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Epistemische Gewalt E-Book

Claudia Brunner

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Beschreibung

Gewalt ist nicht nur Ereignis, sondern auch Prozess und Verhältnis. Sie zerstört Ordnung nicht nur, sondern begründet sie auch und hält sie aufrecht. Der Dimension des Wissens wird in den meisten Gewaltdebatten nur wenig Bedeutung beigemessen, gilt sie doch als Gegenteil von oder als Gegenmittel zu Gewalt. Mit dem Begriff der »epistemischen Gewalt« rückt Claudia Brunner den konstitutiven Zusammenhang von Wissen, Herrschaft und Gewalt in der kolonialen Moderne, unserer Gegenwart, in den Fokus. Ausgehend von feministischer, post- und dekolonialer Theorie entwickelt sie in Auseinandersetzung mit struktureller, kultureller, symbolischer und normativer Gewalt ein transdisziplinäres Konzept epistemischer Gewalt.

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Claudia Brunner

Epistemische Gewalt

Wissen und Herrschaft in der kolonialen Moderne

Die freie Verfügbarkeit der E-Book-Ausgabe dieser Publikation wurde ermöglicht durch den Fachinformationsdienst Politikwissenschaft POLLUX

und ein Netzwerk wissenschaftlicher Bibliotheken zur Förderung von Open Access in den Sozial- und Geisteswissenschaften (transcript, Politikwissenschaft 2019)

Die Publikation beachtet die Qualitätsstandards für die Open-Access-Publikation von Büchern (Nationaler Open-Access-Kontaktpunkt et al. 2018), Phase 1

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Claudia Brunner (PD Mag. Dr. phil.), geb. 1972, ist Assoziierte Professorin am Zentrum für Friedensforschung und Friedensbildung der Universität Klagenfurt. Ihre Arbeit zum Zusammenhang von Wissen(-schaft) und Gewalt wurde mit dem Christiane-Rajewsky-Preis sowie dem Caroline-von-Humboldt-Preis ausgezeichnet und im Rahmen des Elise-Richter-Exzellenzprogramms des Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) gefördert.

Gefördert aus Mitteln des Austrian Science Fund (FWF): Projekt Nr. V 368 G15.

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz (BY). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell. (Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de)

Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2020 im transcript Verlag, Bielefeld

© Claudia Brunner

Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld

Lektorat: Gregor Ohlerich, Freie Lektoren Obst & Ohlerich, Berlin

Korrektorat: Ilona Wenger, Wien

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

Print-ISBN 978-3-8376-5131-7

PDF-ISBN 978-3-8394-5131-1

EPUB-ISBN 978-3-7328-5131-7

https://doi.org/10.14361/9783839451311

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

 

 

Vorwort

 

Kapitel 1: Gewalt weiter denken

Fragestellung und Forschungsperspektive

Wissen(schaft) und Gewalt im Kontext internationaler Politik

(Un-)Eindeutigkeit und (De-)Legitimierung

Prozess, Verhältnis und Normativität

Wege zum Wissen

Transdisziplinäre Exploration

Methodologische Reflexion

Strukturierte Argumentation

 

Kapitel 2: Kolonialität von Macht, Wissen und Sein

Modernität/Kolonialität und Kapitalismus

Rassifizierung als Achse der Kolonialität der Macht

Unterscheiden und Herrschen in der Kolonialität des Wissens

Krieg als Grundlage der Kolonialität des Seins

Vier Genozide/Epistemizide und die Transformation der Natur

Zwischenfazit zur Kolonialität von Macht, Wissen und Sein

 

Kapitel 3: Begriffslandschaften epistemischer Gewalt

Spuren im Umfeld der Friedens- und Konfliktforschung

Potenzial der Gewaltlosigkeit im Symbolsystem Wissenschaft

Mentale Mauern und Forschungslücken auf unwegsamem Gelände

Dialogdefizit an den Grenzen der Vernunft

Wissen, Territorium, Raum und Verkörperung

Sprache, Diskurs, Macht – und Widerstand

Feministische Annäherungen an Phänomen und Begriff

Koloniale Repression und postkoloniale Repräsentation

Kapitalismus und Militarismus

Epistemische Ungerechtigkeit und epistemische Unterdrückung

Sprechen, Schweigen, Hören und Gehörtwerden

Erfindung von Sprachen, Verschwindung von Körpern

Post- und dekoloniale Konturierungen epistemischer Gewalt

Eurozentrismus, Orientalismus und Okzidentalismus

Erfindung des_der Anderen zwischen Wissens- und Gewaltmonopol

Rassismus als Äquivalent epistemischer Gewalt

Epistemizid am Abgrund des Denkens

Internationalisierung von Wissenschaft als kolonial-moderner Euphemismus

Zwischenfazit zu heterogenen Begriffen epistemischer Gewalt

 

Kapitel 4: Dimensionen des Epistemischen in weiten Gewaltkonzepten

Systemimmanent und relational: Johan Galtungs Gewalttheorie

Wenn nicht ist, was sein könnte: strukturelle Gewalt

Wenn es gar nicht danach aussieht: kulturelle Gewalt

Wenn es in die Tiefe geht: Zivilisationen und Kosmologien

Zwischenfazit zu struktureller, kultureller und/als epistemischer Gewalt

Herrschaftsordnungen und symbolische Gewalt bei Pierre Bourdieu

Sprache und Verkörperung zwischen Metropole und Kolonie

Elitenreproduktion im Bildungssystem

Doppeltes Gewaltmonopol und der vergessene koloniale Staat

Zwischenfazit zu symbolischer und/als epistemischer Gewalt

Normativität, Krieg und Gewaltfreiheit bei Judith Butler

Normative Gewalt und die Macht der Rahmungen

Affektive und moralische (De-)Stabilisierung einer Demokratie der Sinne

Globale Verantwortlichkeit für das Ringen um Gewaltfreiheit

Zwischenfazit zu normativer und/als epistemischer Gewalt

 

Kapitel 5: Transdisziplinäre Konturierungen eines Konzepts epistemischer Gewalt

Epistemische Gewalt in der kolonialen Moderne

Mikroebene der Kolonialität des Seins: Gewalterfahrung

Mesoebene der Kolonialität des Wissens: Gewaltnormalisierung

Makroebene der Kolonialität der Macht: Gewaltordnung

UnDoing Epistemic Violence

 

Literatur

Vorwort

»One of the tricks that Western modernity plays on intellectuals is to allow them only to produce revolutionary ideas in reactionary institutions.«

(Santos 2014: 3)

Einer mehrjährigen Finanzierung des Wissenschaftsfonds der Republik Österreich (FWF) ist es zu verdanken, dass ich die Arbeit an diesem Buch im Rahmen des Elise-Richter-Exzellenzprogramms und damit in großer Unabhängigkeit und Selbständigkeit durchführen konnte.1 Das Privileg dieser professionellen Förderung von Grundlagenforschung hat mich von wissenschaftspolitischen Turbulenzen an der Universität Klagenfurt abgeschirmt, an deren Zentrum für Friedensforschung und Friedensbildung das diesem Buch zugrunde liegende Forschungsprojekt Theorizing Epistemic Violence verortet war. Hinsichtlich des geteilten Anliegens der Weiterentwicklung transdisziplinärer und herrschaftskritischer Friedensforschung danke ich dessen ehemaligem Leiter, Werner Wintersteiner.

Die inzwischen empfindlich geschrumpfte Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung war genau der richtige Ort für die Durchführung meines Projekts. Für die ebendort auch in Zeiten des Umbruchs vorgefundenen offenen Türen danke ich insbesondere Verena Winiwarter, Katharina Heimerl, Elisabeth Reitinger, Andreas Heller, Gert Dressel und Katrina Wodniansky am nunmehr ehemaligen Standort Wien der Universität Klagenfurt.

Verbunden war ich vor allem in den ersten Jahren meines Forschungsprojekts auch dem Zentrum für Transdisziplinäre Geschlechterstudien der Humboldt-Universität zu Berlin. Dessen Angehörige haben schon Jahre zuvor viel dazu beigetragen, mein Interesse am Zusammenhang von Wissen einerseits und Gewalt andererseits zu vertiefen. Stellvertretend für viele bedanke ich mich bei Gabriele Jähnert und Gabriele Dietze. Der 2012 für ein Konzept zu diesem Projekt in Berlin erhaltene Caroline von Humboldt-Preis hat mich zur mehrjährigen Arbeit an meinem Forschungsprojekt motiviert, das schließlich auch die Grundlage für meine 2019 erfolgte Habilitation an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität Wien sowie für dieses Buch bildet.

An deren Institut für Politikwissenschaft konnte ich eine Arbeitsgruppe für Politische Theorie mitgestalten. Von intensiven Diskussionen, insbesondere mit Brigitte Bargetz, Gundula Ludwig, Marion Löffler, Georg Spitaler, Birgit Sauer, Karin Bischof und Saskia Stachowitsch, hat der vorliegende Text profitiert.

Forschungsaufenthalte an der School of Politics and International Relations der Queen Mary University of London (Danke an Robbie Shilliam) sowie am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Augsburg (Danke an Christoph Weller) haben für Inspiration und Motivation außerhalb bekannter Wege gesorgt. Erstmals in seiner Gesamtheit präsentieren konnte ich das abgeschlossene Projekt im Rahmen eines weiteren Forschungsaufenthalts am Centre for Social Innovation and Community Engagement in Military Affairs an der Mount Saint Vincent University im kanadischen Halifax (Danke an Maya Eichler). Der Arbeitskreis Herrschaftskritische Friedensforschung in der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung sowie die Colonial/Postcolonial/Decolonial Working Group der British Studies Association sind bis heute wichtige Netzwerke für kollegialen Austausch und Rückhalt bei den vielen Versuchen, dem zu begegnen, was Inhalt dieser Arbeit (epistemische Gewalt) und geteiltes analytisches und politisches Interesse (unterschiedliche Formen von Gewalt und deren Reduktion) ist.

Danken möchte ich auch den Studierenden meiner Lehrveranstaltungen in Berlin, Wien, Klagenfurt und Augsburg, deren Fragen Gradmesser für meine Überzeugungen und Arbeitsweisen sowie Bestandteil des eigenen Lernens sind.

Über viele Jahre des Zweifelns, Verwerfens und Umsortierens hinweg waren viele kritische Leser_innen aus unterschiedlichen fachlichen Kontexten unverzichtbar. Neben einigen der bereits genannten sind dies vor allem Hajnalka Nagy, Viktorija Ratković, Levke Harders und Daniela Döring sowie Hanne Birckenbach, Sonja John, Wilfried Graf, Alke Jenss und Charlotte Rungius. Gregor Ohlerich gebührt Dank für das umsichtige Lektorat, Ilona Wenger für das Korrektorat des Texts.

Auf andere Weise Unsichtbares Unverzichtbares beigetragen haben Doris Allhutter, Maria Dabringer und Alexandra Trafoier, denen ich stellvertretend für alle solidarischen Kolleg_innen, die meinen Weg im kompetitiven und konkurrenzorientierten Feld der Wissenschaften bislang begleitet haben, Dank ausspreche.

