Enwor - Band 7: Das schweigende Netz - Wolfgang Hohlbein - E-Book
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Enwor - Band 7: Das schweigende Netz E-Book

Wolfgang Hohlbein

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Beschreibung

Der Pakt zerbricht: „ENWOR – Band 7: Das schweigende Netz“ von Wolfgang Hohlbein jetzt als eBook bei dotbooks. ENWOR: Kriegsgeboren und vom Feuer getauft – eine postapokalyptische Welt voller Gefahren. Endlich ist die Festung Drasks erobert: Erschöpft lagert das Heer aus Menschen und Reptilienkriegern in den Burghöfen und Hallen. Doch trotz ihres gemeinsamen Kampfes herrscht noch immer Misstrauen unter den Männern. Wieder und wieder flammen heftige Konflikte auf und Skar muss schmerzhaft erfahren: Die vermeintliche Sicherheit der Festung entpuppt sich als Falle … Jetzt als eBook kaufen und genießen: „ENWOR – Band 7: Das schweigende Netz“ von Wolfgang Hohlbein. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag. JETZT BILLIGER KAUFEN – überall, wo es gute eBooks gibt!

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Über dieses Buch:

ENWOR: Kriegsgeboren und vom Feuer getauft – eine postapokalyptische Welt voller Gefahren.

Endlich ist die Festung Drasks erobert: Erschöpft lagert das Heer aus Menschen und Reptilienkriegern in den Burghöfen und Hallen. Doch trotz ihres gemeinsamen Kampfes herrscht noch immer Misstrauen unter den Männern. Wieder und wieder flammen heftige Konflikte auf und Skar muss schmerzhaft erfahren: Die vermeintliche Sicherheit der Festung entpuppt sich als Falle …

Über den Autor

Wolfgang Hohlbein, 1953 in Weimar geboren, ist Deutschlands erfolgreichster Fantasy-Autor. Der Durchbruch gelang ihm 1983 mit dem preisgekrönten Jugendbuch MÄRCHENMOND. Inzwischen hat er 150 Bestseller mit einer Gesamtauflage von über 44 Millionen Büchern verfasst. 2012 erhielt er den internationalen Literaturpreis NUX.

Der Autor im Internet: www.hohlbein.de

Bei dotbooks veröffentlichte Wolfgang Hohlbein die Romane FLUCH – SCHIFF DES GRAUENS, DAS NETZ und IM NETZ DER SPINNEN, die ELEMENTIS-Trilogie mit den Einzelbänden FLUT, FEUER UND STURM und die große ENWOR-Saga; eine chronologische Übersicht der einzelnen Romane finden Sie am Ende dieses eBooks.

Wie wird es mit den Kriegern Skar und Del weitergehen? Finden Sie es heraus im nächsten Roman der ENWOR-Saga: ENWOR – Band 8: Der flüsternde Turm. Eine Leseprobe finden Sie am Ende dieses eBooks.

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Neuausgabe Dezember 2015

Copyright © der Originalausgabe 1988 by Wilhelm Goldmann Verlag, München

Copyright © der Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Tanja Winkler, Weichs

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-458-0

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Wolfgang Hohlbein

ENWOR

Band 7: Das schweigende Netz

Roman

dotbooks.

1. Kapitel

Manchmal hatte er das Gefühl, ihn zu sehen. Er wußte, daß es nicht wahr war; bloß eine Illusion, mit der ihn ein Teil seines Bewußtseins terrorisierte, seit er hierhergekommen war, und vielleicht schon länger, aber manchmal war das Gefühl übermächtig. Er hatte etwas falsch gemacht; etwas übersehen, etwas vergessen, etwas falsch gedeutet – irgend etwas, von dem er nicht wußte, was es war, das ihn aber quälte; wie ein nicht näher lokalisierbarer Schmerz immer da war, gleich, ob er wachte oder schlief. Und der Daij-Djan war gekommen, um ihn an diesen Fehler zu erinnern. Selbst jetzt brauchte er nur die Augen halb zu schließen und sich vollkommen zu entspannen, bis seine Sehschärfe nachließ, um ihn wahrnehmen zu können: eine winzige, schlanke Gestalt von der Farbe der Nacht, die auf der anderen Seite des Flusses auf einem Felsen stand und ihm zuzuwinken schien. Er war nicht wirklich da – Skar hätte ihn nicht einmal sehen können, hätte er dort gestanden, denn jener Felsen war viel zu weit entfernt, um mehr als ein vereistes Funkeln im Sternenlicht zu sein, aber ein Teil von ihm sorgte dafür, daß er die Schimäre sah, immer und immer und immer wieder. Manchmal hörte er auch seine Stimme: All diese Toten, Satai. All diese ausgelöschten Leben. Und du hast noch nicht einmal richtig begonnen. Willst du die ganze Welt ausrotten?

Er verscheuchte den Gedanken, beugte sich ein wenig über die Brüstung und zwang sich, den Felsen auf der anderen Seite des Flusses als das zu sehen, was er war: ein mannshoher Steinklotz, den der Winter mit einem Eispanzer umhüllt hatte, und mehr nicht! und blickte dann nach links. Die Feuer brannten noch immer, und selbst über große Entfernung – es mußte eine Meile sein oder mehr – war ihr Licht so grell, daß es in den Augen schmerzte.

Dels Satai hatten die letzten Toten aus der Burg geschafft, hinunter auf den großen Platz am Ufer des Flusses, wo sie verbrannt wurden. Die Scheiterhaufen brannten seit zwei Tagen, und sie würden weitere zwei – mindestens zwei, wenn nicht mehr – Tage brennen, ehe die letzten Spuren der Schlacht getilgt waren. Vor einer Stunde, genau mit dem Untergang der Sonne, hatte der Wind gedreht, und die Böen trugen den fettigen schwarzen Qualm jetzt nicht mehr hinaus in die Ebene, sondern direkt hierher, hinauf zu den Zinnen von Drasks Trutzburg, wo er wie übelriechender Nebel durch jede Spalte und jeden Ritz kroch und das Atmen zur Qual werden ließ. Der Gestank war entsetzlich, und auf allem, was dieser schreckliche schwarze Qualm berührte, hinterließ er eine unsichtbare, fettige Schicht, die einem das Gefühl gab, durch flüssigen Leim zu waten. Alles schien klebrig zu sein, und auf eine unangenehme Art warm. Die Rache der Toten, dachte Skar, die ihren Mördern nicht als Gespenster im Schlaf erschienen, sondern als übelriechender Qualm, der ihnen den Geschmack an jedem Essen und jedem Schluck Wasser vergällte. Und hier im Freien war es besonders schlimm.

