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"Du Vaterlose!" Das schlimmste aller nepalesischen Schimpfwörter warf die Mutter ihrer Tochter Maina an den Kopf. Von klein auf versuchte Maina, sich den Segen der Götter zu erarbeiten. Doch statt Hoffnung und Licht fand sie nur Verzweiflung und Dunkelheit. Bis ihre Schwester sie eines Tages mit zu einem Treffen von sogenannten "Christen" nahm. Das würde ihr Leben für immer verändern…
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Seitenzahl: 278
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ELIZABETH HUCK (Jg. 1969) lebt in Breisach am Rhein und arbeitet seit 1999 zusammen mit ihrem Mann Thomas bei »Jugend mit einer Mission«. 1997 gründete sie in ihrem Heimatland Nepal den Barmherzigkeitsdienst »Right-Perspective«, um dort Kinder mit Schulbildung und Evangelium zu erreichen.
www.right-perspective.org
IHR SCHICKSAL LIEGT IN DER HAND DER GÖTTER – BIS SIEDEM EINZIG WAHREN GOTT BEGEGNET
»Du vaterlose Unglücksbringerin!« Das schlimmste aller nepalesischen Schimpfwörter warf die Mutter ihrer Tochter Maina an den Kopf. Von klein auf versuchte Maina mit vielen religiösen Ritualen den Fluch, der auf ihr lastete, aufzuheben und sich den Segen der Götter zu erarbeiten. Doch statt Hoffnung und Licht fand sie nur Verzweiflung und Dunkelheit. Bis ihre Schwester ihr eines Tages den einzig wahren Gott vorstellte. Das sollte ihr Leben für immer verändern …
»In diesem Buch teilt Eli ihr Herz mit uns und schildert authentisch ihren Weg heraus aus Angst, Leid und Bedrückung hin zu Glaube, Vision und Berufung. Ein tiefgehendes und großartiges Buch!«
KEITH WARRINGTON – Jugend mit einer Mission
»Es ist unfassbar, welche Not Elizabeth erlebte, welche Widerstandskraft sie entwickelte und welche Veränderungen Jesus in ihr Leben gebracht hat. Ein starkes Zeugnis der heilenden Liebe Gottes!«
BIRGIT SCHILLING – Autorin, Supervisorin, Coach
SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
ISBN 978-3-7751-7628-6 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-6215-9 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck
© 2024 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH
Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de · E-Mail: [email protected]
Die Bibelverse sind folgender Ausgabe entnommen:
Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002, 2006, 2017
SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Holzgerlingen.
Lektorat: Johanna Ehrlich
Umschlaggestaltung: Erik Pabst, www.erikpabst.de
Autoren- und Titelbild: © Christian Hanner, www.christianhanner.de
Bildteil: privat – © Elizabeth Tamang Lama Huck
Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach
Ich widme dieses Buch
meiner Familie, meinen sieben Geschwistern, die immer, auch in den schwierigsten Zeiten, zu mir stehen, für mich beten und eine anhaltende Ermutigung für mich sind.
meiner Mutter, die durch ihren kompromisslosen Glauben und ihr Handeln in Christus zu einem siegreichen Leben gelangte und so zu einem großen Vorbild für mich wurde.
meiner verstorbenen Schwester Moti, die mich zu Christus führte und es mir ermöglichte, eine Schulausbildung zu machen.
meinem verstorbenen ersten Ehemann Pratap Pradhan, der mir oft die zwei kurzen, aber doch so wichtigen Worte sagte: »Liebe gewinnt«, und mich immer wieder ermutigte zu beten: »Gott helfe mir zu lieben«.
meinem jetzigen Ehemann Thomas Huck, der mich in die Mission geführt hat, die mir geholfen hat, meine wahre Berufung und Bestimmung in meinem Leben zu finden und im Reich Gottes zu dienen. Ich bin stolz darauf, sagen zu können, dass er die Ehre und den Titel von unserem Sohn »Bester Papa der Welt« bekommen hat.
und allen vernachlässigten, hoffnungslosen und bedürftigen Kindern in Nepal und Indien, die darauf warten, eine neue Perspektive für ihr Leben zu bekommen.
Über die Autorin
Über das Buch
Stimmen zum Buch
Prolog
1 | Die Frage
2 | Das harte Leben meiner Mutter
3 | Meine Kindheit in Bhutan
4 | Der Traum von Schule
5 | Vom Dunkel ans Licht
6 | Ein neuer Name
7 | Bildung, Reisen und Menschenhandel
8 | Herzensangelegenheiten
9 | Zwischen Mann, Job und Schwiegermutter
10 | Loslassen
11 | Im dunklen Tal
12 | Gottes Führung in meinem Leben
13 | Als Missionarin in Deutschland …
14 | … mit einem Dienst in Asien
15 | Kulturschock und Gottes Versorgung im Sturm
16 | Amerika, Herrnhut und die Welt
17 | Anfang und Ende hält Gott in seinen Händen
18 | Medizinische Hilfe in Wanderschuhen
19 | Das Erbe meiner Vorfahren
Epilog – Der Segen meiner Mutter
Dank
Über mich
Anmerkungen
Wild schlagen die Flügel zu lautem Gackern und wirbeln den Staub des getrockneten Büffeldungs im Hof auf. Ein weißes Huhn flattert um sein Leben, den rot leuchtenden Kamm vor Panik aufgestellt. Doch der geübte Griff des drahtigen jungen Mannes ist schneller. Mein Vater packt das Federvieh und trägt es am Hals zappelnd zum Baumstumpf neben dem hölzernen Verschlag. Dort liegt das große Kukri-Messer mit der geschwungenen Klinge schon bereit.
