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Die Dämmerung naht …
Die Verzweiflung wächst …
Finstere Mächte regieren!
Erschöpft, aber siegreich gehen Eragon und sein Drache Saphira aus der ersten Schlacht gegen den Tyrannen Galbatorix hervor. Eragon ist zum Hoffnungsträger vieler Elfen, Zwerge und Varden geworden, doch nicht alle sind ihm wohlgesinnt. Die kräuterkundige Angela prophezeit einen Verräter, der aus Eragons eigener Familie stammen soll. Eragon ist sich sicher: Der einzig lebende Verwandte ist sein Cousin Roran – aber niemals würde dieser sich gegen ihn wenden! Doch die Prophezeiung spricht: »So wird es kommen, selbst wenn du es zu verhindern suchst.«
Mit seiner Drachenreitersaga Eragon begeistert Christopher Paolini ein Millionenpublikum. Alte Fans und neue Leser*innen lieben Alagaësia, die fantastische und faszinierende Welt der Drachenreiter, die Christopher Paolini mit seinem im November 2023 erscheinenden neuen Roman »Murtagh« noch weiter ausbaut.
Alle Bände der »World of Eragon«:
Eragon - Das Vermächtnis der Drachenreiter (Band 1)
Eragon - Der Auftrag des Ältesten (Band 2)
Eragon - Die Weisheit des Feuer (Band 3)
Eragon - Das Erbe der Macht (Band 4)
Die Gabel, die Hexe und der Wurm. Geschichten aus Alagaësia. Band 1: Eragon (Kurzgeschichten, Band 1)
Murtagh – Eine dunkle Bedrohung
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Seitenzahl: 1084
WIE IMMER ist dieses Buch für meine Familie.Und ebenso für meine unglaublichen Fans.Ihr habt dieses Abenteuer erst möglich gemacht.Sé onr Sverdar sitja hvass!
Dem fünfzehnjährigen Bauernjungen Eragon fällt während der Jagd im Buckel ein glänzender blauer Stein vor die Füße. Er nimmt ihn mit nach Carvahall, wo er mit seinem Cousin Roran auf dem Hof seines Onkels Garrow lebt. Garrow und seine verstorbene Frau Marian haben Eragon großgezogen. Über seinen richtigen Vater ist nichts bekannt. Seine Mutter Selena, Garrows Schwester, verschwand nach Eragons Geburt spurlos.
Wenig später platzt der vermeintliche Stein auf und ein Drachenjunges kommt zum Vorschein. Als Eragon es berührt, erglüht auf seiner Handfläche ein silbriges Zeichen, und zwischen den beiden ist eine unwiderrufliche geistige Verbindung geknüpft, die Eragon zu einem der legendären Drachenreiter macht.
Die Drachenreiter waren ein paar tausend Jahre zuvor, nach dem großen Krieg der Elfen gegen die Drachen, aufgestellt worden, um dafür Sorge zu tragen, dass es zwischen den beiden Völkern nie wieder zu Feindseligkeiten kommen würde. Sie wurden zu Friedenswächtern, Lehrern, Heilern, Naturkundigen und zu mächtigen Zauberern – denn die Verbindung mit einem Drachen verlieh ihnen magische Kräfte. Als die ersten Menschen in Alagaësia auftauchten, wurden bald auch aus ihren Reihen Auserwählte zu Drachenreitern ausgebildet. Unter ihrem Schutz und ihrer Führung erlebte das Land ein goldenes Zeitalter des Friedens.
Dann jedoch töten die ungestalten und kriegerischen Urgals den Drachen eines jungen menschlichen Reiters namens Galbatorix. Halb wahnsinnig durch diesen Verlust und durch die Weigerung der Altvorderen, ihm einen neuen Drachen zur Verfügung zu stellen, beschließt Galbatorix, die Drachenreiter zu stürzen.
Er stiehlt einen Drachen, Shruikan, zwingt ihn sich zu Diensten und versammelt eine Schar von dreizehn Verrätern um sich: die Abtrünnigen. Mithilfe dieser grausamen Anhänger wirft Galbatorix die Drachenreiter nieder, tötet ihren Anführer Vrael und erklärt sich zum neuen Herrscher über Alagaësia. Allerdings bleiben die Völker der Elfen und Zwerge in ihren geheimen Schlupfwinkeln autonom, und im Süden Alagaësias gründet eine Gruppe von Menschen das unabhängige Surda. Jahrzehntelang herrschen Krieg und Verwüstung, hervorgerufen durch den Untergang der Drachenreiter, und auch der derzeitige Friede wird nur durch ein zerbrechliches Gleichgewicht der Kräfte aufrechterhalten.
In diese heikle politische Situation wird Eragon hineinkatapultiert. Er muss um sein Leben fürchten, denn es ist weithin bekannt, dass Galbatorix jeden Drachenreiter umbringt, der ihm nicht Loyalität schwört – und so versteckt Eragon den Drachen vor seiner Familie und zieht ihn heimlich groß. Er gibt seinem Schützling den Namen Saphira, nach einem Drachen, den Brom, der Geschichtenerzähler des Dorfes, einmal erwähnt hatte. Bald darauf verlässt Roran den Hof, um in Therinsford Geld zu verdienen und dann endlich Katrina, die Tochter des Metzgers, heiraten zu können.
Saphira ist inzwischen größer geworden als Eragon, als zwei bedrohliche Fremdlinge, Ra’zac genannt, in Carvahall auftauchen und nach dem Drachenei suchen. Zutiefst verängstigt, flüchtet Saphira mit Eragon in den Buckel. Er schafft es zwar, sie zur Rückkehr zu bewegen, aber in der Zwischenzeit haben die Ra’zac sein Zuhause dem Erdboden gleichgemacht. Gefoltert und schwer verwundet, liegt Eragons Onkel Garrow unter den Trümmern. Als er kurz darauf stirbt, schwört Eragon Rache. Er will die Ra’zac aufspüren und vernichten.
