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Die Schlinge zieht sich zu: „ENWOR – Band 5: Das schwarze Schiff“ von Wolfgang Hohlbein jetzt als eBook bei dotbooks. ENWOR: Kriegsgeboren und vom Feuer getauft – eine postapokalyptische Welt voller Gefahren. Endlich liegt die Hexe Vela in Fesseln. Nun gilt es, ihr Schicksal zu entscheiden. Gowenna und die Satai-Krieger Skar und Del brechen auf zum Berg der Götter. Dort soll über die Hexe Gericht gehalten werden. Doch der Freisegler der Helden steuert geradewegs ins Verderben. Das schwarze Schiff versenkt ihr Boot und nur knapp können sich die Helden auf eine riesige Eisinsel retten. Von dort brechen die Gestrandeten ins Ungewisse auf. Denn im Eis lauert nicht nur der Tod durch Auszehrung, sondern auch entsetzliche Kreaturen, die das schwarze Schiff entfesselt hat … Jetzt als eBook kaufen und genießen: „ENWOR – Band 5: Das schwarze Schiff“ von Wolfgang Hohlbein. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag. JETZT BILLIGER KAUFEN – überall, wo es gute eBooks gibt!
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Seitenzahl: 750
Über dieses Buch:
ENWOR: Kriegsgeboren und vom Feuer getauft – eine postapokalyptische Welt voller Gefahren.
Endlich liegt die Hexe Vela in Fesseln. Nun gilt es, ihr Schicksal zu entscheiden. Gowenna und die Satai-Krieger Skar und Del brechen auf zum Berg der Götter. Dort soll über die Hexe Gericht gehalten werden. Doch der Freisegler der Helden steuert geradewegs ins Verderben. Das schwarze Schiff versenkt ihr Boot und nur knapp können sich die Helden auf eine riesige Eisinsel retten. Von dort brechen die Gestrandeten ins Ungewisse auf. Denn im Eis lauert nicht nur der Tod durch Auszehrung, sondern auch entsetzliche Kreaturen, die das schwarze Schiff entfesselt hat …
Über den Autor
Wolfgang Hohlbein, 1953 in Weimar geboren, ist Deutschlands erfolgreichster Fantasy-Autor. Der Durchbruch gelang ihm 1983 mit dem preisgekrönten Jugendbuch MÄRCHENMOND. Inzwischen hat er 150 Bestseller mit einer Gesamtauflage von über 44 Millionen Büchern verfasst. 2012 erhielt er den internationalen Literaturpreis NUX.
Der Autor im Internet: www.hohlbein.de
Bei dotbooks veröffentlichte Wolfgang Hohlbein die Romane FLUCH – SCHIFF DES GRAUENS, DAS NETZ und IM NETZ DER SPINNEN, die ELEMENTIS-Trilogie mit den Einzelbänden FLUT, FEUER UND STURM und die große ENWOR-Saga; eine chronologische Übersicht der einzelnen Romane finden Sie am Ende dieses eBooks.
Wie wird es mit den Kriegern Skar und Del weitergehen? Finden Sie es heraus im nächsten Roman der ENWOR-Saga: ENWOR – Band 6: Die Rückkehr der Götter. Eine Leseprobe finden Sie am Ende dieses eBooks.
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Neuausgabe November 2015
Copyright © der Originalausgabe 1984 bei Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright © der Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Tanja Winkler, Weichs
E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH
ISBN 978-3-95824-436-8
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Wolfgang Hohlbein
ENWOR
Band 5: Das schwarze Schiff
Roman
dotbooks.
Rayan legte den Kopf in den Nacken und blinzelte zur Mastspitze empor. Das Gesicht des Freiseglers wirkte blaß und kränklich. Seine Augen waren gerötet und müde; mit tiefen, blauschwarzen Ringen unterlegt und eingefallen, was seinem Aussehen etwas von einer haarlosen fetten Eule verlieh. Die Haut glänzte, wo sie zum Schutz gegen Kälte und Wind mit Fischöl eingerieben war, und seine Bewegungen hatten viel von ihrer Behäbigkeit verloren und waren jetzt unkontrolliert und fahrig; nervös und von der hektischen Art eines Menschen, der am Rande des körperlichen Zusammenbruches stand und sich nur noch mit äußerster Anstrengung auf den Beinen hielt. Er hatte in den vergangenen drei Nächten kaum geschlafen, und die unzähligen Stunden, die er ununterbrochen an Deck gewesen war, begannen ihren Tribut zu fordern. Sein linkes Auge zuckte immer wieder, gleichermaßen nervös wie geblendet vom grellen Licht der Sonne; einer Sonne, die übergroß und strahlend im Zenit stand und Meer und Himmel mit einer Kaskade gelbroter Helligkeit übergoß, als wolle sie der grimmigen Kälte und dem Heulen des Eissturmes Hohn sprechen.
»Nun?«
Skar deutete nach Westen und sah den Freisegler fragend an.
Rayan drehte sich schwerfällig um. Sein linkes Augenlid flackerte noch immer nervös, und unter dem wulstigen Fett seines Doppelkinnes zuckte ein Nerv.
Für einen Moment spiegelte sich das rote Licht der Sonne in seinen Pupillen, was ihm zusammen mit seiner unnatürlich blassen Haut beinahe das Aussehen eines Albinos verlieh. »Nichts«, murmelte er. »Nichts Neues, jedenfalls. Er kommt näher.« Er seufzte, sah noch einmal zu der dickvermummten Gestalt im Mastkorb hinauf und hob die Schultern; eine leere Geste ohne wirkliche Bedeutung, die aber mehr als alle Worte seine Hilflosigkeit ausdrückte.
Skar sah ihn einen Moment lang scharf an, beließ es aber ebenfalls bei einem Achselzucken und fuhr herum, um mit zwei, drei schnellen Schritten zur Reling hinüberzugehen. Seine Bewegungen wirkten steif und ungelenk, als lähme die Kälte seine Muskeln, so daß sie ihm nur noch widerwillig gehorchten. Die zernarbten Planken ächzten unter seinen Füßen, als könnten sie sein Gewicht kaum mehr verkraften und wären müde geworden wie die Männer, die sie tragen mußten. Das Schiff hob und senkte sich in sanftem, unablässigem Auf und Ab, aber selbst diese Bewegung erschien Skar träge und mühsam, und das Knarren, Quietschen und Stöhnen der Takelage schien einen bizarren Gegentakt zum Heulen des Sturmes zu schlagen.
Skar legte erschöpft die Hände auf die Reling, schloß die Augen und gab sich für die Dauer eines Atemzuges ganz der eisigen Kälte und den wütenden Hieben des Windes hin. Der Sturm riß Wasser in gischtenden Schwaden von der Meeresoberfläche empor und schleuderte es gegen das Schiff. Die nadelspitzen Tropfen bissen wie winzige scharfe Zähne in seine Haut, und der Hauch des Salzwassers vermischte sich mit der Kälte und dem fauligen Geruch, der aus der Bilge heraufstieg, zu einem seltsamen, nicht einmal unbedingt unangenehmen Aroma. Hier, nur wenige Fuß über dem schäumenden Meer, spürte man die Kälte besonders schmerzhaft. Skar konnte fühlen, wie sie aus dem vereisten Holz in seine Fingerspitzen kroch, langsam in seinen Armen emporstieg und sich wie ein klammer, lähmender Mantel über seinen ganzen Körper ausbreitete. Die Luft schmeckte nach Metall und brannte bei jedem Atemzug in seiner Kehle, aber der Schmerz und die Kälte vertrieben wenigstens für einen Moment die quälenden Gedanken aus seinem Schädel und schufen eine wohltuende Leere.
Die SHAROKAAN bebte, als eine besonders mächtige Woge heranrollte und sich brüllend an ihrer Flanke brach.
Der Seegang war nur scheinbar gleichmäßig. Skar hatte Zeit genug gehabt, ihn zu studieren: Jede zehnte oder zwölfte Welle war größer als die anderen, eine brüllende Wand aus schäumendem graugrünem Wasser, als müsse das Meer jedesmal Atem schöpfen, um zu einem besonders wütenden Hieb gegen den frechen Eindringling auszuholen, der es gewagt hatte, so weit in sein Reich einzudringen. Für einen Moment krängte das Schiff über; eisiges Wasser schwappte auf das Deck und schlug mit einer Million winziger schäumender Krallen nach Skars Beinen, so daß er sich unwillkürlich fester an die Reling klammerte. Das bewahrte ihn zwar davor, über Bord gespült zu werden, würde ihm aber nichts nützen, wenn die SHAROKAAN wirklich kenterte. Ein Sturz in das eisige Wasser mußte in wenigen Augenblicken zum Tode führen. Doch er wußte auch, daß das so plump wirkende Schiff eine ganze Menge mehr vertrug als diesen Sturm. Der Freisegler mochte dem ungeübten Auge einer Landratte, wie Del und er es noch vor wenigen Tagen gewesen waren, schwerfällig erscheinen, aber dieser Eindruck täuschte. Der Dreimaster erreichte bei voll aufgezogener Takelage eine erstaunliche Geschwindigkeit, und der breit ausladende Rumpf widerstand Brechern, die weitaus größere Schiffe wie Spielzeuge zerschmettert hätten. Nein – das Meer war nicht ihr Feind. Die wirkliche Gefahr kam aus einer ganz anderen Richtung.