Durch die Lehmwände des Hauses ertönt erneut ein Stöhnen, dann Hecheln und gepresster Atem. Es ist so weit – seine Frau liegt in Wehen. Wieder einmal. Hoffentlich … hoffentlich würde sie beim fünften Mal das Ersehnte gebären.
»Stell dich nicht so an!« Die ungeduldige Stimme seiner Mutter, die bei jeder Geburt bei der Schwiegertochter war, dringt durch die unverglasten Fenster der Natursteinwände.
Er runzelt die Stirn. Ob die Mutter mit ihrer harschen Art seiner Frau eine Hilfe war? Er bringt das Huhn auf dem Holz in Position und angelt nach dem Kukri-Dolch.
Nach guter nepalischer Sitte hat eine frisch entbundene Frau ein Anrecht auf ein Huhn. Hühnerbrühe gibt Kraft – und die würde Full Maya in den nächsten Wochen brauchen. Schließlich musste das Kleine gestillt werden, während die harte Arbeit auf dem Feld, im Haus und auf dem Hof ohne Schonzeit weitergehen würde.
Entschlossen drückt er den Hals der heiser glucksenden Henne auf das Holz.
»Halt, warte!« Mein Großvater tritt aus dem offenen Unterstand der Pferde in den Hof. »Warte mit dem Schlachten!« Für einen Moment lauscht er mit meinem Vater auf den hohen, hellen Schrei, der plötzlich im Haus zu hören ist. »Das Huhn bekommt sie nur, wenn es nicht wieder nur ein Mädchen ist.« Mit diesen Worten dreht sich Großvater um und geht.
Die Henne überlebt diesen Tag.
Mit den düsteren Schleiern des aufziehenden Monsunregens legen sich wieder Enttäuschung und Murren über das kleine Gehöft meiner Großeltern, hoch oben in den Bergen des Himalayas in Nepal.
Es war wieder eine Tochter, die meine Mutter geboren hatte. Sie nannten sie Devki, die Fünfte in Folge. Welche Schande!
Keiner ahnte damals, dass es ein paar Jahre später noch viel schlimmer kommen würde.
Eine Katastrophe würde meine Familie in den Abgrund reißen. Schuld daran würde ein Fluch sein – jedenfalls würde das jeder glauben. Den Auslöser dafür würde man zweifelsfrei in einem bestimmten Ereignis sehen: meiner Geburt.
Frauen in meinem Heimatland Nepal würden an so einem besonderen Tag ihren besten Sari anziehen. Doch was soll ich heute tragen? Schließlich bekommt man nicht alle Tage Besuch von der Journalistin einer deutschen Tageszeitung – und dazu noch in Begleitung eines Fotografen!
Ich spüre wieder das Flattern in der Magengrube, während ich den Kleiderschrank öffne.
Heute bin ich Nepal – jedenfalls für meine deutschen Gäste und für alle, die ihre Nase in ein paar Tagen bei einer Tasse Kaffee oder einem Glas Bier in die Zeitung stecken werden.
Meine Finger streichen über den glatten Stoff des blauen Saris, der feinsäuberlich zum Quadrat gefaltet im Fach liegt. Nein, jetzt habe ich beim besten Willen nicht den Nerv, fünf Meter Seide um mich zu falten.
Mein Blick gleitet an meinem T-Shirt und den Leggins hinab – meine europäischen Kleider sind mir längst zur zweiten Haut geworden. Entschlossen greife ich nach dem Lungi, dem bunten Wickelrock, den die meisten Frauen heute in Nepal im Alltag tragen.
Mit geübten Fingern lege ich an der Hüfte das zwei Meter lange Tuch mit seinen roten und blauen Streifen in Falten.
Nun schnell noch hinein in die bunt bestickte traditionelle Bluse gleiten – so wie in eine Jacke. Gekonnt binde ich im Inneren die Schnüre unter der Achsel und am Bauch, schlage die andere Hälfte darüber, binde wieder, während mein Blick auf die Uhr fällt.
In Deutschland sind die Menschen pünktlich!
»Lass alles gut gehen!« Ich schicke ein Stoßgebet zum Himmel. Ich überprüfe die warme Kanne mit dem traditionell gesüßten Tee, den ich der Journalistin mit einem typisch nepalesischen Gebäck servieren will.
Was, wenn ich auf die Fragen der Journalistin keine Antwort wüsste? Im Stillen bete ich wieder. »Bitte, lass mich das Richtige sagen!« Mein Ziel ist es, nett und höflich auf die Fragen zu antworten – mehr nicht.
