinäres Forschungsprojekt, das zwischen 1990 und 2015 an der Evangelischen Akademie Tutzing angesiedelt war. »Die Zeitdimension«, so die Grundthese des von Karlheinz Geißler und Martin Held initiierten Projekts, »hat für das Verständnis der Stellung des Menschen in der Natur und der von ihm geschaffenen Kultur (einschließlich Technik und Wirtschaft) eine zentrale Bedeutung. Die ökologische Krise ist dadurch mitverursacht, dass dies bisher nur unzureichend beachtet wird. Die Einbeziehung dieser Dimension in alle ökologisch relevanten Zusammenhänge wird uns einen wichtigen Schritt voranbringen, um dieser Krise zu begegnen. Dies gilt sowohl für die innere Natur des Menschen als auch für die äußere Natur.«13 Der Begriff »Ökologie« verweist auf die Bedeutung von Wechselwirkungen, die überall dort stattfinden, wo Lebewesen in ihren Umwelten haushalten. Kreislaufförmig sind diese Wechselwirkungen, weil erfolgreiches Haushalten ganz wesentlich von der richtigen Einteilung der Vorräte und Kräfte in der Zeit abhängt und es darauf ankommt, dass nichts schneller verbraucht wird, als es sich erneuert. Der zeitökologische Ansatz hat eine beeindruckende Fülle von Erkenntnissen vor allem über zyklische Veränderungen in Natur, Kultur, Gesellschaft und Alltagsleben ermöglicht und insbesondere die Bedeutung von Eigenzeiten, Rhythmen und Vielfalt herausgearbeitet, auf die ich im Folgenden genauer eingehe.14
Die »Ökologie« der Zeit fragt nicht wie die »Ökonomie« oder gar das »Management« der Zeit danach, wie der unter Erfolgsdruck stehende und von subjektiven Zeitnöten geplagte Mensch durch Effizienzstrategien diese am besten in den Griff bekommen kann. Der Ökologie der Zeit geht es vielmehr um die Frage, inwiefern die Zeit, vor allem die zyklische, objektive Voraussetzung allen Seins ist, welche Maßstäbe für den praktischen Umgang mit Zeit daraus abzuleiten sind, also auch, woher der Erfolgsdruck eigentlich kommt.15 Im Unterschied zum Evolutionsansatz, der die Hervorbringung des Neuen fokussiert, zielt die Ökologie der Zeit eher auf die Frage nach der Stabilität der Welt, auf zyklische Wechselwirkungen, die die Welt tragen und das Leben auf Dauer stellen, also nachhaltig machen. Für eine ganzheitliche Sicht auf die Zeitdimension ist es entscheidend, die lineare und die zyklische Zeit gleichermaßen ernst zu nehmen, die Erkenntnisinteressen des Evolutions- und des Ökologieansatzes also zu integrieren, um den Zusammenhang zwischen Prozessen (Veränderungen) und Gestalten (Gegebenheiten) besser zu verstehen.
Chaos und Ordnung
Wenn die Zeit nicht nur zyklisch, sondern auch linear verläuft, liegt es nahe, außer nach der Schöpfung oder dem Urknall auch nach der Richtung aller Veränderungen zu fragen. Um diese Frage zu beantworten, soll im Folgenden der Bereich der sinnlich erfahrbaren Welt, der mittleren Welt (Mesokosmos), an der wir uns normalerweise orientieren, überschritten werden. Dazu müssen wir den Blick sowohl auf einen ganz weiten als auch einen ganz engen Horizont ausdehnen, auf den Makro- und den Mikrokosmos. Das erfordert spezielle Beobachtungsinstrumente (Fernrohre und Mikroskope) und sprengt schnell unser Vorstellungsvermögen, weil wir aus der Alltagspraxis über keine entsprechenden Erfahrungen verfügen.