Trotzdem war Skar hier oben geblieben. Mit dem Abend war es absurd genug – spürbar wärmer geworden, und manchmal trug der Wind außer Gestank und Qualm und dem unablässigen Prasseln des Feuers auch ein schweres, dumpfes Splittern und Knirschen mit sich. Die dichten Rauchwolken über der Burg nahmen Skar die Sicht auf den Fluß, aber er wußte, was diese Laute bedeuteten: Die mächtigen Schollen, die zwei Drittel der Fahrrinne noch immer blockiert hatten und an denen ihr ganzer Angriff um ein Haar gescheitert wäre, zerbrachen jetzt endgültig unter den Hammerschlägen des Frühlings.

In einer, längstens zwei Wochen war der Fluß eisfrei. Das neue Jahr stieß das Tor nach Osten für sie auf.

Er dachte diesen Gedanken völlig kalt. Er spürte keine Erleichterung, keine Zufriedenheit, keine Furcht – all dies hätte er fühlen sollen, denn eine schnelle Verbindung nach Osten war Grundvoraussetzung für das Gelingen ihres Invasionsplanes –, aber sie bedeutete auch, daß er in wenig mehr als zwei Wochen an der Spitze von Dels Heer in eine apokalyptische Schlacht ziehen würde, von der keiner von ihnen wußte, ob er sie überlebte. Aber er empfand gar nichts.

Wie so oft in letzter Zeit.

Manchmal – und diese Momente häuften sich – fragte er sich allen Ernstes, ob etwas in ihm gestorben war, als Bradburn das Sai-Tan vorgenommen hatte. Er hatte geglaubt, etwas bekommen – etwas zurückgewonnen – zu haben, aber vielleicht stimmte das gar nicht. Etwas war in ihm, etwas Neues und zugleich auf schreckliche Art Bekanntes und Altes, aber manchmal kam er sich vor, als stürbe er innerlich; sehr langsam, so daß er es selbst kaum merkte, aber unaufhaltsam. Selbst vor zwei Tagen, als sie Drasks Burg genommen hatten – er versuchte sich daran zu erinnern, aber es gelang ihm nicht; er besann sich nur auf Dinge, die er getan hatte, auf Handlungen und Worte, nicht auf das, was er gefühlt hatte –, hatte er nichts empfunden. Im wahrsten Sinne des Wortes nichts. Aber er hatte erst hinterher begriffen, daß es nicht die Kälte und Gelassenheit des Kampfes war, die er gespürt – oder vielmehr gerade nicht gespürt hatte, sondern die berechnende Gefühllosigkeit einer Maschine, die auf Kämpfen und Töten programmiert war und diese Aufgabe perfekt erfüllte.

Ja, dachte er; Del hatte recht. Er hatte sich verändert, seit er vor drei Monaten im Tempel der Gesichtslosen Prediger tief unter den Bergen erwacht war. Er wußte noch nicht, was diese Veränderung in ihm bewirkte und was sie verursacht hatte, aber er hatte das Gefühl, daß es kein Wandel zum Guten war.

Ein Geräusch irgendwo hinter ihm rief ihn in die Wirklichkeit zurück. Skar sah auf, identifizierte den Laut als das Öffnen der niedrigen Tür, die vom Treppenturm aus auf die Plattform des Turmes hinausführte, und drehte sich ohne spürbare Hast um. Auch dies war ein Luxus, den er seit langer Zeit zum ersten Mal wieder genoß: einen Laut hinter sich zu hören und sich umzuwenden, ohne Angst haben zu müssen oder gar – noch vor Monatsfrist unvorstellbar! – einfach stehenzubleiben. Er lächelte, als er den verwirrten Ausdruck auf den Zügen des jungen Satai-Schülers sah, der den Grund dieses Lächelns natürlich nicht wissen konnte und dadurch noch ein bißchen verwirrter wurde. »Herr?«

Skar schluckte die scharfe Antwort hinunter, die ihm dieses Wort abverlangen wollte. Er hatte es aufgegeben, den Novizen immer und immer wieder zu sagen, daß sie ihn nicht Herr nennen sollten; vor allem, seit Del ihm nunmehr auch offiziell das Kommando über die Satai gegeben hatte. Er hatte es nicht gewollt, aber es war das kleinere von zwei Übeln gewesen – die Satai oder die Quorrl. Etwas in ihm hatte aufgeschrien wie ein getretener Hund, allein bei dem Gedanken, an der Spitze eines Heeres vierzigtausend fischgesichtiger Quorrl zu stehen.

Nun, dachte er spöttisch, jetzt stand er an der Spitze eines Heeres von fünfhundert Satai, wenngleich die meisten von ihnen noch kaum mehr als Kinder waren, wie dieser Bursche, der jetzt unter der Tür verharrte und linkisch von einem Fuß auf den anderen trat, unentschlossen, wie er auf Skars Schweigen reagieren sollte, Skars, des Halbgottes, der lebenden Legende, des Unbesiegbaren, des Satai schlechthin. Unentschlossen und auch ein bißchen ängstlich, wie es sich gehörte, wenn man einem Gott unter die Augen kam; einem Gott, der auch ein bißchen von einem Dämon an sich hatte. Aber vielleicht hatten das alle Götter.

Skar schätzte den Burschen auf sechzehn Jahre, allerhöchstens siebzehn. Er war so groß wie er und fast so breitschultrig wie Del, aber sein Gesicht war das eines Knaben. Es würde noch lange dauern, ehe sich der erste Bart auf seinen Wangen zeigte.