Ich laufe in unser Wohnzimmer. Mein Blick gleitet über das Gemälde über dem Sofa, auf dem die weißen Achttausender des Himalayas den Saum des Himmels berühren. Ein nepalesischer Freund hat es gemalt. Dankbarkeit und Stolz durchströmen mich beim Anblick der atemberaubenden Schönheit meines Heimatlandes, auch wenn dort noch vieles im Argen liegt. Mein wunderbares Land, das sich des höchsten Berges der Welt rühmen kann, zählt zu den ärmsten auf dem Erdball.
Nepal liegt zwischen China und Indien und hat eine Fläche von 147 000 km2, was 41 % der Größe Deutschlands entspricht. Der geografisch tiefste Punkt liegt im Süden bei 78 Metern über dem Meeresspiegel, der höchste bei 8 848 Metern im Norden auf dem Gipfel des Mount Everest im Himalaya-Gebirge. Weitere sieben Berge im Himalaya zählen zu den höchsten der Erde. Das Land gilt als »Dach der Welt«, da über 40 % über 3 000 Meter hoch liegen.1
Was würden meine Gäste heute sehen wollen – die dunkle oder die helle Seite? Das echte Nepal oder jenes aus dem Hochglanzprospekt?
Damit sie es sich besser vorstellen können, baue ich noch schnell ein paar typische Gegenstände aus meinen Nepalkisten auf. Ich dekoriere auf dem Sofa und der Kommode ein paar Schals, Hemden, Betttücher und Vorhänge, daneben die gefilzten Kinderschuhe, Hosen sowie die Kulturbeutel aus dem Fair-Trade-Projekt. Soll ich die Batik-Taschen mit den Elefanten oder lieber die mit den Schmetterlingen nehmen …? Es läutet. Aufgeregt schnappe ich mein Tuch und öffne die Tür.
»Namaste!« Ich lege die Handflächen zusammen, lächle der Besucherin mit zitternden Lippen entgegen und verbeuge mich leicht – so wie in meiner Heimat üblich.
Die Frau von der Tageszeitung strahlt mich an. Erleichtert ahne ich, dass wir zwei uns verstehen würden – auch im Kauderwelsch aus Deutsch und Englisch. Sie schaut sich im Wohnzimmer und auf dem Tisch um, der mit nepalesischen Handarbeiten dekoriert ist. Sie wirkt sehr neugierig und ich spüre ihr Interesse für mich und meine Kultur. Ich biete ihr nepalesischen Tee und Snacks an und wir kommen ins Gespräch.
»Wie um alles in der Welt sind Sie nach Deutschland gekommen?« Begeistert begutachtet sie die Dinge aus Nepal und notiert meine ersten Antworten auf ihre neugierigen Fragen. »Also noch mal, Sie sind wo genau geboren? Und wie viel Geschwister waren es? Sieben oder acht?«
Wir setzen uns aufs Sofa, und während ich meine Großfamilie mit ihr sortiere, stapft der Fotograf, der etwas später eintrifft, mit der großen Kamera um den Bauch mit grimmiger Miene an den Fotowänden entlang.
Als die Journalistin einmal länger Luft holt, dreht er sich zu uns um, die Stirn in Falten gelegt. »Habe ich das richtig gesehen – Sie schicken Missionsteams nach Nepal?«
Ich nicke. Der anklagende Unterton in seiner Frage lässt mich schlucken.
»Aber in Nepal wirkt alles so schön. Dieses Land der Götter ist doch so voller Frieden! Zerstören Sie nicht die Kultur mit Ihren christlichen Missionaren?«
»Die Kultur zerstören?« Ich atme tief durch. Doch ich kann die Erregung nicht unterdrücken, die aus den Tiefen meiner Seele nach oben drängt. Ruckartig stehe ich auf. »Meine Kultur?« Ich sehe ihm fest ins Auge. Ich rücke meinen Schal wieder zurecht, der mir von der Schulter gerutscht ist. »Ich liebe mein Land und mein Volk! Aber wissen Sie überhaupt, was es bedeutet, in dieser Kultur zu leben und aufzuwachsen? Von außen sieht es aus, als führten wir Nepalesen ein Leben im inneren Frieden, doch die innere Dunkelheit ist unvorstellbar groß. Ich selbst dachte lange Zeit, ich sei von den Göttern verflucht und eine Schande für meine Familie …«
»Auf, wasch dich! Mach dich schön!« Der Ton des Stiefvaters meiner Mutter war barsch wie immer, als er vom ersten Stock des Hauses zu ihr herunter in den Hof rief.
Ihre Finger klammerten sich fester um den großen Holzstößel in ihren Händen. Sie hielt in der Bewegung inne, mit der sie das Holzstück im Getreidegefäß auf und ab getrieben hatte. Mit ihren 15 Jahren war sie noch ein Teenager, doch Träume hatte sie keine.
»Mich schön machen? Warum sollte ich?« Widerwillig sah sie zur Holzveranda auf, die vor den mit Natursteinen gemauerten Wänden ins Freie führte. Von diesem Mann, dem Ehemann ihrer Mutter, hatte sie in all den Jahren ihres jungen Lebens nichts Gutes erfahren. Ihr eigener Vater war gestorben, als sie noch klein gewesen war, und sie trug an ihn nur eine blasse Erinnerung in sich.
