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Der moderne Hund ist Champion beim Dummytraining, geht wöchentlich zum Fährtenkurs, jagt der Frisbee bei Wettbewerben hinterher – und Dogdancing betreibt er auch noch. Tier und Halter sind häufig entsprechend gestresst. In unserem Bemühen, beim Zusammenleben mit dem Haustier alles richtig zu machen, haben wir verlernt, dass es auch einfach geht: Ich Mensch, du Hund! Die renommierte Trainerin Stephanie Lang von Langen zeigt in diesem Buch, dass weniger bei der Hundehaltung oft mehr ist, denn was Hunde wirklich brauchen, ist eigentlich ganz einfach: Sicherheit, Ruhe, Konstanz und Spiel.
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www.piper.de
ISBN 978-3-492-97524-7
Februar 2017
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2017
Covergestaltung: semper smile, München
Covermotiv: Jana Jouzek
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
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Auch wenn sich das Bild des Hundes in den vergangenen Jahren stark gewandelt hat: Immer noch sind einige überholte Betrachtungsweisen sehr verbreitet, manchmal in Mischform.
1. Der Hund als Nachfahr des Wolfes: Offensichtlich biologisch motiviert ist das Bild des Hundes als zivilisierter Nachfahr des Wolfs – wenngleich manchmal auch als zivilisiert degenerierter Nachfahr. In diesem sogenannten lupomorphen Modell werden alle Eigenschaften des Hundes auf die ihrer wölfischen Vorfahren zurückgeführt. Und das bietet Raum für zahlreiche Irrtümer: Erstens herrschen häufig falsche Vorstellungen vom Leben der frei lebenden Wölfe. Zweitens wird der Einfluss von fünfundzwanzig- bis fünfunddreißigtausend Jahren gemeinsamer Geschichte zwischen Mensch und Hund vergessen: Hunde haben nämlich in vielerlei Hinsicht nur noch oberflächliche Ähnlichkeit mit Wölfen. Gerade in ihrem Kommunikationsverhalten sind sie an das Leben bei und mit den Menschen angepasst. Auch wenn viele Eigenschaften, beispielsweise in der Hund-Hund-Beziehung noch Ähnlichkeiten mit anderen Caniden-Arten haben – für den in Mitteleuropa aufgewachsenen Haushund ist der Mensch ein Sozialpartner von ganz anderer Qualität. Und sein Verhalten ist für den Hund gut einschätzbar.
2. Der vermenschlichte Hund:Ein anderer weitverbreiteter Irrtum liegt darin, dem Hund in vielerlei Hinsicht unreflektiert menschliche Eigenschaften zu unterstellen, zum Beispiel moralische Sekundär-Emotionen wie Dankbarkeit, schlechtes Gewissen oder Schuldbewusstsein. Problematisch kann das werden, wenn der Mensch daraus einschlägige Erziehungs- und Umgangsformen ableitet. Hier verursacht das sogenannte antropomorphe Modell Verständigungsschwierigkeiten, Missverständnisse, Frust. Auf der anderen Seite kann Antropomorphismus durchaus hilfreich sein. Schließlich trägt er dazu bei, dass Hund und Katze den Menschen gesund erhaltende Funktionen zur Stressdämpfung sowie andere Wohlfühl-Effekte ausüben können.
3. Der Hund als Kind-Ersatz:Das babymorphe Modell betrachtet den Hund weitgehend als Kleinkind-Ersatz. Das kann Probleme geben, wo es zu starker und unnötiger Abhängigkeit des Hundes von seinem Halter führt. Wer den Hund ständig infantilisiert, ihm keine Entscheidungsfreiheiten und keine eigene Lebensführung zugesteht, der darf sich nicht wundern, wenn der Hund dann beim Alleinlassen oder in anderen Krisensituationen wie ein abhängiges Kleinkind reagiert: Schon eine kurzfristige Abwesenheit seines Menschen beantwortet der Hund sofort mit erheblichen Verhaltensauffälligkeiten. Wenn aus dem Kontrollwahn des Menschen und des beratenden Trainers heraus die falschen – nämlich distanzierende, verunsichernde – Maßnahmen ergriffen werden, wird das Problem sich rasch verselbstständigen.
Eine Folge der aufgezählten Fehlinterpretationen ist auch ein übermäßiger Beschäftigungswahn. Zum Beispiel führt die völlig falsche Vorstellung vom Jagdverhalten der Wölfe – die angeblich tagelang und über viele Kilometer in schnellen Gangarten durchgeführte Hetzjagd – dazu, dass auch Hunde nach diesem Modell permanent mit Futterbeutel und anderen Gegenständen beschäftigt werden. Dabei wird nicht berücksichtigt, dass die tatsächlichen Jagdsequenzen von Wölfen oft unter zweieinhalb Kilometer umfassen und weniger als zwanzig Minuten dauern. Der Rest ist Belagerung und Mürbemachen des eingekreisten Beutetiers. Anschließend liegt das Rudel durchschnittlich vier bis fünf Tage in Deckung nahe dem Kadaver und bedient sich immer dann, wenn einem der Betreffenden gerade der Magen knurrt.