Skar wurde sich der Tatsache bewußt, daß er dastand und den Novizen anstarrte, was dem armen Burschen wahrscheinlich Höllenqualen bereitete. Er versuchte, sein Lächeln ein wenig freundlicher aussehen zu lassen, und trat von der Brüstung zurück. Der Wind drehte sieh ein wenig und wehte eine schwarze, fettige Qualmwolke über die Zinnen, die ihn für Momente einhüllte wie ein Mantel aus geronnener Nacht. Skar fühlte sich leicht angeekelt, als er die Berührung des schwarzen Qualmes wie die einer klebrigen Hand auf der Haut spürte. Aber auf dem Gesicht des jungen Satai spiegelten sich ganz andere Empfindungen, und Skar begriff, wie der Anblick auf ihn wirken mußte. Ein Sandkorn mehr, um das Gebirge aus Legenden und Furcht, auf das sie ihn gestellt hatten, noch höher zu machen. Ihr Götter, dachte er, was ist aus Enwor geworden? Was geschieht mit uns?

Laut sagte er: »Bitte?«

Der Junge fuhr zusammen wie unter einem Hieb. Von einer Sekunde auf die andere war er nervös, als wäre sein Schweigen eine letzte Barriere gewesen, hinter der er sich verkrochen hatte, um nicht durch Skars bloßes Dasein zu verbrennen. »Er … er will Euch sprechen, Herr«, stotterte er.

»Del?«

»Der Hohe Satai?« Der Novize schüttelte den Kopf, aber erst nach einer Sekunde des Schweigens, fast als müsse er diesen Namen erst mit dem sieben Fuß großen Riesen in der schwarzgoldenen Robe des Kriegsherren der Satai verbinden. Skar rief sich in Erinnerung zurück, daß kaum jemand Dels Namen kannte.

»Nein«, fuhr der Junge schließlich fort. »Drask. Er … er verlangt nach Euch, Herr.«

»Drask?« Skar war überrascht, aber nur für einen Moment, und auch ein ganz kleines bißchen beunruhigt; ohne indes genau sagen zu können, warum. Es war nicht so, daß er die Begegnung mit dem Magier fürchtete. Im Gegenteil – früher oder später wäre er ohnehin zu ihm gegangen. Es überraschte ihn nur ein wenig, daß Drask von sich aus den Wunsch geäußert hatte, ihn zu sehen. Nach allem, was er ihm angetan hatte, mußte er damit rechnen, daß Skar ihn kurzerhand tötete, im gleichen Moment, in dem –

Aber nein, verbesserte er sich in Gedanken. Jeder normale Mensch hätte damit gerechnet. Drask nicht. Er war nicht normal, wenn diese Einschätzung auch keineswegs im Sinne von geistesgestört oder gar verrückt zu bewerten war. Aber ein normaler Mensch war er ganz sicher nicht. Vielleicht war er nicht einmal ein Mensch.

Er nickte, trat aus dem Mantel aus schwarzem Rauch heraus und schlug auch den zweiten, wirklichen Mantel aus ebenfalls schwarzem Stoff zurück, der seine Schultern umgab. Der Blick des Novizen huschte mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Bewunderung über den schwarzen Zeremonienmantel, als er an ihm vorüberging.

Skar unterdrückte ein Lächeln. Er verstand den Jungen, wahrscheinlich viel besser, als dieser ahnte. Auch er war einmal so jung wie er gewesen, und auch er hatte einmal mit klopfendem Herzen und angehaltenem Atem dagestanden und den schwarzen Mantel eines Hohen Satai angestarrt; und auch er hatte sich nichts mehr gewünscht, als ihn eines Tages selbst zu tragen.

Aber damals hatte er noch nicht gewußt, wie schwer er war.

Er verscheuchte auch diesen Gedanken, eilte die gewundene Treppe hinunter und trat sechs Stockwerke tiefer auf den Hof der Festung hinaus.

Die Illusion, allein zu sein, zerplatzte wie eine Seifenblase, kaum daß er den ersten Schritt aus der Tür getan hatte. Für einen Augenblick wurde er zu einem Gleichen unter Gleichen, denn der Hof war voller Krieger, weit über hundert Männer, die fast alle die schwarzen Mäntel der Satai trugen, und darüber hinaus eine nicht einmal zu schätzende Anzahl schuppiger, großer Gestalten, von denen keine der anderen glich.

Wie immer, wenn Skar sich zwischen den Quorrl bewegte, überkam ihn ein sonderbares Gefühl der Unruhe, das er sich selber nicht ganz erklären konnte. Es war mehr, weit mehr als die instinktive Abneigung, welche die meisten Menschen beim Anblick der schuppigen Giganten aus dem Norden empfanden, mehr als die angeborene Scheu, einem denkenden Individuum gegenüberzustehen, das kein Mensch war, und doch sehr viel mehr als ein Tier. Mehr als die Verunsicherung, die jeden überfiel beim Anblick der flachen Fischgesichter, die unfähig waren, Gefühle und Empfindungen widerzuspiegeln. Was er spürte, während er mit raschen Schritten über den zum Heerlager umfunktionierten Hof eilte, wobei ihn die völlig willkürliche Art, in der das Lager der Quorrl-Krieger angelegt war, zu einem absurden Zickzack zwang, das war zu einem Gutteil Schuld, das dumpfe Wissen, in der Vergangenheit zahllose dieser Kreaturen getötet zu haben, ohne dabei mehr zu empfinden als … ja, als eigentlich gar nichts. Er hatte auch Menschen getötet, sehr viele Menschen, denn letztendlich war er ein Krieger, vielleicht der größte Krieger dieses Planeten überhaupt, und er hatte das Leben eines Kriegers geführt, aber das war etwas anderes gewesen.

Was er spürte, was ihm sofort und unabwendbar das Gefühl des In-die-Enge-getrieben-Seins gab, war nichts anderes als ein ganz profanes schlechtes Gewissen, obwohl ihm dieses Wort fast zu banal erschien, um seine Empfindungen wirklich auszudrücken. Er hatte Menschen getötet, und Quorrl, aber da war ein Unterschied gewesen. Er hatte die Quorrl stets als Tiere gesehen – o ja, als sehr kluge Tiere, Tiere, die sprachen, die aufrecht gingen und Werkzeuge und vor allem Waffen zu handhaben wußten, als verschlagene und sehr gefährliche Gegner, aber letztendlich doch als Tiere.