»Dein Bräutigam kommt heute mit deinen künftigen Schwiegereltern. Sorg dafür, dass sie dich nehmen!« Er kniff die Augen zusammen. »Höchste Zeit, dass du hier verschwindest.«
Die junge Frau erstarrte. Ein Bräutigam? Heute?
Panik stieg in ihr auf und sie fühlte, wie ihr die Knie weich wurden. Für einen Moment stützte sie sich schwankend auf den Stößel und atmete tief durch. Natürlich hatte man sie nicht für Wert befunden, die geplante Hochzeit mit ihr zu besprechen, geschweige denn, sie nach ihren Wünschen zu fragen. Schließlich war sie eine Vaterlose, ohne Recht auf Status und Ansehen, nur der unerwünschte Balg ihrer Mutter, den der neue Ehemann bei der Heirat der Witwe in Kauf genommen hatte.
»Ich mach das hier erst fertig!«, blaffte sie in Richtung des Hauses zurück und hob den Stößel aufs Neue, um die Gerstenkörner zu zerstampfen, die am Abend geröstet und mit Buttertee verknetet als Dhindo gegessen würden. »Der Bräutigam soll warten oder mich nehmen, wie ich bin.« Sie triumphierte innerlich, als sie sah, wie dem Trunkenbold die Kinnlade herunterfiel. Längst hatte sie ihr Herz hart wie die Felsen der Berge gemacht, damit ihr die ständigen Schläge und bösen Worte nichts mehr anhaben konnten.
Ein Schatten im Augenwinkel ließ sie herumfahren.
Der Stiefvater hatte plötzlich einen schweren Holzprügel in der Hand und warf ihn voller Wucht von der Veranda nach ihr.
In letzter Sekunde wich sie aus.
Der schwere Holzstößel landete mit einem Knall neben ihr auf dem Boden. Ihr Atem ging flach, während sie in den Unterstand der Tiere zwischen die Kühe flüchtete. Hätte der Stiefvater sie getroffen, so hätte der Balken ihr wohl den Schädel zertrümmert oder sie auf der Stelle getötet. Auf jeden Fall hätte sich der Bräutigam samt Eltern den Weg sparen können.
Die Ehe meiner Eltern begann nicht gerade romantisch.
Zu dieser Zeit waren so gut wie alle Ehen in Nepal arrangiert und auch heute noch werden viele Brautleute von den Eltern zusammengeführt. Was nicht bedeutet, dass diese Ehen zwangsläufig schlecht sein müssen – im Gegenteil, im Falle meiner Eltern durfte meine Mutter feststellen, dass nicht jedes männliche Wesen ein Ungeheuer war. Mein Vater Man Singh Lama war ein guter und freundlicher Mann.
Seine Familie gehörte genau wie sie selbst zum Stamm der Tamang, der in Nepal unter anderem in den Bergen des Himalayas nordöstlich von Kathmandu beheimatet ist. Die etwa 30 Millionen Einwohner in unserem Land gehören nicht alle ein und demselben Volk an, sondern sind eine bunte Mischung aus vielen verschiedenen Stämmen. Getrennt durch hohe Berge und tiefe Täler hat jedes der etwa 100 Völker in Nepal über Jahrhunderte seine eigenen Sitten, Bräuche, religiöse Riten und Dialekte bewahrt. Doch sprechen viele auch die Landessprache Nepali.
Meine Mutter kam jedenfalls als Jugendliche durch ihre Heirat auf einen ansehnlichen Hof mit vielen Feldern und Tieren. Sie konnte sich glücklich schätzen – für eine »Vaterlose«, so schimpfte man Halbwaisen, hatte sie es nicht schlecht erwischt.
Mein Vater, damals gerade 17 Jahre alt, gewann seine junge Frau lieb und gab sich alle Mühe, ihr ein guter Ehemann zu sein. Doch er hatte als ältester Nachkomme und Erbe der Familie in erster Linie die Pflicht, den Eltern ein guter Sohn zu sein.
Das Leben einer frischverheirateten jungen Frau war damals nicht einfach. Von einer Schwiegertochter erwartete man, dass sie sich widerspruchslos in die Lebensweise und die Traditionen der Familie ihres Ehemannes einfügte. Als Schwiegertochter musste man hart arbeiten – und das unter der strengen Aufsicht der Schwiegermutter.
In ihrem neuen Heim war meine Mutter frühmorgens die Erste, die aufstand, Holz sammelte, Wasser schleppte, das Vieh fütterte, die Herdstelle anfeuerte, kochte, den Männern das Essen in die Reisfelder auf den Bergterrassen hinterhertrug, das Feld mitbestellte und die Ernte einbrachte.
Die hatte einst selbst auf der untersten Stufe der Karriereleiter als Schwiegertochter begonnen – und nun das Recht, alle jemals erfahrene Behandlung der nächsten jungen Frau zuteilwerden zu lassen. Dazu gehörte in dieser Kultur auch, dass die Schwiegertochter als Letzte von allen aß – und zwar die Reste. Die fielen zuweilen so kärglich aus, dass mein Vater heimlich Essen während den Mahlzeiten zurückbehielt, um es in einem günstigen Moment seiner Frau zuzustecken. »Lahkah, lahkah«, flüsterte er dann – »Hier, iss schnell.«
Obwohl sich meine Mutter größte Mühe gab, konnte sie doch ihre wichtigste Pflicht nicht erfüllen: einen Jungen zu gebären.