Solche und ähnliche falschen Vorstellungen haben zur Folge, dass viele Haushunde heute einen Terminplan haben, der ohne Sekretärin kaum mehr zu bewältigen ist. Die Folgen sind dann offenkundig: übermotivierte, bisweilen suchtkranke Hunde, Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsdefizit – die ganze Palette der Auffälligkeiten, die auch Kinder in vergleichbaren Stresssituationen zeigen.
Das Buch von Stephanie Lang von Langen bringt mit einer gesunden Mischung aus Intuition, Erfahrung und sehr viel Wissen etwas Licht in dieses Dunkel. Wer es gelesen hat, ist hoffentlich vor den schlimmsten Auswüchsen eines falschen Umgangs mit dem Hund gefeit.
Ich wünsche dem Buch daher eine weite Verbreitung und hoffe, dass im Sinne unserer Hunde ein Umdenken in breiteren Schichten der hundehaltenden und mit Hunden lebenden Menschen erfolgt.
Fürth, Juli 2016
Dr. Udo Gansloßer, Privatdozent am Zoologischen Institut und Museum der Universität Greifswald und Lehrbeauftragter am Phylogenetischen Museum und Institut für Spezielle Zoologie der Universität Jena
... oder reicht der Quali?
Viele Hunde in Deutschland leben als Familienmitglieder in ihrem Zweibeiner-Rudel. Sie genießen Privilegien wie Sofa und Fahrradanhänger, bekommen hochwertige Nahrung und schicke Colliers. Dafür müssen sie aber auch etwas leisten. Sie sollen der beste Freund des Menschen sein, brav und treu, aufs Wort folgen und rund um die Uhr gute Laune verbreiten sowie Herrchen oder Frauchen motivieren, sich zu bewegen. Das alles klappt mal besser, mal schlechter. Wo es nicht so gut klappt, werden oft Hundetrainer gebucht.
»Bitte, können Sie meinen Hund reparieren?«, sagte neulich eine Kundin zu mir. Allerdings beginnt die Reparatur des Hundes meist bei seinem Halter. Wobei ich das anders nennen würde. Denn wir sind ja keine Dinge, die funktionieren müssen ... oder? Verleitet uns die Leistungsgesellschaft dazu, auch unsere vierbeinigen Freunde so zu behandeln, als wären sie Dinge, und ihnen dadurch die Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse vorzuenthalten? In meiner Praxis erlebe ich täglich, dass die Probleme, die Hundehalter mit ihren Vierbeinern haben, auf nicht erfüllte Grundbedürfnisse zurückzuführen sind.
Mit Sorge beobachte ich in den letzten Jahren einen Trend hin zum Leistungshund. Immer mehr Hundehalter verlangen zu viel von ihren Hunden. Teilweise wird völlig aus dem Blick verloren, dass ein Hund kein Sportgerät, kein Entertainer, kein Rundum-Clown, kein Kinderspielzeug ist. Es wird vergessen, was ein schönes Hundeleben ausmacht. Braucht ein Hund wirklich stundenlanges Gassigehen, tägliches Spezialtraining, Events und vieles mehr, was zahlreiche Halter in bester Absicht absolvieren? Sie meinen es gut, sie möchten ihren Hund optimal fördern, indem sie ihn fordern. Auf keinen Fall soll er sich langweilen. Aber womöglich ist das, was wir Menschen für Langeweile halten, beim Hund gar keine. Vielleicht meditiert er ja, wenn er irgendwo sitzt oder liegt und einfach nur schaut. Jedenfalls wollen solche Hundehalter die allerbesten Hundefreunde sein und stressen sich häufig selbst, weil das natürlich ziemlich viel Zeit kostet, die ja meistens knapp ist. Sie übertragen ihr persönliches Leistungsprinzip auf den Hund, der nun nicht mehr einfach Freude macht, weil er da ist. Er muss sich Aufmerksamkeit und Zuneigung verdienen, indem er etwas besonders gut kann oder schnell kapiert oder der Beste in einem Workshop ist. Und wenn nicht, dann sollte er wenigstens der Frechste sein. Klappt das nicht, ist der Halter zuweilen enttäuscht. Und das verunsichert den Hund, der sehr feine Antennen für die Emotionen seiner Menschen hat.