Aber das waren sie nicht.

Sie waren nicht einmal ihre Feinde.

Alles ist falsch, dachte er. Seit er im unterirdischen Tempel der Gesichtslosen Prediger aufgewacht war, hatte sich die Welt verändert, auf eine entsetzliche, angstmachende Weise. Aus Gut war Schlecht geworden, aus Freund Feind, aus Schlecht Gut und aus Feind Freund. Die alten Werte galten nicht mehr, und sie hatten vielleicht niemals wirklich gegolten. Aber er hatte erst sterben und nach fast einem Menschenleben wieder auferstehen müssen, um das zu begreifen. Möglicherweise war er es auch, der sich verändert hatte, viel tiefer, als er jetzt schon spürte.

Er verscheuchte auch diesen Gedanken – das, dachte er voller bitterem Spott, war etwas, was er wirklich gelernt hatte, in den letzten Wochen und Monaten: die Augen vor der Wahrheit zu verschließen und sie einfach wegzulügen –, gelangte auf der anderen Seite des Hofes wieder in die Festung und näherte sich Drasks Quartier.

Die beiden Satai, die vor der massiven Eisentür des fensterlosen Raumes Wache hielten, traten respektvoll beiseite, als sie ihn erkannten, und wieder spürte Skar einen raschen, schmerzhaften Stich in der Brust, als er ihre Blicke bemerkte. Es war nur Respekt, den er in den Augen der Männer las. Und Furcht. Furcht vor seinem schwarzen Mantel mit dem verschlungenen fünfzackigen Stern auf dem Rücken und dem rubingeschmückten Tschekal an seiner Seite. Auch diese Männer waren keine Satai mehr, dachte er, so wenig, wie der Novize, der ihn hier heruntergerufen hatte. Sie waren es nie geworden, und er würde es nie werden.

Skar betrat den Raum hinter der Eisentür und fand sich in einer sehr kleinen, von einer einzelnen Fackel nur düster erhellten Kammer wieder. Auch hier gab es Wächter – einen weiteren Satai, und bei ihm den größten und muskulösesten Quorrl, den er jemals gesehen hatte: ein Gigant von mehr als acht Fuß Höhe und einer Schulterbreite, die schlichtweg absurd erschien. Gemessen an der Art, in der Del Drask bewachen ließ, dachte Skar, mußte er noch immer gehörigen Respekt vor dem Magier haben.

Er nickte dem Quorrl grüßend zu, wandte sich – noch immer, ohne ein Wort zu sagen – an den Satai und gab ihm mit einem Handzeichen zu verstehen, die Tür zu Drasks eigentlichem Verlies zu öffnen. Der Satai gehorchte, aber er tat es ohne irgendwelche Hast; seine Bewegungen waren von jener nachlässigen Selbstverständlichkeit, die den wirklichen Krieger verriet, kein dummer Junge, wie der Novize, und auch kein viel zu eilig ausgebildeter Raufbold, wie die beiden, die vor der Tür Wache standen. Ein absurdes Gefühl von Stolz überkam Skar, als er zusah, wie er einen großen Schlüssel von seinem Gürtel löste und damit nacheinander die drei Schlösser entriegelte, welche die Tür zu Drasks eigentlichem Gefängnis sicherten.

Gebückt trat er hindurch, wartete, bis sich die Tür hinter ihm wieder geschlossen und das Klicken der drei Schlösser verraten hatte, daß er nun ebenfalls gefangen war, und wandte sich dann zu Drask um.

Der Magier saß vornübergebeugt auf einem Stuhl, die Arme auf den Knien aufgestützt und mit dünnen Ketten aus unzerreißbarem Sternenstahl gebunden. Neben ihm hockte ein Quorrl-Krieger, der in der Schlacht das Augenlicht verloren hatte. Er war angekettet wie Drask, und er würde sterben wie Drask, sobald sie diese Festung verließen, vielleicht schon eher, sollte der Magier seinen Verletzungen vorher erliegen, was wahrscheinlich war. Zwischen seinen Knien stand eine Schale mit einer farblosen Flüssigkeit, von der er Drask alle zwei oder drei Stunden einige Schlucke einflößte. Eine Anzahl blauer Flecke und Quetschungen im Gesicht des alten Magiers bewies, daß dies nicht immer freiwillig geschah. Skar empfand weder Mitleid noch Triumph bei diesem Anblick.

Er räusperte sich lautstark, um Drasks Aufmerksamkeit zu erregen. Es dauerte eine Weile, bis der alte Mann aufsah, und dann noch einmal Sekunden, ehe in seinen trüb gewordenen Augen so etwas wie Erkennen aufglomm.

Auch das blinde Gesicht des Quorrl wandte sich Skar zu; eine vierfingrige Schuppenhand tastete nach dem Schwert, das von seiner Hüfte hing. Skar nannte seinen Namen, und der Quorrl entspannte sich wieder.

»Du bist gekommen«, murmelte Drask. »Das ist gut. Ich danke dir, Satai.«

Etwas in seiner Stimme ließ Skar schaudern. Drasks Stimme war niemals angenehm gewesen, so wie nichts an ihm jemals angenehm gewesen war. Skar hatte ihn nur als bösen, unerbittlichen alten Mann in Erinnerung, dem jegliche menschliche Regung abging und der nicht einmal wirklich grausam, sondern einfach nur gefühllos wie eine Maschine war, und das war er wohl auch noch immer.

Aber die Droge, die seinen Geist verwirrte und die entsetzliche Macht seiner Augen brach, hatte noch mehr bewirkt. Skar fragte sich, warum Drask ihm im ersten Moment so gealtert und schwach vorgekommen war, aber er fand die Antwort fast augenblicklich. Ihm fehlte jetzt die faszinierende Größe, die das wirklich Böse kennzeichnete.