Skar drehte das Gesicht in den Wind und blinzelte aus zusammengekniffenen Augen nach Westen. Selbst mit bloßem Auge war der Dronte jetzt zu erkennen: ein winziger schwarzer Punkt, der im monotonen Takt der Wellen am Horizont erschien und wieder verschwand, erschien und wieder verschwand, immer und immer wieder, als wolle er sie damit zusätzlich verspotten.
Seine Hand glitt unwillkürlich zum Gürtel und fuhr über die leere Schwertscheide. Das Gefühl, unbewaffnet zu sein, irritierte ihn noch immer. Er kam sich nackt und schutzlos vor. Selbst der Gedanke, daß dieser Kampf nach anderen Regeln als den ihm vertrauten ausgetragen wurde und ihm die Waffe sowieso nichts genutzt hätte, änderte nichts daran. Er hatte Rayan einmal gebeten, ihm seine Waffe wiederzugeben, gleich nachdem sie den Dronte zum ersten Mal sichteten, aber der Freisegler war hart geblieben. Niemand außer ihm und den beiden Veden besaß an Bord das Recht, Waffen zu tragen; nicht einmal einen Dolch oder einen Zierdegen. Skar hatte nicht noch einmal gefragt. Er war es nicht gewohnt, zu betteln.
Sein Blick wanderte ziellos über das Deck. Die verquollenen Planken waren von einer matt glänzenden Schicht aus eingetrocknetem Salz und Fett überzogen; da und dort hatten sich Rauhreif und Eis in kleinen glitzernden Nestern festgesetzt. Takelage und Segel waren schwer vom Eis, und von der Reling wuchs ein bizarres Netz blitzender Eiszapfen.
Skar brach ein paar davon mit einer spielerischen Bewegung ab, warf sie ins Meer und sah ihnen nach, bis sie in den schäumenden Fluten versunken waren, ehe er sich herumdrehte und den Matrosen bei ihrem ruhelosen Tun zusah. Die Hälfte der Besatzung schien ununterbrochen damit beschäftigt zu sein, Taue und Segel frei und geschmeidig zu halten. Sie kämpften einen vergeblichen Kampf. Der Sturm überschüttete das Schiff seit Tagen mit einem Sprühregen aus Wasser und Hagel und Schnee. Feuchtigkeit, klamme, alles durchdringende Nässe hüllte es ein wie der Atem eines eisigen Gottes, kroch beharrlich in Holz und Segel und Tauwerk, selbst in die Körper der Männer, durchtränkte gleichermaßen ihre Kleider wie ihre Bewegungen, ihre Gedanken und ihre Seelen. Die SHAROKAAN schien sich mit Wasser vollgesogen zu haben wie ein gigantischer Schwamm, und die eisige Kälte ließ die Feuchtigkeit rascher gefrieren, als die Männer das Eis abkratzen und wegschlagen konnten. Das Schiff stöhnte bereits jetzt unter der schweren Last des Eispanzers, der sich wie ein wucherndes Geschwür über Deck und Rumpf und Segel und Masten ausbreitete, dünne, glitzernde Arme um Reling und Tauwerk schlang und bizarre weiße Gewächse aus Ecken und Winkeln emporsprießen ließ. Selbst das Salz, das sie anfangs verwendeten, um auf den vereisten Planken wenigstens schmale Wege begehbar zu halten, hatte jetzt seine Wirkung verloren. Das Meer schien sich einen bösen Spaß daraus zu machen, es rascher von Deck zu waschen, als sie es ausstreuen konnten, und die so vom Eis befreiten Planken nur noch schneller wieder mit einer rutschigen Schicht zu überziehen. Auch wenn der Dronte mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte –, die SHAROKAAN wurde stündlich langsamer, um eine Winzigkeit nur, aber stetig, und der Zeitpunkt war abzusehen, an dem das Schiff überhaupt keine Fahrt mehr machen oder einfach unter dem Gewicht des auf ihm lastenden Eises auseinanderbrechen würde. Es lag schon jetzt merklich tiefer im Wasser als zu Beginn der Reise.
Aber wahrscheinlich würde es gar nicht soweit kommen, dachte Skar düster. Irgendwann im Laufe der nächsten Tage mußte der Dronte nahe genug herangekommen sein, um seine furchtbaren Katapulte einsetzen zu können. Das gnadenlose Rennen zwischen ihnen und dem schwarzen Segler dauerte nun schon mehr als drei Tage und Nächte, aber an seinem Ausgang hatte von Anfang an kein ernsthafter Zweifel bestanden. Der Dronte war schneller. Nicht viel, aber er war schneller.
Skar trat von der Reling zurück und versuchte, die Gedanken an den Dronte und das, was vor ihnen lag, abzuschütteln. Es ging nicht, genausowenig, wie sie der Gefahr entgehen konnten, indem sie sie einfach ignorierten, konnte er sie aus seinen Gedanken verbannen.
Fröstelnd schlang er die Arme um den Oberkörper, trat einen Moment auf der Stelle und schlitterte dann vorsichtig über das vereiste Deck zum Achteraufbau zurück. Eine Eisplatte löste sich von einem der Hauptsegel, als er unter dem Mast hindurchging, krachte weniger als einen Meter neben ihm wie eine gläserne Guillotine herab und zerbarst klirrend, aber Skar zuckte nicht einmal zusammen. Selbst gegen die größte Gefahr stumpft man mit der Zeit ab, wenn man ihr ständig ausgesetzt ist. Das Segel blähte sich, für einen Moment von der erdrückenden Last des Eises befreit, und ein ganzer Hagel kleinerer Eisstücke und Trümmer prasselte auf das Deck herab. Der Mast ächzte unter der plötzlichen Belastung, und das Knattern des Stoffes erinnerte Skar an den dumpfen Trommelschlag galoppierender Pferde, einen Laut, den er in letzter Zeit immer häufiger vermißte. Satai waren nicht für das Meer geboren, wenigstens das hatte er begriffen. Wenn auch vielleicht zu spät. Das Schiff zitterte unter seinen Füßen. Er blieb stehen, legte den Kopf in den Nacken und blinzelte zu den winzigen, buntgekleideten Gestalten empor, die hoch über ihm durch die Takelage krochen und mit Äxten und Pickeln den schimmernden Panzer aufzubrechen versuchten. Die Männer waren mit Seilen und Ketten gesichert. Trotzdem war das, was sie taten, lebensgefährlich. Sie hatten schon vier Männer verloren; Opfer der Kälte und des tückischen Windes, die die schmalen Spieren in tödliche Fallen verwandelten, vereiste Laufstege, auf denen eine einzige Unaufmerksamkeit, ein Sekundenbruchteil des Leichtsinns bereits den sicheren Tod bedeutete. Der Anblick ließ Skar an ein gewaltiges, kompliziert gewobenes Netz denken, in dessen zahlreichen Zentren sich große plumpe Spinnentiere bewegten. Die vier, die bisher umgekommen waren, würden nicht die letzten sein. Und die Männer dort oben wußten das; vielleicht besser als er. Dessenungeachtet stiegen sie weiter hinauf, ohne zu protestieren, stellten sich dem Wind und der Kälte und arbeiteten, bis ihre Finger steif und nutzlos geworden waren und sie von anderen abgelöst werden mußten.
Skar ging weiter, öffnete die niedrige Tür und eilte zur Kajüte herunter. Die Treppe führte steil in die Tiefe und war auf den obersten Stufen vereist wie das Deck, und Skar mußte den Kopf einziehen, um sich nicht an der niedrigen Decke zu stoßen. Eine Wolke übelriechender, schaler Luft schlug ihm entgegen, und wie immer, wenn er sich unter Deck aufhielt, hatte er im ersten Moment das Gefühl, ersticken zu müssen.
Freisegler waren keine Passagierschiffe. Es gab hier keine hellen, freundlichen Kabinen mit Schlaf- oder Waschgelegenheiten, sondern nur einen einzigen niedrigen Raum, der gleichermaßen für den Kapitän als auch die Besatzung und eventuelle Passagiere als Unterkunft diente und zudem noch einige Fuß unter der Wasserlinie lag.
Skar blieb eine halbe Sekunde lang unter dem Eingang stehen, sah sich in dem von trüber rötlicher Helligkeit erleuchteten Raum um und ging dann auf Gowenna und Rayan zu, die an einem roh gezimmerten Tisch hockten und aufgeregt miteinander debattierten. Neben dem Freisegler saß Helth, einer der beiden Veden, die ihn gewöhnlich auf Schritt und Tritt begleiteten. Skar zögerte ein wenig im Weitergehen, aber das war nicht allein auf die Anwesenheit des schwarzhaarigen Hünen zurückzuführen – obwohl es kein Geheimnis war, daß sie nicht gerade Freunde waren. Er fühlte sich unwohl, körperlich unwohl. Die Wände waren feucht und strömten einen durchdringenden Modergeruch aus, und die niedrige Decke vermittelte ihm ein kaum zu bezwingendes Gefühl von Platzangst. In den Ritzen des Fußbodens hatte sich Wasser gesammelt, und trotz der glühenden Kohlebecken an den Wänden war es hier und da zur Bildung von Rauhreif gekommen: erste Vorboten des eisigen Winters, der das Schiff gepackt hatte und sich beharrlich in seine Eingeweide wühlte. Dazu kam das Wissen, sich tief unter der Wasseroberfläche zu befinden. Ein Wissen, das in Skar das Gefühl weckte, lebendig begraben zu sein. Er konnte das Wasser spüren. Tonnen um Tonnen eisigen, tödlichen Wassers, das das Schiff wie eine gewaltige Faust umklammerte und gierig an seinen Flanken leckte, immer auf der Suche nach einem Riß, einer Spalte, einer haarfeinen undichten Stelle, die es sprengen und zu einem Leck erweitern konnte.