Als er aus dem Dorf schleicht, stellt sich ihm Brom in den Weg. Der alte Mann hat längst geahnt, dass er in Eragon einen neuen Drachenreiter vor sich hat, und bietet ihm seine Hilfe an. Denn Brom ist mehr als nur ein einfacher Geschichtenerzähler … Er beginnt, Eragon zu unterweisen. Neben den Grundbegriffen der Magie unterrichtet er ihn in der alten Sprache. Er erklärt ihm die Namen der Dinge und zeigt ihm, wie man sie für magische Zwecke nutzen kann. Es dauert nicht lange und Eragon kann Gegenstände allein mit der Kraft seines Geistes bewegen, Feinde mit Zauberei abwehren und Wunden heilen. Als er all dies gelernt hat, überreicht Brom ihm ein Schwert, das von den Elfen gefertigt wurde und einst einem Drachenreiter gehörte.
Die Spur der Ra’zac verliert sich bald, und so suchen sie in der Stadt Teirm Broms alten Freund Jeod auf, von dem sie sich Hilfe versprechen. In Teirm prophezeit die exzentrische Kräuterhexe Angela Eragon, dass mächtige Kräfte darum kämpfen, sein Schicksal zu bestimmen. Außerdem sagt sie ihm voraus, dass er sich in eine Adelige verlieben und eines Tages für immer aus Alagaësia fortgehen werde und dass es in seiner eigenen Familie einen Verräter gäbe.
Brom vertraut ihm schließlich an, dass er ein Agent der Varden sei, einer Rebellenschar, die es sich auf die Fahne geschrieben hat, Galbatorix zu stürzen – und dass er sich in Eragons Dorf versteckt gehalten habe, um auf die Ankunft eines neuen Drachenreiters zu warten. Er erzählt ihm auch, dass er einst zusammen mit Jeod Saphiras Ei aus den Fängen von Galbatorix gestohlen und dabei den Abtrünnigen Morzan getötet habe. Es existieren nur noch zwei weitere Dracheneier, die sich beide in Galbatorix’ Besitz befinden.
Eragon, Brom und Saphira ziehen zum Helgrind, wo sich der Unterschlupf der Ra’zac befindet. Die Gefährten geraten in einen Hinterhalt. Unverhofft kommt ihnen ein junger Krieger, Murtagh, zu Hilfe, der ebenfalls eine Rechnung mit den Ra’zac zu begleichen hat. Dennoch wird Brom tödlich verwundet. Mit seinen letzten Atemzügen eröffnet er Eragon, dass er selbst einmal ein Drachenreiter gewesen sei, der seinen Drachen verloren habe. Bevor er stirbt, nimmt Brom Eragon das Versprechen ab, Saphira mit seinem Leben zu beschützen.
Für Trauer bleibt keine Zeit. König Galbatorix weiß inzwischen, dass es einen neuen Drachenreiter gibt, und er wird alles tun, um Eragon in seine Gewalt zu bringen. Eragon und Murtagh beschließen, nach Gil’ead zu reiten, wo sie sich Informationen über die Varden erhoffen.
In Gil’ead wird Eragon gefangen genommen. Doch Murtagh und Saphira gelingt es, ihn und eine verletzte Mitgefangene, die Elfe Arya, zu befreien. Unterdessen ist das ganze Reich hinter ihnen her und Eragon weiß nur noch einen Ausweg: Sie müssen durch die große Hadarac-Wüste zum Beor-Gebirge gelangen, das außerhalb der Reichsgrenzen liegt.
Mühsam schleppen sie sich durch die Wüste. Murtagh, der nur widerwillig mit zu den Varden geht, sieht sich gezwungen, Eragon zu gestehen, dass er Morzans Sohn ist. Allerdings verurteilt er die Untaten seines Vaters und ist Galbatorix’ Herrschaft entflohen, um seinen eigenen Weg zu finden. Er zeigt Eragon eine lange Narbe am Rücken, die Morzan ihm zugefügt hatte, indem er sein Schwert Zar’roc nach ihm warf, als Murtagh noch ein Kind war. So erfährt Eragon, dass das Schwert in seinem Besitz einst Morzan gehörte, der die Drachenreiter an Galbatorix verriet und viele seiner ehemaligen Kameraden niedermetzelte.
Nach tagelangem Marsch erreichen sie endlich Farthen Dûr, den Stützpunkt der Rebellen, einen hohlen Berg von zehn Meilen Höhe und zehn Meilen Breite. Er beherbergt auch die Zwergenhauptstadt Tronjheim. Während Murtagh aufgrund seiner Abstammung gefangen genommen wird, erhält Eragon eine Audienz bei Ajihad, dem Anführer der Varden. Eragon wird auch Ajihads Tochter Nasuada und dem Zwergenkönig Hrothgar vorgestellt. Von den Zwillingen, zwei kahlköpfigen und ausgesprochen boshaften Magiern in Ajihads Diensten, wird er auf die Probe gestellt, und Arya, die sich inzwischen wieder erholt hat, erzählt ihm schließlich ihre Geschichte: Brom brachte das Drachenei, das er Galbatorix entwendet hatte, nach Tronjheim. Daraufhin entbrannte ein Streit zwischen den Menschen und den Elfen, wer den nächsten Drachenreiter stellen solle. Schließlich beschloss man, dass das Ei ein Jahr lang bei den Elfen und im nächsten Jahr bei den Varden bleiben solle, damit gleichberechtigt in beiden Völkern nach einem neuen Drachenreiter gesucht werden könne. Arya habe sich mit dem Ei gerade auf dem Rückweg von Ellesméra nach Tronjheim befunden, als sie von Häschern des Königs angegriffen wurde, und kurzerhand das Ei durch Magie an den einzig sicheren Ort befördert, der ihr einfiel: in Broms Nähe, dessen Zufluchtsort sie kannte. Und so gelangte das Ei zu Eragon und Saphira erkannte ihren Reiter …
Nun, erklärt Vardenführer Ajihad, sei Eragon ihre Hoffnung, ein Symbol für Stärke und Macht und Magie. Er ermahnt den Jungen, sich diese Verantwortung bewusst zu machen. Er müsse nun entscheiden, ob er seinen vorbestimmten Weg weitergehen und hierfür seine Ausbildung bei den Elfen vollenden wolle.