»Du hast mich rufen lassen«, antwortete er mit einiger Verspätung. »Was willst du?«

Er machte einen weiteren Schritt auf Drask zu, und wieder kroch die Schuppenhand des blinden Wächters zum Schwert. Skar blieb abermals stehen. Der Quorrl hatte Befehl, jeden zu töten, der sich Drask auf mehr als drei Schritte näherte, ausnahmslos jeden, und er würde es tun. Daß Skar all diese Vorsichtsmaßnahmen, die Del und Bradburn befohlen hatten, für lächerlich übertrieben hielt, änderte daran gar nichts.

»Was willst du von mir?« fragte er noch einmal, als Drask nicht antwortete, sondern ihn nur weiter aus seinen verschleierten Augen anblickte.

»Ich wollte dich noch einmal sehen«, antwortete Drask, sehr leise, aber mit plötzlich wieder kräftiger Stimme. »Ich sterbe.«

»Ich weiß«, antwortete Skar kalt. Es gelang ihm nicht einmal mehr, Haß auf Drask zu empfinden. Irgendwie war Drask nun für ihn zu einem Quorrl geworden – jemand, nein: etwas, – das man fürchtete und respektierte, aber so wenig hassen konnte wie den Blitz, der einen erschlug.

Drask versuchte, den Kopf zu schütteln, aber selbst zu dieser kleinen Bewegung fehlte ihm beinahe die Kraft. »Du verstehst nicht«, sagte er. »Ich sterbe jetzt. Ich spüre es.«

Skar bezweifelte seine Worte nicht. Drask war ein Magier, und Magiern standen andere Sinne zur Verfügung als normalen Menschen. Es war ohnehin ein Wunder, daß er noch lebte, nach den Verletzungen, die er davongetragen hatte.

»Ich dachte, es würde dir Freude bereiten, dabei zuzusehen.«

»Du kannst mich nicht mehr verletzen, alter Mann«, erwiderte Skar ruhig; nicht nur äußerlich, sondern wirklich ruhig, ohne eine Spur von Zorn. »Was willst du?«

Drask schwieg eine Weile, und der Quorrl zu seinen Füßen wandte ihm das blinde Gesicht zu. Er legte den Kopf auf die Seite, wie ein Mensch, der gebannt auf etwas lauschte, und für wenige Augenblicke war Skar zweifelsfrei davon überzeugt, daß diese beiden ungleichen sterbenden Wesen wirklich auf irgendeine Art miteinander redeten.

»Warum bist du geblieben?« fragte er plötzlich. Das war etwas, was ihn beschäftigte, seit sie diese Festung vor zwei Tagen genommen hatten, nicht die einzige, wohl aber die wichtigste Frage, auf die er noch keine Antwort gefunden hatte. »Warum bist du nicht geflohen, du Narr? Hast du wirklich geglaubt, du könntest diese lächerliche Burg halten?« Gib mir hundert Satai, Drask, und ich nehme deine Burg in einer Nacht. Das waren seine Worte gewesen. Er erinnerte sich gut daran, und auch an den Schrecken, den sie auf Drasks Gesicht ausgelöst hatten.

»Geflohen?« Drasks Blick war wieder klar. »Aber wohin denn? Und wozu?«

»Wozu?« Skar war verwirrt. »Um dein Leben zu retten, zum Beispiel.«

Drask lachte leise. »Mein Leben? Die wenigen Jahre, die mir noch blieben?«

Er hob anklagend die gefesselten Hände und streckte sie Skar entgegen. »Das hier macht mir Angst, Satai, und es bereitet mir Schmerzen. Aber der Tod schreckt mich nicht. Er ist eine Erlösung für jemanden, der so alt geworden ist wie ich, und jemanden, der sich mit Mächten eingelassen hat, wie ich es tat.«

»Bedauerst du es?« Skar spürte, daß Drasks Worte ernst gemeint waren, so billig und abgedroschen sie klangen. Drask schüttelte den Kopf.

»Bedauerst du, Satai zu sein? Die Sternengeborenen verlangen einen hohen Preis für die Macht, die sie mir verliehen haben, Skar. Du wärest entsetzt, wenn du wüßtest, wie hoch er ist. Aber ich bedaure es nicht, so wenig, wie ein Satai bedauert, nicht das Leben eines Bauern zu führen. Man bekommt, und man gibt dafür.« Er lachte ein dünnes, meckerndes Altmännerlachen, in dem sogar eine Spur seiner früheren Bosheit mitschwang, und hob abermals die Hände.

»Warum nimmst du sie mir nicht ab, Skar? Sie tun weh.«

»Ich kann es nicht.« Skar deutete auf den blinden Quorrl. »Er würde mich töten, wenn ich es versuchte. Das weißt du.«

Drask sah eine Weile auf den Quorrl-Krieger hinab, als müsse er sich durch eigenen Augenschein davon überzeugen, daß Skar wirklich recht hatte. Er seufzte. »Weiß dein Freund Del, wie närrisch das alles hier ist?« fragte er. »Ein blinder Quorrl, dem mein böser Blick nichts anhaben kann?«

»Sei froh, daß es diesen blinden Krieger gibt«, antwortete Skar. »Del hätte dir die Augen ausstechen lassen ohne ihn.«

Das war wahr. Es hatte Skar große Überredungskunst gekostet, Del diesen Gedanken auszureden, und er war bis zuletzt nicht sicher gewesen, ob es überhaupt klug war. Schließlich hatten Dutzende von Männern gesehen, wie Drask ein halbes Dutzend Quorrl getötet hatte, einfach nur, indem er sie ansah.