Skars Atem ging unwillkürlich schneller. Er versuchte den Gedanken zu vertreiben und sich einzureden, daß seine Sorgen unbegründet seien, aber die Furcht in seiner Seele war nicht von der Art, gegen die man sich mit Logik zur Wehr setzen konnte.
Gowenna sah auf, als er neben sie trat. Ihre Haut glänzte wie Wachs in der trübroten Beleuchtung, und ihr Haar war, obwohl sie es auch hier an Bord jeden Tag sorgsam kämmte und bürstete, strähnig und glanzlos geworden. Das Salzwasser hatte die Farbe herausgebissen. Sie schien um Jahre gealtert und wirkte krank. Aber sie hatte die Wache vor Skar gehabt – zwölf Stunden bei eisigem Wind und kälteklirrender Luft –, und ihre Züge waren von der Anstrengung gezeichnet.
Skar nickte knapp. »Du schläfst nicht?«
Gowenna verneinte. »Nein, wie du siehst.« Sie sprach schnell und fast ohne jede Betonung, und ihre Lippen, die sich nur zur Hälfte bewegten, ließen die Worte noch monotoner erscheinen, als sie ohnehin klangen.
»Ich konnte nicht schlafen.« Sie machte eine einladende Geste, stützte sich mit den Ellbogen auf die Tischplatte und bettete das Kinn in die Hände.
Skar zögerte einen Moment und ließ sich dann auf einen der dreibeinigen Schemel sinken. Sein Blick suchte den Rayans. Sie waren seit elf Tagen an Bord der SHAROKAAN, aber es war das erste Mal, daß er Rayan – oder irgendein anderes Mitglied der Besatzung – im Gespräch mit Gowenna sah. Bisher hatten sie alle ihre Nähe beinahe ängstlich gemieden.
Zwischen den buschigen Brauen des Freiseglers entstand eine steile Falte. »Du hast Wache«, sagte er leise. Rayan war kein Mann großer Worte. Während der letzten Tage war seine Art zu reden noch knapper als gewöhnlich geworden, und wenn er überhaupt sprach, dann kam er ohne Umschweife oder verzierende Schnörkel direkt zur Sache.
»Möglich«, antwortete Skar trotzig. »Aber ich pflege Befehle nur dann zu befolgen, wenn ich ihren Sinn zu erkennen vermag.«
Seine rüde Antwort tat ihm fast sofort wieder leid. Er hatte keinen Streit mit Rayan; im Gegenteil. Aber die Stimmung an Bord war gereizt, und er machte da keine Ausnahme. Schließlich war auch er nur ein Mensch.
Zu seiner Überraschung nahm Rayan die Worte hin, ohne mehr als ein leises Stirnrunzeln als Zeichen seiner Mißbilligung zu äußern.
»Skar hat recht«, sagte Gowenna. »Eine Wache hat nur dann Sinn, wenn es etwas zu bewachen gibt. Es hat nicht sehr viel Sinn, seine Kräfte damit zu verschleißen, daß man dem Sturm zusieht und die Hagelkörner zählt. Es wäre klüger, wenn du deine Leute für den Kampf schonst.«
Der Vede wollte auffahren, aber Rayan brachte ihn mit einer raschen Handbewegung zur Ruhe. Er lehnte sich zurück, musterte Gowenna mit einem schwer zu deutenden Blick und verschränkte die Arme vor der Brust. In seiner Stimme schwang ein spöttischer Ton, als er antwortete. »Es wird keinen Kampf geben«, sagte er ruhig. »Gegen Brandgeschosse kämpft es sich schlecht.«
»Wie lange wird es noch dauern, bis sie uns einholen?« fragte Skar hastig, als er sah, wie sich Gowennas Gesicht vor Ärger verdüsterte. Auch sie war reizbarer geworden. Schon eine spöttische Entgegnung wie die Rayans konnte genügen, sie aus der Haut fahren zu lassen. Und das letzte, was sie im Moment gebrauchen konnten, war ein Streit zwischen einem von ihnen und Rayan oder seinen Veden. Sie waren Gäste an Bord, aber – das hatte er sehr schnell begriffen – keine willkommenen, sondern allerhöchstens geduldete Gäste.
Rayan zuckte mit den Achseln, beugte sich vor und griff nach der ausgefransten Zeichenfeder, die vor ihm lag, um damit zu spielen. Ihre Spitze hinterließ eine Reihe unregelmäßiger dunkler Tintenflecke auf der Tischplatte.
»Einen Tag«, antwortete er nach kurzem Überlegen. »Allerhöchstens zwei –, wenn wir Glück haben und unser Tempo halten können, heißt das. Vielleicht auch weniger«, fügte er mit einem lakonischen Achselzucken hinzu. »Niemand weiß genau, wie weit ihre Katapulte schießen. Aber wir werden es sicher bald erfahren.«
»Zumindest weiter als unsere Pfeile«, sagte Gowenna. Sie fuhr plötzlich herum, starrte Skar an und schlug die Faust in die geöffnete Linke. »Der Gedanke, mich wie ein Stück Vieh abschlachten zu lassen, macht mich krank«, stieß sie hervor.
Skar erwiderte ihren Blick gelassen. Der unausgesprochene Vorwurf in ihren Worten entging ihm keineswegs, aber er antwortete nicht darauf. Er hatte es aufgegeben, mit Gowenna zu streiten. Weder über dieses noch über irgendein anderes Thema. Sie war nicht mehr die Frau, die er in Ikne kennengelernt hatte. Schon lange nicht mehr. Ihr Gesicht war nicht das einzige, was zerstört war. Der Atem des Drachen hatte auch ihre Seele verbrannt.
»Ich will wenigstens einen von diesen Halunken mitnehmen, ehe es mich erwischt«, fuhr sie nach sekundenlangem Schweigen fort.
»Die Gelegenheit hast du verpaßt«, sagte der Vede halblaut.
Skar sah alarmiert auf. Veden galten schon im allgemeinen als schweigsam und verschlossen, und die beiden schienen sich ihrem Dienstherrn noch mehr angepaßt zu haben. Er konnte sich nicht erinnern, daß einer von ihnen während der ganzen Fahrt mehr als zehn zusammenhängende Worte geredet hätte. Aber er hatte auch nicht viel Kontakt mit ihnen gehabt. Noch mehr als Rayan und seine Männer mieden sie seine und Gowennas oder Dels Nähe, gingen ihnen unauffällig; aber konsequent aus dem Weg und beschränkten sich darauf, auf eine direkte Frage mit einem Kopfnicken oder einer Geste zu antworten. Um so mehr überraschten ihn jetzt die Worte des Veden; nicht so sehr, was er sagte, sondern wie er es tat. Seine Stimme vibrierte beinahe unhörbar, und seine Haltung war nur scheinbar entspannt und drückte in Wahrheit Aggressivität und Wut aus, Regungen, die Skar an dem Veden noch nie zuvor bemerkt hatte.
»Du hättest über Bord springen und den Dronte entern können, als er nahe genug war. Vielleicht hätte uns das einen größeren Vorsprung verschafft.«
»Helth!« sagte Rayan scharf.
Der Vede fuhr zusammen, sah Rayan für die Dauer eines Lidschlages mit undeutbarem Ausdruck an und wandte sich ab. Sein Gesicht erstarrte wieder zu einer unbeweglichen Maske. Für einen Moment erinnerte er Skar an Gowenna – jene Gowenna, die in der flammenden Hölle Combats verbrannt war, nicht die, die neben ihm saß.
Skar sah an der Reaktion auf Gowennas Zügen, daß es in ihr brodelte. Ihre Hand glitt zum Gürtel und krampfte sich um die leere Schwertscheide.
»Du warst dabei, die Karte zu studieren?« fragte er hastig, um die Situation zu entspannen. Die Stimmung an Bord hatte sich während der letzten drei Tage merklich verschlechtert, und er spürte, daß nur noch ein winziger Anlaß notwendig war, um das Schiff wie ein Pulverfaß explodieren zu lassen. Ihr Verhältnis zu den Veden war schon zu Beginn der Reise nicht gerade gut gewesen, besonders Gowenna begegnete den beiden Nordländern mit kaum verhohlener Feindschaft, der gleichen eifersüchtigen Feindschaft, die sie auch ihm anfangs entgegengebracht hatte und die wohl noch immer irgendwo in ihr schlummerte. Aber es war noch etwas anderes hinzugekommen, etwas, das zuvor in ihrem Wesen fehlte und ihr vielleicht einen letzten Rest von Menschlichkeit beließ. Verbitterung. War sie vorher nur von Mißtrauen und einer geradezu grenzenlosen Wut auf die gesamte Menschheit erfüllt gewesen, so war jetzt auch noch Haß hinzugekommen. Selbst Skar ertappte sich in letzter Zeit immer öfter dabei, daß er beinahe so etwas wie Furcht vor Gowenna verspürte. Eine Furcht, die durch den Anblick ihres verbrannten Gesichts nur noch vertieft wurde. Und die drohende Gefahr hatte die aufgestauten Ängste noch verstärkt. Rayan schenkte ihm einen raschen, dankbaren Blick, der ihm zeigte, daß er seine Absicht durchaus verstanden hatte, und nickte. »Das habe ich. Aber es ist reine Zeitverschwendung.« Er deutete auf die ausgebleichte Karte, die vor ihm auf dem Tisch lag. Fett, Schmutz und große, bräunliche Flecken, wo das Pergament ausgetrocknet und brüchig geworden war, verunzierten ihre Oberfläche. Die Ränder waren unregelmäßig vor langer Zeit einmal aus einer weitaus größeren Karte herausgerissen worden. Die Tinte war längst verblichen und die Schriftzeichen für den, der nicht sowieso wußte, was sie bedeuteten, unleserlich.