Ziel solcher Theorien, die den Mesokosmos in beide Richtungen überschreiten, sind möglichst elegante umfassende Beschreibungen und Erklärungen für buchstäblich alles, was es gibt. Eine Kandidatin für eine solche Weltformel, die eine Antwort auf die Frage nach der Richtung aller Veränderungen geben will, ist die sogenannte Thermodynamik. In ihr geht es, wie der Begriff schon sagt, um den Zusammenhang von Wärme und Bewegung. Die wissenschaftliche Thermodynamik ist hochgradig abstrakt, weil sie von allen konkreten Orten (etwa der Erde) und Zeiten (etwa der Gegenwart), von konkreten Temperaturen (etwa hohen), von konkreten Objekten (etwa Flüssigkeiten) oder Bewegungen beziehungsweise Veränderungen (etwa Verbrennungsprozessen) absieht. Thermodynamik ist also der Inbegriff eines abstrakten Denkansatzes. Ausgangspunkt ist die Vorstellung eines Systems, in das Materie weder ein- noch austreten kann, etwa ein verschlossenes Reagenzglas. Der wichtigste Satz der Thermodynamik lautet: In einem abgeschlossenen System bleibt die Menge der Energie immer gleich groß. Wenn in einem solchen System irgendein Prozess stattfindet, dann kann dieser nur Zustände innerhalb dieses Systems verändern, mehr nicht. Diese Veränderungen, das ist für das Thema Zeit entscheidend, haben immer eine klare Richtung: Sie können nicht mehr wiederholt werden, nach jeder Veränderung ist das Potenzial für weitere Veränderungen geschrumpft. Gibt man etwa einen Tropfen blauer Tinte in ein Wasserglas, so verteilt sich die Tinte im Wasser und färbt es blau, ein Prozess, der nicht nur nach einiger Zeit zum Stillstand kommt, sondern die Grenze zwischen Tinte und Wasser unwiederbringlich auflöst.
Energie kann ganz allgemein als Arbeitsvermögen definiert werden. Aus der Perspektive der Thermodynamik geht Arbeit immer mit der Freisetzung von Wärme einher. Und jede dieser Freisetzungen ist ein weiterer, wenn auch meist nur winziger Schritt in Richtung des am Ende aller Freisetzungen wartenden »Kältetods« des gesamten Systems, der oft auch »Wärmetod« genannt wird, weil in diesem Zustand jedes »Quantum« an Wärme untergegangen ist. »Arbeit ruiniert die Welt«, so der Untertitel des Buches des Journalisten und Umweltexperten Christian Schütze. Unter dem Haupttitel »Grundgesetz vom Niedergang« zeigt Schütze, was die Thermodynamik für die Geschichte der Beziehung zwischen Menschen und Welt letztlich bedeutet.16
Wenn hier von Energie, Arbeit und Wärme die Rede ist, dann ist dies jedoch nur eine Seite der Thermodynamik, nämlich die energetisch-materielle. Es gibt noch eine zweite Seite, bei der es um Strukturen beziehungsweise Formen geht, in denen uns Energie und Materie begegnen. Denn mit jedem Prozess in einem geschlossenen System, bei dem Wärme freigesetzt wird, werden zugleich Strukturen abgebaut, wird Ordnung zerstört. Ein Stück Holz in einem Ofen zum Beispiel gibt dem Inneren des Ofens eine gewisse Struktur. Ist es aber einmal verbrannt, also in Wärme verwandelt, ist diese Ordnung verschwunden, Informationen über seine Eigenschaften sind unwiederbringlich gelöscht. Damit hat sich das System wieder einen winzigen Schritt auf jenes Chaos zubewegt, das das Ende aller Umwandlungsprozesse markiert. Das Streben nach »Unordnung« (griechisch: Entropie) gilt als das umfassendste Gesetz der gesamten physischen Welt. Jede Beschleunigung physischer Prozesse und jede damit notwendigerweise stattfindende Freisetzung von Wärme bringt uns also weiter in Richtung Chaos voran.