Eine Zeit lang kann es ein Hund kompensieren, wenn eines oder mehrere seiner Grundbedürfnisse nicht erfüllt werden. Doch eines Tages eben nicht mehr. Der überforderte Hund wird wie der unterforderte verhaltensauffällig. Er bellt, zieht an der Leine, kann nicht mehr alleine bleiben, leidet an Durchfall, knurrt Fremde an, ist total überdreht. Gerade Hunde, denen eine unbeschwerte Welpenzeit verwehrt wurde, weil ihre Halter in die wichtige Sozialisierungsphase so viel Lernstoff wie möglich hineinpackten, kommen überhaupt nie richtig runter. Mich erinnert das alles an Kinder, die heutzutage manchmal schon im Mutterbauch mit Mozart frühstgefördert und, kaum auf der Welt, zu unzähligen Babyaktivitäten chauffiert werden. Selbst Mandarin, eine chinesische Hochsprache, wird mittlerweile für Kinder ab drei Jahren angeboten. Engagierte Eltern wollen alles richtig machen und schalten gelegentlich ihre Intuition aus, um auf keinen Fall etwas zu verpassen oder etwas falsch zu machen. Leider handeln immer mehr Hundehalter wie solche Eltern.
Aber wie geht es unseren Hunden damit? »Meine Hündin ist voll bei der Sache«, höre ich oft. »Mein Hund ist total verrückt nach dem Training.«
Genau das ist das Problem. Erstens sind Hunde in der Regel sehr daran interessiert, es ihren Herrchen und Frauchen recht zu machen. Sie wollen in einer harmonischen Umgebung leben, weil ihnen das Sicherheit schenkt. Zweitens bringt das, was ihnen langfristig schadet, oft auch Spaß. Da ähneln sich Vier- und Zweibeiner, und das liegt an der kurzfristigen Ausschüttung des Glückshormons Dopamin. Welche Aktivitäten und wie viel davon es braucht, um Glücksgefühle auszulösen, ist von Mensch zu Mensch verschieden. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass ein Übermaß fatale Folgen haben kann. Wir machen auch viel Unvernünftiges, um an eine Prise Dopamin zu kommen, das uns mit einem leuchtenden Lebensgefühl belohnt. Doch früher oder später wird eine Grenze überschritten, und dann steuert man auf einen Burnout zu. Den es im Übrigen auch bei Hunden gibt.
Das heißt nicht, dass ich gegen die Ausbildung von Hunden und ihr Training wäre, damit würde ich ja meinen Beruf ad absurdum führen. Ich arbeite als Hundepsychologin, leite unterschiedliche Trainingsgruppen, unter anderem Hundebeschäftigung im Alltag und Personensuche, und biete Weiterbildungen für Hundetrainer an. Außerdem bin ich Ausbilderin für Hundetrainer und Ausbilderin für Therapiehunde und habe dazu ein Zentrum gegründet: das Wunjo-Projekt.
Ein Training soll den Möglichkeiten des jeweiligen Hundes und seines Menschen angepasst sein. Dabei kann man Hunden durchaus etwas abverlangen, das macht sie stolz und selbstbewusst und stärkt auch die Bindung: Mein Mensch und ich haben etwas miteinander geschafft!
Ich erinnere mich an viele Einsätze mit meinem Hund Wunjo für die Rettungshundestaffel, bei denen wir beide bis an unsere Grenzen gingen – und manches Mal einen Schritt darüber hinaus. Trotz der Brisanz einer solchen Situation achte ich darauf, wie es meinem Hund geht – und diese Sensibilität empfehle ich jedem Hundehalter. Frauchen und Herrchen sollten immer wieder kritisch prüfen, ob sie bei ihren Aktivitäten in gutem Kontakt mit ihrem tierischen Partner sind oder nur noch Leistung erwarten. Und sie sollten den Hund sehr genau beobachten, um eine Überforderung frühzeitig zu bemerken und Verhaltensauffälligkeiten zu vermeiden, die oft nur mit hohem Engagement abzutrainieren sind. Mangelt es einem Hund über lange Zeit an der Befriedigung seiner Grundbedürfnisse, kann sich seine Persönlichkeit verändern. Und dann höre ich »Früher war er ganz anders ...«
Immerhin gibt es in diesen Fällen ein Früher. Überforderte Welpen kennen diesen Zustand gar nicht. Sie werden manchmal vom ersten Tag bei ihren Haltern in ein Formel-1-Leben geworfen, und später wundern sich die Menschen, warum sie so viele Probleme mit den Hunden haben, denen sie so viel beigebracht haben und die so viel leisteten. Ja, gerade deshalb kommt es zu den Problemen!