In diese Situation platzt die Nachricht, eine Armee Urgals nähere sich Farthen Dûr durch die Zwergentunnel. In der darauf folgenden Schlacht wird Eragon von Saphira getrennt und muss allein gegen den Schatten Durza, Galbatorix’ rechte Hand, kämpfen. Weitaus stärker als jeder Mensch, überwältigt Durza Eragon mit Leichtigkeit und schlitzt ihm den Rücken auf. Da sprengen Saphira und Arya das Dach der zentralen Kammer – einen sechzig Fuß breiten Sternsaphir – und lenken Durza damit gerade lange genug ab, dass Eragon ihm das Herz durchbohren kann. Von Durzas finsterem Einfluss befreit, lassen sich die Urgals in die Tunnel zurücktreiben. Eragon fällt in tiefe Bewusstlosigkeit.
Da nimmt ein Wesen telepathisch Kontakt mit ihm auf, das sich selbst als Togira Ikonoka, der unversehrte Krüppel, bezeichnet. Er verspricht Eragon Antworten auf all seine Fragen und drängt ihn, zu den Elfen nach Ellesméra zu kommen.
Als Eragon aus der Bewusstlosigkeit erwacht, stellt er fest, dass ihm trotz Angelas Heilkunst eine riesige Narbe am Rücken geblieben ist – genau wie Murtagh. Mit Bestürzung wird ihm klar, dass er Durza nur durch reines Glück besiegt hat und dringend seine Fertigkeiten vervollkommnen muss, wenn er den nächsten Kampf gegen die finsteren Mächte überleben und seinem Vermächtnis gerecht werden will.
So beschließt Eragon, Togira Ikonoka aufzusuchen und von ihm zu lernen. Denn das Schicksal spinnt schon eifrig seinen Faden, schrilles Kriegsgeheul schallt über das Land hinweg, und die Zeit wird nur zu schnell herangekommen sein, da Eragon seinem einzigen wahren Feind gegenübertreten muss: Galbatorix.
Die Lieder der Toten sind die Wehklagen der Lebenden.
So dachte Eragon, als er über den verrenkten Leichnam eines Urgals hinwegstieg und das Wimmern der Frauen hörte, die ihre toten Männer und Söhne vom blutdurchtränkten Boden Farthen Dûrs aufhoben. Hinter ihm stelzte Saphira vorsichtig um das leblose Bündel herum. Das Blau ihrer schillernden Schuppen war die einzige Farbe im Halbdunkel des hohlen Berges.
Drei Tage waren vergangen, seit Varden und Zwerge mit den Urgals um Tronjheim gekämpft hatten, den tausend Meter hohen, kegelförmigen Stadtberg inmitten von Farthen Dûr, doch das Schlachtfeld war noch immer mit Leichen übersät. Die vielen Toten zu begraben, dauerte länger als erwartet. In der Ferne loderte ein gewaltiges Feuer vor der Felswand; dort verbrannten sie die Urgals. Die brauchten kein Begräbnis, keine letzte Ruhestätte.
Seit er beim Aufwachen festgestellt hatte, dass Angela inzwischen seine Wunde geheilt hatte, war Eragon aufgestanden und hatte mehrere Versuche unternommen, bei den Aufräumarbeiten zu helfen. Doch jedes Mal durchfuhr ihn ein stechender Schmerz, der in seiner Wirbelsäule zu explodieren schien. Die Heiler verabreichten ihm Kräutertränke. Arya und Angela befanden, er sei gesund. Und trotzdem überfiel ihn immer wieder dieser Schmerz. Auch Saphira konnte ihm nicht wirklich helfen, sondern lediglich den Schmerz mit ihm teilen.
Eragon strich sich mit der Hand übers Gesicht und schaute zu den Sternen empor, die sich, umnebelt von den Rauchwolken des Scheiterhaufens, in der fernen Gipfelöffnung zeigten. Drei Tage. Drei Tage war es her, dass er Durza getötet hatte. Seitdem nannten ihn die Leute »Schattentöter«. Drei Tage war es her, dass die Bewusstseinsreste des Zauberers seinen Verstand attackiert hatten und ihn der geheimnisvolle Togira Ikonoka, der unversehrte Krüppel, gerettet hatte. Außer Saphira hatte er niemandem davon erzählt. Der Kampf gegen Durza und die dunklen Geister, die ihn beherrschten, hatte Eragon verändert; ob zum Besseren oder zum Schlechteren, vermochte er noch nicht zu sagen. Er fühlte sich schwach, fast zittrig, als hätte etwas seinen Körper und Geist bis ins Mark erschüttert.
Und nun war er, von morbider Neugier getrieben, zur Stätte des Kampfes zurückgekehrt, um den Ausgang der Dinge nicht zu versäumen. Doch statt des Siegestaumels, den die Heldenlieder besangen, fand er nur noch das unheimliche Gefühl von Tod und Zerstörung vor.