Für unzählige weitere Dimensionen eines mehrjährigen Lese-, Denk-, Diskussions-, Lern- und Schreibprozesses zuständig erklärt hat sich und habe ich Helmut Krieger. Ihm gebührt der umfassendste Dank dafür, den Zweifeln immer auch das (Selbst-)Vertrauen und zugleich den Selbstverständlichkeiten stets die Skepsis entgegenzuhalten.

1Projektnummer V 368-G15 Theorizing Epistemic Violence, siehe www.epistemicviolence.info. Zugriff: 11.11.2019.

Kapitel 1: Gewalt weiter denken

»Als könnte man, besitzt man einmal Begriffe, solchen das Untersuchen und Denken überlassen.«

(Narr 1983: 51)

Seit etwa dreißig Jahren ist der Begriff epistemic violence in der Welt, um den Stellenwert vor allem wissenschaftlichen Wissens im Kontext globaler asymmetrischer Ungleichheits-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu thematisieren. In post- und dekolonialen sowie feministischen Debatten unterschiedlichster thematischer Schwerpunkte wird er mit großer Selbstverständlichkeit verwendet, wurde aber bis heute nicht umfassend theoretisiert. In jenen wissenschaftlichen Feldern hingegen, die sich mit den offensichtlich gewaltförmigen Aspekten gesellschaftlicher Verhältnisse beschäftigen, wie etwa in der Friedens- und Konfliktforschung, in der sozialwissenschaftlichen Gewaltforschung, in den Internationalen Beziehungen oder in der Politikwissenschaft, ist so gut wie nie von epistemischer Gewalt die Rede.

Wo es ausdrücklich um Gewalt geht, rücken epistemologische Fragen oft in den Hintergrund. So enthalten etwa sozialwissenschaftliche Handbücher der Gewaltforschung, Lexika der Internationalen Beziehungen oder der Politikwissenschaft keinerlei Einträge zu Wissen oder gar zu Epistemologie (Carlsnaes 2013; Gudehus/Christ 2013; Heitmeyer/Hagan 2003; Nohlen/Schultze 2002a, 2002b). Komplementär dazu wird in der Wissenschaftstheorie und Wissenssoziologie Gewalt nicht als ausreichend relevanter Gegenstand oder Begriff erachtet, um in entsprechende Überblickswerke Eingang zu finden (Carrier 2017; Engelhardt/Kajetzke 2010; Knoblauch 2005). Die Gründe für diese wechselseitige Leerstelle sind vielfältig. Um ihnen nachzugehen und Argumente zu formulieren, die für ein Zusammendenken von Gewalt einerseits und Wissen andererseits sprechen, verorte ich meine Ausgangsfrage an dieser Schnittstelle nicht nur zwischen Wissen und Gewalt, sondern auch zwischen einem analytischen und einem politischen Erkenntnisinteresse. Die Frage lautet schlicht:

Was ist epistemische Gewalt und wie wirkt sie?

Diesem doppelten Erkenntnisinteresse liegen vier Annahmen zugrunde. Erstens: Das überwiegend eurozentrische Repertoire an Gesellschaftstheorien, die Wissen(schaft) und Gewalt als zwei einander diametral entgegengesetzte Domänen des Sozialen verstehen, erlaubt nur eine unzureichende Erfassung möglicher Zusammenhänge zwischen diesen Domänen. Zweitens: Sich ›einen Begriff zu machen‹ von diesem Zusammenhang ist die Voraussetzung dafür, dieser wechselseitigen Leerstelle angemessen zu begegnen. Der Begriff epistemische Gewalt bietet sich als Ausgangspunkt für eine solche Begriffsarbeit und Theoretisierung an. Drittens: Antworten auf die Frage danach, wie epistemische Gewalt wirkt und worin sie sich manifestiert, können mit einem transdisziplinären Konzept epistemischer Gewalt auf eine Grundlage verweisen, die sich nicht in partikularen Erklärungen je unterschiedlicher Gewaltereignisse erschöpft, sondern die Dimension des Wissens in die ganzheitliche Analyse und Kritik dieser Ereignisse integriert. Viertens: Die Arbeit an einer Theoretisierung epistemischer Gewalt stellt einen Beitrag zu einer Kritik der Herrschaft in der globalen Moderne dar – und zur Dekolonisierung dessen, was dekoloniale Autor_innen die Kolonialität von Macht, Wissen und Sein nennen.

Die Überschrift dieser Einleitung, Gewalt weiter denken, vereint zwei Aspekte, die mir dabei wichtig sind. Es ist mein Ziel, dass wir uns mit existierenden Gewaltverhältnissen ebenso wenig zufriedengeben wie mit den Denkweisen über diese. Wir müssen immer wieder neue Wege der Analyse und Theoretisierung von Gewalt beschreiten, sie also weiterdenken. Das gilt gerade auch dort, wo wir bisweilen an Grenzen stoßen, weil ihre Phänomene uns politisch, kognitiv oder auch emotional überfordern, oder weil wir an einem engen Verständnis von Gewaltfreiheit festhalten, das dadurch ins Wanken zu geraten droht. Mit diesem ›Wir‹ meine ich nicht nur Wissenschaftler_innen, Politiker_innen oder Aktivist_innen, die sich mit Gewalt beschäftigen. Letztlich sind alle Menschen auf die eine oder andere Weise in Gewaltverhältnisse verstrickt und dafür mitverantwortlich, welche ihrer Erscheinungsformen weiterbestehen, weil wir sie unterstützen, akzeptieren, für unvermeidbar halten oder gar nicht erst als solche wahrnehmen. Entgegen einem liberal-universalistischen Verständnis dieses ›Wir‹ ist mir jedoch wichtig zu betonen, dass unterschiedliche soziale Positionierungen mit sehr unterschiedlichen Formen und Graden der Verstrickung in Gewalt einhergehen. Dies muss auch bei der Teilung dieser Verantwortung in Rechnung gestellt werden.

Gewalt weiter denken ist darüber hinaus ein Plädoyer dafür, bei der Analyse und Kritik von Gewalt bewusst auf weite Konzeptionen zu setzen und diese in genau jene Debatten und Felder (zurück) zu holen, die sich in einem aus meiner Sicht allzu engen Verständnis mit Gewalt im internationalen beziehungsweise globalen politischen Kontext beschäftigen. Im Kontext dieser Arbeit sind dies insbesondere epistemische, strukturelle, kulturelle, symbolische und normative Gewalt.

Ein Konzept epistemischer Gewalt soll vor allem dort mehr Resonanz erlangen, wo Wissen(schaft) und Gewalt weit auseinander zu liegen scheinen und doch untrennbar miteinander verbunden sind: in jenen sozialwissenschaftlichen Zusammenhängen, die sich mit Fragen von Gewalt in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen, vor allem aber mit direkter physischer Gewalt im Kontext internationaler Politik beschäftigen. Diese Gewalt wird selten in einem größeren Zusammenhang von Ungleichheits-, Macht- und Herrschaftsverhältnissen verhandelt. Dort wiederum, wo epistemische Gewalt zum nicht mehr erklärungsbedürftigen Basisvokabular zählt, in kulturwissenschaftlich geprägten Feldern der post- und dekolonialen Debatte oder auch indigener Wissenskritik, kann die auf einer Auseinandersetzung mit epistemischer Gewalt basierende Relektüre von anderen weiten Gewaltbegriffen wie strukturelle und kulturelle, symbolische und normative Gewalt Anschlussstellen für eine transdisziplinäre Gewaltkritik bereitstellen. Letztere ist mehr als nur Wissenskritik, und im besten Fall verliert sie auch die Verbindungen von epistemischer mit direkter physischer Gewalt nicht aus dem Auge.

Um dieses Ziel zu verfolgen, nutze ich Elemente aus unterschiedlichen Wissenschaftstraditionen der Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften, die einander ergänzen und vertiefen. Schließlich verstehe ich meine Auseinandersetzung mit epistemischer Gewalt als Mosaikstein eines facettenreichen und langen Prozesses der Dekolonisierung von Wissen(schaft), einem durchaus widersprüchlichen Unterfangen, das ich aus epistemologischen, politischen und ethischen Gründen als richtig und wichtig erachte. Warum es dieser Dekolonisierung bedarf und was ein Konzept epistemischer Gewalt dazu beitragen kann, erörtere ich in diesem einleitenden Kapitel.

Fragestellung und Forschungsperspektive

»Um sich mit Gewalt zu beschäftigen, muss man (s-)einen Schlüssel wählen.«

(Barthes 1995: 903)1

Aus der hier eingenommenen Perspektive ist dem Narrativ einer sich linear entwickelnden Gewaltabstinenz der Moderne (Pinker 2011; Reemtsma 2008) und deren Eignung als glaubwürdige gewaltfreie Überbringerin von Demokratie, Menschenrechten, Aufklärung und Emanzipation entschieden zu widersprechen. Obwohl aus kritischen Wissenschaftstraditionen immer wieder herausgefordert (Horkheimer/Adorno 1947; Imbusch 2005; Krippendorff 1968), hält sich dieses Narrativ hartnäckig und trägt zur Aufrechterhaltung existierender Herrschaftsordnungen bei – insbesondere wenn es um die Analyse direkter physischer Gewalt im Kontext internationaler Politik geht. Es reicht weit in die Wissenschafts- und Gewaltgeschichte der Menschheit zurück und prägt gesellschaftliche Verhältnisse bis heute.

Der mit seiner Prägung durch Michel Foucault (1969, 1979) einer breiteren akademischen Öffentlichkeit verständlich gewordene Begriff epistemische Gewalt, der vor allem in der post- und dekolonialen Debatte im Anschluss an Edward Said (1978, 1993) sowie in der postkolonial-feministischen Theorietradition im Anschluss an Gayatri Chakravorty Spivak (1988) auch im Kontext globaler Ungleichheits- und Gewaltverhältnisse benutzt wird, rückt dieses Narrativ in den Fokus der Aufmerksamkeit. Damit wird es möglich, die Dimension des Wissens als Teil jener Gewaltverhältnisse zu problematisieren, die dieses Narrativ zu überwinden behauptet. Der widersprüchlich und abstrakt erscheinende Begriff trägt dazu bei, ganz unterschiedliche, über Raum und Zeit disparat verteilte Erscheinungsformen von Gewalt in ihren Verwobenheiten ebenso wie in ihrem Verhältnis zu bestehenden Herrschafts- und Wissensordnungen besser zu verstehen.

Ein in dieser Tradition verwurzeltes Konzept epistemischer Gewalt macht Zusammenhänge zwischen Wissen, Gewalt und Herrschaft im globalen Maßstab erkennbar, benennbar und plausibel, ohne dabei als Zauberformel der Analyse oder gar der Überwindung jeglicher Gewalt in Erscheinung zu treten. Zugleich soll das Nachdenken über epistemische Gewalt dafür sensibilisieren, dass auch die eigene Wissenspraxis nicht jenseits jener Verhältnisse und Ordnungen stattfinden kann. Sie ist also potenziell ebenfalls in Gewaltverhältnisse nicht nur epistemischer Art verstrickt. Zusammenhänge zwischen Gewalt und Wissen auszuloten, ist daher ein ethisches ebenso wie ein epistem(olog-)isches Unterfangen, nicht zuletzt aber auch ein politisches.