In Nepal sowie im gesamten indischen Kulturraum ist es sehr wichtig, männliche Nachkommen zu haben. Söhne sind der Stolz der Familie! Mädchen gelten im Blick auf die Mitgift eher als Last – vor allem für ärmere Familien. Bei der Heirat verlassen Töchter schließlich ihr Elternhaus, während Söhne das Geschäft oder den Hof der Eltern weiterführen.
Vor diesem Hintergrund ist der Wunsch meiner Eltern nach männlichen Nachkommen verständlich. Bei der Geburt der ersten Töchter hielt mein Vater noch tapfer zu meiner Mutter und verteidigte sie seinen wütenden Eltern gegenüber.
Stolz nannte er seine erste Tochter Nariwal, was in unserer Sprache »Kokosnuss« bedeutet. Meine zweite Schwester bekam den Namen Moti, das heißt »Perle« oder »Edelstein«.
Sogar die Geburt der dritten Tochter feierten meine Eltern noch. Die Ankunft des Babys muss von glücklichen Umständen begleitet gewesen sein, wie etwa einer neuen, guten Arbeitsstelle, einer guten Ernte oder Glück im Spiel. Ich weiß nicht, was es genau war, auf jeden Fall haben sie das Neugeborene Laxmi – »Glücksbringerin« – genannt. Damit versuchten sie sich auch die Gunst der Göttin Laxmi zu sichern, die nach hinduistischem Glauben für Schönheit, Fruchtbarkeit und Reichtum zuständig ist.
Offiziell ist Nepal ein hinduistisches Land. Etwa 80 % der Bevölkerung sind laut der letzten Volkszählung Hindus, 9 % Buddhisten, 4 % Moslems und 1,4 % Christen. Der Rest verteilt sich auf kleinere Religionsgruppen. Die beiden Hauptreligionen Buddhismus und Hinduismus sind eng miteinander verwoben, und viele Nepalesen sehen sich als Anhänger beider Religionen.2
Als nach der vierten Tochter, Suk Maya, dann noch meine ältere Schwester Devki als weibliche Nummer fünf geboren wurde, riss selbst meinem gutmütigen Vater der Geduldsfaden. Ständig hatte er das Jammern und Gezeter seiner Eltern in den Ohren, die einen männlichen Erben forderten. Kurz nach Devkis Geburt geriet er mit meiner Mutter in einen heftigen Streit.
»Du bist unfähig, einfach unfähig!«, schrie er an einem Abend wütend, als sie bereits auf der Bettkante saß, die fünf Mädchen schon alle neben sich im gemeinsamen großen Bett. »Wann endlich bringst du einen Sohn zur Welt?«
Meine Mutter schluchzte hilflos im Bett und griff nach dem Baby, um es an die Brust zu nehmen. »Was soll ich denn noch tun?«
»Ich werde dir sagen, was ich tue …« Mit funkelnden Augen trat er auf sie zu. »Ich werde diese Tochter den Bergfelsen hinabstürzen. Bring endlich einen Sohn zustande!« Mit diesen Worten griff er nach der Jüngsten in ihrem Schoß.
»Nein!« Meine Mutter umklammerte ihr Baby. »Niemals! Ich bekomme einen Sohn, ich verspreche es! Ich will noch mehr beten! Noch mehr die Gebetsmühlen drehen! Lass uns mehr den Göttern opfern, aber lass mir Devki!«
Doch mein Vater zerrte im Zorn an der Kleinen. Das Kind brüllte. Die anderen Mädchen wachten auf und schrien. Mutter weinte, doch sie ließ ihre Tochter nicht los und kämpfte um sie.
Nun ja, ich weiß nicht, wann und wie sich damals die Wogen wieder glätteten. Auf jeden Fall hielt meine Mutter irgendwann das gemeinsame Leben mit den Schwiegereltern und die ständige Forderung nach einem Enkelsohn nicht mehr aus. Aufgrund ihres willensstarken Charakters war sie ohnehin nicht die gefügige Schwiegertochter, die man in unserer Kultur erwartete.
»Klarer Fall, du bist verflucht«, bekam sie oft von der Schwiegermutter zu hören, die dafür drei Beweise anführte. »Du hast deinen Vater früh verloren und nicht das Glück gehabt, dass er dich erzogen hat, dein Stiefvater wollte dich nur loshaben und du bringst nur Mädchen zur Welt.«
Die Kämpfe mit der Schwiegermutter und ihre Demütigungen nahmen kein Ende. Im hohen Alter erzählte meine Mutter mir einmal, wie sie sich als junge Frau hübsch zurechtgemacht hatte und zu einem Dorffest in den Nachbarort aufbrechen wollte. Natürlich fiel der Schwiegermutter genau in diesem Moment eine neue Arbeit für die junge Frau ein. Doch meine Mutter schlich sich heimlich davon. Als die Schwiegermutter dies erkannte, schäumte sie vor Wut und machte sich auf die Suche nach ihr. Irgendwo auf dem Weg in der Nähe des Flusses holte sie die Schwiegertochter ein. Wütend riss sie ihr Sari, Tuch und Ohrringe herunter.