»Fesseln aus Sternenstahl«, fuhr Drask fort, als hätte er Skars Worte gar nicht gehört. »Eine Droge, die meinen Geist betäubt, und eiserne Türen mit drei Schlössern.« Er blickte wieder zu Skar auf und schüttelte den Kopf. »Ihr habt sehr viel Angst vor einem einzelnen Mann. Und ihr begreift nichts. Ihr werdet verlieren, Skar.«

»So?« Skar machte eine zornige Bewegung, welche die ganze Festung einschloß. »Bisher sieht es eher so aus, als hättest du verloren. Deine famose Burg hat uns nicht sehr lange aufgehalten.« Er machte eine Geste nach oben und hinter sich. »Und das Eis auf dem Fluß bricht auf. In einer Woche überwinden wir die Berge. Was soll uns dann noch aufhalten? Das lächerliche Heer, das sich in Ikne sammelt?«

»Ihr werdet es besiegen, ich weiß«, antwortete Drask gleichmütig. »Aber gebt acht, daß ihr euch nicht totsiegt, Satai. Eine gewonnene Schlacht ist nicht alles.«

Skar sah den alten Magier scharf an. Drasks Gesicht war gezeichnet von Schmerz und Alter und vor allem dem Prozeß des Sterbens, der vor zwei Tagen begonnen hatte und nun bald zu Ende sein würde. Aber es strahlte auch gleichzeitig eine sonderbare Art von Kraft aus, jene innere Kraft, die unerschütterliche Überzeugung verriet, das Wissen um Dinge, die allen anderen Menschen verborgen waren. Trotz seiner erbärmlichen Erscheinung und seines Sterbens hatte Drask noch immer eine Art von Größe an sich, die Skar schaudern ließ.

»Du hast mich gefragt, warum ich dich rufen ließ, Satai«, fuhr Drask nach einer Weile fort. »Ich will es dir sagen. Ich erwarte nicht, daß du mir glaubst, aber ich bin jetzt frei. Die Macht der Sternengeborenen ist nicht mehr in mir. Ich bin wieder der, welcher ich war, ehe ich zu ihnen ging, und ich sehe die Dinge jetzt, wie sie wirklich sind.«

»Und du bereust alles und willst mich warnen, mit deinen letzten Atemzügen.« Der böse Spott, den Skar in diese Worte hatte legen wollen, gelang ihm nicht. Sie klangen einfach nur so, wie sie waren: dumm.

»Nein«, widersprach ihm Drask. »Ich bereue nichts, und ich weiß jetzt mehr denn je, daß sie siegen werden. Frage mich nicht, wer sie sind, denn ich werde dir nicht antworten. Aber ihr werdet verlieren, Skar. Ihr werdet kämpfen und siegen und euch mit diesem Sieg selbst vernichten, denn sie können nicht besiegt werden. Ich warne dich, weil ich jetzt sehe, wie es kommen wird, sehr deutlich.«

»Du sprichst von ihnen, als wären sie Götter«, entgegnete Skar.

Drask nickte. »Das sind sie. Oh, nicht jene Art von Göttern, wie sie sich die Menschen selbst erschaffen haben, Satai. Diese Art von Göttern könnt ihr vernichten, denn sie haben immer nur so viel Macht, wie die, welche sie schufen, ihnen zugestehen. Die Götter sind sterblich, aber die Sternengeborenen nicht.«

»Wer sind sie?« fragte Skar, obgleich Drask ihm vor Augenblicken erst gesagt hatte, daß er diese Frage nicht beantworten würde. Drask lächelte auch nur schwach und schüttelte den Kopf. Aber er antwortete trotzdem:

»Wesen von unbeschreiblicher Macht, Skar. Nicht einmal die Alten konnten sie besiegen, obgleich auch ihre Macht der von Göttern gleichkam.«

»Das ist eine etwas vage Beschreibung, findest du nicht?« wandte Skar ein.

Drask lächelte. »Die einzige, die ich dir geben kann. Und die einzige, die ich dir geben will. Ich habe dich nicht gerufen, um alle meine Geheimnisse mit dir zu teilen, Satai. Ich will dich warnen.«

»Wovor?«

»Vor dem, was ihr vorhabt«, antwortete Drask ernst. »Ihr könnt uns besiegen – uns, die Zauberer, nicht die, für die wir arbeiten. Ich gebe zu, daß wir euch unterschätzt haben. Niemand hat damit gerechnet, daß die Satai so stark sein würden, und niemand von uns hat damit gerechnet, daß sie sich ausgerechnet mit den Quorrl zusammentun würden. Und niemand hat mit dir gerechnet. Ihr werdet uns schlagen, binnen eines Jahres. Jetzt, wo du wieder da bist, wird das Netz zerreißen, das meine Brüder und ich über Enwor gewoben haben. Aber ihr werdet alles nur noch schlimmer machen.«

»Gibt es etwas Schlimmeres, als eine ganze Welt zu versklaven?« fragte Skar.

»Ja«, antwortete Drask mit großem Ernst. »Eine ganze Welt zu vernichten, Skar. Ihr werdet uns schlagen, daran besteht kein Zweifel. Wir hätten euch besiegt, wir hätten die Veden besiegt, wir hätten die Sumpfleute besiegt und wir hätten vielleicht sogar die Quorrl besiegt. Aber alle zusammen seid ihr zu stark für uns. Ihr werdet siegen. Aber wenn ihr es getan habt, Skar, wenn ihr das Schwert senkt und der letzte von uns vernichtet ist, dann werdet ihr feststellen, daß ihr Enwor in einem Meer von Blut und Gewalt ertränkt habt. Du wirst die Welt, in der du geboren bist, nicht mehr wiedererkennen, wenn alles vorbei ist.«

Seine Worte machten Skar betroffen, aber auch gleichzeitig zornig. Ohne auf die drohende Gebärde des Quorrl zu achten, trat er einen weiteren Schritt auf Drask zu und beugte sich erregt vor. »Und was erwartest du von mir, alter Mann?« fragte er aufgebracht. »Daß ich hingehe und ihnen sage, sie sollen die Waffen senken und sich ergeben? Das ist lächerlich!«

»Natürlich«, erwiderte Drask. »Du würdest es nicht tun, und selbst, wenn du es tätest, würden sie nicht auf dich hören. Es waren Männer wie Del, die unserem Plan Aussicht auf Erfolg versprachen, vergiß das nicht. Aber du kannst etwas anderes tun, vielleicht als einziger. Etwas, wozu selbst meine Brüder und ich nicht in der Lage sind.«

»Und was?«

»Geh zu ihnen«, antwortete Drask. »Geh zu den Sternengeborenen, Skar. Du kannst es.«

Seine Worte trafen Skar wie ein Hieb ins Gesicht. Er hatte irgendeinen verrückten Vorschlag von Drask erwartet, vielleicht auch nur leere Drohungen, nicht einmal das Angebot, die Seiten zu wechseln und den Sternengeborenen den Sieg zu ermöglichen, um etwa damit den Menschen Enwors das Überleben zu garantieren, hätte ihn überrascht.