Dieses Verständnis lege ich meinem Beitrag zu einer Theoretisierung epistemischer Gewalt zugrunde. Mit Mona Singer verstehe ich Epistemologie »vor allem auch als den Bereich, in dem mit Sinn für epistemische Gerechtigkeit politische und ethische Fragen gestellt werden« (Singer 2005: 10). Die Arbeit am Begriff epistemische Gewalt stellt einen Beitrag zur Diskussion solcher Fragen dar. Wenn ich dabei nicht nur von Wissenschaft, sondern auch von Wissen oder Wissen(schaft) spreche, will ich die fließenden Grenzen zwischen mehr oder weniger autorisiertem Wissen in Erinnerung rufen, die ihrerseits von der epistemischen Gewalt moderner Wissenschaften mit hervorgebracht werden, deren Entwicklung von politischen und sozialen Prozessen nicht zu trennen ist.2

Wissen(schaft) und Gewalt im Kontext internationaler Politik

Vom privilegierten Standort eurozentrischer wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit Gewalt aus betrachtet, ist letztere zumeist »anderswo, anderswer und anderswas« (Brunner 2016c: 94).3 Gewalt und Wissenschaft, so scheint es, haben nichts miteinander zu tun. Daraus folgt die Annahme, dass aufseiten des sich im Zentrum der Welt wähnenden Selbst, das diese räumlich und zeitlich dislozierte Gewalt zu analysieren und sogar zu theoretisieren vermag, Gewalt nicht ist. Das aufgeklärte intellektuelle und insbesondere das akademisch tätige Subjekt scheint die Tugend der Gewaltlosigkeit geradezu zu verkörpern, zumal es mit Wissen und Sprache hantiert und nicht mit Muskelkraft und Waffen.

Ausgehend von einem engen, auf direkte und physische Verletzung begrenzten Verständnis von Gewalt gilt das Feld des Wissens nicht nur als gewaltfrei, sondern auch als Domäne, von der aus Gewalt überwunden und Gewaltfreiheit in die Welt gebracht wird (Brunner 2017a). Der Begriff epistemische Gewalt stellt diese Trennung von Wissen(schaft) und Gewalt infrage. Er bezeichnet jenen Beitrag zu Ungleichheits-, Macht- und Herrschaftsverhältnissen, der im Wissen selbst angelegt und zugleich für deren Analyse unsichtbar geworden ist. Damit stellt er auch zur Diskussion, welche Funktionen insbesondere wissenschaftliches Wissen in seinem »Herrschaftsdienst«4 (Pappe 2011) hinsichtlich der Etablierung und Aufrechterhaltung von Gewaltverhältnissen erfüllt.

Epistemische Gewalt liegt im Wissen selbst und nicht nur in den Mitteln, derer wir uns bei dessen Herstellung, Vertreibung und Verwendung bedienen. Die modernen Wissenschaften haben einen wesentlichen Beitrag zu einer euro- und androzentrischen »Monokultur des Wissens« (Santos/Nunes/Meneses 2007: xxxii) geleistet, die zutiefst von epistemischer Gewalt geprägt ist. Damit sind in der post- und dekolonialen Debatte vor allem Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften gemeint. Zugleich sind sie es, mittels derer Gewalt und Ungleichheit in immer kleinteiliger ausdifferenzierten Subdisziplinen zu analysieren und zu überwinden versucht wird.

Gerade diese Ausdifferenzierung wissenschaftlicher Disziplinen ist jedoch »ein Ergebnis der intellektuellen Arbeitsteilung« (Boatcă/Costa 2010b: 69), die sich in Europa nicht zufällig in genau jener Zeit herausbildete, in der sich seine schon drei Jahrhunderte zuvor begonnene koloniale Expansion bereits über den ganzen Globus erstreckt hatte. Den vermeintlich autonomen Sphären menschlichen Handelns, Markt, Staat und (Zivil-)Gesellschaft, die als charakteristisch für die Moderne gelten, so Manuela Boatcă und Sérgio Costa in ihrer postkolonialen Kritik der Sozialwissenschaften, wurde im 19. Jahrhundert mit Wirtschaftswissenschaft, Politikwissenschaft und Soziologie je ein Fach zugewiesen (ebd.). Demgegenüber ist es zur Aufgabe der Ethnologie, der Orientalistik und später auch diverser interdisziplinärer Regionalwissenschaften geworden, »zu erklären, warum der Rest – im Grunde […] die außereuropäische Peripherie – nicht modern war oder es nicht werden konnte« (ebd.).

Gewalt, Krieg und Konflikt werden seither vor allem im zeitlich oder räumlich fernen Anderswo lokalisiert, weshalb diese intellektuelle Arbeitsteilung auch in der Friedens- und Konfliktforschung, den Internationalen Beziehungen und der Politikwissenschaft bis heute vorherrschend ist. Sie prägt die Methoden, Theorien und Paradigmen dieser wissenschaftlichen Felder, von denen ausgehend ich in eine Leerstelle rund um epistemische Gewalt als Phänomen und Begriff konstatiere. Gewalt wird in diesen Disziplinen konzeptionell kaum mit der Dimension des Wissens verbunden, die in post- und dekolonialen wie auch in feministischen Perspektiven einen wichtigen Stellenwert einnimmt und für eine Theoretisierung epistemischer Gewalt unabdingbar ist. Zumal es bei diesen Ansätzen um die Überwindung des anhaltenden Zustandes der Kolonialität geht, um eine Dekolonisierung also, die weit über den bereits abgeschlossen geglaubten politischen Prozess hinausgeht und auch die kulturelle sowie die epistemische Dimension betrifft, stellen sie das eurozentrische und okzidentalistische Fundament des Wissens selbst infrage.

Eine solche »Politik der Epistemologie« (Coronil 2002: 182) kann den Raum für das Erkennen und Benennen der Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen Formen von Gewalt in ihrem historischen, sozialen, (geo-)politischen und ökonomischen Kontext wieder weiten. Sie stellt die Voraussetzung dafür dar, selbstverständlich gewordene Gewaltverhältnisse »durch ein retardierendes Moment zu unterbrechen« (Staudigl 2015: 21) und »Spielräume geringerer Gewalt zu eröffnen« (ebd.: 8). Zugleich ist anzuerkennen, dass auch diese notwendigerweise auf dem »epistemischen Territorium der Moderne« (Vázquez 2011: 29) stattfindende Wissenspraxis selbst in Macht-, Gewalt- und Herrschaftsverhältnisse involviert ist.

In der politikwissenschaftlich geprägten Friedens- und Konfliktforschung, von wo aus sich meine Fragestellung entwickelt hat, bewegt sich die Debatte gegenwärtig wieder in Richtung eines engen Verständnisses von Gewalt (Bonacker/Imbusch 2010; Koloma Beck/Schlichte 2014). Sie fokussiert vorrangig auf Begriffe, in denen Gewalt inklusive Schädigungsabsicht und politischem Kontext als direkte und physische gefasst wird. Der lange Weg zu direkter physischer Gewaltanwendung, der von ineinander verwobenen unterschiedlichen Gewaltformen gesäumt ist – von struktureller und kultureller über symbolische und normative bis hin zu epistemischer Gewalt –, ist in diesen Feldern der Auseinandersetzung mit Gewalt noch weitgehend unvermessen. Auch in den Internationalen Beziehungen und der Politikwissenschaft kann nicht von einer substanziellen Weitung des Gewaltbegriffs gesprochen werden.

Eine kritische wissenschaftstheoretische Selbstreflexion zum Verhältnis von Wissenschaft und unterschiedlichen Dimensionen von Gewalt wiederum ist nur an den Rändern hegemonialer Debatten, wie etwa in der feministischen Forschung feststellbar, die zahlreiche Querverbindungen zu post- und dekolonialen Perspektiven ermöglicht (Batscheider 1993; Engels/Gayer 2011; Exo 2009, 2015). Eine von diesen und anderen Rändern ausgehende Theoretisierung des Begriffs epistemische Gewalt erachte ich daher als notwendig und nützlich im Sinne einer erneuten Problematisierung der Relevanz und Wirkungsweisen von Wissen(schaft) im Kontext globaler Macht-, Herrschafts- und Gewaltverhältnisse.

Sich an der Theoretisierung epistemischer Gewalt zu beteiligen und den Begriff aktiv zu benutzen bedeutet freilich nicht, einer Verharmlosung direkter physischer Gewalt Vorschub zu leisten, wie dies von Befürworter_innen eines engen Gewaltbegriffs bisweilen unterstellt oder befürchtet wird. Mit Markus Schroer (2000: 436) halte ich fest, dass ein weites Gewaltverständnis keineswegs mit einer Relativierung von direkter physischer Gewalt einhergehen muss. Der Begriff epistemische Gewalt ermöglicht vielmehr deren Relationierung, in dem er den Blick »auf den Zusammenhang zwischen den Beobachteten und den Beobachtenden […], zwischen den Produkten und der Produktion, zwischen dem Wissen und dem Ort seiner Entstehung« (Coronil 2002: 184) schärft. Erst wenn dieser Ort mit ins Bild kommt, können die Verbindungen zwischen Formen direkter physischer Gewalt einerseits, die einen Gegenstand der Friedens- und Konfliktforschung, der Internationalen Beziehungen und der Politikwissenschaft bilden, und epistemischer Gewalt andererseits, die auch von diesen Disziplinen mit hervorgebracht wird, angesprochen werden. Mit einem Konzept epistemischer Gewalt können gängige binnenwissenschaftliche und auch politische Gewaltdebatten gegen den Strich gelesen und das komplexe Konglomerat Gewalt im unvermeidbaren Zusammenspiel von sozialem Ereignis, diskursiver und epistemischer Dimension, analytischer Durchdringung und politischem Urteil neu betrachtet werden.

Auch wenn der Begriff epistemische Gewalt in der Friedens- und Konfliktforschung und den Internationalen Beziehungen noch weitgehend unbekannt ist, eignet sich deren Umfeld als Ausgangspunkt für eine über diese (Sub-)Disziplinen der Politikwissenschaft hinausreichende Theoretisierung. Erstens ist ein zentrales Element epistemischer Gewalt der von ihr ausgehende Effekt der Normalisierung und Rechtfertigung von anderen Gewaltformen direkter und indirekter Art, die wiederum den Gegenstandsbereich der Friedens- und Konfliktforschung und großer Teile der Internationalen Beziehungen bilden. Zweitens ist die internationale Dimension, die diesen Fächern bereits durch ihre Gegenstände innewohnt, aus post- und dekolonialer Perspektive wesentlich für die Frage nach jenem auch global kanonisierten Wissen, mit dem diese Gegenstände analytisch gefasst werden. Drittens verkörpert die dort dominierende eurozentrische Beschäftigung mit Krieg, Konflikt und Gewalt im internationalen Verhältnis genau jene wissensbasierten Prämissen von Aufklärung, Modernität und Fortschritt, die nicht nur Teil der Lösung zu sein verheißen, sondern auch konstitutives Element des Problems sind. Massive soziale und politische Ungleichheitsverhältnisse, denen zahlreiche Formen von Gewalt vorausgehen und aus denen ebensolche resultieren, werden immer auch von spezifischem Wissen mitkonstituiert und begleitet. Dies muss entsprechend in eine Analyse und Kritik integriert werden.