Ehe die grausamen Ra’zac wenige Monate zuvor seinen Onkel Garrow umgebracht hatten, wäre Eragon an den Grausamkeiten die er zwischen Menschen, Zwergen und Urgals erleben musste, zerbrochen. Jetzt aber betäubte ihn dies alles nur noch. Mit Saphiras Hilfe hatte er eingesehen, dass die einzige Möglichkeit, inmitten solcher Schrecken nicht den Verstand zu verlieren, darin bestand, etwas zu tun. Davon abgesehen maß er dem Leben an sich keine besondere Bedeutung mehr bei – nicht nachdem er gesehen hatte, wie die Kull, grausame Urgal-Riesen, Menschen in Stücke rissen und eine Schicht aus abgetrennten Gliedmaßen den Boden bedeckte, der vom Blut so aufgeweicht war, dass es durch die Sohlen seiner Stiefel drang. Falls es am Krieg irgendetwas Ehrenhaftes gab, sagte er sich, so bestand es allein darin, andere vor Schaden zu bewahren.
Er bückte sich und hob einen Zahn auf. Es war ein Backenzahn, den er immer wieder achtlos in die Luft warf, während er mit Saphira die zertrampelte Ebene überquerte. Am anderen Ende blieben sie stehen, weil sie Jörmundur – nach Ajihad der oberste Befehlshaber der Varden – aus Tronjheim auf sie zueilen sahen. Als er sie erreicht hatte, verneigte sich Jörmundur, eine Geste, die noch vor wenigen Tagen undenkbar gewesen wäre.
»Gut, dass ich dich treffe, Eragon.« Er hielt eine auf Pergament geschriebene Nachricht in der Hand. »Ajihad kehrt zurück. Er möchte, dass du bei seiner Ankunft zugegen bist. Die anderen warten schon am Westtor auf ihn. Wir müssen uns beeilen.«
Eragon nickte und ging auf das Tor zu, die Hand an Saphiras Flanke gelegt. Ajihad hatte den Großteil der vergangenen drei Tage damit verbracht, Urgals zu jagen, denen die Flucht in die Zwergentunnel gelungen war. Diese Tunnel durchzogen das gesamte Beor-Gebirge. Als Eragon ihn zwischen zwei Jagdzügen einmal kurz gesehen hatte, war Ajihad fuchsteufelswild gewesen, weil seine Tochter Nasuada seinen Befehl nicht befolgt hatte, sich vor der Schlacht mit den anderen Frauen und Kindern in Sicherheit zu bringen. Stattdessen hatte sie heimlich bei den Bogenschützen der Varden mitgekämpft.
Murtagh und die Zwillinge hatten Ajihad begleitet – die Zwillinge, weil es ein gefährliches Unterfangen war und der Anführer der Varden den Schutz ihrer magischen Fähigkeiten benötigte, und Murtagh, um zu beweisen, dass er den Varden tatsächlich wohlgesinnt war. Es überraschte Eragon, wie sehr sich die Einstellung der Leute Murtagh gegenüber geändert hatte, wenn man bedachte, dass Murtaghs Vater der Drachenreiter Morzan gewesen war, der seine Gefährten an Galbatorix verraten hatte. Obwohl Murtagh seinen Vater verachtete und Eragon treu ergeben war, hatten die Varden ihm zunächst nicht vertraut. Nun aber, da es so viel zu tun gab, wollte niemand mehr seine Kraft mit belanglosen Ressentiments vergeuden. Eragon, dem die Gespräche mit Murtagh fehlten, freute sich darauf, bald mit ihm über die jüngsten Ereignisse zu reden.
Als er und Saphira sich Tronjheim näherten, sahen sie im Laternenschein vor dem Westtor eine kleine Gruppe von Leuten stehen, darunter Orik, der unruhig von einem Zwergenbein auf das andere trat, und Arya. Der weiße Verband an ihrem Oberarm leuchtete in der Dunkelheit und warf einen schwachen Lichtschimmer auf ihre Haarspitzen. Eragon wurde von einer Welle sonderbarer Gefühle ergriffen, wie jedes Mal, wenn er die Elfe sah. Ihre funkelnden grünen Augen schauten kurz zu ihm und Saphira herüber, dann hielt sie weiter nach Ajihad Ausschau.
Arya hatte Isidar Mithrim, den zwanzig Meter breiten, rosenförmigen Sternsaphir, gesprengt und es Eragon damit ermöglicht, Durza zu töten und die Schlacht zu gewinnen. Trotzdem waren die Zwerge empört darüber, dass sie ihren wertvollsten Schatz zerstört hatte. Sie weigerten sich, die Scherben des Saphirs zu entfernen, und ließen sie in einem gewaltigen Kreis in Tronjheims mittlerer Kammer liegen. Eragon war durch das zersplitterte Trümmerfeld gestiefelt und teilte den Schmerz der Zwerge um die verlorene Herrlichkeit.
Er und Saphira blieben neben Orik stehen und blickten hinaus in die verlassene Landschaft, die Tronjheim umgab und sich in jede Richtung fünf Meilen weit bis zu Farthen Dûrs gewaltiger Innenwand erstreckte. »Aus welcher Richtung kommt Ajihad?«, fragte Eragon.
Orik deutete auf eine Ansammlung von Laternen, die in einiger Entfernung vor einer großen Tunnelöffnung aufgestellt waren. »Er wird bald hier sein.«
Eragon wartete geduldig mit den anderen und beantwortete hier und da ihre Fragen, zog es aber vor, im Stillen mit Saphira zu reden. Die Ruhe, die Farthen Dûr erfüllte, tat ihm gut.
Eine halbe Stunde verging, bis sich in dem fernen Tunnel etwas regte. Eine Gruppe von zehn Männern kam zum Vorschein, dann drehten sie sich um und halfen ebenso vielen Zwergen nach oben. Einer der Männer – Eragon nahm an, dass es Ajihad war – hob die Hand und die Krieger traten in zwei Reihen hinter ihm an. Auf ein Signal hin marschierte die Formation stolz auf Tronjheim zu.