Mit diesem Buch möchte ich daran erinnern, was Hunde sind. Sie sind wunderbare Wesen, deren Nähe unser Leben bereichert und von denen wir einiges lernen können: Das schöne, gute, einfache Leben in der Natur. Im Jetzt sein. Direkt und aufrichtig sein ... bedingungslose Liebe. Ich möchte aber auch den Blick dafür schärfen, dass die meisten Probleme entstehen, wenn wir die Grundbedürfnisse eines Hundes missachten. Und die Grundbedürfnisse werde ich in diesem Buch ausführlich beschreiben:
Ruhe/SchlafBewegungBeschäftigungSpielBindung/BeziehungIch wünsche mir, dass meine Anregungen auf fruchtbaren Boden fallen. Schließlich wollen wir doch alle dasselbe: ein schönes Leben mit unserem vierbeinigen Gefährten, dem es hundherum gut gehen soll. Und dazu brauchen Hunde kein Abi.
Der Quali reicht allemal!
Und das gilt im Übrigen auch für uns Menschen, wenn wir zu einem guten Team mit unseren Hunden zusammenwachsen wollen. Denn meistens lieben wir sie doch. Und wir wünschen uns nur das Allerbeste für sie. Aber dummerweise wissen wir manchmal nicht, wie wir das unseren vierbeinigen Freunden vermitteln sollen. Es kommt zu Kommunikationsproblemen. Wo ist nun aber der Hund begraben? Bei den Grundbedürfnissen. Und das zeigen Hunde deutlich:
Lucy knabberte gern. Allerdings beschränkte sich die belgische Schäferhündin nicht auf die üblichen Accessoires wie Schuhe, sie hatte ihr Repertoire auf Menschenbeine erweitert und schon mehrere Menschen gebissen. »Nicht schlimm«, sagte Frau Huber, ihre Halterin, »nur so ein bisschen gezwickt.«
Das sah das Ordnungsamt anders, zumal einer der Attackierten sich in der Notaufnahme eines Krankenhauses behandeln lassen musste. Nach einer Wesensüberprüfung bekam Lucy Maulkorb und Leinenpflicht verordnet. Frau Huber fand das ungerecht, weil Lucy doch der liebste Hund auf der Welt war. Und wie vorsichtig sie mit Kindern spielte, das müsse man gesehen haben! »Wissen Sie«, erklärte Frau Huber mir, »das liegt an dem ausgeprägten Schutztrieb von der Lucy. Ihre Vorfahren, die waren nämlich alle bei der Polizei.«
Den Titel »Liebster Hund der Welt« führte auch Larry, ein Australian Shepherd, allerdings nur, solange kein anderer Rüde am Horizont auftauchte. Dann wurde er zum Berserker, stellte sich auf die Hinterbeine und knurrte und bellte und geiferte, dass sein Besitzer Mühe hatte, den Hund zu halten. »Das ist, weil der Larry ein Alphatier ist«, schrie er mir durch das ohrenbetäubende Gebell zu.
Im letzten Winter hatte auch Finn so stark an der Leine gezogen, dass seine Besitzerin Frau Schwab sich bei einem Sturz auf einer Eisplatte die Schulter gebrochen hatte. Der nächste Winter stand vor der Tür. Finn zog noch immer an der Leine, als würde zehn Zentimeter vor seiner Nase ein Steak baumeln. »Er ist halt neugierig«, entschuldigte Frau Schwab ihren Gefährten.
Betty, eine achtjährige Feld-Wald-Wiesen-Mischung, war eifersüchtig, wie mir ihr Frauchen mitteilte. »Die ist das nicht gewohnt, dass wir jetzt zu dritt sind. Die hat mich doch immer für sich alleine gehabt. Aber jetzt habe ich wieder einen Partner, und da muss sie mich teilen, und das will sie nicht, deshalb pinkelt sie in die Wohnung. Das macht die nur aus Treue.«
Bei Ben war es angeblich typisches Hüteverhalten, das den Border Collie dazu animierte, beim leisesten Geräusch loszukläffen, sich in Rage zu bellen. »Das liegt der Rasse doch im Blut, oder?«
Bei Chino lag typisches Revierverhalten im Blut, das es seinen Besitzern, einem Ehepaar Mitte vierzig, unmöglich machte, Besuch in ihrer Wohnung zu empfangen.