Während sich Friedens- und Konfliktforschung explizit mit Gewalt im politischen Kontext beschäftigt und ihre Phänomene den ausdrücklichen Gegenstandsbereich des Feldes bilden, ist Gewalt als eigenständiges Thema in der Politikwissenschaft weniger deutlich konturiert. Auch wenn Gewaltverhältnisse Ausgangspunkt für zahlreiche Forschungsfragen und Gegenstände der Disziplin sind, werden sie selten so benannt. Politik wird vielmehr als Verteilungs-, Macht- oder Ordnungsfrage verhandelt. Daraus resultiert zwar die zentrale Auseinandersetzung mit Staatsgewalt und Gewaltenteilung, also mit zu Normen und Institutionen geronnenen Gewaltverhältnissen (Brunner 2016c). Diese gelten jedoch nicht als gewaltförmig, sondern als Ergebnis der Überwindung von Gewalt durch Politik. Die beiden Sphären scheinen einander auszuschließen, denn es gilt das Verständnis, Gewalt und Macht seien verschiedenartige Phänomene und daher auch begrifflich streng voneinander zu trennen. In ihrer Auseinandersetzung mit symbolischer Gewalt nach Pierre Bourdieu empfiehlt Marion Löffler ausgehend von einem feministischen Politik(wissenschafts-)verständnis daher, »die Theoretisierung des modernen Staates mit einem differenzierteren Gewaltkonzept auszustatten« (Löffler 2012: 211). Zumal Gewalt und Staat zu den Kernkonzepten des Fachs zählen, würde dies auch weitreichende Konsequenzen für die Politikwissenschaft insgesamt, für ihre Begriffe, Methoden und Debatten nach sich ziehen.

Damit jedoch ist der Horizont der Analyse des Zusammenhangs von Gewalt einerseits und Wissen andererseits auch für die Politikwissenschaft noch nicht erreicht. Kristin Platt hält fest, dass jede ernsthafte Forschung über moderne staatliche Gewalt zu einer Hinterfragung der gesellschaftlichen Wissenssysteme führen müsse (2002: 20). Umgekehrt sollte auch eine nach Gewalt fragende Auseinandersetzung mit Wissen den Staat nicht außer Acht lassen, denn dass den mit der Herausbildung des staatlichen Gewaltmonopols verbundenen politischen Prozessen zahlreiche Formen von Gewalt zugrunde liegen, findet in den zentralen Begriffen und Kategorien der Disziplin wenig Niederschlag. Deren zentraler Referenzpunkt ist der moderne europäische Nationalstaat westlicher Prägung, dessen euro- und androzentrische Verfasstheit als stille Norm des konzeptionellen politikwissenschaftlichen Instrumentariums wirkt (Ludwig/Sauer/Wöhl 2009; Krieger 2015). Zugleich gilt alles, was das staatliche Gewaltmonopol und die anerkannte Gewaltenteilung herausfordert, als gewaltsame Abweichung von dieser Norm.

Die Erkenntnis post- und dekolonialer Theorie, die Einhegung von Gewalt nach innen sei der gewaltförmigen Konstitution der Moderne und der kriegerischen kolonialen Expansion europäischer Staaten geschuldet (Kurtenbach/Wehr 2014: 96), steht diesem Verständnis diametral gegenüber. Aus dieser Perspektive kann die Behauptung einer umfassenden Gewalteinhegung der Moderne durch das staatliche Gewaltmonopol gleichermaßen als Grundlage für das vorherrschende Gewaltverständnis der Politikwissenschaft wie auch als Mythos zur Aufrechterhaltung des politischen Status quo jener globalen Weltordnung verstanden werden, mit deren direkt-physischen Gewaltphänomenen sich die Friedens- und Konfliktforschung und Teile der Internationalen Beziehungen befassen. Aus post- und dekolonialer Sicht liegt Gewalt im engen wie im weiten Sinne in den eurozentrischen Praktiken und Paradigmen der Moderne selbst begründet, die nach Ordnung und Klassifikation strebt, um unterwerfen und regieren zu können. Epistemische Gewalt ist also nicht einfach eine unter vielen, nebeneinander existierenden, Formen von Gewalt. Sie ist jener immer noch imperialen Weltordnung, in der sich Gewalt auch heute ereignet, zugrunde gelegt.

(Un-)Eindeutigkeit und (De-)Legitimierung

Einst »Obrigkeiten, deren Legitimität außer Frage steht« (Imbusch 2002: 31) bezeichnend, verfügt der Begriff Gewalt heute über einen breiten Bedeutungsgehalt, der jedoch alltagssprachlich wie auch im wissenschaftlichen Gebrauch zumeist auf direkte und physische, personale Gewaltanwendung verkürzt wird. Er impliziert auf sprachlich-konzeptioneller Ebene genau jene Gleichzeitigkeit und Ununterscheidbarkeit von Verfügungsgewalt und Gewaltanwendung, die bis heute eine politische und wissenschaftliche Eindeutigkeit im Sprechen und Schreiben über Gewalt erschwert. Zugleich sind es genau diese beiden Dimensionen, zwischen denen sich die Phänomene bewegen, die die Gegenstände der Friedens- und Konfliktforschung, der Internationalen Beziehungen und auch von Teilen der Politikwissenschaft bilden. Die Theoriearbeit zum Thema Gewalt bringt also eine zweifache Herausforderung mit sich, die zugleich eine Ressource für das Nachdenken über epistemische Gewalt darstellt. Zum einen ist es die inhaltliche (Un-)Eindeutigkeit des Gewaltbegriffs, zum anderen die dabei stets mitschwindende Problematik der (De-)Legitimierung dessen, was damit bezeichnet wird.5

In Bezug auf die Frage nach der (Un-)Eindeutigkeit ist die sprachliche Ambiguität zu nennen, die mit dem Begriff Gewalt einhergeht und zugleich eine Ambivalenz darstellt. Ambiguität bezeichnet eine Doppel- oder Mehrdeutigkeit, Ambivalenz eine Zwiespältigkeit oder Zerrissenheit, verweist also nicht nur auf mehrere Optionen, sondern auch auf einen zwischen ihnen existierenden Zustand der Spannung. Die mehrdeutigen konzeptionellen Verständnisse und Begriffstraditionen des vermeintlich Eindeutigen – Gewalt – spiegeln schon semantisch ein Problem, das auch den damit bezeichneten Phänomenen innewohnt. Der deutschsprachige Begriff Gewalt unterscheidet nicht zwischen Ordnungsbegründung (potestas), die positiv mit Rechtmäßigkeit und Institutionalisierung konnotiert ist, und Ordnungszerstörung (violentia) die negativ mit Unrechtmäßigkeit und unmittelbarer Ausübung verbunden wird (ebd.: 27ff.). Im Gegensatz zum Englischen oder den romanischen Sprachen steht der deutsche Begriff Gewalt sowohl für den körperlichen Angriff als auch für die behördliche Amts- und Staatsgewalt (ebd.: 29). Diese Ambiguität ist kein etymologischer Zufall und liegt auch nicht in unpräzisem Sprachgebrauch begründet. Vielmehr erinnert sie an die zuerst absolutistische und dann nationalstaatliche Monopolisierung legitimer physischer Gewaltanwendung (ebd.: 30) und steht damit auch für die Ambivalenz der Tatsache, dass violentia und potestas einander stets überschneiden. Für die politisch-theoretische Auseinandersetzung mit Gewalt stellt diese Ambivalenz nicht notwendigerweise einen Nachteil dar, vereint sie doch dialektisch zwei Gegensätze miteinander, die Étienne Balibar als konstitutives Element des Politischen bezeichnet (2009: 101). Politik würde sich nicht als Ersatz für Gewalt anbieten, so Balibar, wenn zuvor nicht alle denkbaren Ausprägungen von Gewaltsamkeit in diesem Begriff vereindeutigt worden wären, nur um die mit ihm bezeichneten Phänomene von der Sphäre der Politik abzugrenzen und in Grade der (Nicht-)Tolerierbarkeit zu unterteilen (2015: 2).

Der Begriff epistemische Gewalt stellt diese Trennlinie infrage und lenkt den Blick auf genau jene Prozesse der Vereindeutigung, die der vermeintlichen Trennung zugrunde liegen. Er macht sichtbar, dass und wie zerstörende Gewalt der begründenden Gewalt inhärent, von ihr also gar nicht zu isolieren ist. Somit stellt politisch angestrebte potestas nicht das diametrale Gegenüber einer politisch unerwünschten violentia dar, sondern bezeichnet vielmehr deren Fortsetzung in einem anderen Zustand. Hier ist Zygmunt Baumans Bemerkung zum Begriff der Ambivalenz aufschlussreich. Er erachtet sie als ein notwendiges Nebenprodukt der zentralen Aufgabe der Moderne, des Klassifizierens, das zugleich nach noch mehr Klassifizierung verlangt (Bauman 1991: 3f.). Insofern birgt der uneindeutige Begriff Gewalt eine konzeptionelle Präzision, die die vermeintlich präzise Spaltung in power und violence verschleiert: Er verweist auf die Gewaltsamkeit der Sphäre des Politischen, die in einem engen Gewaltverständnis gar nicht als Gewalt verstanden wird, zugleich jedoch zutiefst von Gewalt durchdrungen und bedingt ist.

Eine vermeintlich trennscharfe Bezeichnung kann also nicht darüber hinwegtäuschen, dass etwa mit dem englischen power oder violence jeweils vielschichtige gewaltförmige Prozesse, Verhältnisse und Ereignisse ebenfalls nur unzureichend benannt werden können und die oben skizzierte Problematik nicht gelöst ist. Auch in wissenschaftlichen Debatten über Phänomene und/oder Begriffe von Gewalt handelt es sich bei Missverständnissen und Meinungsverschiedenheiten dementsprechend nicht nur um Probleme mangelhafter Übersetzungen zwischen unterschiedlichen Disziplinen und/oder Sprachen. Eine mehrsprachige Lektüre kann zwar das politische Spannungsverhältnis nicht auflösen, das der faktischen Ambivalenz von power und violence zugrunde liegt. Sie kann jedoch für das Vorhandensein jener konzeptionellen Ambiguität sensibilisieren, mit der die genannten erkenntnistheoretischen und politischen Probleme und Herausforderungen einhergehen.