Sie hatten sich kaum in Bewegung gesetzt, als am Tunneleingang hinter ihnen plötzlich hektischer Betrieb einsetzte und weitere Gestalten aus den Tiefen des Berges hervorsprangen. Eragon kniff die Augen zusammen, denn er konnte aus so großer Entfernung kaum etwas erkennen.
Das sind Urgals!, rief Saphira, und ihr Körper war mit einem Mal gespannt wie eine gezogene Bogensehne.
Eragon fragte nicht erst lange. »Urgals!«, rief er und saß mit einem Satz auf ihrem Rücken. Er verwünschte sich dafür, dass er sein Schwert Zar’roc nicht mitgenommen hatte. Niemand hatte zu diesem Zeitpunkt einen Angriff erwartet, nachdem die Urgal-Armee gerade erst vertrieben worden war.
Seine frisch verheilte Wunde schmerzte, als Saphira die azurblauen Flügel entfaltete, um gleich darauf mit kräftigen Schlägen in die Lüfte zu steigen, wo sie mit jeder Sekunde an Höhe und Geschwindigkeit gewann. Unter ihnen rannte Arya auf den Tunnel zu und hätte fast mit Saphira Schritt gehalten. Orik eilte ihr mit mehreren Männern hinterher, während Jörmundur zu den Kasernen zurücksprintete.
Aus dieser Entfernung konnte Eragon keine Magie einsetzen. Hilflos musste er mit ansehen, wie die Urgals Ajihads Kriegern in den Rücken fielen. Die Ungetüme hatten das Überraschungsmoment auf ihrer Seite und streckten binnen Sekunden vier Männer nieder, sodass die restlichen Krieger, Menschen und Zwerge gleichermaßen, gezwungen waren, sich um Ajihad zu scharen, um ihn zu schützen. Schwerter und Äxte krachten aufeinander, als die beiden Kampfverbände zusammenstießen. Ein Lichtblitz schoss aus einem der Zwillinge hervor und ein Urgal umklammerte erst den Stumpf seines abgetrennten Arms und stürzte dann zu Boden.
Eine Zeit lang sah es so aus, als könnten sich Ajihads Krieger der Urgals erwehren, doch dann brach ein wildes Getümmel aus, und ein Strudel feiner Nebelschwaden schien die Kontrahenten zu erfassen. Als sich der Sturm legte, standen nur noch vier Krieger aufrecht: Ajihad, die Zwillinge und Murtagh. Die Urgals fielen über sie her und raubten Eragon die Sicht. Er beobachtete die Szene mit wachsendem Entsetzen.
Nein! Nein! Nein!
Noch ehe Saphira den Ort des Gemetzels erreicht hatte, war die Urgal-Horde wieder im Tunnel verschwunden und verkroch sich in den Tiefen des Berges. Draußen im Sand blieben nur leblose Gestalten zurück.
Eragon sprang ab, kaum dass Saphira gelandet war, hielt jedoch im nächsten Augenblick, von Wut und Schmerz überwältigt, inne. Ich kann das nicht! Der Anblick erinnerte ihn allzu sehr daran, wie er damals seinen Onkel Garrow sterbend zu Hause auf dem Hof gefunden hatte. Bei jedem Schritt gegen das Grauen ankämpfend, begann er, nach Überlebenden zu suchen.
Der Ort glich dem Schlachtfeld, das er eben noch inspiziert hatte, aufs Haar, nur dass hier das Blut frisch war.
Im Zentrum des Massakers inmitten von fünf erschlagenen Urgals lag Ajihad, den Brustpanzer an mehreren Stellen aufgeschlitzt. Sein Atem ging keuchend und stoßweise. Eragon kniete neben ihm nieder und senkte den Kopf, damit seine Tränen nicht auf den malträtierten Brustkorb des Anführers fielen. Diese Wunden würde niemand mehr heilen können. Arya kam herbeigerannt, und ihre Gesichtszüge erstarrten, als sie sah, dass Ajihad nicht mehr zu helfen war.
»Eragon«, entrang es sich Ajihads Lippen. Es war kaum mehr als ein Flüstern.
»Ja, ich bin hier.«
»Hör zu … mein letzter Befehl …« Der Junge beugte sich weiter hinab, um den Sterbenden besser zu verstehen. »… mir versprechen, dass du … die Varden nicht im Chaos versinken lässt … die einzige Hoffnung gegen das Imperium … müssen stark bleiben. Versprich mir …«
»Ich verspreche es.«
»Friede sei mit dir, Eragon Schattentöter …« Mit einem letzten Atemzug schloss Ajihad die Augen und seine edlen Gesichtszüge entspannten sich.
Eragon ließ den Kopf hängen. Der harte Kloß in seinem Hals tat beim Atmen weh. Arya gab Ajihad in der alten Sprache den Segen, dann wandte sich ihre melodiöse Stimme an Eragon: »Sein Tod wird viele Dispute auslösen. Er hat Recht, du musst alles tun, um einen Machtkampf zu verhindern. Ich werde dich, so gut es geht, dabei unterstützen.«
Unfähig zu antworten, starrte Eragon auf die restlichen Leichen. Er hätte alles dafür gegeben, an einem anderen Ort zu sein. Saphira schnüffelte an einem der Urgals und sagte: Das hätte nicht geschehen dürfen. Es ist eine verabscheuungswürdige Untat und umso schlimmer, da sie uns zu einem Zeitpunkt trifft, wo wir eigentlich unseren Sieg feiern sollten. Sie inspizierte einen weiteren Leichnam, dann schwenkte sie den Kopf herum. Wo sind die Zwillinge und Murtagh? Sie sind nicht unter den Toten.