Aber das?!

»Du kannst es, Skar«, fuhr Drask fort, dem seine Erschütterung natürlich keineswegs entgangen war. »Vielleicht bist du der einzige Mensch auf dieser Welt, der es vermag, denn du bist zu einem Teil einer von ihnen.«

»Das ist … lächerlich«, widersprach Skar. Er hatte Mühe zu sprechen. Hinter seiner Stirn tobte das Chaos, und er war nicht fähig, auch nur einen einzigen halbwegs klaren Gedanken zu fassen. Und das Entsetzlichste war, daß er es trotz allem irgendwie … erwartet hatte.

»Etwas von ihnen ist in dir«, beharrte Drask. »Du weißt es. Du hast es immer gewußt, und du weißt es auch jetzt. Geh zu ihnen, Skar. Geh zu ihnen und versuche zu tun, was meinen Brüdern und mir nicht möglich war.«

»Und was soll das sein?« fragte Skar. Es fiel ihm noch immer schwer zu denken. Er antwortete rein automatisch, ohne wirklich zu wissen, was er sagte. Drasks Worte hatten ihn bis auf den Grund seiner Seele erschüttert. Verwirrt blickte er zwischen dem alten Mann und dem Quorrl hin und her, ohne einen von ihnen wirklich zu sehen. Alles drehte sich um ihn.

»Bitte sie um Frieden, Skar«, antwortete Drask. »Gib ihnen, was sie haben wollen.«

»Oh«, stieß Skar bitter hervor. »Mehr nicht? Du verlangst von mir, daß ich ihnen Enwor schenke?«

»Es ist eure einzige Chance«, versicherte Drask. »Nicht Enwor. Nur einen kleinen Teil. Gib ihnen einen Teil, um das Ganze zu retten. Wir können sie nicht besiegen. Niemand kann das. Aber wir können mit ihnen leben.«

»So wie die Alten?« fragte Skar böse.

Drask versuchte, eine abfällige Geste zu machen, was aber durch seine aneinandergeketteten Handgelenke kläglich mißlang. Der Kopf des blinden Quorrl ruckte drohend herum, als er das Klirren des silbernen Stahles vernahm. »Die Alten waren Narren«, antwortete Drask heftig. »Sie hatten die Macht von Göttern, aber sie waren Narren. Sie holten die Sternengeborenen vom Himmel, aber sie begriffen nicht, daß man einem Volk nicht seine Welt nehmen kann, ohne ihm eine andere zu geben.«

»Vielleicht waren sie der Meinung, Enwor für sich selbst zu brauchen«, gab Skar sarkastisch zu bedenken, aber Drask schien seine Worte gar nicht zu hören.

»Als sie begriffen, was sie getan hatten, war es zu spät«, fuhr der Magier fort. »Sie versuchten, zusammen mit den Sternengeborenen zu leben, aber dieser Versuch scheiterte. Du weißt, was geschah.«

O ja, das wußte er. Er hatte Velas Worte nicht vergessen, obwohl es ihm unglaublich lange erschien, daß er sie vernommen hatte. Sie vernichteten sich gegenseitig: das Volk, dem diese Welt gehörte, und das mächtig genug geworden war, in gigantischen silbernen Schiffen zu den Sternen zu segeln, und all das, was es von diesen Sternen hierher holte. Und er hatte auch das andere nicht vergessen, was Vela ihm erzählt hatte: daß sie, als alles schon verloren schien, als Enwor bereits brannte und aus einer blühenden Welt eine Hölle wurde, einen letzten, verzweifelten Versuch unternahmen, eine Verbindung zu jenen Sternenwesen zu erschaffen, ein Ungeheuer, halb Mensch, halb Sternenkreatur, halb Gott und halb Teufel.

Ihn.

Oh, natürlich nicht ihn selbst, denn er war ein sterblicher Mensch, und das alles lag Tausende um Tausende von Jahren zurück, aber das Etwas in ihm, dieses finstere gestaltlose Ding, das er in Ermangelung eines besseren Namens stets seinen Dunklen Bruder genannt hatte, dies war ihr Erbe, der Nachkomme jenes entsetzlichen Gott-Teufel-Zwitters, den Männer wie Drask erschaffen hatten. Er hatte es immer gespürt, daß er etwas Besonderes war, daß ihn etwas von allen anderen Menschen unterschied. Aber verdammt, dachte er, von plötzlichem, rasendem Zorn erfüllt, niemand hatte ihn gefragt, ob er es auch wollte!

»Es wird wieder geschehen«, führte Drask weiter aus, mit sehr leiser, fast suggestiver Stimme. Er hatte die ganze Zeit geschwiegen, aber Skar war plötzlich sicher, daß er seine Gedanken gelesen hatte. »Du weißt es, Skar. Du hast den Daij-Djan gesehen, und du hast ihr Erwachen gespürt. Sie werden siegen. Enwor wird ein zweites Mal untergehen, wenn niemand diesen Krieg verhindert, und diesmal wird niemand mehr übrig bleiben, um es wieder aufzubauen.« Seine Worte waren fast ein Flüstern, aber von jenem zwingenden Klang, der es Skar einfach unmöglich machte, die Ohren davor zu verschließen. Mit einem letzten, klar gebliebenen Teil seines Verstandes begriff er, daß Drask all seine Erfahrung und jedes bißchen Macht, das ihm trotz der Drogen noch geblieben war, dazu einsetzte, ihn zu überzeugen, aber dieses Wissen nutzte nichts; vielleicht, weil er ebenso deutlich spürte, daß Drask trotz allem die Wahrheit sprach. Es lag in seiner Macht, vielleicht nicht den Krieg zu verhindern, aber es wenigstens zu versuchen.