So stellt allein die zunehmende englischsprachige Standardisierung wissenschaftlicher Tätigkeit einen Teil jener Ordnungsbegründung und ihrer Legitimierung dar, die aus post- und dekolonialer Perspektive einen der Grundpfeiler für die Existenz und Wirksamkeit epistemischer Gewalt in der globalen »Monokultur des Wissens« (Santos/Nunes/Meneses 2007: xxxii) bildet. Für die Theoretisierung epistemischer Gewalt ganz bewusst vom uneindeutigen deutschen Begriff Gewalt auszugehen, erleichtert daher den Verweis auf die zentrale Rolle, die wissenschaftliches Wissen in Hinblick auf Macht- und Herrschaftsverhältnisse spielt, die immer auch Gewaltverhältnisse sind. Nicht zuletzt macht epistemische Gewalt auch andere Formen von Gewalt selbstverständlich, während sie selbst nicht als offensichtlich gewaltförmig in Erscheinung tritt. Sie legitimiert und delegitimiert, was wir (nicht) für Gewalt und damit (nicht) für problematisch oder wünschenswert halten. Was Gewalt, Gewaltlosigkeit, Gewaltverzicht, Gewaltfreiheit und verwandte Begriffe bezeichnen soll oder tatsächlich umfasst, hängt also von ihrer diskursiven und politischen Verortung sowie von der grundlegenden Frage legitimer Autorität ab (Wolff 2009: 51).

Als neben der (Un-)Eindeutigkeit weiteren wichtigen Aspekt einer Ent-Selbstverständlichung und Weitung des Gewaltbegriffs verweise ich daher darauf, dass jedem Sprechen und Schreiben über Gewalt auch Annahmen und Urteile über die Legitimität der mit diesem Begriff bezeichneten Ereignisse und Phänomene zugrunde liegen. Diese werden meist nicht explizit gemacht, und oft liegen sie bereits in der soeben skizzierten (Un-)Eindeutigkeit des Gewaltbegriffs begründet. So beinhalten etwa Auseinandersetzungen über die angemessene Enge oder Weite von Gewaltbegriffen oft den Vorwurf, mit weiten Konzepten ein konkretes Gewaltereignis – etwa im Zusammenhang mit der Staats- und Gewaltkritik innerhalb sozialer und auch militanter Bewegungen – zu rechtfertigen anstatt zu analysieren. Umgekehrt sehen sich Befürworter_innen eines engen Gewaltverständnisses mit der Kritik konfrontiert, konkrete Gewaltereignisse von ihrem historischen und (geo-)politischen Kontext abzutrennen und damit unverhältnismäßige Gewaltanwendung im Rahmen des (national-)staatlichen Gewaltmonopols zu legitimieren. Nicht zuletzt auch deshalb ist die Frage nach der angemessenen Definition von Gewalt ein Dauerstreitthema zwischen unterschiedlichen wissens- und gesellschaftspolitischen Positionen, die sich in der »Dissenswissenschaft« (Jaberg 2011: 61) Friedens- und Konfliktforschung ebenso abbilden wie in anderen Teilbereichen der Sozialwissenschaften, die sich mit Gewalt als sozialem Ereignis in politischem Kontext beschäftigen (Schnell 2014).

Gegenüber staatlich legitimierten Formen von Gewalt besteht aufseiten hegemonialer Wissenspraxis kaum Notwendigkeit zur Distanzierung, weil etwa militärische Gewalt als Ordnung erhaltend oder diese wiederherstellend rationalisiert werden kann: »Heutzutage wird nicht mehr Krieg geführt, sondern Frieden geschaffen.« (Berndt 2013: 159) Vermeintlich geht es nicht mehr um die Durchsetzung von Interessen, sondern um Sicherheit und Demokratie, nicht mehr um Kriegsrecht, sondern um Schutzverantwortung, nicht mehr um Dominanz und Herrschaft, sondern um Governance (ebd.: 160). Zugleich rücken jene »Forschungsobjektsubjekte« (Brunner 2011: 173) in weite Ferne, die als irreguläre, irrationale, jedenfalls aber illegitime Gewaltakteur_innen – von der ›Terroristin‹ bis zum ›Schurkenstaat‹ – für die meisten Fragestellungen nach politischer Gewalt im internationalen Kontext eine starke Anziehungskraft ausüben und eine ideale Gegenfolie für die angenommene eigene Aufgeklärtheit und Gewaltfreiheit darstellen (Brunner 2016c: 94). Ein solches Verständnis erleichtert es, vom Skandalon der Gewalt, von ihrem Schmutz und Geruch sowie insbesondere von der Verantwortung für sie Abstand zu nehmen. Darüber hinaus erleichtert es, jegliches ›eigene‹ Gewaltengagement als Ausnahme von dieser Norm zu rahmen. »Kriege«, so Gertrud Brücher in ihrer Analyse des Pazifismus, erscheinen dann »als Ausscheidungskämpfe auf dem langen Weg zum finalen Frieden stiftenden Weltgewaltmonopol, zur Weltzivilgesellschaft und zur Weltbürgerrechtsgesellschaft« (2013: 119) oder, wie sie kritisch formuliert, als unvermeidliche Reaktion auf globale Herausforderungen durch jenen Teil der Welt, »der in Krieg und Elend versinkt« (ebd.: 120).

Diese epistemologisch-politische Grundproblematik äußert sich im Wissen über Gewalt im politischen Kontext auf vielfältige Weise. Je leichter sich ein Gewaltbegriff operationalisieren lässt, umso eher ist ihm eine Verankerung im kanonisierten Gedächtnis der sozialwissenschaftlichen Gewaltexpertise sicher. Letzteres wiederum ist umso eher der Fall, je enger das Verständnis von Gewalt gefasst wird, je weniger an historischem Kontext oder theoretischer Einbettung mit zu bedenken ist, ganz zu schweigen von epistemologischen Überlegungen, die eindeutige Erklärungen verkomplizieren. Zumeist jedoch wird Gewalt überhaupt nicht näher definiert, weil man darunter unhinterfragt direkte und physische Gewalt versteht, die keiner weiteren Begriffsbestimmung zu bedürfen scheint, was wiederum die Frage ihrer potenziellen Legitimierbarkeit vereinfacht. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass der Begriff epistemische Gewalt bislang noch kaum Eingang in jene Fächer gefunden hat, die ihre Stärken eher in der Anwendungsorientierung empirischer Sozialforschung entwickelt haben, die konkrete Gewaltereignisse untersucht, als in der Theoriebildung oder gar in einer epistemologischen Reflexivität, die diese Ereignisse ebenso wie deren Beforschung in einen größeren Zusammenhang von Wissen und Herrschaft stellt.

Je enger das Verständnis von Gewalt, umso anfälliger ist es auch für die Komplizenschaft mit epistemischer Gewalt, die wiederum als stille Norm unbemerkt im Hintergrund bleibt. Wenn Gewalt lediglich als Störung verstanden wird, die – auch mit Hilfe wissenschaftlicher Expertise – wieder ›in Ordnung‹ zu bringen ist, wird die Gewaltsamkeit jener Ordnung selbst unsichtbar gemacht. Diese Unsichtbarkeit erst lässt Normen funktionieren und damit bestimmte Formen von Gewalt legitimieren, die dann als weit weniger problematisch erscheinen als jene, gegen die sie sich richten, oder erst gar nicht unter dem Begriff Gewalt verhandelt werden. Ein weiter Gewaltbegriff, der auch systematisch versteht und erklärt, was epistemische Gewalt ist und wie sie wirkt, stellt genau diese Normativität der Unterscheidung in Gewalt/nicht-Gewalt beziehungsweise in legitime/illegitime Gewalt infrage. Damit wird kein generalisierter Kausalzusammenhang zwischen Wissen und Gewalt hergestellt und auch keine Ursachenforschung im engeren Sinne und unmittelbar anwendungsorientierten Fallmodus betrieben. Auch bedeutet die Betonung der Gewaltsamkeit von Wissens- und Herrschaftsordnungen nicht deren Gleichsetzung mit direkter Gewalt und somit deren Relativierung. Vielmehr geht es mir darum, Möglichkeitsbedingungen für gewaltförmige Strukturen, Prozesse, Verhältnisse und auch Ereignisse im globalen Kontext erkenn- und benennbar zu machen, die in der Analyse politischer Gewalt bislang zu wenig Berücksichtigung finden, weil die Dimension des Wissens kaum beachtet oder zu oberflächlich betrachtet wird.

Prozess, Verhältnis und Normativität

Die Präferenz für einen weiten Gewaltbegriff, der auf die Dimension des Wissens in der kolonialen Moderne fokussiert, sowie die Anerkennung des ambivalenten Bedeutungsgehalts des vermeintlich eindeutigen Begriffs Gewalt mündet in einer Argumentation, die Gewalt nicht nur in Form von Ereignissen denkt, sondern als prozessual und relational. Selbst wenn man einen auf direkte physische Gewalt fokussierenden Standpunkt einnimmt, muss eingeräumt werden, dass »Gewalten […] nicht sauber zu trennen« (Roth 1988: 41) sind, sondern ein Kontinuum bilden (ebd.). In kritischen Traditionen der Gewaltforschung besteht durchaus Konsens darüber, dass der Normalfall von Gewalt die Uneindeutigkeit und Vielschichtigkeit ihrer Phänomene ist, und dass auch strikte Definitionsversuche dieses Problem nicht lösen können (Heitmeyer/Soeffner 2004: 11). Unterschiedliche Erscheinungsformen von Gewalt stehen zueinander in sich verändernden Verhältnissen und nur eine ganzheitliche Betrachtung dieses größeren Zusammenhangs ermöglicht eine angemessene Analyse eines bestimmten Gewaltereignisses.

Michael Staudigl, dessen Interesse vorrangig physischen Gewaltereignissen gilt, plädiert daher dafür, Gewalt in dreierlei Hinsicht als »durch und durch relationales Phänomen« (Staudigl 2015: 280) zu denken: in Hinblick auf ihre »Leiblichkeit und Symbolizität« (ebd.), als »eine spezifische Form des Umgangs mit eigener und korrelativ fremder Verletzlichkeit« (ebd.) sowie »als Ereignis im Horizont ihrer Ordnungen« (ebd.). Dieser Horizont der Ordnungen von Wissen und Herrschaft ist es, den eine Theoretisierung epistemischer Gewalt vor Augen hat. Von dort ausgehend und auf diesen Horizont hin berücksichtigen feministische, post- und dekoloniale Perspektiven auch die von Staudigl genannten Dimensionen der Leiblichkeit und der Verletzlichkeit, die in der phänomenologisch orientierten Gewaltforschung im Kontext internationaler Politik zumeist als abgetrennt von Wissen und Ordnung verstanden werden. Diese körperliche Dimension von Gewalt in einen Zusammenhang mit Wissen und Ordnung im globalen Kontext zu stellen, dabei aber nicht nur in einer kurzen Zeitdimension rund um voneinander isoliert betrachteten Gewaltereignissen zu denken, ist eine Stärke des Begriffs epistemischer Gewalt.