Nun ist die Erde allerdings kein geschlossenes System. Als Teil des Sonnensystems wird sie relativ zuverlässig mit den Strahlen der Sonne »versorgt«, um die sie kreist. Die Sonne ist verantwortlich dafür, dass uns auf der Erde neben der Entropie auch noch eine andere grundlegende Eigenschaft der Natur begegnet: die durch sie ermöglichte und durch die Evolution bewiesene Fähigkeit der Materie, sich selbst zu organisieren und sogar lebendige Strukturen aufzubauen.
Lebewesen können gegen den Strom des Chaos schwimmen, also »Ordnung« schaffen, indem sie der Umwelt Energie entziehen, damit eine Grenze aufbauen und diese aufrechterhalten. Diese Kraft des Lebens, die in der Sprache der Thermodynamik als »negative Entropie« (Negentropie oder auch Syntropie17) bezeichnet wird, macht also den Aufbau von Strukturen möglich und wirkt so dem Chaos entgegen.18 Dem »Grundgesetz vom Abstieg«, der Entropie, steht also das »Grundgesetz vom Aufstieg« (Peter Kafka),19 die Syntropie, gegenüber. Und beide Grundkräfte wirken zur selben Zeit. Allerdings ist der Aufstieg für alle Lebewesen immer nur für eine begrenzte Zeit möglich, langfristig geht es bekanntlich unweigerlich bergab. Von Staub zu Staub, das ist das Schicksal aller Lebewesen.
Unterm Strich hängt alles davon ab, wie das Verhältnis zwischen Chaos und Ordnung, zwischen Ab- und Aufstiegsprozessen konkret ausfällt: zwischen dem Abbau nutzbarer Energiepotenziale und dem Aufbau von Leben.
Die erste praktische Konsequenz, die wir daraus ziehen können, lässt sich in dem Motto zusammenfassen: So viel Bio – Leben! – wie möglich! Nur durch die Kraft der Syntropie, die sich in Pflanzen, Tieren und Menschen verkörpert, kann der Mensch dem Chaos immer wieder ein Schnippchen schlagen, zumindest so lange, wie uns die Sonne zur Verfügung steht. Bei aller Ungeduld sollten wir dabei vor allem auch die zeitliche Asymmetrie von Auf- und Abbau nie vergessen. Wie leise und langsam wächst ein Wald, wie laut und schnell werden Bäume gefällt, wie mühsam und zeitraubend ist der Bau eines Hauses, die Beschreibung eines Datenträgers, die Entwicklung einer Vertrauensbeziehung – und wie schnell ist alles wieder zerstört.20
Zwischenfazit
Wer sich seiner Orientierung in der Welt unsicher geworden ist, kann die Zeit als roten Faden verwenden. Da wir kein Sinnesorgan für die Zeit haben, müssen wir sie indirekt erschließen. Das geschieht über Veränderungen in der Welt, die uns umgibt. Veränderungen können prinzipiell einem linearen oder einem zyklischen Muster folgen. In der Realität begegnen uns meist beide Arten von Veränderung zugleich, aber mit unterschiedlichem Akzent. Lineare Veränderungen stehen für Dynamik, zyklische für Stabilität. Auch die Veränderungen, die das Universum seit dem Urknall durchgemacht hat und weiter durchmacht, sind linear und zyklisch zugleich: einerseits die Steigerung der Entropie, also der Abbau von Strukturen, andererseits der Aufbau neuer Strukturen, die sich der Tendenz des Chaos widersetzen und das Leben in die Welt bringen.