Eragon blickte suchend auf die Opfer. Eigenartig! In einem Anflug von Hoffnung lief er zum Tunneleingang. Die ausgetretenen Marmorstufen, die dort in die Tiefe führten, waren blutverschmiert, als hätte man dort mehrere Verwundete hinuntergeschleift. Die Urgals müssen sie mitgenommen haben! Aber warum bloß? Sie nehmen doch nie Gefangene oder Geiseln. Sofort kehrte die Verzweiflung zurück. Ohne Verstärkung können wir sie aber nicht verfolgen. Du passt ja nicht mal durch den Eingang!
Sie sind vielleicht noch am Leben. Willst du sie etwa ihrem Schicksal überlassen?
Was soll ich denn tun? Die Zwergentunnel sind ein einziger Irrgarten! Ich würde mich doch nur verirren. Und zu Fuß kann ich die Urgals ohnehin nicht einholen. Aber Arya … Sie könnte es vielleicht.
Dann bitte sie darum!
Arya … Eragon zögerte, hin- und hergerissen zwischen seinem Tatendrang und dem Widerwillen, sie in Gefahr zu bringen. Und doch: Wenn irgendjemand den Urgals die Stirn bieten konnte, dann sie. Seufzend erklärte er ihr die Situation.
Aryas anmutig geschwungene Augenbrauen trafen sich, als sie die Stirn runzelte. »Das ist wirklich sonderbar.«
»Wirst du sie verfolgen?«
Sie starrte ihn einen Moment lang an. »Wiol ono.« Um deinetwillen. Dann stürmte sie los, das blitzende Schwert in der Hand, und verschwand im Bauch der Erde.
Völlig niedergeschlagen setzte sich Eragon im Schneidersitz neben Ajihad und übernahm die Totenwache. Er konnte es kaum fassen, dass Ajihad tot und Murtagh entführt worden war. Murtagh, Sohn eines der Abtrünnigen – die dreizehn Drachenreiter, die bei der Zerstörung ihres Ordens mitgewirkt und dadurch Galbatorix zum König von Alagaësia gemacht hatten – und Eragons Freund. Er hatte Murtagh so manches Mal zum Teufel gewünscht und doch hinterließ der Verlust nun eine unerwartete Leere. Er saß reglos da, als Orik mit den Männern eintraf.
Als der Zwerg Ajihad sah, trampelte er wütend mit den Füßen, stieß wilde Flüche in der Zwergensprache aus und hieb schließlich seine Axt in den Kadaver eines Urgals. Die anderen standen wie vom Donner gerührt da. Orik rieb einen Dreckklumpen zwischen seinen schwieligen Händen und knurrte: »Arrrgh – jetzt wird ein Hornissennest aufbrechen. Hiernach gibt es keinen Frieden mehr unter den Varden. Barzûln, das macht die Dinge kompliziert. Hast du noch seine letzten Worte vernommen?«
Eragon sah Saphira an. »Die werde ich erst vor der richtigen Person wiederholen.«
»Verstehe. Und wo steckt Arya?«
Eragon deutete auf den Tunneleingang.
Der Zwerg fluchte erneut, dann schüttelte er den Kopf und hockte sich hin.
Kurz darauf traf Jörmundur mit zwölf Einheiten zu jeweils sechs Kriegern ein. Er bedeutete ihnen, außerhalb des Schlachtfelds zu warten, während er allein weiterging, um Ajihad die Hand auf die kalte Schulter zu legen. »Wie kann das Schicksal nur so grausam sein, mein alter Freund? Ich wäre schon früher gekommen, wenn dieser verfluchte Berg nicht so riesig wäre; dann würdest du vielleicht noch leben. Stattdessen versetzt man uns in der Stunde unseres Triumphs diesen herben Schlag.«
Eragon erzählte ihm leise von Arya und vom Verschwinden Murtaghs und der Zwillinge.
»Sie hätte nicht losziehen sollen«, sagte Jörmundur und richtete sich auf, »aber daran können wir nun nichts mehr ändern. Wir werden hier Wachen postieren, aber es dauert mindestens eine Stunde, bevor wir Zwergenführer für eine neuerliche Suchexpedition in die Tunnel gefunden haben.«
»Ich könnte die Führung übernehmen«, erbot sich Orik.
Jörmundur schaute mit leerem Blick nach Tronjheim zurück. »Nein, Hrothgar braucht dich jetzt. Jemand anderes wird gehen müssen. Es tut mir Leid, Eragon, aber alle wichtigen Personen müssen hier bleiben, bis Ajihads Nachfolger gewählt ist. Arya muss allein zurechtkommen … Wir können sie ohnehin nicht mehr einholen.«
Eragon nickte und fügte sich dem Unvermeidlichen.
Jörmundur ließ den Blick durch das weite Rund des hohlen Berges schweifen, bevor er laut und für alle hörbar erklärte: »Ajihad ist als wahrhaftiger Krieger gestorben! Seht her, er hat fünf Urgals erschlagen, wo ein Mann von geringerem Mut sich schon von einem hätte überwältigen lassen. Wir werden ihm alle Ehre erweisen und hoffen, dass sein Geist den Göttern willkommen ist. Tragt ihn und unsere toten Gefährten auf euren Schilden zurück nach Tronjheim! Und schämt euch nicht, wenn man eure Tränen sieht, denn heute ist ein Tag der Trauer, an den man sich für alle Zeiten erinnern wird. Möge es uns bald vergönnt sein, unsere Klingen in die Ungetüme zu rammen, die unseren Anführer gemordet haben!«
Wie auf Kommando knieten alle Krieger nieder und senkten ehrerbietig die Häupter. Dann standen sie wieder auf und hoben Ajihad behutsam auf ihre Schilde, sodass er zwischen ihren Schultern lag. Schon weinten viele der Varden, die Tränen flossen in ihre Bärte, doch die Männer erfüllten ihre Pflicht und trugen Ajihad voran. Feierlichen Schrittes marschierten sie nach Tronjheim zurück, Saphira und Eragon in der Mitte der Prozession.