Auf Basis insbesondere der zuletzt genannten dekolonialen Theorietradition, die 500 Jahre in die Weltgeschichte zurückblickt, um globale Ungleichheits- und Ungerechtigkeitsverhältnisse einer immer noch imperialen Herrschaftsordnung der Gegenwart zu verstehen, ist der Faktor Zeit von großer Bedeutung. Nur mit einer Perspektive der longue durée kann epistemische Gewalt also angemessen theoretisch gefasst werden. Gerade das kann über jene Felder, von denen meine Spurensuche nach epistemischer Gewalt ihren Ausgang genommen hat, nicht gesagt werden. In der Friedens- und Konfliktforschung und den Internationalen Beziehungen richtet man die Aufmerksamkeit überwiegend auf den unmittelbaren politischen Kontext von direkt-physischen und unmittelbar beobachtbaren Gewaltereignissen.6 Wenn dieser Kontext zeitlich oder räumlich ausgedehnt wird, um als problematisch und illegitim betrachtete Gewalt besser kulturalisieren und essenzialisieren zu können, wie dies etwa in Samuel Huntingtons (1996b) breit rezipierter Zivilisationstheorie der Fall ist, dann ist das ein aus meiner Sicht problematisches Verständnis von longue durée, das seinerseits als epistemisch gewaltförmig zu bezeichnen ist.

Aus anderen Gründen argumentiert Schroer bei der Definition von Gewalt für eine ausgedehnte temporale Dimension, wenn er sagt, dass Gewalt nicht zu- oder abnehme, sondern immer da sei, ihr Gesicht ändere, in unvermutete Räume abwandere und sich tarne, »so dass man von einem äußerst unberechenbaren, fluiden Phänomen sprechen muss, das sich nicht ein für alle [M]al identifizieren und auf eine Form festlegen lässt« (Schroer 2000: 435). Auch wenn ich diese Kritik an isoliert-vereindeutigten Gewaltbegriffen teile, will ich aus Schroers Formulierung keinesfalls auf eine nicht näher definierbare Essenz von Gewalt schließen, die ich in Hinblick auf eine Theoretisierung epistemischer Gewalt ebenfalls für kontraproduktiv halte. Wenn Gewalt nicht nur als allgegenwärtig betrachtet wird, sondern auch als völlig unberechenbar und unheimlich gilt, verschwinden politische, ökonomische, soziale und erst recht epistemische Möglichkeits- und Rahmenbedingungen ihrer miteinander verschränkten Erscheinungsformen aus dem Blick.

Dass Gewaltbegriffe grundsätzlich prozessual und relational sein sollen und sogar müssen, argumentiert auch Wolf-Dieter Narr (1983), indem er die Frage der eigenen Positionierung sowie der Normativität berücksichtigt, die auch in Debatten um epistemische Gewalt einen wichtigen Stellenwert einnimmt. Auf den ersten Blick mag dies widersprüchlich erscheinen, könnte doch eine Weitung von Gegenständen und theoretischen Zugriffen auf Gewalt auch die Nicht-Thematisierung einer eigenen Position begünstigen, wohingegen ein Akt direkter Gewalt unmittelbar danach ruft, eine Beurteilung zu artikulieren. Ebenfalls ohne Bezug auf epistemische Gewalt, aber mit einem deutlichen Plädoyer dafür, dass gerade auch eine im engeren Sinne konfliktforschende Gewaltkritik, nämlich jene am Militär, eines weiten Gewaltbegriffs bedarf, hält auch der Friedensforscher Michael Berndt fest, dass […] »die normative Fundierung fundamentaler Gewaltkritik immer wieder zur Diskussion, aber eben nicht in Frage stehen« (Berndt 2013: 161) soll.

Narrs (1983) Überlegungen zur Notwendigkeit und Möglichkeit, Gewalt zu bewerten, haben auch in Hinblick auf einen notwendigerweise weiten Begriff epistemischer Gewalt Gültigkeit, selbst wenn dieser noch nicht in der Welt war, als der Politologe an seiner immer auch als Gewaltkritik verstandenen Gewalttheorie gearbeitet hat. Auch Narr favorisiert einen prozessualen und relationalen, jedenfalls aber situativ flexiblen Gewaltbegriff und plädiert dabei, wie Berndt, für Normativität. Da man Gewalt aus keiner anthropologischen Konstante ableiten könne und jeglicher Gewaltbegriff notwendigerweise in Sozialität eingebettet sei, brauche man sich eines normativen Gehalts der eigenen Perspektive nicht zu schämen, so Narr (ebd.: 46). Ganz im Gegenteil gelte es, sich einen Begriff über die eigenen Ziele und Interessen zu machen (ebd.: 50) und über die eigenen Bezugsbegriffe Rechenschaft abzulegen (ebd.: 52) – nicht allein aus politischen Gründen, sondern auch um der wissenschaftlichen Präzision und Plausibilität willen.

Auch wenn der hier im Zentrum stehende Begriff epistemische Gewalt ausdrücklich weit gedacht ist und ein entsprechendes Konzept epistemischer Gewalt den Anspruch erhebt, für die Analyse und Kritik von Ungleichheits- und Herrschaftsverhältnissen auch in der Gegenwart der kolonialen Moderne nutzbar zu sein, ist dies noch nicht gleichbedeutend mit seiner Universalisierung. Vielmehr erlaubt die Verortung einer Theoretisierung epistemischer Gewalt in eben dieser kolonialen Moderne und ihrer mit Politik und Geschichte verschränkten longue durée, epistemische Gewalt als spezifisches Funktionsmerkmal der anhaltenden Kolonialität von Macht, Wissen und Sein (Quintero/Garbe 2013b) zu verstehen. Ausgehend von diesen für die dekoloniale Debatte zentralen Begriffen rahme ich meinen theoretischen Zugriff auf epistemische Gewalt in Kapitel 2, wo ich die Kolonialität von Macht, Wissen und Sein als für ein Verständnis epistemischer Gewalt zentrales Konzept einführe.

Zuvor erscheint es mir im Sinne Narrs und anderer kritischer Gewalttheoretiker_innen angemessen, einige methodologische Überlegungen anzustellen, die meine eigene Positionierung und Zielsetzung als Wissensproduzentin auf dem »epistemischen Territorium der Moderne« (Vázquez 2011: 29) skizzieren.

Wege zum Wissen

»Begriffe bilden die Realität nicht ab, konstruieren sie auch nicht, sondern durch theoretische Arbeit mit und an Begriffen wird der Erkenntnisgegenstand, seine Wahrnehmung und sein Wirken auf die Welt konstituiert.«

(Mendel 2015: 55)7

In der wissenschaftlichen Theoriearbeit wird selten transparent gemacht, wie die konkreten Prozesse zwischen Idee, Lektüre, Konzeption, Diskussion, Verwerfung und Verschriftlichung verlaufen. Dies liegt nicht nur in der akademischen Gepflogenheit einer vermeintlich solitären Wissensproduktion begründet, sondern auch im Modus, in den Möglichkeiten und Grenzen der Theoriearbeit selbst. Die kaum existierende methodologische Selbstreflexion von Theoriearbeit im Gegensatz zu empirischen Studien, die wiederum oft nur unzureichend reflektierte theoretische Bezüge aufweisen, hat viel mit der an späterer Stelle problematisierten Entkörperung und Entsozialisierung von Wissensproduktion zu tun. Im Folgenden lege ich dar, wie sich mein mehrjähriger Erkundungs- und Erkenntnisprozess rund um epistemische Gewalt gestaltet hat, welche forschungspragmatischen Entscheidungen ich getroffen habe und welche Faktoren zum vorliegenden Ergebnis beigetragen haben. Dazu erläutere ich, was ich unter Transdisziplinarität verstehe und wie sich meine eigenen Wege zum Wissen gestaltet haben. Ich verstehe dies als Versuch, der Unentrinnbarkeit der an späterer Stelle diskutierten colonial condition und der mit ihr einhergehenden epistemischen Gewalt reflexiv-offensiv zu begegnen. Die abschließend dargelegte Struktur der Argumentation legt einen roten Faden durch meinen Beitrag zu einer Theoretisierung epistemischer Gewalt.

Transdisziplinäre Exploration

Um epistemische Gewalt zu theoretisieren verwebe ich zwei Traditionen der Auseinandersetzung mit Gewalt im politischen Kontext, die sich in unterschiedlichen Wissensfeldern entwickelt haben und nur selten miteinander in Beziehung treten. Die erste Dimension meines Interesses an Gewalt im Kontext von (internationaler) Politik steht im Zusammenhang mit früheren Forschungen an der Schnittstelle von Kritischer Terrorismusforschung, Friedens- und Konfliktforschung, Internationalen Beziehungen und Politikwissenschaft und umfasst die Ebene der Phänomene und Ereignisse, die in diesem Kontext als politische Gewalt thematisiert werden. Die zweite Dimension rührt von meiner wissenschaftlichen Sozialisation an der Schnittstelle von Geschlechterforschung, Wissenssoziologie und Wissenschaftstheorie her und speist sich aus dekonstruktivistischen Zugängen eines an weiten Konzepten orientierten, prozessualen und relationalen Gewaltverstehens. Dieser Zugang, insbesondere dessen feministische und post- beziehungsweise dekoloniale Stränge, haben meine Aufmerksamkeit für Fragen der Epistemologie geschärft.

Am Schnittpunkt dieser unterschiedlichen Forschungstraditionen – Gewaltforschung einerseits und Wissenssoziologie beziehungsweise Wissenschaftstheorie andererseits – liegt mein Interesse an epistemischer Gewalt, dem ich auf zwei Wegen entgegengehe. Der erste besteht in der Systematisierung einer Spurensuche rund um epistemische Gewalt als Begriff, der weit über unterschiedliche Disziplinen und Themenfelder in, oft nur wenig rezipierten, wissenschaftlichen Texten verstreut existiert, deren Autor_innen außerhalb ihres eigenen Feldes oft kaum bekannt sind. Damit werden bislang unverbundene Überlegungen zu epistemischer Gewalt in einer Art »dichter Beschreibung« (Geertz 1983) zusammengeführt. Der zweite Weg verläuft gewissermaßen in die Gegenrichtung, um mögliche Kreuzungen mit dem ersten zu identifizieren. Dazu werden besser etablierte weite Gewaltkonzepte – strukturelle, kulturelle, symbolische und normative Gewalt – einer Relektüre unterzogen, die explizit auf die Dimension des Wissens fokussiert. Mein Ausloten von Zusammenhängen zwischen Wissen(schaft) und Gewalt ist explorativ im Sinne einer Spurensuche, deren Ergebnisse die weitere Theoretisierung epistemischer Gewalt bereichert und insbesondere für politik- und sozialwissenschaftliche Gewaltdebatten anschlussfähig macht.