Freddy, der größte Schmusehund der Welt, klebte wie Uhu an seinem Besitzer, solange der sich in der Wohnung aufhielt. Kaum wurde er draußen von der Leine gelassen, gab er Pfotengeld, und manchmal wartete sein Besitzer sehr lange, einmal über zwei Stunden, bis Freddy zurückkehrte. »Wissen Sie«, erfuhr ich, »mein Freddy, der braucht seine Freiheit.«
Die nutzte auch Ronja. Aber sie kam schnell zurück und schleckte sich das Maul. Ronja liebte Hunde- und Katzenscheiße. Herrn Berger würgte es dann, er hatte sich schon mehrfach übergeben müssen. Obwohl Ronjas Bluttest negativ ausfiel, glaubte Herr Berger fest an einen auf dem Blutbild unsichtbaren Mineralienmangel, der die Hündin zu ihren unappetitlichen Fressattacken animierte: »Das ist organisch. Sie kann nichts dafür.«
Emma konnte nicht allein sein. Kaum verließ Frau Schlegel die Wohnung – ja manchmal genügte es schon, wenn sie nur vom einen ins andere Zimmer ging –, da lief die Jaulmaschine an. »Ich hab die Emma ja vom Tierschutz. Die hat Verlustängste, die glaubt, wenn ich geh, komm ich nicht wieder.«
»Und seit wann glaubt sie das?«
»Ich hab sie jetzt seit sechs Jahren, und das war von Anfang an so. Das sitzt tief. Da kann man wahrscheinlich nichts machen. Das ist ein Trauma, oder?«
Willi wollte keine Leckerlis mehr annehmen. »Er spuckt sie mir einfach vor die Füße«, erzählte Frau Bergmann bekümmert. »Egal, welche Sorte. Aber ich brauch doch Leckerlis zum Trainieren. Sonst folgt er nicht. Könnte es vielleicht sein, dass das von meiner Laktoseintoleranz kommt, wo man doch immer sagt, dass Hunde so sensibel sind?«
Ich liebe meinen Beruf und die Kreativität meiner Kunden. Und ich muss gestehen, dass ihre Erklärungen, Verdachtsmomente und Begründungen oft viel interessanter klingen als meine banale Feststellung, dass es an einem Grundbedürfnis mangelt. Aber natürlich wünsche ich mir, dass Hundebesitzer die Signale ihrer Gefährten schneller und vor allem richtig deuten. Denn ein Mangel bei einem Grundbedürfnis lässt sich relativ einfach beseitigen – wie im Falle von Max, der seine kleinen scharfen Terrierzähne in Herrchens Antiquitäten schlug.
Herr Gerold war verzweifelt. Sein Terriermix Max, ein knappes Jahr alt, hatte sich als Zerstörer entpuppt. Er biss nicht nur Hausschuhe und Teppiche an, wie es manche seiner Artgenossen tun, nein, Max widmete sich auch Elektrokabeln, Türrahmen und Möbeln, was für Herrn Gerold ein großes Problem darstellte, da er Antiquitäten sammelte. Kaum verließ Herr Gerold die Wohnung oder das Zimmer, knabberte Max. Als er sich in Bibermanier das Tischbein eines dreihundert Jahre alten Sekretärs vorgenommen hatte, war Herr Gerold kurz davor, den Hund ins Tierheim zurückzubringen, wo er ihn vor einem halben Jahr abgeholt hatte.
Der Anfang war so vielversprechend gewesen. Herr Gerold war sechzig Jahre alt und seit zwei Jahren Witwer. Das war nicht leicht für ihn, aber allmählich kam er ganz gut zurecht. Einen Hund hatte er als Junge gehabt, den Maxi, und daran wollte er anknüpfen. Er hatte sehr schöne Erinnerungen an die Spaziergänge mit Maxi. Max sah seinem Vorgänger sogar ähnlich. Herr Gerold konnte den Blick kaum von ihm abwenden. Er war völlig vernarrt in den Hund – so wie Max in die Antiquitäten.
Herr Gerold hatte schon alles versucht. Max angeleint, ihn mit Wasser bespritzt, ihn beschworen, beschimpft, angebrüllt. Schließlich hatte er seine kostbaren Möbel mit einer übelriechenden Paste beschmiert, die Max unverdrossen abschleckte, ehe er zubiss – während Herr Gerold von dem Gestank Reizhusten bekam. Mittlerweile hatte er die Antiquitäten in ein Zimmer seiner Wohnung geräumt, wo sie vor Max sicher waren. Leider auch vor Herrn Gerold.
»Das ist doch kein Zustand«, seufzte er. »Ich hocke in der Küche auf einem Plastikstuhl vor einem Resopaltisch, das ist eine Zumutung für mich. Es ist so hässlich bei mir, ich fühle mich überhaupt nicht mehr wohl. Aber im Wohnzimmer, wo die Antiquitäten stehen, ist kein Platz zum Essen, sie lagern ja zum Teil aufeinander.«
Es erstaunt mich immer wieder, was Menschen auf sich nehmen, um mit ihren Hunden zusammenzubleiben. Wobei die Uhr für Max nun schon recht laut tickte.