Rayan tippte mit dem Zeigefinger auf eine gestrichelte Linie, die Skar mit einiger Phantasie als die Küste des Drachenlandes erkannte.
»Wir sind hier losgesegelt«, erklärte er. »In Anchor. Und hier« – er bezeichnete einen Punkt dicht daneben, ohne daß Skar klar wurde, wieso er in diesem unleserlichen Wirrwarr aus Strichen und Linien und verschmiertem Dreck irgend etwas erkennen oder gar ihre Position bestimmen konnte – »sind wir auf den Dronte gestoßen. Von dort aus sind wir ununterbrochen nach Nordwesten gesegelt und müßten uns jetzt ungefähr …« Er zögerte, fuhr mit der Fingerkuppe über den Rand der Karte hinaus und bezeichnete eine Stelle zwischen der Tischkante und dem Rand des Blattes, »… hier befinden.«
»So weit?« zweifelte Skar.
Rayan nickte. »Eher weiter. Tausend Meilen, schätze ich.«
Rayan verzog beleidigt das Gesicht. »Vielleicht sind es auch nur achthundert« schränkte er ein. »Vielleicht mehr, vielleicht weniger. Dieser verdammte Sturm hat uns weit vom Kurs gebracht. Ich weiß nicht, wie weit er uns von der Küste weggetrieben hat.«
»Könnt ihr Seeleute nicht die Position anhand der Sterne bestimmen?« fragte Gowenna.
Rayan starrte sie finster an und antwortete gar nicht.
»Und was«, fragte Skar rasch, »liegt vor uns?«
»Das wissen die Götter«, antwortete Rayan. »Und vielleicht noch die Fische. Es kann alles sein. Tausend Meilen leerer Ozean, Inseln, Festland, das Nichts …« Er seufzte. »Wenigstens wissen wir, was hinter uns ist.«
Skar wandte unwillkürlich den Blick nach Osten. Selbst durch den massiven Rumpf des Schiffes hindurch glaubte er plötzlich den dunklen, auf und ab hüpfenden Schmutzfleck auf dem Horizont zu erkennen. Es würden noch viele Stunden vergehen, ehe der Punkt so groß wurde, daß er die bizarre Form des gefürchteten schwarzen Segels erkennen konnte, und trotzdem glaubte er, die Nähe der Gefahr wie einen körperlichen Schmerz zu fühlen. Für einen Moment verspürte er ein aberwitziges Gefühl des Bedauerns. Er konnte Gowennas Unruhe verstehen – es war die gleiche Art von Unruhe, die auch ihn quälte, nur gedämpft durch die Erfahrung eines zehn Jahre längeren Lebens; oder was er dafür hielt. Die Gewißheit, einen Kampf ohne die geringsten Aussichten auf einen Sieg antreten zu müssen, war schlimm. Aber Stunde um Stunde dazusitzen und das unbarmherzige Näherkommen des Kaperschiffes zu beobachten war beinahe noch schlimmer.
Er hielt Rayans Blick sekundenlang stand, versuchte zu lächeln und stand auf. Er fror. Die Kälte war längst auch in diesen Teil des Schiffes gekrochen, und die glühenden Kohlebecken kämpften einen vergeblichen Kampf gegen die Feuchtigkeit, die ihr auf dem Fuß folgte. Trotzdem trugen sowohl Gowenna als auch er nur dünne Lederhemden über ihren Panzern. Warme Kleidung, das hatten sie bereits nach den ersten Stunden an Deck feststellen müssen, nutzte an Deck kaum etwas. Der eisige Wind durchdrang alles, tränkte selbst die dicksten Pelze mit Feuchtigkeit und verwandelte sie in wenigen Augenblicken in kalte, klamme Mäntel, die ihre Körper eher noch mehr auskühlten als wärmten.
»Wohin?« fragte Rayan.
Skar deutete mit einer Kopfbewegung auf die niedrige Tür am anderen Ende des Raumes. »Ich werde nach Del sehen«, sagte er. »Vielleicht kann ich auch ein wenig schlafen oder wenigstens ausruhen.«
»Und deine Wache?« erinnerte Helth.
Skar schenkte ihm einen abfälligen Blick. »Ich schenke sie dir«, sagte er bissig. »Stell dich selbst an die Reling, wenn du Angst hast, daß dir der Himmel auf den Kopf fällt.« Seine Worte waren schärfer, als im Augenblick vielleicht angebracht war. Er lag nicht im Streit mit dem Veden und wollte ihn auch nicht, aber die hochmütige Art, in der Helth Gowenna behandelt hatte, ärgerte ihn. Er wußte wohl von allen an Bord am allerbesten, wie wenig Gowenna einen Beschützer brauchte, aber sie waren zu lange zusammen, als daß es ihm gleichgültig sein konnte, wie man sie behandelte. Vielleicht war er auch trotz allem zu sehr Mann, und Gowenna, trotz allem zu sehr Frau. Der logische Teil seines Denkens sagte ihm, daß Gowenna von dem Veden nichts zu befürchten hatte. Helth war, unbeschadet seines hochmütigen Auftretens und der Meisterschaft, mit der er seine Waffen zu handhaben verstand, nicht viel mehr als ein zu groß geratenes Kind, und zudem der einzige an Bord, der nicht wußte, wie sehr Gowenna ihm überlegen war; nicht nur mit Worten. Aber es gab noch einen anderen Skar, einen, der einfach nur Mann war und dessen Beschützerinstinkte durch Gowennas Anwesenheit geweckt wurden, der ihm zumindest das Gefühl gab, etwas für sie zu empfinden, auch wenn es in Wirklichkeit nicht da war. Nicht mehr. Trotzdem konnte er nicht so tun, als wäre sie eine Fremde. Dazu waren sie zu lange zusammengewesen.
Er schenkte Helth einen letzten, bösen Blick, wandte sich mit einem Ruck um und ging mit weit ausgreifenden Schritten auf die Tür zu.
Der Gang war fensterlos niedrig, wie alle Räume an Bord der SHAROKAAN, und führte durch die volle Länge des Schiffes bis zum Bug hin. Der Boden war hier nicht massiv wie in der Mannschaftskabine, sondern bestand lediglich aus einem grob zusammengenagelten Lattenrost, der unter seinen Schritten federte und unter dem das faulige Wasser der Bilge sichtbar wurde. An den Wänden waren Flecken hellgrauen Schmierpilzes gewachsen, und das Dröhnen der Brecher, die monoton gegen den Rumpf schlugen, klang hier unten wie ein dumpfer, nie aufhörender Trommelwirbel. Skars Unwohlsein schien sich zu verstärken, als er den Gang betrat. Die Enge vermittelte ihm den Eindruck, eingesperrt zu sein. Er fragte sich unwillkürlich, warum jemand, der ein Schiff konstruierte und baute, auf diese Winzigkeit verzichten mußte. Die SHAROKAAN war ein großes Schiff – es hätte ihrem Stauraum kaum Abbruch getan, die Decken einen Fuß höher und die Wände ein paar Zoll weiter auseinander anzubringen, so daß man nicht ständig das Gefühl haben mußte, lebendig begraben zu sein. Aber Seefahrer waren ohnehin ein Volk für sich, das er wahrscheinlich nie verstehen würde. Der Gang wurde so gut wie nie benutzt – das Deck der SHAROKAAN war nicht so massiv, wie es einem Außenstehenden erscheinen mochte, sondern bestand im Grunde nur aus einem Balkengerüst, auf das einzelne Platten wie übergroße Dachpfannen aufgelegt waren, so daß jeder Punkt der Laderäume bequem von oben erreicht werden konnte, und Del und er waren vielleicht seit Jahren die ersten, die regelmäßig hier herunterkamen. Auf dem Boden lag der Staub von Jahrzehnten, von Nässe und Fäulnis zu einer schmierigen Schicht zusammengebacken, in der seine Schritte saugende Geräusche verursachten und die ihn festzuhalten versuchte, so daß er ständig glaubte, gegen einen unsichtbaren Widerstand ankämpfen zu müssen.
Skar fröstelte, senkte den Kopf ein wenig und ging schneller. Die Kälte war hier unangenehmer als hinten in der Kabine – nicht schlimmer, aber direkter und aufdringlicher, als hätte sie ihm aufgelauert, um hier, wo er allein und nicht in der Gesellschaft anderer war, mit ganzer Kraft über ihn herzufallen.