Gerade weite Gewaltbegriffe, um die es hier geht, sind in diesen Debatten oft der Kritik ausgesetzt, allzu uneindeutig, damit nicht operationalisierbar und außerdem politisch problematisch, weil potenziell gewaltlegitimierend zu sein. Dabei geht es vor allem um Zugänge, die insbesondere als illegitim qualifizierte Gewaltereignisse in einen größeren Zusammenhang stellen, gerade auch deshalb, weil sie inter- und transdisziplinär an die Frage nach Gewalt im politischen Kontext herangehen. Die hier diskutierten Konzepte epistemischer, struktureller, kultureller, symbolischer und normativer Gewalt legen dies ausdrücklich nahe – und ihre Autor_innen sehen sich allesamt mit derlei Vorwürfen konfrontiert. Solche Kritiken werden tendenziell von monodisziplinären Standpunkten und Standorten aus artikuliert, die ihrerseits enge Definitionen von Gewalt bevorzugen, oder aber in der klaren Absicht einer politischen Diskreditierung dieser Autor_innen und Standpunkte. Diese lässt sich vom gesicherten Terrain einer Monodisziplin aus leichter artikulieren als unter Berücksichtigung jener zuvor geschilderten Ambivalenz und Ambiguität, die erst mit transdisziplinären Differenzierungen und Weitungen des Gewaltbegriffs offen zutage tritt und damit Widerspruch hervorruft.

Eine weitere Herausforderung ist die erkenntnistheoretische Heterogenität verschiedener theoretischer Perspektiven. Einerseits steht dieses methodologische Problem meinem Ansinnen einer Zusammenführung unterschiedlicher weiter Gewaltkonzepte bisweilen entgegen. Andererseits machen diese im Kontext der bearbeiteten Thematik und Fragestellung durchaus erwartbaren Bruchstellen deutlich, dass es sich dabei um ein unvermeidbares epistemologisches Problem handelt, das letztlich auch ein politisches ist. Es sind nämlich gerade diese erkenntnistheoretischen Bruchstellen, an denen einander eurozentrische Wissenstraditionen und Ansätze, die diese Traditionen herausfordern, begegnen.

Mein Beitrag zu einer Theoretisierung epistemischer Gewalt versteht sich als sozialwissenschaftliche Grundlagenforschung, die sich insbesondere an jene Debattenfelder richtet, in denen Gewalt im Kontext internationaler Politik bearbeitet wird. Darüber hinaus macht meine langjährige Tätigkeit in der Friedens- und Konfliktforschung sowie in der Frauen- und Geschlechterforschung eine monodisziplinäre Arbeitsweise und Argumentation unplausibel. Beide Felder stellen ihrerseits multidisziplinäre Interventionen in bestehende Kanonisierungen von Wissen(schaft) dar, weil sie eine solche Haltung und Praxis auch als integralen Bestandteil politischer Auseinandersetzungen im Spannungsfeld von Wissen und Herrschaft verstehen. Auch das Feld der Politischen Theorie, in dem ich meine Auseinandersetzung mit epistemischer Gewalt ebenfalls verorte, speist sich nicht nur aus einer einzigen wissenschaftlichen Disziplin, der vergleichsweise jungen Politikwissenschaft. Diese entwickelte ihre Tiefe und Breite erst im Austausch mit der Philosophie, den Rechtswissenschaften, Teilen der Geistes- und Kulturwissenschaften und der Theologie, um nur die wichtigsten Disziplinen zu nennen. Dies gilt entsprechend auch für die politologische Debatte um Gewalt, die von unterschiedlichen Einflüssen aus den Randbereichen und von den Schnittstellen ihres Fachs mit beeinflusst wird. Die Behauptung von (Mono-)Disziplinarität erachte ich dementsprechend als problematisch, denn kein akademisches Fach kann für sich in Anspruch nehmen, frei von anders-disziplinären Einflüssen und Denktraditionen zu sein.

Angesichts dieser Überlegungen zur faktischen Unmöglichkeit einer monodisziplinären Annäherung an epistemische Gewalt wird deutlich, dass der hier dargelegte Forschungszugang nicht einfach inter- oder multidisziplinär sein kann und will. Nicht nur mein Blick auf epistemische Gewalt ist notwendigerweise transdisziplinär informiert, sondern auch die von mir rezipierten und hier diskutierten Texte verunmöglichen eine eindeutige disziplinäre Zuordnung des erarbeiteten Inhalts. Die meisten der in Kapitel 3 gebündelten Annäherungen an Begriffe und Phänomene epistemischer Gewalt sind bereits selbst als transdisziplinär zu bezeichnen, und jene, die es nicht sind, verwebe ich in meiner Lektüre mit einem solchen Blick miteinander. Ähnliches gilt auch für die besser bekannten weiten Gewaltkonzepte aus den Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften, die in Kapitel 4 diskutiert werden. Auch die dort diskutierten Autor_innen integrieren Konzepte und Theorien aus unterschiedlichen Disziplinen auf eine Weise in ihr Werk, die mehr als nur eine multi- oder interdisziplinäre Anreicherung des Eigenen umfasst und eine binnenwissenschaftliche Transdisziplinarität im besten Sinne darstellt.

Ein zweites Verständnis von Transdisziplinarität ist in Bezug auf epistemische Gewalt ebenfalls von Bedeutung. In diesem bezeichnet trans nicht die Verwobenheit zwischen wissenschaftlichen Debatten und Konzepten, also innerhalb des akademischen Terrains, sondern dessen bewusste Überschreitung hin zu anderen gesellschaftlichen Akteur_innen und Produzent_innen von Wissen (Arnold 2013; Defila/Di Giulio 2018; Dressel/Berger/Heimerl/Winiwarter 2014). Vor allem herrschaftskritische wissenschaftstheoretische Traditionen fokussieren notwendigerweise auf Ausschlüsse aus dem Raum der hegemonialen Selbstverständlichkeit akademischer Wissenskulturen.

Ein Grund dafür ist theoretischer Art, zumal das Ausgeschlossene nicht einfach abwesend oder inexistent ist, sondern konstitutiv für das, was damit zum Selbstverständlichen wird. Ein weiterer Grund liegt in der normativen und politischen Positionierung etwa post- und dekolonialer (Apffel-Marglin/Marglin 2004; Dussel 2013; Santos 2007) oder auch feministischer (Collins 1990; Ernst 1999; Haraway 1991; Mendel 2015; Singer 2005) Wissen(schaft-)skritik. Diesen Ansätzen geht es darum, gerade die randständigen Stimmen hörbar und das darin enthaltene, marginalisierte Wissen intelligibel zu machen. Dies geschieht nicht um dieser Stimmen oder ihrer selbst willen, sondern vor allem deshalb, weil mit dieser Verschiebung ein anderes Wissen und eine andere Welt möglich zu werden verspricht (Dussel 2013; Kaltmeier/Corona Berkin 2012; Vázquez 2012). Dies ist ganz im Sinne einer Wiederbelebung weiter Gewaltbegriffe, bei der die Dimension des Epistemischen eine zentrale Rolle spielt.

In diesem Zusammenhang zeichnet sich ein dritter Zugang zum Problem der Disziplinarität und ihrer Auflösung ab, der im Begriff der Antidisziplinarität zum Ausdruck kommt. Auf lange Sicht ist es ein dezidiertes Anliegen dekolonialer Perspektiven, insbesondere die Sozialwissenschaften zu ent-disziplinieren8 (Escobar 2007: 190) und eine »Theorie ohne Disziplinen« (Castro-Gómez/Mendieta 1998) zu entwerfen, gerade weil das System Wissenschaft ein wesentlicher Träger der kolonialen Moderne und mit dieser untrennbar verwoben ist. Diese These steht im Zentrum der theoretischen Einbettung meiner Analysen, die ich in Kapitel 2 näher ausführe. Insbesondere die dekolonialen Konzepte der Kolonialität von Macht, Wissen und Sein aus dem Umfeld der sogenannten Modernidad/Colonialidad-Debatte (Garbe 2013a) veranschaulichen dieses für meine Überlegungen zu epistemischer Gewalt zentrale Argument. Notwendig wäre dementsprechend eine anti-disziplinäre Wissenskultivierung ›von unten‹ (Icaza/Vázquez 2013; Santos 2007, 2014; Vázquez 2012).

In Bezug auf dieses im besten Sinne des Wortes utopische Ziel bleibt der Versuch einer transdisziplinären Theoretisierung epistemischer Gewalt, die in Kommunikation mit dem real existierenden monodisziplinierten wissenschaftlichen Feld treten will, um ebendort eine Veränderung anzustoßen, freilich ein performativer Selbstwiderspruch. Zur Disposition steht nichts weniger als die Disziplinarität und Disziplinierung von Wissen(schaft), die vor dem Hintergrund der Annahme einer anhaltenden Kolonialität von Macht, Wissen und Sein stets in damit einhergehende Gewalt-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse eingebettet bleibt.

Mit einer dekolonial inspirierten und transdisziplinär informierten Durchquerung heterogener Annäherungen an epistemische Gewalt einerseits und der Konfrontation bereits etablierter weiter Gewaltkonzepte mit einem verdichteten Verständnis epistemischer Gewalt andererseits verschränke ich heterogene theoretische Ansätze miteinander, die ansonsten wenige Berührungspunkte teilen und zudem auf unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Prämissen beruhen. Während in sozialwissenschaftlichen Gewaltdebatten epistemologische Fragestellungen kaum diskutiert werden und die Dimension des Wissens eine marginalisierte Rolle spielt, beziehen sich post- und dekoloniale Konturierungen der kolonialen und imperialen Zusammenhänge zwischen Wissen(schaft) und Gewalt kaum auf Gewaltkonzepte aus der eurozentrischen Tradition der Gewaltkritik. Ich verstehe diese zweifache, einander am Schnittpunkt epistemischer Gewalt überkreuzende Denkbewegung als Exploration. Damit verwende ich ganz bewusst einen Begriff, der dem epistemischen Instrumentarium des Kolonialismus entlehnt ist. In diesem Zusammenhang steht Exploration für das vermeintlich neutrale Entdecken, das immer auch Bestandteil jener Unterwerfung und Ausbeutung ist, der auch Wissen(schaft) im hier problematisierten Kontext der bis heute andauernden kolonialen Moderne dienen kann. Ich benutze den Begriff der Exploration erstens für die hier dargelegten Durchquerungen unterschiedlicher akademischer Felder, um diese für eine vertiefte Begriffsbildung rund um epistemische Gewalt zu nutzen. Zweitens verstehe ich Exploration mit Bourdieu (1992a: 39) auch als einen grundsätzlich offenen Forschungszugang entlang eines konkreten Erkenntnisinteresses.