»Ich weiß nicht, ob ich das noch lange schaffe. Eine Bekannte von mir hat gesagt, dass unsere Probleme daher rühren, dass er aus dem Tierschutz ist. Weil man keine Ahnung hat, was er erlebt hat, und das bricht jetzt auf. Aber wissen Sie: Bei mir bricht allmählich auch was. Nämlich ich, und zwar zusammen.«
Traumatisierungen werden oft bemüht, wenn Hundehalter schon lang unter einem bestimmten Verhalten des Hundes leiden, weil ein Grundbedürfnis nicht erfüllt wird. »Traumatisierung« klingt jedenfalls deutlich spektakulärer als »Grundbedürfnis«. Doch man muss immer das Gesamtbild und das Beziehungskonstrukt betrachten.
Max kam nicht zur Ruhe, weil Herr Gerold ihn ständig im Auge behielt. Tatsächlich beobachtete der Antiquitätensammler den drolligen kleinen Kerl »für sein Leben gern«. Dass Herr Gerold den Blick nicht von ihm abwenden konnte, stresste Max. Stellen Sie sich vor, jemand würde Sie den ganzen Tag fixieren und womöglich alle Ihre Handlungen kommentieren. Ach, wie süß. Nein, wie drollig. Ach, wie goldig schaut er jetzt wieder, der kleine Racker. Und wie er daliegt. So niedlich auf dem Kissen.
Merken Sie, dass eine Nervenkrise naht? Da kann man durchaus mal in ein Tischbein beißen.
»Ich darf ihn also nicht mehr anschauen?«, rief Herr Gerold fassungslos.
»Doch«, sagte ich. »Aber nicht ständig. Er muss auch mal zur Ruhe kommen, denn das ist ein Grundbedürfnis des Hundes.«
Um einen Hund kennenzulernen, frage ich nach seinem Alltag, und in vielen Fällen höre ich dabei heraus, dass es dem Hund an einem seiner fünf Grundbedürfnisse mangelt: Ruhe und Schlaf, Bewegung, Beschäftigung, Spiel, Bindung/Beziehung.
Es gibt noch zwei Grundbedürfnisse mehr, doch Futter und Sicherheit setze ich als gegeben voraus. Gemeint ist damit, dass der Hund keinen Hunger leidet, gut ernährt ist und in Verhältnissen gehalten wird, die ihm ein Gefühl von Konstanz und Sicherheit vermitteln – wie es für einen Hund, der in einem Haushalt lebt, normal sein sollte.
Nun sagt der Hund aber nicht: »Du, Frauchen, by the way, ich vermisse die hundertprozentige Erfüllung eines meiner Grundbedürfnisse. Könntest du da bitte mal nachbessern?« Und das liegt nicht daran, dass der Hund der menschlichen Sprache nicht mächtig ist. Auch Menschen erkennen im Eifer des Gefechts namens Alltagsstress oft nicht, wenn ihnen etwas Grundlegendes fehlt, und lassen ihren Frust in anderen Situationen heraus, sodass ihr Verhalten Rätsel aufgibt. Bei Hunden ist es genauso. Sie bellen oder beißen, sind plötzlich sehr ängstlich oder folgen nicht mehr, jagen und jammern, und keiner weiß, warum. Auch der Hund nicht. Der reagiert lediglich auf den Stress, der sich in ihm aufgebaut hat, weil eines oder mehrere seiner fünf Grundbedürfnisse nicht erfüllt werden und die Dog-Life-Balance gestört ist.
Fünf ist eine überschaubare Zahl, und Sie werden am Ende des Buches selbst einschätzen können, wie es um Ihren Hund bestellt ist. Egal, ob Mensch oder Hund: Mangelt es an einem Grundbedürfnis, entsteht Stress. Aber was ist das eigentlich genau? Alle reden davon; was steckt dahinter?
Vorneweg: Stress ist nicht unbedingt etwas Negatives. In Maßen genossen bringt er uns Menschen sogar Vorteile. Stress fördert unsere Leistungsbereitschaft: Hormone werden ausgeschüttet, das Herz schlägt schneller, wir sind aufmerksamer und können rascher Entscheidungen treffen, Gehirn und Lunge werden besser versorgt und unsere Sinne geschärft. All das sind optimale Voraussetzungen für Höchstleistungen. Das Problem ist das Runterkommen. Denn leider bleiben wir oft in der Stressreaktion hängen und entwickeln in der Folge Befindlichkeitsstörungen, Unruhe, Konzentrationsschwierigkeiten, Vergesslichkeit. Unser Urteilsvermögen wird eingeschränkt, das Immunsystem geschwächt, und das alles kann in Burnout oder gar Herzinfarkt münden.