»Alles, was du hast, hast du von uns, du nichtsnutziges Dreckstück!«
Aufgebracht schlug sie auf die junge Frau ein. Die Schläge prasselten auf sie nieder, bis ein Mann, der zufällig vorbeikam, dazwischenging.
»Lass sie, du bringst sie ja um!«, rief er.
Als die Schwiegermutter sie daraufhin von sich stieß, stürzte meine Mutter zu Boden, fiel mit dem Kopf auf einen Stein und blieb bewusstlos liegen. Achtlos ließ die Schwiegermutter sie liegen. Der Mann kümmerte sich um sie, brachte ihr Wasser und informierte meinen Vater, der seine Frau nach Hause holte.
Meine Mutter bearbeitete ihren Mann so lange, bis er bereit war, den elterlichen Hof zu verlassen.
Nun mag der Plan eines jungen Paares, bei den Eltern auszuziehen, in Europa niemand sonderlich in Aufregung versetzen. Bei uns in Nepal war es jedoch ein Skandal. Es war einfach undenkbar, dass der älteste Sohn seine Eltern und den Hof verlässt. Nicht vorstellbar! Ein No-Go!
Der Hass auf meine Mutter steigerte sich bei den Schwiegereltern ins Unermessliche. Die Verwandtschaft tobte – doch meine Eltern blieben eisern.
Sie packten ihre wenigen Habseligkeiten in Körbe, nahmen ihre fünf Mädchen und machten sich auf den tagelangen Fußmarsch durch die Berge in den flachen Süden des Landes, wo Verwandte meines Vaters in Chitwan nahe der indischen Grenze lebten. So zogen sie einen Schlussstrich unter die bergige Heimat im Nordosten von Nepal.
»Als Witwe sollst du sterben!«, riefen einige Frauen und Verwandte bei der Abreise meiner Mutter hinterher. »Verflucht sollst du sein! Hörst du? Verflucht!« Es ist bis zum heutigen Tag vor allem unter Frauen üblich, im Zorn oder Schmerz seine Gegner zu verfluchen, denn sie sind von der Wirkung eines Fluches überzeugt!
Meine Mutter drehte sich damals nach den bösen Zungen nicht mehr um, als sie mit Mann und Kindern loszog. In all den harten Jahren ihres Lebens hatte sie sich ein dickes Fell zugelegt. Aber insgeheim graute ihr vor den Verwünschungen …
Die kommenden Jahre ließen meine Eltern all die bösen Worte vergessen. Sie fanden Unterkunft bei einem jüngeren Bruder meines Vaters im fruchtbar gemachten Sumpfland des Terai, wo sich viele vom Stamm der Tamang angesiedelt haben. Damals war in dieser flachen, von Moskitos verseuchten Gegend jeder willkommen, der bereit war, ein Stück Ackerland trockenzulegen und zu bestellen. Auf diese Weise konnte mein Vater seine wachsende Familie über Wasser halten.
Außerdem war er genauso wie mein Großvater ein Lama – das ist ein tibetisch-buddhistischer Geistlicher, der im Dorf zu Riten und Festen gerufen wird, vergleichbar mit dem Pastor einer Ortsgemeinde im christlichen Abendland. Auch damit verdiente er sich ein Zubrot. So wurde er zum Beispiel in ein Haus gebeten, wenn ein Baby zur Welt gekommen war. Drei Tage später vollzieht der Lama im Kreis der Eltern die Weihe des Kindes, Noren genannt. Der Priester ermittelt dazu mithilfe eines speziellen Kalenders einen buddhistischen Namen, der dem neuen Erdenbürger feierlich gegeben wird. Oft waren zu diesem Ritual alle Verwandten eingeladen. Bei Mädchen fiel das Fest etwas kleiner aus – oder ganz, falls man sich schämte, dass es wieder eine Tochter war.
Lama bedeutet auf Tibetisch »Leiter« oder »Hoher Priester« und ist im tibetischen Buddhismus der Titel für einen spirituellen Lehrer. Zugleich bezeichnet das Wort Lama eine Kaste in Nepal und Tibet.3
Auf jeden Fall schien das ersehnte Glück bei meinen Eltern endlich einzukehren. Mehrere Hühner mussten ihr Leben lassen, denn meine Mutter gebar beim sechsten Kind endlich, was sich alle wünschten: einen Sohn. Sie gaben ihm den Namen Bikash. Das bedeutet in unserer Sprache »Beliebtheit« und »wachsendes Ansehen«.
Auf ihn folgte mein Bruder Bejoy, das heißt »Sieg«.
Die Glückssträhne war eröffnet und als sich der Leib meiner Mutter drei Jahre nach dem Söhnchen Bejoy zum achten Mal wölbte, erwartete die Familie ganz selbstverständlich nur noch weitere Söhne – jetzt, da ihnen die Götter offensichtlich wohlgesonnen waren. Töchter hatten sie schließlich genug.