In erster Linie will ich den Begriff epistemische Gewalt für jene Felder intelligibel machen, auf denen ich meine eigene Arbeit als in der Friedens- und Konfliktforschung tätige Politikwissenschaftlerin verorte. Darüber hinaus halte ich ein systematisches Nachdenken über epistemische Gewalt auch für andere Fachbereiche in den Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften für anschlussfähig. Dabei denke ich an wissenschaftliche Felder, die sich bereits seit längerem an der Gewaltsamkeit hegemonialer Wissens- und Kulturproduktion abarbeiten, aber wenig Auseinandersetzung mit Gewaltkonzepten pflegen, und/oder die geopolitische Dimension ihrer jeweiligen Untersuchungsgegenstände nicht umfassend in Betracht ziehen (können), weil ihre disziplinären Gepflogenheiten und Begrifflichkeiten, die selbst Teil dieser Kolonialität sind, dies nicht ermöglichen. Zahlreiche produktive Anknüpfungspunkte für ein Weiterdenken entlang epistemischer Gewalt bieten dazu etwa Überlegungen zu visueller (Regener 2010; Sontag 2003) oder sprachlicher (Dhawan 2007; Kuch/Herrmann 2010) Gewalt, um nur zwei von vielen weiten Gewaltbegriffen zu nennen, die sich jenseits der politikwissenschaftlichen Gewaltdebatte entfalten. Aus einer früheren Auseinandersetzung mit der Wissenssoziologie (Brunner 2013) rührt die Hoffnung, dass eine Begriffsarbeit an epistemischer Gewalt und die Berücksichtigung der Kolonialität und der Geopolitik des Wissens auch für dieses Feld eine bereichernde Herausforderung darstellt. Denn aus der Perspektive einer Soziologie globaler Ungleichheitsverhältnisse (Bhambra 2014a; Boatcă/Gutiérrez Rodríguez/Costa 2010) ist es lohnend, die »Seinsverbundenheit des Wissens« (Mannheim 1969: 227) auch in ihrem globalen und geopolitischen Zusammenhang zu rekonzeptualisieren.

Des Weiteren ist gerade die an epistemischer Gewalt orientierte Relektüre besser bekannter Konzepte wie jenen der strukturellen, kulturellen, symbolischen und normativen Gewalt auch für jene feministischen, post- und dekolonialen Debatten von Interesse, die sich zwar mit großer Selbstverständlichkeit des Begriffs epistemische Gewalt bedienen, dabei jedoch auf verwandte Ansätze innerhalb dieser und ähnlicher weiter Gewaltkonzepte verzichten, weil sie auf den ersten Blick als allzu tief in der kolonialen Moderne verstrickt erscheinen. Dennoch lassen sich bei diesen Gewaltbegriffen Elemente identifizieren, die ein stärker theoretisiertes Konzept epistemischer Gewalt bereichern und auch für andere Felder der Auseinandersetzung mit Wissen und Gewalt intelligibler machen können.

Schließlich ist epistemische Gewalt ein Thema für jegliches wissenschaftliche Feld, und es wäre lohnend, die Frage danach etwa auch in den Natur- und Technikwissenschaften, in der Medizin, der Rechtswissenschaft oder Informatik weiterzuverfolgen, um nur einige zu nennen. Dies zu tun liegt jedoch jenseits meiner Möglichkeiten und auch jenseits des hier zentral gesetzten Erkenntnisinteresses an epistemischer Gewalt innerhalb der und für die Politikwissenschaft. Insbesondere für die dort und in angrenzenden Feldern ausdifferenzierte Auseinandersetzung mit all jenen Formen von Gewalt, die im Kontext internationaler Macht-, Gewalt- und Herrschaftsverhältnisse zu diskutieren sind, soll das hier vertieft theoretisierte Konzept epistemische Gewalt mit der vorliegenden Arbeit anschlussfähig gemacht werden.

Methodologische Reflexion

Die Anfänge dieser Arbeit reichen weit zurück. Aus heutiger Sicht haben mich Fragen des Zusammenhangs zwischen Wissen und Gewalt schon immer beschäftigt. Diese Fragen waren als diskursforschende beziehungsweise wissenssoziologische Untersuchungen (Brunner 2005, 2011) an je konkrete Gegenstände und zu analysierende Materialien gebunden und nicht primär auf Theorieproduktion hin orientiert. Letztere wurde mir jedoch zunehmend wichtig, weil ich keine ausführliche Reflexion dessen finden konnte, was meine eigenen Forschungsfragen über viele Jahre hinweg wie ein roter Faden durchzog: die Gewalt, die dem Wissen selbst innewohnt.

Auch wenn mir klar war, von wo ich bei dieser Problemstellung ausgehen und wohin ich gelangen wollte, hat genau diese wider besseres Wissen stets erhoffte Linearität einer vermeintlich planbaren wissenschaftlichen Arbeitsweise und Textproduktion nicht immer funktioniert. Dies ist im Rückblick wenig überraschend, denn die Vorstellung einer stets planbar verlaufenden Wissens- und Theorieproduktion spiegelt das hier zur Diskussion stehende Paradigma der kolonialen Moderne selbst.

In diesem Zusammenhang möchte ich einen häufig artikulierten Einwand insbesondere aus dekolonialer Perspektive ansprechen. Er betrifft die als nicht zielführend erachtete Auseinandersetzung mit kanonisiertem eurozentrischem Wissen zugunsten einer Suche insbesondere nach außerwissenschaftlichen oder zumindest radikal anders begründeten alternativen Epistemologien und Theorien (Shilliam 2011). Im vorliegenden Fall betrifft dies die in Kapitel 4 diskutierten Gewaltkonzepte von Johan Galtung, Pierre Bourdieu und Judith Butler. Diese verwerfe ich nicht grundsätzlich, sondern betrachte sie als potenzielle Ressource für eine Theoretisierung epistemischer Gewalt. Im Sinne Spivaks (2004: 527), die dem oben genannten Einwand durchaus zustimmt, muss das von ihr sogenannte Verlernen eurozentrischer Selbstverständlichkeit notwendigerweise von beiden Enden her erfolgen, also von jenem des unter- oder verworfenen wie auch von jenem bereits anerkannten und etablierten Wissens. Epistemische Gewalt auf die hier unternommene Weise zu theoretisieren stellt einen Versuch dar, dieser Herausforderung zu begegnen. Im Zuge dessen lassen sich Querverbindungen genau zu jenen Debatten herstellen, die mit einer Theoretisierung epistemischer Gewalt ebenso wie mit meinem grundsätzlichen Plädoyer für eine Wiederbelebung weiter Gewaltbegriffe zugleich herausgefordert werden sollen. Dass die gewählte Vorgangsweise nicht widerspruchsfrei vonstattengeht, verdeutlicht die Schwierigkeit des Umgangs mit einander bisweilen widersprechenden erkenntnistheoretischen Prämissen und forschungspragmatischen Konsequenzen heterogener Wissensfelder und ihrer Traditionen.

Induktiv eine Vielzahl von multidisziplinär weit verstreuten und in vielfacher Hinsicht heterogenen Texten über epistemische Gewalt durchforstend stellte sich bald heraus, dass eine feministische, post- und dekoloniale Fundierung den am besten geeigneten Rahmen für eine Theoretisierung epistemischer Gewalt bereitstellen würde. In der diesem Prozess vorangegangenen Phase des Sammelns und Sichtens war ich beständig auf der Suche nach wissenschaftlichen Texten, die sich ihrerseits mit epistemischer Gewalt beschäftigen sollten. Lesen konnte ich sie in den drei Sprachen Deutsch, Englisch und Französisch, gefunden habe ich jedoch nur wenige französische und deutschsprachige Texte, die epistemische Gewalt explizit thematisieren, und das in unterschiedlicher Qualität und Perspektive.9 Die überwiegende Anzahl der Auseinandersetzungen mit epistemischer Gewalt findet in der hegemonialen lingua franca der Wissenschaften statt, deren Dominanz eine wichtige Dimension epistemischer Gewalt darstellt und ein besonders sichtbares Zeichen der hier diskutierten Kolonialität ist (Bennett 2015). Die Tatsache, dass ich lediglich in diesen drei – auch nach der politischen Dekolonisierung ehemals deutscher, britischer oder französischer Kolonien immer noch hegemonialen – Sprachen arbeiten kann, ist selbst Ausdruck der Kolonialität des Wissens sowie meiner eigenen geopolitischen Verortung.10

Eine weitere Herausforderung liegt nicht in der Beschränkung, sondern in der Fülle. Die thematisch auf weite Gewaltbegriffe fokussierte und zugleich disziplinär bewusst offene Forschungsperspektive fördert eine Vielzahl von Gewaltkonzepten zutage, deren umfassende Bearbeitung im Rahmen einer auf epistemische Gewalt konzentrierten Monografie weder möglich noch sinnvoll erscheint: sprachliche und visuelle, psychische und mentale, ethische und langsame Gewalt sind weit über das Feld der Wissenschaften verstreute und in höchst unterschiedlichem Maße ausgereifte Konzepte, die ich hier nicht diskutiere. Ich fokussiere auf jene weiten Gewaltkonzepte, die bereits über eine gewisse Anerkennung im Ausgangsfeld der Politikwissenschaft und ihrer Auseinandersetzung mit Gewalt im Kontext internationaler Politik verfügen, gerade dort aber aus unterschiedlichen Gründen nur unzureichend berücksichtigt werden. Diese vier ausgewählten Konzepte – strukturelle, kulturelle, symbolische und normative Gewalt – unterziehe ich einer feministisch, post- und dekolonial inspirierten Relektüre, die ausdrücklich auf die Dimension des Epistemischen in einem heuristisch weiten Verständnis abzielt. Dabei werden nicht nur inhaltliche Fragen berücksichtigt, sondern auch methodologische Auffälligkeiten, die Selbstpositionierung der Autor_innen sowie die Rezeption ihres Werks. Mit dieser kritischen Wiederbelebung will ich die genannten weiten Gewaltkonzepte für künftige Auseinandersetzungen mit Gewalt – im engen wie auch im weiten Sinne – besser nutzbar machen und mit bereits bestehenden, jedoch weit über unterschiedliche Forschungsfelder und Disziplinen verstreuten Theoretisierungen epistemischer Gewalt in einen Austausch bringen.

Schließlich weisen die Fragen, die sich aus dem Vorhaben einer Theoretisierung epistemischer Gewalt ergeben, über eine wissenschaftliche Diskussion im engeren Sinne hinaus in die Sphäre des Politischen. Worin besteht und was bedeutet letztlich eine Kritik epistemischer Gewalt? Geht damit eine Position einher, die feststellt, dass Gewalt immer und überall und infolgedessen Gewaltfreiheit eine Schimäre ist? Inwiefern stellt die Rede von einer Gewaltförmigkeit des Wissens und der Wissenschaften eine vollständige Infragestellung einer der angenommenen letzten Bastionen der Gewaltfreiheit dar? Geht mit einem solchen Befund notwendigerweise eine Verwässerung dessen einher, was im Allgemeinen unter Gewalt – nämlich jene direkter und physischer Art – verstanden wird?

All diese Aspekte hängen notwendigerweise auch mit der implizit immer mitverhandelten Frage zusammen, wie man das Gegenteil von Gewalt versteht: Gewaltlosigkeit, Gewaltfreiheit, Gewaltverzicht. Ist letzteres womöglich eine naive Illusion, ein normatives Ideal, eine produktive Utopie – oder ein Begriff, der angesichts allgegenwärtiger epistemischer Gewalt ohnehin entsorgt werden soll? Oder handelt es sich um etwas, das nur mittels – vielleicht auch epistemischer – Gewalt erreicht werden kann?