Als Menschen beißen wir nicht, wenn wir uns dauergestresst fühlen. Wir haben Möglichkeiten, diesen Zustand zu beenden, wir können über unsere Empfindungen sprechen. Hunde können das nicht. Aber mit ihrer Körpersprache und ihrem Verhalten zeigen sie uns deutlich, wenn etwas nicht stimmt. Es ist unser Job, den gestressten Hund zu erkennen, die Ursachen zu ermitteln und abzustellen und ihm zu helfen, sich zu entspannen – die Voraussetzung für ein fröhliches Hundeleben.
Stress bei Hunden hat viele Gesichter, zum Beispiel übermäßiges Hecheln, Durchfall, Augenringe, anhaltendes Bellen, Rammeln. Solche Verhaltensweisen treten auf, wenn die Anpassungsfähigkeit des Hundes überschritten wurde. Der Hund ist gestresst – und daraus entstehen negative Konsequenzen für Gesundheit und Fortpflanzung.
Da jeder Hund eine eigene Persönlichkeit ist, reagiert auch jeder Hund anders. Was den einen stresst, lässt den anderen kalt – und das sogar bei gleicher Herkunft und Aufzucht. Da sind zwei Hundegeschwister aus demselben Wurf beim selben Halter, die Hunde sind also unter denselben Bedingungen groß geworden. Doch an der Silvesterknallerei im Garten nimmt nur einer teil, der andere liegt schlotternd unter dem Bett. Wir wissen seit Langem, dass die Art und Weise, wie Hunde mit Stress umgehen, bereits im Mutterleib angelegt wird – wie verläuft die Trächtigkeit der Hündin, entspannt oder unruhig? Neuere Forschungen zeigen, dass sogar unbewältigbare Stresssituationen des Vaters, Tage oder sogar Wochen vor dem Deckakt, Auswirkungen auf die Stress- und Umweltanfälligkeit und emotionale Stabilität des Nachwuchses haben. Wir können also keine allgemeingültigen Prognosen für die Stressanfälligkeit von Hunden liefern, sondern müssen bei jedem einzelnen Hund herausfinden, wie stressresistent er ist.
Dabei sollten wir im Auge behalten, dass unser modernes Leben sich nicht mit dem verträgt, wie Hunde leben würden, wenn sie unter sich wären. Der Stresspegel, den wir Hunden zumuten – Großstadt, ständig wechselnde Orte, viele fremde Menschen und Hunde, Geräusche, Gerüche und so weiter –, ist schon für sich genommen so hoch, dass wir nicht mehr viel »draufsatteln« müssen, um den Hund zu überfordern, der sich seiner Natur nach lieber in einem vertrauten Revier mit vertrauten Artgenossen und Gegebenheiten aufhalten würde, weil genau das für ihn Sicherheit bedeutet. Wer seine Sicherheit aufgibt, ist gestresst – ob Hund oder Mensch. Und wer in diesem nervösen Zustand zusätzlich Hochleistungen vollbringen soll, muss irgendwann innerlich zusammenbrechen, was sich beim Hund in einem auffälligen Verhalten zeigt, ob nun aggressiv oder depressiv oder einfach irgendwie seltsam.
Der knapp zweijährige Hund schaute mich mit einem müden Blick an, der nicht zu seinem durchtrainierten Körper passte. Abwartend stand der Golden Retriever neben seiner Halterin, die ihn voller Begeisterung vorstellte. Sie berichtete, dass Lucky ein total toller Hund sei, dass er am Wochenende die Vereinsmeisterschaften gewonnen habe, mit der höchsten Punktzahl, die in der Vereinsgeschichte jemals erreicht worden sei. Aus vierzehn verschiedenen Stofftieren könne Lucky das jeweils genannte apportieren. Sie schwärmte auch davon, wie lange Lucky vor seinem Napf ausharre, ehe das Kommando »Essen fassen« erklinge. Und so weiter.