»Und … wo sind sie?« fragte Skar. Selbst das Sprechen fiel ihm schwer. Er war nicht sicher, daß er diese Frage wirklich hatte stellen wollen. Das Durcheinander hinter seiner Stirn entwirrte sich nicht, sondern schien im Gegenteil immer schlimmer zu werden.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Drask leise. Seine Stimme verlor an Kraft, und Skar erkannte, daß er jetzt starb. Diese letzte Anstrengung war zu viel gewesen. Skar konnte regelrecht sehen, wie das Leben aus seinem Körper wich. Seine Augen verloren zusehends an Glanz, und etwas in ihm zerbrach. Ganz plötzlich sank er im Stuhl zurück. Sein Gesicht erschlaffte, und mit einem Male tat er Skar nur noch leid. »Irgendwo im Süden, Skar, vielleicht. Vielleicht sind sie schon hier, oder … nirgendwo. Aber du bist der einzige, der sie finden kann. Such … meine Brüder, und du … du findest sie.«

Er bäumte sich auf. Ein Hustenanfall schüttelte seinen Körper, und Skar sah, wie eine der Wunden unter seinem Gewand wieder aufbrach, denn plötzlich zeigte sich auf seiner Brust ein feuchter dunkler Fleck, der rasch größer wurde. Aber er hob nur abwehrend die Hand, als Skar sich vorbeugen wollte, um ihm zu helfen.

»Kann ich dir trauen, alter Mann?« fragte Skar leise.

»Warum bin ich wohl hiergeblieben, du Narr?« stöhnte Drask. »Du hattest recht – ich hätte fliehen können, und ich hätte noch ein verdammt langes Leben vor mir gehabt. Ich bin geblieben, um mit … mit dir zu sprechen.«

»Hast du mich deshalb gezwungen, meinen eigenen Sohn zu töten?« fragte Skar. In seiner Stimme war nicht einmal Vorwurf, ja, er suchte selbst in seinem Inneren vergebens nach einer Spur von Bitterkeit oder Zorn. Er verstand es nur nicht.

Drask machte eine Bewegung, die gleichzeitig ein Kopfschütteln wie ein Nicken war. »Ja«, antwortete er. »Es war der einzige Weg. Das Erbe der Götter wird im Fleisch weitergegeben. Vielleicht wäre der Sohn deines Sohnes wieder ein Mann wie du geworden, aber er war … nicht der Richtige. Und uns bleibt keine Zeit mehr zu warten. Ich verlange nicht, daß du mir verzeihst, Skar, aber vielleicht verstehst du es. Du mußtest wieder der werden, der du einmal warst, bevor … dieses unselige Kind geboren wurde. Diese Närrin Vela, was hat sie getan?«

Er versuchte die Hand zu heben und hatte nicht mehr die Kraft dazu. Ein neuer Hustenanfall schüttelte seinen Körper, und plötzlich war in seinem Atem ein schreckliches röchelndes Geräusch. Er starb.

»Geh«, brachte Drask mühsam hervor. »Geh und suche sie, Skar. Du bist der einzige Mensch auf dieser Welt, der es kann, denn du wurdest zu diesem Zweck erschaffen. Geh und suche die alten Götter.«

Der einzige, der ihn beachtete, als er wenig später den Kerker wieder verließ, war der riesenhafte Quorrl. Er blickte ihn auf eine sehr sonderbare Weise an, mit dem Mißtrauen, das so sehr zu seiner Natur gehörte wie die schuppige Haut und das fürchterliche Raubtiergebiß, aber auch … nachdenklich?

Fast, dachte Skar schaudernd, als hätte er durch das fingerdicke Holz hindurch jedes Wort verstanden. Aber das war natürlich Unsinn.

Er verscheuchte den Gedanken und beeilte sich, wieder ins Freie zu kommen. Plötzlich hatte er das Gefühl, hier unten nicht mehr atmen zu können.

2. Kapitel

»Das ist nicht dein Ernst«, entrüstete sich Del. Die Fassungslosigkeit in seiner Stimme war nicht gespielt, und was Skar auf seinen Zügen las, das war ebenso echt. »Du willst gehen, nur weil ein sterbender alter Mann dir gesagt hat, daß du es tun sollst?! Was ist los mit dir? Hast du einen Schlag auf den Kopf bekommen, oder wirst du jetzt wirklich alt?«

Skar lächelte dünn, obwohl Del mit einem Ernst gesprochen hatte, der die Wahl seiner Worte Lügen strafte, und in einer Art, die Skar sich schuldiger vorkommen ließ, als wenn er ihm Vorwürfe gemacht hätte.

Sie saßen sich im Thronsaal der Burg gegenüber, und hinter dem bunten Bleiglas der Fenster wurde es wieder Tag. Skar hatte nicht geschlafen in dieser Nacht, sondern war ruhelos in der Festung auf und ab gewandert, wie ein in einem Käfig gefangenes Raubtier, das es nicht wagt, durch die offenstehende Tür zu schlüpfen. Die Nacht war endlos gewesen vielleicht die längste seines Lebens, sicher aber die schwerste. Es war nicht einfach so, daß er eine Entscheidung zu fällen hatte, die sein gesamtes weiteres Leben beeinflussen mochte hatte er sich allmählich gewöhnt, so absurd das klang. Aber zweierlei Dinge waren diesmal anders: Zum einen war es nicht nur Leben, über das er entschied, und zum anderen war es nicht nur Entscheidung. Vielleicht war sie es niemals gewesen. Drask hatte es nicht einmal angedeutet, und es gab nicht die Spur eines Beweises, daß es so war aber in letzter Zeit plagte Skar immer häufiger der Gedanke, daß vielleicht nichts von alledem, was geschehen war, Zufall gewesen sein mochte. Was, wenn sie alle nichts als Figuren in einem Schachspiel der Götter waren, wenn alles geplant gewesen war? Wenn dieses zweite Leben, das er lebte, kein Geschenk war, sondern er es leben , um etwas ganz Bestimmtes zu tun möglicherweise nichts weniger, als Enwor zu retten. Oder zu vernichten.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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