Mein Vater schmiedete unterdessen bereits Pläne, wie er im nahen Indien Land für eine kleine Landwirtschaft erwerben konnte. Der Kampf ums Überleben forderte ihn so sehr, dass er die zunehmenden Schmerzen im Bauch nicht bemerkte. Auch wenn er sie bemerkt hätte, wäre er nicht zum Arzt gegangen. Denn zum einen hielt er sich als buddhistischer Lama selbst für jemanden, der sich rituell Heilungskräfte verfügbar machen konnte. Schließlich wurde er von anderen im Krankheitsfall gerufen und zu den Ursachen befragt. Als Priester kannte er Riten und Zeremonien, um Krankheiten zu vertreiben, Flüche zu bekämpfen und böse Geister abzuwehren. Zum anderen gab es kaum ausgebildete Mediziner im Land, zumal man kein Geld für den Luxus einer Arztbehandlung gehabt hätte. Bis heute sind viele Nepalesen zurückhaltend, wenn es darum geht, zum Doktor oder gar ins Krankenhaus zu gehen – vor allem wegen den hohen Kosten. Auch die Behandlung im Hospital hat einen schlechten Ruf, da der Erfolg und die Betreuung oft zu wünschen übrig lassen. Selbst einen Kaiserschnitt bei der Geburt eines Kindes lassen Familien nur im Notfall durchführen, wenn es nicht anders geht.
Meine Geburt nahte mit dem Ende der sommerlichen Monsunzeit, der unserem Land von Mai bis September täglich eine feucht-warme Dusche verpasst und unsere Berge in Nebelschwaden hüllt. Es war Anfang Oktober – und meine Eltern machten lange Gesichter, als ich das Licht der Welt erblickte: Ihr achtes Kind war wieder ein Mädchen.
Schon bald nach meiner Geburt packte meine Familie wieder ihre Körbe und zog in den Osten Indiens weiter, wo mein Vater inzwischen in Westbengalen ein Stück Land in einem Dorf namens Madari gekauft hatte, das in der Nähe der Grenze zu Bhutan lag. Dort wollte er sich als Bauer mit seiner großen Familie endgültig niederlassen.
Ich war schon bald ein gesprächiges kleines Ding, denn man gab mir den Namen Maina – das ist ein munterer, sehr gelehriger, sprachbegabter Vogel im Himalaya-Gebiet mit schwarzem Gefieder, einer gelben Zeichnung am Kopf sowie einem gelben Schnabel. Der lautstarke Sprachkünstler aus der Familie der Stare, der gekonnt Stimmen und Geräusche seiner Umwelt nachahmt, wird bei uns gerne mit einem Papagei verglichen und ist in Europa als »Beo« bekannt. Da ich offensichtlich von Anfang an gerne das Wort führte, neckte meine Familie mich später hin und wieder mit dem nepalesischen Sprichwort:
Wer redet, kann auch Steine als Diamanten verkaufen.Wer nicht redet, kann auch Diamanten nicht als Steine verkaufen.
Ob meinen Eltern bei meiner Namensgebung bewusst war, dass der Name Maina auch »Botin Gottes« bedeutet? Denn heute passt der hervorragend zu dem, was ich tue und wer ich bin!
Leider verging in den ersten Wochen nach der Ankunft in Indien schon bald allen das Lachen. Mein Vater klagte immer häufiger über Bauchschmerzen. Eines Tages, so erzählte man mir, besuchte er noch einen Freund und schleppte sich unter starken Schmerzen nach Hause. Mein Schwager half ihm, eine kleine Apotheke aufzusuchen, wo man ihm irgendeine Infusion und Medikamente verabreichte. Doch jegliche Hilfe kam zu spät – nach ein paar qualvollen Tagen starb er, vermutlich an Darmkrebs, was damals unerkannt und unbehandelt blieb.
Der schlimmste Albtraum einer Ehefrau in Nepal war damit für meine Mutter wahr geworden: Sie war eine Witwe, allein mit kleinen Kindern. Der Fluch hatte sich erfüllt.
Mit dem Tod ihres Mannes verlor sie als Frau jeden Status, jedes Recht und jedes Ansehen, da dies in Nepal an den Mann geknüpft ist. In der Vergangenheit haben sich Witwen sogar mit dem Leichnam des Mannes auf dem Scheiterhaufen verbrennen lassen, nur um damit ihre Treue und Hingabe zu beweisen. Vor 100 Jahren wurde dieser hinduistische Ritus der Witwenverbrennung – genannt Sati – in Nepal jedoch verboten.
Für meine Mutter war das ein großer Schicksalsschlag und sie trauerte sehr über den Verlust ihres geliebten Mannes. In durchweinten Nächten grübelte sie zerknirscht darüber nach, wie dieser Schrecken auf sie gekommen war. Und vor allem: durch wen? Wer war schuld?
Der oder die Schuldige ist nach traditionellem Volksglauben schnell gefunden – das zuletzt hinzugekommene Familienmitglied, sei es Schwiegertochter oder Baby, ist verantwortlich für Glück oder Unglück in einer Familie. In diesem Fall war es sonnenklar: Ich war der Unglücksbringer. Darum galt es, bei dem Neuankömmling auf der Hut zu sein!
Kaum ein paar Monate alt, wurde ich also für den Tod meines Vaters verantwortlich gemacht. Fortan ließ man mich zu Hause, wenn die Familie zu fröhlichen Festen oder Geburtszeremonien aufbrach. Ein Kind, das Unglück bringt, will schließlich keiner zu Gast haben.