Ich nickte und beobachtete Lucky, der mir in die Augen schaute. Hunde haben mir schon immer am Herzen gelegen. Ich verbrachte meine Kindheit in Afrika, und dort gehörten Hunde zu meinen engsten Freunden. Ich lief einfach im Rudel mit, und sie passten auf mich auf. Heute passe ich auf sie auf, denn manchmal brauchen sie einen Dolmetscher – wenn ihre Frauchen und Herrchen ihre Signale missverstehen. So wie in diesem Fall. Luckys Halterin, Frau Schubert, sprach von einem Champion. Sie redete ohne Punkt und Komma. Dass Lucky so erfolgreich sei, liege an ihrem konsequenten Training. Ich sah einen erschöpften Hund vor mir, der hechelte, obwohl es nicht heiß war, und den Eindruck erweckte, soeben einen Halbmarathon gelaufen zu sein. Dabei war er nur aus dem Auto ausgestiegen. Ich verspürte einen Impuls, Lucky an einen kühlen, ruhigen Ort zu bringen, wo er sich erholen konnte. Dann würden auch seine Augenringe verschwinden, bei Hunden ein typisches Zeichen für Erschöpfung. Achten Sie mal drauf, wenn Sie sich unsicher sind, ob Sie Ihrem Hund zu viel zumuten: Die Augenringe erscheinen wulstartig auf der Höhe der Wangenknochen. Wenn sie nach einer anstrengenden Aktivität auftauchen, ist das normal. Zeigt der Hund sie ständig, leidet er unter Dauerstress.
Frau Schubert fuhr fort: »Überhaupt ist Konsequenz im Zusammenleben mit Hunden das A und O. Und deshalb habe ich nichts schleifen lassen, von Anfang an nicht. Ich bekam Lucky mit acht Wochen und habe sofort mit seiner Ausbildung begonnen. Natürlich artgerecht. Erst die Welpengruppe, begleitend die private Sozialisierung, täglich einige Aufgaben zur Alltagsbewältigung, im Anschluss der Junghundekurs Stufe eins bis drei, später Obedience, auch Rallye Obedience, Dummytraining. Der Schwerpunkt liegt aber auf Agility, wenngleich wir vor drei Wochen mit Mantrailing begonnen haben. Die Nasenarbeit soll ja nicht vernachlässigt werden, deshalb habe ich das noch draufgesattelt.«
»Draufgesattelt«, wiederholte ich und betrachtete die hängenden Ohren des Hundes. Golden Retriever haben Schlappohren, aber diese hier hingen besonders schwer. Nun, sie hatten ja auch viel zu ertragen an Befehlen, viel zu viel für einen zweijährigen Hund. Andere hätten die Ohren auf Durchzug gestellt, wären vielleicht harthörig geworden. Ein willfähriger Golden Retriever reißt sich das Herz aus dem Leib, damit er die Wünsche seiner Angehörigen erfüllt. Aber es klappte ja nicht. Es war nie genug. Und so war Lucky traurig geworden.
»Nächste Woche fahren wir in ein Hundehotel«, schloss Frau Schubert. »Das ist mir empfohlen worden, da werden jeden Tag viele verschiedene Kurse angeboten, wir werden eine schöne Zeit haben, gell, Lucky?«
Der Hund schaute kurz hoch, als er seinen Namen hörte, wartete ab, ob er was tun sollte, legte den Kopf dann wieder auf die Pfoten. Ich war froh, dass Lucky nicht ahnte, was da auf ihn zukam. Wieder einmal wunderte ich mich darüber, wie wenig Empathie manche Hundehalterin für ihren Hund aufbringt, den sie doch gleichzeitig liebt. Frau Schuberts Leben drehte sich um Lucky, doch sah sie den Hund überhaupt? Sie erkannte seine Grundbedürfnisse nicht und tat dabei doch alles für ihn. Verkehrte Welt. Es musste mir gelingen, ihr dies nahezubringen, ohne sie zu kränken. Denn natürlich hört es eine Hundebesitzerin nicht gern, dass sie etwas falsch gemacht haben könnte.
Mancher Hundebesitzer hält sich allein aus dem Grund für einen Hundekenner, weil er mit einem Hund lebt. Das wäre ungefähr so, als steckte in jedem Autobesitzer ein hervorragender Autofahrer. Leider sagt das Leben mit einem Hund nichts darüber aus, ob sein Halter sich mit Hunden auskennt. Und das geht oft zu Lasten der Hunde. Als Hundehalter möchte man lieber gelobt werden von der Trainerin, wie gut man alles macht. Oft muss ich regelrecht bohren, bis mir das Problem verraten wird, weshalb man mich aufsucht.
Auch bei Frau Schubert dauerte es lange, bis sie des Pudels Kern offenbarte: Lucky bellte. »Ganz untypisch für einen Golden Retriever«, wie sie selbst wusste. »Wie aus heiterem Himmel hat er damit begonnen, vor drei Wochen. Er bellt los und hört nicht mehr auf. Nichts kann ihn stoppen, zweimal war er nach so einem Anfall sogar heiser.«
»Da haben Sie ja schnell reagiert«, sagte ich anerkennend. Viele Hundehalter quälen sich jahrelang mit einem Problem, ehe sie Rat bei Fachleuten suchen.