Er erreichte das Ende des Ganges, schob den Riegel zurück und betrat die dahinterliegende Kammer. Sie maß kaum drei Schritte im Quadrat und wurde auf der gegenüberliegenden Seite von einem mannshohen, aus fingerdicken Stangen von eisenhartem altem Eichenholz gefertigten Gitter abgeschlossen. Sorgsam zog er die Tür hinter sich wieder zu, ehe er sich umdrehte und den wuchtigen Schlüssel von der Wand nahm. Er war so alt und grob wie dieses Schiff und hing offen an einem krummgeschlagenen Nagel, aber doch so weit vom hinteren Teil der Kammer entfernt, daß keiner, der seinen Arm durch die Gittertür zwängte, ihn erreichen konnte.
Skar steckte den Schlüssel ins Schloß, drehte ihn halb herum und zögerte einen Herzschlag lang. Sein Blick glitt mit einem Mißtrauen, das so unbegründet wie unbewußt war, durch den winzigen, nur schwach erhellten Raum auf der anderen Seite des Gitters.
Er war nur wenig größer als dieser Teil der Kammer, in der er sich jetzt noch befand, und auf schwer in Worte zu fassende Weise düster. Wenn er jemals einen Ort gesehen hatte, auf den das Wort Kerkeratmosphäre zutraf, dann war es dieser winzige Verschlag im Bug der SHAROKAAN. Die Wände zogen sich im vorderen Teil der Kammer, der Krümmung des Schiffsrumpfes folgend, zusammen und schienen seine Insassen erdrücken zu wollen, und wenn der Boden auch hier, anders als hinten im Gang, massiv war, so glaubte er die lauernde kalte Tiefe darunter doch zu spüren.
Del lehnte mit geschlossenen Augen an der Wand und schlief; wie meistens, wenn er herkam, und auch Vela hatte sich auf dem niedrigen, mit Stroh und Decken gepolsterten Lager ausgestreckt und das Gesicht in der Armbeuge vergraben. Die dünne Kette, die ihr linkes Handgelenk mit dem wuchtigen Eisenring in der Wand verband, glitzerte wie eine silberne Schlange auf dem mattgrauen Stoff ihres Gewandes, dessen zerschlissene Seide mit dem schmutzigen Braun der Wände zu verschmelzen schien, als hätte das Schiff bereits angefangen, sie aufzusaugen. Skar drehte den Schlüssel vollends herum und warf sich leicht mit der Schulter gegen das Gitter, um es in den verquollenen hölzernen Angeln zu bewegen. Das quietschende Geräusch hallte überlaut in der winzigen Kammer wider.
Del öffnete träge ein Auge, blinzelte und schnitt eine Grimasse, als er ihn erkannte. Sein Gesicht zeigte jenes verquollene Aussehen eines Menschen, den man unvermittelt aus dem tiefsten Schlaf gerissen hatte. Die Errish rührte sich nicht.
»Ist es schon soweit?« fragte Del gähnend. Er reckte sich, so daß sich seine mächtigen Oberarmmuskeln für einen Moment deutlich unter dem dünnen Wollcape abzeichneten, das er über seinen Panzer geworfen hatte, schlug spielerisch mit den Fingerknöcheln gegen die Wand über seinem Kopf und ließ die Arme klatschend auf seine Oberschenkel fallen. Er trug noch immer den schwarzen Panzer aus Tuan, obwohl er unpraktisch und kaum sicherer als der Lederharnisch der Satai war. Aber er war jung genug, daß Skar ihm diese romantische Spielerei vergab, und früher oder später würde er wohl von selbst einsehen, daß er sich eher lächerlich als interessant machte.
Skar zog das Gitter hinter sich zu und sah den jungen Satai kopfschüttelnd an. »Wenn du mit deiner Frage meinst, ob der Dronte schon heran ist, dann lautet die Antwort nein«, sagte er. »Und wenn du wissen willst, ob deine Wache vorbei ist …« Er hob die Schultern, suchte sich einen einigermaßen trockenen Platz auf dem Fußboden und ließ sich mit überkreuzten Beinen darauf nieder, ehe er weitersprach. »Das kommt darauf an – wenn du das Gefühl hast, ausgeschlafen zu haben, dann müßten die zwölf Stunden vorüber sein.«
Del grinste, warf einen flüchtigen Blick auf die schlafende Errish neben sich und rieb sich mit den Knöcheln der Rechten über die Augen. »Höre ich da so etwas wie Kritik in deiner Stimme?« fragte en Seine Worte hatten spöttisch klingen sollen, aber er war noch immer nicht richtig wach und sprach so undeutlich, daß Skar Mühe hatte, ihn überhaupt zu verstehen. »Es ist nicht gerade kurzweilig, zwölf Stunden neben einer Stummen zu sitzen, weißt du? Ein Stein ist gesprächiger als sie.«
Skar spürte einen scharfen, raschen Stich in der Brust. Dels Stimme hatte bei den letzten beiden Sätzen kalt geklungen, nicht feindselig, sondern so unbeteiligt, als spräche er tatsächlich über einen Stein. Was immer die Sumpfmänner mit ihm gemacht hatten – sie hatten jedes Gefühl, das er jemals für die Errish empfand, ausgelöscht; so gründlich, als hätte es niemals existiert. Vielleicht gründlicher. Und sie hatten dafür gesorgt, daß es niemals wiederkommen konnte.
Aber der Gedanke beruhigte Skar nicht. Im Gegenteil. Es gab Augenblicke, in denen er sich nicht sicher war, vor wem er mehr Furcht empfinden sollte – vor Vela oder dem breitschultrigen Riesen, der einmal sein Freund gewesen war. Seit sie Elay verlassen hatten, versuchte er sich einzureden, daß das alles nicht stimmte und er sich nur selbst verrückt machte, aber er spürte einfach, daß Del nicht mehr er selbst war. Etwas fehlte in seinem Wesen. Aber er wußte nicht, was.
»Was macht der Kapersegler?« fragte Del, plötzlich wieder ernst werdend.
»Er kommt näher«, antwortete Skar. »Aber wir haben noch Zeit. Vielleicht zwei Tage. Möglicherweise finden wir irgendwo Land oder eine Insel …« Er zuckte abermals mit den Schultern, lehnte sich zurück und fuhr hastig wieder hoch, als sein Rücken die Wand berührte. Das Holz war eisig. Obwohl in der winzigen Kammer nahezu gleich viele Kohlebecken aufgestellt waren wie in der großen Kabine im Heck, vermochte ihre Glut die feuchte Kälte nicht zu vertreiben, die sich in ihren Wänden eingenistet hatte.
Als sie in Anchor aufgebrochen waren, hatte der Sommer seinen Einzug gehalten, aber der Dronte jagte sie immer weiter nach Norden, hinein in ein Reich von ewigem Winter und eisiger Kälte.
»Ich wollte, wir hätten uns zum Kampf gestellt«, murmelte Del, als hätte er seine Gedanken erraten.
Skar spürte einen plötzlichen Zorn in sich aufsteigen. Er war nicht hierhergekommen, um über den Dronte zu reden, und er wollte auch nicht das Gespräch, das Gowenna ihm hatte aufzwingen wollen, nun mit Del fortsetzen. Aber er beherrschte sich und zog statt der scharfen Antwort, die ihm auf der Zunge lag, nur die linke Augenbraue ein Stück nach oben. »Kampf?« wiederholte er. »Was für einen Kampf meinst du, Del? Niemand hat je gegen einen Dronte gekämpft. Er kämpft gegen die anderen. Das ist ein Unterschied.«
Del wischte seinen Einwand mit einer unwilligen Geste beiseite. »Unsinn«, sagte er. »Niemand hat es je versucht. Du hast diese Fischgesichter doch gesehen – sie haben sich doch schon fast vor Angst in die Hosen gemacht, als sie das Schiff nur sahen! Rayan hätte beidrehen und sich zum Kampf stellen sollen. Wir hätten eine gute Chance gehabt. Bisher haben diese Piraten immer nur wehrlose Handelsschiffe überfallen, vergiß das nicht.«
»Während die SHAROKAAN bis an die Zähne bewaffnet ist, wie?« fragte Skar spöttisch. »Mit Tonnen von Caba-Nüssen und Stoffballen, mit denen wir werfen können.«
Del runzelte die Stirn. »Immerhin sind wir an Bord«, erinnerte er.
Skar nickte. »Sicherlich. Zwei Satai, die froh sind, noch einmal mit dem Leben davongekommen zu sein …«
»Und zwei Veden«, fiel ihm Del ins Wort. »Auch wenn ich diese eingebildeten Gimpel nicht leiden kann, heißt das nicht, daß sie nicht imstande wären, ihr Schwert zu führen.« Er setzte sich ein Stück weiter auf, hob die Hand und streckte vier Finger aus. »Und da wäre noch Gowenna«, sagte er und hielt nun auch noch den Daumen in die Höhe. »Wir fünf sollten doch ausreichen, mit ein paar dahergelaufenen Piraten fertig zu werden.«
Skar verzichtete auf eine Antwort. Del wußte so gut wie er, daß er Unsinn redete, aber seine Worte weckten wieder die Erinnerung an ihre erste, schreckliche Begegnung mit dem Dronte. Sie hatte nur wenige Augenblicke gedauert, aber es waren Augenblicke gewesen, die er vielleicht nie wieder vergessen würde. Vorher hatte er alles, was ihm je über die schwarzen Killersegler zu Ohren gekommen war, für übertrieben oder schlicht und einfach unwahr gehalten, aber er war rasch eines Besseren belehrt worden. Die Wirklichkeit war schlimmer gewesen.