Eragon gab sich einen Ruck, wälzte sich zur Bettkante herum und ließ den Blick durch den vom trüben Lichtschein einer abgedunkelten Laterne erhellten Raum schweifen. Er setzte sich auf und beobachtete die schlafende Saphira. Ihre muskulösen Flanken hoben und senkten sich, während der gewaltige Blasebalg ihrer Lunge Luft durch die geschuppten Nasenlöcher aufsog und wieder ausstieß. Er dachte an das lodernde Inferno, das sie kraft ihres Willens entfachen konnte. Es war ein beeindruckender Anblick, wenn Flammen, die heiß genug waren, um Metall zum Schmelzen zu bringen, aus ihren Nüstern schossen, ohne sie selbst zu verletzen. Seit sie während des Kampfes gegen Durza zum ersten Mal Feuer gespien hatte, als sie sich von Tronjheims Spitze auf die Krieger herabstürzte, platzte Saphira förmlich vor Stolz auf diese neu erwachte Fähigkeit. Wo immer sie ging und stand, stieß sie kleine Flämmchen aus und versäumte keine Gelegenheit, irgendetwas in Brand zu setzen.
Nachdem Isidar Mithrim zerstört war, hatten Eragon und Saphira nicht im darüber liegenden Drachenhort bleiben können. Die Zwerge hatten ihnen in einer alten, unterirdischen Wachstube Unterkunft gewährt. Der Raum war groß, wenn auch mit niedriger Decke und düsterem Gemäuer.
Tiefer Schmerz erfasste Eragon, als ihn die Erinnerung an die Ereignisse des Vortags einholte. Tränen traten ihm in die Augen, quollen über, und er fing eine in der Hand auf. Sie hatten nichts von Arya gehört, bis die Elfe am späten Abend erschöpft und mit wunden Füßen wieder aus dem Tunnel geklettert war. Trotz aller Anstrengungen und aller aufgebotenen Magie waren ihr die Urgals entkommen. »Das hier habe ich gefunden«, sagte sie und zeigte ihm ein purpurnes Gewand von einem der Zwillinge, zerrissen und blutbefleckt, sowie Murtaghs Wams und seine beiden Panzerhandschuhe. »Die Sachen lagen am Rand eines schwarzen Abgrunds, zu dessen Grund kein Tunnel hinabreicht. Die Urgals müssen ihnen Rüstung und Waffen abgenommen und sie in die Tiefe gestoßen haben. Ich habe versucht, Murtagh und die Zwillinge mit der Traumsicht zu finden, aber nur die Finsternis des Abgrunds gesehen.« Ihr Blick traf Eragons Augen. »Es tut mir Leid. Sie sind tot.«
Nun, allein mit sich selbst, trauerte Eragon um Murtagh. Es war ein entsetzliches, schleichendes Gefühl von Verlust und Grauen, das noch durch den Umstand verschlimmert wurde, dass ihm derartige Empfindungen in den vergangenen Monaten zunehmend vertraut geworden waren.
Während er die Träne in seiner Hand betrachtete – eine kleine, glitzernde Kuppel –, beschloss er, selbst mithilfe der Traumsicht nach den drei Vermissten zu suchen. Er wusste, dass es ein vergebliches, aus reiner Verzweiflung geborenes Unterfangen war, doch er musste es versuchen, um sich davon zu überzeugen, dass Murtagh tatsächlich tot war. Dabei war er sich unsicher, ob er wirklich erleben wollte, was Arya nicht geschafft hatte, ob es ihm tatsächlich besser gehen würde, falls er einen Blick auf Murtaghs geschundenen Leichnam am Fuß einer Felsklippe tief unter Farthen Dûr erhaschen konnte.
Dann flüsterte er: »Draumr kópa.« Dunkelheit umschloss die Träne und verwandelte sie in einen kleinen dunklen Punkt auf seiner silbrigen Handfläche. Bewegungen flimmerten hindurch, wie das Flattern eines Vogels, der an einem umwölkten Mond vorbeifliegt … dann nichts mehr.
Eine weitere Träne landete neben der ersten.
Eragon atmete durch, lehnte sich zurück und ließ sich von tiefer Ruhe durchströmen. Seit er sich von der Verletzung erholt hatte, die Durza ihm beigebracht hatte, war ihm klar geworden – so ernüchternd das auch sein mochte –, dass er diesen nur durch pures Glück besiegt hatte. Sollte ich es jemals mit einem anderen Schatten zu tun bekommen, oder mit den Ra’zac oder mit Galbatorix, muss ich stärker sein, wenn ich siegreich bleiben will. Brom hätte mir noch so viel beibringen können, da bin ich mir ganz sicher. Aber ohne ihn bleibt mir nur eine einzige Möglichkeit: die Elfen.
Saphira atmete tief, dann schlug sie die Augen auf und gähnte ausgiebig. Guten Morgen, Kleiner!
Von wegen guter Morgen! Er schaute auf seine Hände hinab, auf die er sich stützte und die die Matratze zusammendrückten. Es ist schrecklich … Murtagh und Ajihad … Warum haben uns die Wächter in den Tunneln nicht vor den Urgals gewarnt? Es hätte nicht passieren dürfen, dass sie unbemerkt Ajihads Trupp verfolgen konnten … Arya hatte Recht, es ergibt keinen Sinn.