Doch das Schlimmste für mich war: Ich wuchs ohne die Liebe meiner Mutter auf. Nach dem Tod meines Vaters zeigte sie mir täglich ihre Ablehnung auf vielfältige Weise und gab mir die Schuld an all ihrem Elend. Nie hatte sie ein gutes Wort für mich, nie nahm sie mich in den Arm oder kuschelte mich.
Ich war ein kleiner Papagei, dessen Flügel gebrochen wurden, noch bevor er fliegen konnte.
»Na warte, wenn ich dich kriege!« Hinter mir keucht der Atem meiner Mutter, rasselt ihr Schnaufen, wie immer, wenn sie der Alkohol rasend macht. Die neun Goldkugeln an ihren Schmuckketten klirren. Mein Herz galoppiert. Wieder einmal renne ich, flüchte vor dem Stock in ihrer Hand.
Wie ein weiß gefleckter Axishirsch flüchte ich von Angst getrieben vor der drohenden Gefahr. Meine nackten Füße spüren nichts von den scharfen Steinbrocken am Boden, bemerken nicht das Drahtgeflecht, über das ich stolpere. Nur aufstehen und weiter! Besser diesen Schmerz ertragen als den harten Aufprall von Mutters Holzprügel, den ich Tage danach noch spüre. Auf Kopf, Rücken, Arme, Beine – wenn sie mich erwischt, drischt sie in blinder Wut auf mich ein. So schnell mich meine kleinen Füße tragen, renne ich weiter und flüchte in Richtung des Hauses meiner Schwester.
»Komm her, du Miststück!« Die wütenden Worte meiner Mutter sind schon zu hören, bevor sie selbst schwankend um die Ecke geeilt kommt. Völlig außer Atem hält sie sich am Brunnenrand fest und lässt den Prügel in der Hand sinken. »Sei verflucht, Maina! Hörst du? Wo immer du steckst! Unglücksbringerin! Du … du Vaterlose! Du … Bau Khane!«
Vaterfresserin! Das schlimmste aller nepalesischen Schimpfwörter bohrt sich in meine Kinderseele wie die Spitze eines Kukri-Messers, während meine Mutter sich davontrollt. Vaterfresserin! So etwas sagt sie zu mir? Lautlos wische ich mir die Tränen von der Wange. Der salzig staubige Geschmack legt sich mir auf die Zunge. Warum bin ich ein Fluch? Warum soll gerade ich Unglück bringen? Verzweiflung macht sich in mir breit. Es dämmert schon über unserer ärmlichen Siedlung in Bhutan. Das ist mein Karma. Ich muss in diesem Leben leiden, weil ich in meinem früheren Leben schlimme Dinge getan haben muss. Ich muss sehr böse gewesen sein bei all dem Leid, das ich jetzt erlebe.
Mit Karma wird die Vorstellung ausgedrückt, dass jede Tat – sei es in Gedanken oder ausgeführt – eine Wirkung hat. Diese Folge der Tat kann im gegenwärtigen oder einem zukünftigen Leben eintreffen. Für das Leid in dieser Welt machen Buddhisten keinen Gott verantwortlich, sondern betrachten es als Folge unguter Taten im früheren Leben.
Ich laufe langsam weiter, als ein schwarz gefleckter Hund, der vor dem Haus lang gestreckt auf dem Boden liegt, seinen Kopf hebt. Sein schläfriger Blick hat etwas Tröstliches. Langsam trete ich auf ihn zu, strecke die Hand nach ihm aus. Er schnüffelt daran, schleckt über meine Finger. Plötzlich durchfährt mich ein Gedanke: Vielleicht ist er ja mein Vater? Sanft streichle ich über das weiche kurze Fell. Sagen nicht alle, die Seele lebe nach dem Tod weiter – wiedergeboren in einer anderen Gestalt?
»Vater?«, flüstere ich, »bist du es? Bist du jetzt ein Hund?« Er legt seinen Kopf wieder in den Staub. Wie gerne würde ich mein Gesicht in seinem flauschigen Fell vergraben. Mehr als alles andere sehne ich mich danach, dass mich jemand in den Arm nimmt, mir übers Haar streicht, mir ein zärtliches Wort zuflüstert. Doch solche liebevollen Zeichen der Zuneigung gibt es nicht in meiner Welt – schon gar nicht von Mutter, wo ich sie mir am meisten erhoffe. Schließlich bin ich an ihrem Elend schuld. Oder etwa nicht?
Müde richte ich mich auf – es ist dunkel geworden. Wenn ich Glück habe, ist Mutter auf dem Bett eingeschlafen und ich kann mich ins Haus schleichen. Wenn nicht, schlüpfe ich bei Moti nebenan ins Haus. Ich werfe einen letzten Blick auf den friedlichen Hund … Alle sagen, dass mein Vater ein guter, freundlicher Mensch gewesen sein soll. Dann aber wäre es eine Strafe für ihn, als Hund wiedergeboren zu werden. Zweifelnd wende ich mich ab von dem Tier vor mir. Vielleicht liegt zu meinen Füßen doch nur ein Straßenköter …