Er hatte sich niemals vor Piraten oder ähnlichem Gelichter gefürchtet. Aber Dronte waren keine gewöhnlichen Piraten. Dronte enterten nicht. Sie töteten. Niemand wußte, warum, aber sie taten es, mitleidlos und immer. Kein Schiff hatte je den Angriff eines Dronte überlebt, und so beruhte nahezu alles, was man von ihnen wußte, auf Gerüchten und Legenden, Geschichten, die sich die Seefahrer abends in den Hafenkneipen erzählten oder mit denen sie sich vor Fremden brüsteten. Jedenfalls hatte Skar das geglaubt, bis er dem Dronte selbst gegenübergestanden hatte. Sie waren Killer, mitleidlose Jäger, die ein Wild, auf dessen Spur sie sich einmal gesetzt hatten, nie wieder verloren. Das Schiff war wie ein gigantischer schwarzer Alptraum aus der Nacht hervorgebrochen und hatte warnungslos das Feuer auf die SHAROKAAN eröffnet. Einzig durch Rayans hervorragendes seemännisches Können waren sie davor bewahrt worden, schon von der ersten Salve weißglühender Feuerbälle vernichtet zu werden.
Die Erinnerung ließ Skar schaudern. Keines der todbringenden Katapulte des Dronte hatte seine Ladung ins Ziel gebracht, und trotzdem waren sie der Vernichtung nur mit knapper Not entronnen. Eines der Brandgeschosse war dicht neben der SHAROKAAN im Meer eingeschlagen; ein flammenspeiender Stern, der das Wasser in einen kochenden Hexenkessel verwandelte und das Schiff mit siedendem Dampf verbrühte und in erstickende Schwefelnebel tauchte. Nur ein winziger Spritzer der brennenden Masse hatte das Schiff getroffen, und schon er hätte ihnen beinahe den Untergang gebracht. Fockmast und Segel waren in Flammen aufgegangen, und die Mannschaft konnte das Feuer nur mit äußerster Mühe löschen. Für wenige Augenblicke war die SHAROKAAN in einen lodernden Scheiterhaufen verwandelt, eine schwimmende Fackel inmitten der unendlichen Wasserfläche des Ozeans. Hätte das Geschoß das Schiff voll getroffen, wäre von der SHAROKAAN nichts übriggeblieben. Niemand hätte das Feuer der Hölle löschen können.
Skar schüttelte die Erinnerung mit einer ärgerlichen Bewegung ab. Doch die Bilder verblaßten nicht. Sie zogen sich zurück, verkrochen sich in einem finsteren Winkel seines Gedächtnisses, aber sie waren noch da. Lauernd, bohrend, wie ein Rudel kleiner, gefährlicher Raubtiere, jederzeit bereit, einen Moment der Unaufmerksamkeit auszunutzen und erneut über ihn herzufallen. Vielleicht würde er sie nie wieder vollkommen loswerden. Sie waren durch die Hölle gegangen in diesen wenigen Minuten, eine Hölle aus brennendem Holz und Tauwerk und Qualm und Gestank, Schreien und weißglühenden Geschossen, die erbarmungslos auf den Freisegler herunterregneten.
Aber ihre Reise stand vom ersten Augenblick lang unter keinem guten Stern. Ursprünglich hatten Del und er beabsichtigt, von Elay aus direkt nach Muur-Eyl und dann durch die westliche Wüste nach Lam zu ziehen; ein Weg, der vielleicht mühsam, aber größtenteils ungefährlich war. Aber sie hatten ihre Rechnung ohne die Ehrwürdige Mutter gemacht. Die Herrscherin des Drachenlandes hatte ihnen nicht nur ihre Dankbarkeit bekundet, sondern sie gleichzeitig auch gebeten, Gowenna und die verstoßene Errish zum Berg der Götter zu geleiten. Und die Bitte der Ehrwürdigen Mutter der Errish war Befehl. Auch – oder vielleicht gerade – für einen Satai. So mußten Del und er zustimmen, noch einmal in den Dienst der Errish zu treten und Vela zum Rat der Satai zu bringen, obwohl es ihnen widerstrebte, sich als Kerkermeister zu verdingen. Aber es hatte Gründe gegeben, diesen Auftrag anzunehmen. Gründe, die weit zurücklagen, weiter, als er sich erinnern wollte. Einer der Gründe war das Kind, das Vela in ihrem Leib trug. Sein Kind …
Skar schrak aus seinen Überlegungen hoch, als ihn Del unsanft an der Schulter berührte. »Was … ?« fragte er verwirrt.
Del zog eine Grimasse. »Ich habe dich jetzt dreimal hintereinander angesprochen«, bemerkte er spöttisch. »Sprichst du nicht mehr mit jedem, oder wirst du langsam alt?«
Skar rettete sich in ein verlegenes Lächeln. »Ich … war in Gedanken«, sagte er rasch. »Entschuldige.« Er setzte sich gerade auf, seufzte und machte Anstalten, vollends aufzustehen. »Ich lasse dich in vier Stunden ablösen«, bestimmte er. »Dann ist deine Wache nämlich offiziell vorbei. Sieh zu, daß du bis dahin ausgeschlafen hast. Es ist ziemlich ungemütlich an Deck.«
»Warte noch einen Moment«, bat Del. Plötzlich grinste er, und für einen Moment erinnerte er Skar wieder an den großen, jähzornigen Jungen, als den er ihn in Erinnerung hatte. Aber nur für einen Moment. »Ich … muß noch etwas erledigen.« Er stand auf, reckte sich noch einmal und trat gebückt durch die Gittertür. Skar runzelte ärgerlich die Stirn, als Del weiterging und sowohl das Gitter als auch die dahinterliegende Tür achtlos offenließ, verzichtete aber darauf, aufzustehen und sie zu schließen. Er hielt die Sicherheitsmaßnahmen, auf denen die Ehrwürdige Mutter bestanden hatte, ohnehin für übertrieben. Vela stellte keine Gefahr mehr dar. Die Macht, die sie gehabt hatte, war dahin, ein für allemal, und allein die dünne Kette, mit der sie gebunden war, garantierte dafür, daß sie die Zelle nicht verlassen konnte. Sie war aus Sternenstahl geschmiedet, dem gleichen, nahezu unzerstörbaren Material, aus dem auch sein Tschekal gefertigt war. Nicht einmal die Kräfte eines Banthas hätten ausgereicht, sie zu zerreißen.
Aber vielleicht diente sie auch eher Velas Schutz, so wie die Wache, in der sich Del und einer der Veden abwechselten. Es war nicht so sehr das Schiff oder seine Besatzung, die sie vor Vela beschützten, als vielmehr Vela, die zu ihrer eigenen Sicherheit hier vorne untergebracht war. Skar hatte bis jetzt nicht begriffen, wie es Gowenna gelungen war, die Ehrwürdige Mutter zu überreden, ihr – ausgerechnet ihr – die Verantwortung dafür zu übertragen, daß die ehemalige Errish sicher am Berg der Götter ankam. Ein Wächter sollte seinen Gefangenen nicht hassen. Sein Blick glitt über Velas zusammengekrümmte Gestalt. Obwohl sie auf der Seite lag und eine schwere Felldecke über sich ausgebreitet hatte, war jetzt nicht mehr zu übersehen, daß sie schwanger war. Skar versuchte nachzurechnen, wie lange es jetzt noch dauern würde, kam aber zu keinem genauen Ergebnis. Sechs, vielleicht sieben Wochen – es spielte im Grunde keine Rolle. Sie würde tot sein, lange bevor das Kind – sein Kind – zur Welt kommen konnte.
Seltsamerweise ließ ihn der Gedanke beinahe kalt. Es war sein Sohn, der da in ihrem Körper heranwuchs, aber es war ein Kind, das gegen seinen Willen entstanden war und das niemals hätte gezeugt werden dürfen. Er empfand nichts bei dem Gedanken, der Vater dieses Knaben zu sein; allerhöchstens Abscheu. Vielleicht auch so etwas wie Mitleid, aber wenn, dann war es ein Mitleid, wie er es auch einem fremden Kind entgegengebracht hätte; vielleicht mehr als seinem eigenen. Er hatte Kinder niemals gemocht – was nicht hieß, daß er sie verabscheute oder gar haßte –, und der Gedanke, daß er selbst dieses Kind gezeugt hatte und sein Vater sein sollte, erschien ihm beinahe lächerlich. In seinem Leben war kein Platz für Kinder; nicht für fremde und schon gar nicht für eigene. Vielleicht – auch darüber hatte er nachgedacht, ohne zu einem befriedigenden Ergebnis zu kommen – war es auch nur Schutz; ein Mechanismus, mit dem er sich vor sich selbst schützte, eine instinktive Abwehr gegen die Gefühle, die da in seinem Inneren lauern mochten und die sein Leben noch komplizierter gemacht hätten, als es ohnehin war. Nein – alles, was er für dieses Kind, wenn überhaupt, empfand, war Mitleid, Mitleid mit diesem noch ungeborenen Wesen, das im Grunde von ihnen allen die geringste Schuld trug.