Kreislauf und Rhythmus
Beginnen wir mit einem Foto. Ein Küstenstreifen, aufgenommen aus der Vogelperspektive (zum Beispiel der Darß an der Ostsee). Das Foto zeigt die Meeresbrandung, eine Sandbank, dahinter Gräser, Büsche, niedrige Bäume, darüber einen wolkigen Himmel. Wer genauer hinsieht, entdeckt viele Wellenmuster: im Wasser, im Sand, im Bewuchs, am Himmel. Wer sich fragt, woher diese Muster kommen, stößt schnell auf die Gezeiten, die durch das Kreisen des Mondes um die Erde verursacht werden, auf die Bewegung von Wasser und Luft, die auf die Drehung der Erde und ihr Kreisen um die Sonne zurückgeht. Und wer noch genauer hinsehen würde und ein gutes Mikroskop zur Verfügung hätte, der würde ein Reich von Lebewesen entdecken, die – gesteuert durch das immer wieder auftauchende und verschwindende Wasser und Licht, die immer wieder verfügbare und entzogene Wärme und Nahrung – an diesem Fleck Erde vor sich hinwuseln. All das beruht auf Kreisläufen, denen die Erde ihre Existenz, denen die Lebewesen ihr Leben verdanken.
Die Wiederkehr des Gleichen
Lenken wir zunächst den Blick dorthin, wo die größten Kreisläufe zu finden sind: ins Weltall. Seine räumlichen Dimensionen lassen uns immer wieder staunen, sie machen uns klein und bescheiden: Billionen Galaxien, eine davon die Milchstraße mit Milliarden Sternen, eine davon unsere Sonne mit 8 Planeten, einer davon die Erde. Seit rund 14 Milliarden Jahren gibt es das Universum, seit rund 4 Milliarden die Erde, seit rund 3 Milliarden die Lebewesen, seit rund 3 Millionen Jahren den Menschen – vielleicht auch, je nach Abgrenzung zum Affen, seit 300000 Jahren. Und seit rund 500 Jahren die sogenannte Moderne. Über diese unvorstellbaren Zeiträume hat sich viel verändert, vieles ist aber auch gleich geblieben. Gleich geblieben ist vor allem jenes Muster, das im Universum für Stabilität sorgt: der Kreislauf. Die zyklische Zeit, also die Wiederkehr des Gleichen, kann als feste Basis für alles andere angesehen werden. Sie sorgt für eine stabile Grundlage für alle Arten von Aufbauprozessen, auf der Neues, Komplexeres entstehen kann. Oder anders formuliert: Die zyklischen Veränderungen der Himmelskörper, nämlich die Tatsache, dass sie in bestimmten zeitlichen Abständen immer wieder in etwa an denselben Ort im Weltall zurückkehren (unter Vernachlässigung der Ausdehnung des Alls), sind das stabile Zentrum – für uns auf der Erde! – in all dem Chaos, das der Urknall hinterlassen hat.21
Über unsere Galaxie wissen wir besser Bescheid als über andere Galaxien, über die Erde besser als über die Sonne. So wissen wir etwa, dass die Kreisbewegungen der Himmelskörper auch auf der Erde mit einer ungeheuren Vielzahl von Veränderungen einhergegangen sind: Veränderungen der Atmosphäre, des Wassers, der Gesteine, der Lebewesen. Entwickelt haben sich dabei ein komplexes Wechselspiel und – daraus resultierend – ein komplexer Anpassungsprozess von kreisförmigen und linearen Prozessen, wobei die Kreisform stets für die Stabilität, die Linienform für den Wandel steht. Es gibt sogar Geowissenschaftler, die die Erde selbst als eine Art Lebewesen ansehen, als ein sich selbst organisierendes geochemisches System (Gaia-Theorie): ein Lebewesen, das sich seit seiner Geburt seine Lebensbedingungen so gestalten musste, dass es möglichst gut leben konnte und weiterhin kann. Der Wasserkreislauf gleicht in dieser Vorstellung dem Blutkreislauf, der Kreislauf der Gesteine der Erneuerung der Knochenzellen, die Klimaerwärmung dem Fieber. Wie andere Lebewesen so hat auch die Erde aus dieser Perspektive eine Lebensgeschichte hinter sich gebracht, die es fortzusetzen gilt. Fortpflanzen kann sich die Erde freilich nicht.22