Nach allem, was Vela getan hatte, war dies vielleicht der größte Frevel gewesen. Dieses Kind war nicht aus Liebe entstanden, nicht einmal aus Unachtsamkeit oder – und auch das hätte er verstanden und, wenn auch mit Abscheu, akzeptieren können –, um ihn zu erpressen, sondern aus dem einzigen Grund, ihre Macht zu vergrößern. Es wäre zu einer Waffe geworden, einem finsteren Gott des Bösen, ein Dämon, der das Grauen längst vergangener Zeiten wieder hätte auferstehen lassen können.
Aber soweit würde es nicht kommen. Vielleicht war es nicht einmal ein Zufall, daß der schwarze Killersegler ausgerechnet jetzt aufgetaucht war und sie jagte. Skar glaubte nicht an Götter und Dämonen, aber er war auch nicht so vermessen, sich allen Ernstes einzureden, daß es sie nicht doch geben konnte, nur weil er nicht an sie glaubte. Wenn es sie gab – da war er ganz sicher –, dann hatten sie den Dronte geschickt; Feuer gegen Feuer, die größte Geisel der Meere gegen eine Gefahr, die noch nicht einmal geboren war. Die Errish hatte selbst die Götter herausgefordert, und letztlich war es einer von ihnen gewesen, der sie besiegt hatte. Nicht er. Er war nur ein Werkzeug.
Vela bewegte sich. Der graue Stoff ihres Gewandes raschelte, und für einen Moment begegneten sich ihre Blicke. Ihre Augen waren leer; die winzigen, zu schwarzen Punkten zusammengezogenen Pupillen wirkten verschleiert und schienen direkt durch ihn hindurchzusehen. Wahrscheinlich nahm sie weder ihn noch ihre Umgebung wirklich wahr. Skar wußte nicht, was in dem grauen Pulver war, das Gowenna ihr regelmäßig in die Mahlzeiten mischte, aber er hatte am eigenen Leib gespürt, daß sich die Errish auf das Mischen von Drogen verstanden.
Ihr Geist war gefangen. Vielleicht schlief sie, vielleicht stand sie die Qualen der Hölle durch – er wußte es nicht, und er wollte es auch nicht wissen. Die Kette, die ihren Geist gefesselt hielt, war mindestens ebenso stark wie die um ihren Arm.
Del kam zurück, ließ sich fröstelnd neben einem der Kohlebecken niedersinken und rieb die Hände über der Glut aneinander. Sein Gesicht war vor Kälte gerötet. Er zitterte. Die sanitären Einrichtungen der SHAROKAAN waren eine einzige Katastrophe. Es war schon bei gutem Wetter eine Zumutung, seine Notdurft in einem nach drei Seiten offenen Drahtkorb außenbords der Reling verrichten zu müssen. Während eines Eissturmes wie dem, der das Schiff seit drei Tagen beutelte, blieb den Zuschauern selbst das schadenfrohe Lachen buchstäblich im Halse stecken.
Skar stand auf, wandte sich zur Tür und suchte hastig nach festem Halt, als das Schiff von einer stärkeren Woge getroffen wurde und sich bedrohlich auf die Seite legte. Del grinste. Skar schenkte ihm einen bösen Blick, zerbiß einen Fluch auf den Lippen und ging hastig zur Tür.
»Ich lasse dich in vier Stunden ablösen«, sagte er, während er den Schlüssel im Schloß herumdrehte und ihn sorgsam an den Haken zurückhängte.
Del knurrte eine Antwort, rollte sich unter der Wand wie ein Hund zusammen und zog mit der linken Hand eine Decke heran. Kopfschüttelnd wandte sich Skar ab. Er beneidete Del keineswegs um seine Aufgabe. Verglichen mit den Temperaturen in der Mannschaftskabine war es hier unten warm, und trotzdem hatte er schon nach den wenigen Minuten, die er hiergewesen war, das Gefühl gehabt, selbst der Gefangene und nicht der Wächter zu sein.
Mit einem letzten, abschließenden Nicken, das Del schon gar nicht mehr zur Kenntnis nahm, verließ er den Raum, legte den Riegel von außen vor die Tür und eilte durch den niedrigen Gang zurück zur Mannschaftskabine.
Von Rayan und dem Veden war keine Spur mehr zu sehen, als er die Kajüte betrat. Sie waren wieder oben an Deck, wie fast immer, obwohl es dort für sie nichts zu tun gab. Nichts außer zu warten und den näher kommenden schwarzen Punkt am Horizont anzustarren. Aber Rayan gehörte zu jener Art von Kapitänen, die nichts von ihren Männern verlangten, was sie nicht selbst zu tun bereit und in der Lage waren, und er schien dies ununterbrochen unter Beweis stellen zu müssen. Ein Verhalten, für das Skar kein Verständnis hatte. Es nutzte niemandem, sondern schadete im Gegenteil. Aber sie waren in einer Situation, in der rationales Handeln nicht mehr unbedingt die wichtigste Rolle spielte. Vielleicht war Rayans Benehmen auch eine Erklärung für die stoische Gelassenheit, mit der die Männer dort oben noch immer weiterkämpften. Gowenna saß allein an ihrem Tisch und redete mit einem Matrosen, der, vergraben unter einem Berg von Decken und zweckentfremdeten Kleidungsstücken, auf dem Boden lag und ihr mit ernstem Gesicht zuhörte. Skar eilte an ihr vorüber, ohne hinzuhören. Ihr Gespräch drehte sich, wie nahezu alles, was während der letzten drei Tage an Bord des Schiffes gesprochen wurde, um den Dronte. Sie waren der Vernichtung entkommen, aber der Tod war nur hinausgeschoben, nicht besiegt, und es kam Skar manchmal vor, als bildeten sie sich ernsthaft ein, ihn wegdiskutieren zu können.
Er ging zu seinem Lager, einem verlausten Bündel gleich denen der anderen, ließ sich darauf nieder und suchte in den schmuddeligen Fetzen nach etwas, das er als Kopfkissen benutzen konnte. Es gab keine Kojen oder auch nur Bettstellen auf der SHAROKAAN, sondern nur eine Anzahl zerschlissener Bündel, auf denen die Besatzung – und auch da machte Rayan keine Ausnahme – wechselweise schlief. Auch Gowenna und er mußten sich damit begnügen. Nicht weil Rayan sie absichtlich schlecht behandelte, sondern weil es auf dem vollgestopften Schiff einfach keinen anderen Raum gab, in den sie sich hätten zurückziehen können. Sie hatten für die Überfahrt bezahlt, sehr viel bezahlt sogar, aber das bedeutete nicht, daß sie mehr Anspruch auf eine besondere Behandlung als irgendein Mannschaftsmitglied hatten. Das einzige Bett auf dem ganzen Schiff stand vorne in Velas Zelle, und auch dies war erst in Anchor zusätzlich an Bord gebracht worden, auf Geheiß der Ehrwürdigen Mutter.
Das Schiff wiegte sich sanft unter ihm, und das dumpfe, regelmäßige Klatschen, wenn sich die Wellen an der Bordwand brachen, hatte etwas seltsam Beruhigendes. Das dunkelrote Licht der glühenden Kohlen schimmerte sanft durch seine geschlossenen Lider und gaukelte ihm eine Wärme vor, die kaum da war. Er bewegte sich unruhig, zog die Decke enger um die Schultern und drehte das Gesicht zur Wand, um möglichst viel von der ausgestrahlten Wärme aufzufangen.
»Schläfst du?«
Skar öffnete widerwillig die Augen, wälzte sich herum und setzte sich auf. Diesmal vermied er es sorgsam, mit der Wand in Berührung zu kommen.
Gowenna hockte sich neben ihn auf den Boden, stand noch einmal auf, um eine Decke als Unterlage heranzuziehen, und ließ sich mit einem Laut, der sowohl Erschöpfung als auch Resignation – oder beides – ausdrücken konnte, auf das provisorische Lager sinken. Das dunkelrote Dämmerlicht im Inneren der Kabine tauchte ihr Gesicht in gnädige Schatten. Sie hatte sich angewöhnt, stets so zu sitzen, daß sie ihrem Gegenüber die unversehrte rechte Seite zuwandte, und auch er machte da jetzt keine Ausnahme mehr. Es war einmal anders gewesen.
Er merkte plötzlich, daß er sie anstarrte, senkte den Blick und suchte vergeblich nach einem passenden Wort.
»Es braucht dir nicht peinlich zu sein«, bemerkte Gowenna ruhig. »Gerade du solltest wissen, wie ich aussehe.«
Skar sah auf, aber Gowenna sprach rasch weiter und gab ihm keine Gelegenheit zu antworten. »Glaubst du, daß wir eine Chance haben?« fragte sie.
Skar zögerte. Er wollte einfach nicht mehr darüber sprechen, aber er spürte, daß er es mußte, wenn er nicht wirklich grob werden wollte. »Eine Chance? Gegen den Dronte? Niemand hat ihn jemals besiegt.«
»Aber einige sind ihm entkommen.«
Skar lächelte. »Wer hat das gesagt? Rayan?«
»Nein. Ich … habe Geschichten gehört.«
»Du wählst das richtige Wort«, sagte Skar. »Geschichten. Manche behaupten es, aber ich glaube nicht, daß es wahr ist.«
»Wir wüßten kaum, daß es so etwas wie einen Dronte überhaupt gibt, wenn jede Begegnung mit ihm tödlich enden würde«, beharrte Gowenna.
»Das mag sein –, aber wenn, dann hatten die anderen bessere Chancen. Wir machen kaum noch Fahrt. Und er holt immer mehr auf.«
Gowenna schwieg einen Moment, und als sie weitersprach, klang ihre Stimme spöttisch. »Was ist mit dir?« fragte sie. »Hat dich Rayan mit seinem Gerede von Tod und Untergang schon angesteckt?« Sie lächelte, zog die Knie an den Körper und stützte das Kinn darauf. Das dunkelrote Licht des Kohlefeuers gab diesem Lächeln etwas seltsam Warmes, Vertrautes. Für einen kurzen, ganz kurzen Moment glaubte Skar in ihren Zügen eine Schönheit zu entdecken, die vorher nicht dagewesen war. Etwas Sanftes und Weiches und Mädchenhaftes, das vielleicht jahrelang tief in ihr geschlummert hatte und erst jetzt hervorbrach. Aber dann hob sie den Kopf, und Skar blickte wieder in die zerstörte Kraterlandschaft, die früher einmal das Gesicht einer schönen Frau gewesen war. Die Illusion zerplatzte.
»Was wirst du tun, wenn wir es schaffen?« fragte sie plötzlich.
Skar starrte sie an. »Findest du, daß jetzt der richtige Moment –«
»Der einzige Moment, Skar«, unterbrach ihn Gowenna. »Du hast es selbst gesagt – er kommt näher. Wir werden nicht mehr oft Gelegenheit haben, allein miteinander zu reden. Und ich will wissen, woran ich bin. Ich hätte dich schon … schon längst fragen sollen.«
»Wonach?« fragte Skar betont.
»Was du tun wirst, wenn wir in Pan'am ankommen«, antwortete Gowenna.
Skar lachte unsicher. »Das, was die Ehrwürdige Mutter von mir verlangt hat«, sagte er. »Du weißt es. Du warst dabei. Ich werde Vela zum Berg der Götter bringen, damit sie dort ihr Kind zur Welt bringen kann, und …
»Du weißt, daß sie sterben wird, sobald dies geschehen ist?« unterbrach ihn Gowenna wieder.
»Wieso? Sie ist gesund, und –«
»Das meine ich nicht, und du weißt es. Der Rat der Satai wird sie nicht leben lassen, Skar. Er darf es nicht zulassen, daß sie am Leben bleibt. Nicht nach allem, was geschehen ist.«
Skar schüttelte unwillig den Kopf. Etwas war in Gowennas Stimme, das ihn alarmierte. »Das ist nicht wahr«, sagte er. »Sie stellt keine Gefahr mehr dar, und –«
»Sie nicht, aber ihr Wissen. Sie hat Geheimnisse ergründet, die für uns Menschen verboten sind. Sie ist noch immer gefährlich.«
»Aber das ist doch Unsinn«, murrte Skar. »Du –«
»Du weißt es«, fiel ihm Gowenna ins Wort. »Aber du willst es nicht wahrhaben.«
Skar schwieg. In Gowenna war eine stärkere Veränderung vor sich gegangen, als er befürchtet hatte. Sie war besessen. Besessen von ihrem Wunsch nach Rache. Sie mußte so gut wie er wissen, daß ihr Leben nur noch Stunden zählte, wenn nicht ein Wunder geschah und sich das Meer auftat, um den Dronte zu verschlingen. Aber für sie schien das alles überhaupt keine Rolle zu spielen. Der schwarze Killersegler bedeutete für sie – wenn überhaupt etwas – nicht viel mehr als ein Ärgernis, ein dummes lästiges Ding, das sie daran hinderte, ihre Rache zu vollziehen. Sie war krank. Krank vor Rache und Haß.
»Und wenn ich es weiß?« fragte er nach einer Weile.
In Gowennas sehendem Auge blitzte es zornig auf. Aber sie beherrschte sich. »Dann beantworte mir meine Frage«, verlangte sie. »Wirst du sie zum Berg der Götter bringen oder nicht?«
»Ich werde tun, was die Ehrwürdige Mutter von mir verlangt hat«, antwortete er steif. »Nämlich Vela sicher zum Berg der Götter geleiten und sie beschützen. Auch vor dir.«
»Du bist ein Narr, Skar«, sagte Gowenna ruhig. »Glaubst du wirklich, du könntest mich daran hindern, sie zu töten, wenn ich das wollte?«
»Nein. Und gerade das ist es, was mir Angst macht. Was hast du wirklich vor? Ich weiß, daß du sie nicht töten willst; wie du selbst gesagt hast, hättest du es hundertmal tun können bis jetzt. Und das ist ein Grund mehr für mich, noch wachsamer zu sein.«
Seine Stimme war bei den letzten Worten immer lauter geworden, und Skar sah an der Reaktion auf Gowennas Zügen, wie sehr sie seine Worte verletzten. Weitaus mehr, als er geglaubt hatte, und mehr, als eigentlich normal gewesen wäre. Sekundenlang starrte sie ihn schweigend und voller Verachtung an, und für einen kurzen Moment glaubte er etwas von dem unbeschreiblichen Haß zu spüren, der in ihrer Seele brannte. Sie schien noch etwas sagen zu wollen, schürzte aber dann nur wütend die Lippen und stand auf.
Skar hielt sie am Arm zurück. »Gowenna«, sagte er ernst. »Wir sind eigentlich beide alt genug und kennen uns zu lange, um uns noch Theater vorspielen zu müssen, meinst du nicht?«
Sie versuchte, ihre Hand aus seinem Griff zu befreien, aber Skar hielt sie unbarmherzig fest.
»Bitte«, fuhr er fort. »Wir haben wirklich im Moment andere Sorgen – laß uns wenigstens ehrlich zueinander sein.« Aber er spürte, schon während er die Worte aussprach, daß Gowenna ihm nicht zuhörte, daß sie ihm nicht zuhören wollte.
»Laß mich los!« zischte sie.
Skar seufzte, schüttelte den Kopf und löste seinen Griff. Gowenna wich hastig ein Stück von ihm weg, massierte mit der Linken ihr schmerzendes Handgelenk und_ starrte ihn haßerfüllt an. Ihre Haut war rot, wo Skar sie gepackt hatte. Ohne sich dessen bewußt zu sein, hatte er mit aller Kraft zugedrückt. Es tat ihm leid.
»Ich danke dir, Satai«, murmelte Gowenna. »Du hast mir die Antwort gegeben, die ich haben wollte.«
»Habe ich das?«
Sie nickte. »Jedenfalls weiß ich jetzt, was ich wissen wollte«, sagte sie. »Ich werde mich danach richten, wenn die Zeit gekommen ist.«
Skar seufzte. Und obwohl er ganz genau wußte, wie sinnlos es war, antwortete er ihr noch einmal: »Ich werde tun, was man mir aufgetragen hat, Gowenna, ich werde Vela und ihr Kind zum Berg der Götter bringen und sie dem Rat der Satai übergeben. Und ich werde mich dem Spruch meiner Herrscher beugen, ganz gleich, wie er ausfällt. Du tätest gut daran, ebenso zu handeln.«
Gowennas Blick sprühte vor Haß, aber sie antwortete nicht mehr auf seine Worte, sondern fuhr mit einer überhastet wirkenden Bewegung herum. Mit raschen Schritten ging sie zwischen den schlafenden Matrosen hindurch und verschwand gebückt auf der Treppe; nicht, weil sie dort oben irgend etwas zu tun gehabt hätte, sondern einzig, um ihn demonstrativ allein zu lassen.
Skar starrte ihr kopfschüttelnd nach. Was war nur mit ihr geschehen in den Monaten, die sie getrennt gewesen waren? Sie war auch zuvor schon verbittert und voller Haß gewesen, aber die Frau, die jetzt mit ihm auf diesem Schiff fuhr, war mehr als nur verbittert. Sie war besessen.
Er ließ sich wieder zurücksinken, schloß die Augen und versuchte an nichts zu denken. Aber er fand keine Ruhe, obwohl er müde war und sein Körper nach Schlaf schrie. Es waren Momente wie diese, in denen er mehr als zuvor daran zweifelte, daß es richtig gewesen war, den Befehl der Margoi zu befolgen. Wahrscheinlich hätten sie sich nicht weigern können, die Bewachung Velas zu übernehmen –, aber er hätte sich weigern können, Gowenna als Begleiterin zuzulassen.
Die Ehrwürdige Mutter hätte diesen Wunsch akzeptiert – vielleicht hätte sie ihn sogar begrüßt. Skar war sicher, daß es nicht ihre Idee gewesen war, ausgerechnet Gowenna mit der Aufgabe zu betrauen, die verstoßene Errish zu bewachen. Möglicherweise war es ein Akt von falsch verstandener Wiedergutmachung gewesen, und vielleicht – wahrscheinlich, so, wie er Gowenna während der letzten Tage erlebte – hatte sie selbst das Ihre dazu beigetragen, dieses Gefühl in der Herrscherin von Elay zu erwecken. Wenn sie von diesem Schiff herunter waren – wenn sie es schafften –, dann würden sie sich trennen müssen.
Skar bewegte sich unruhig, drehte das Gesicht zur Wand und versuchte die Kälte zu ignorieren, die beharrlich unter seine Decken kroch. Er war alles andere als ein Fatalist, aber es hatte keinen Sinn, sich mit all diesen Fragen zu belasten. Nicht jetzt. Vielleicht war es richtig gewesen, vielleicht nicht. Er konnte jetzt nichts mehr daran ändern.
Es würde sich herausstellen. Bald.