Vielleicht finden wir die Wahrheit nie heraus, sagte Saphira sanft. Sie erhob sich und ihre Flügel streiften die Decke. Du musst etwas essen, Kleiner, und danach müssen wir in Erfahrung bringen, was die Varden vorhaben. Wir dürfen keine Zeit verlieren! Binnen weniger Stunden könnte ein neuer Anführer gewählt sein.
Eragon stimmte ihr zu und dachte daran, wie sie die anderen gestern verlassen hatten: Orik war davongeeilt, um König Hrothgar die traurige Kunde zu überbringen. Jörmundur hatte Ajihads Leichnam an einen Ort gebracht, wo man ihn bis zur Beerdigung aufbahren würde, und Arya hatte allein dagestanden und still die Betriebsamkeit beobachtet.
Er stand auf, gürtete Zar’roc um seine Hüfte und hängte sich den Bogen um, dann bückte er sich, um Schneefeuers Sattel aufzuheben. Da durchfuhr ein schneidender Schmerz seinen Oberkörper und zwang ihn zu Boden, wo er sich gekrümmt an den Rücken griff. Es fühlte sich an, als würde er entzweigesägt. Saphira knurrte, als das Gefühl des Zerrissenwerdens sie erreichte. Sie versuchte, ihn mit ihrem Geist zu beruhigen, konnte seine Schmerzen jedoch nicht lindern. Instinktiv stellte sie den Schwanz auf, drohend, wie zum Angriff.
Es dauerte einige Minuten, bis der Anfall abklang und das letzte Pochen verebbte. Eragon keuchte vor Erschöpfung. Der Schweiß stand ihm im Gesicht, verklebte seine Haare und brannte ihm in den Augen. Er drehte den Arm zurück und tastete vorsichtig nach der Narbe. Sie war heiß und entzündet und schmerzte bei der Berührung. Saphiras Nase berührte sanft seinen Arm. Mein armer Kleiner…
Diesmal war es schlimmer, sagte er und erhob sich taumelnd. Er lehnte sich an Saphira und wischte sich mit einem Tuch den Schweiß aus dem Gesicht, dann steuerte er vorsichtig auf die Tür zu.
Kannst du dich denn schon wieder auf den Beinen halten?
Wir müssen gehen. Als Drache und Reiter sind wir verpflichtet, unsere Meinung zu dem neuen Anführer der Varden in die Waagschale zu werfen und damit möglicherweise sogar die Wahl zu beeinflussen. Ich würde die Macht unserer Position nicht unterschätzen; wir besitzen nun große Autorität bei den Varden. Wenigstens sind die Zwillinge nicht da, um das Amt an sich zu reißen. Das ist das einzig Gute an der Situation.
Ja, aber Durza soll tausend Jahre in der Hölle schmoren für das, was er dir angetan hat.
Eragon brummte. Bleib einfach immer in meiner Nähe.
Gemeinsam zogen sie durch Tronjheim und suchten nach der nächsten Küche. In den Gängen und Fluren blieben die Leute stehen, verneigten sich und murmelten »Argetlam« oder »Schattentöter«. Selbst Zwerge erwiesen ihm diese Ehre, wenngleich nicht ganz so oft. Eragon nahm bekümmert die ernsten, gequälten Mienen der Menschen und ihre dunkle Kleidung wahr, mit der sie ihre Trauer zum Ausdruck brachten. Viele Frauen waren ganz in Schwarz gekleidet, das Gesicht hinter Spitzenschleiern verborgen.
In der Küche nahm sich Eragon einen Steinteller voller Speisen mit an einen niedrigen Tisch. Saphira beobachtete ihn aufmerksam, für den Fall, dass er wieder einen Anfall bekäme. Mehrere Leute versuchten, sich ihm zu nähern, doch sie zog jedes Mal drohend die Lefzen hoch und knurrte Furcht erregend, sodass alle prompt auf dem Absatz kehrtmachten. Eragon gab vor, die Störungen nicht zu bemerken, und stocherte in seinem Essen herum. Um nicht ständig an Murtagh zu denken, fragte er Saphira schließlich: Wer, glaubst du, vermag neuer Anführer der Varden zu werden, wo Ajihad und die Zwillinge nun nicht mehr unter uns sind?
Sie zögerte. Möglicherweise du, wenn man Ajihads letzte Worte so interpretiert, dass du die Führung übernehmen sollst. Es dürfte kaum jemanden geben, der etwas dagegen hätte. Allerdings scheint mir das kein weiser Schritt zu sein. Ich glaube, es würde uns nur Ärger bringen.
Stimmt. Außerdem würde Arya es nicht billigen und sie könnte ein gefährlicher Gegner sein. In der alten Sprache können Elfen nicht lügen, in unserer hingegen sehr wohl – sie könnte abstreiten, dass Ajihad jemals diese Worte gesagt hat, falls es ihren Zielen dient. Nein, ich möchte das Amt nicht … Was ist mit Jörmundur?
Ajihad bezeichnete ihn als seine rechte Hand. Leider wissen wir kaum etwas über ihn und die anderen Führer der Varden. Wir sind ja erst seit kurzem hier. Wir müssen uns bei unserem Urteil ausschließlich auf unser Gefühl und unsere Eindrücke verlassen.
Eragon schob seinen Fisch um einen Kloß aus Knollenbrei herum. Vergiss nicht Hrothgar und die Zwergenclans! Sie werden sich bei der Sache nicht still verhalten. Außer Arya haben die Elfen bei der Wahl nichts zu sagen – die Entscheidung wird getroffen, bevor die Elfen überhaupt die Kunde von Ajihads Tod ereilt. Aber die Zwerge kann und darf man nicht ignorieren. Hrothgar steht auf Seiten der Varden, aber falls sich ihm genügend Clans widersetzen, könnte er gezwungen sein, jemanden zu unterstützen, der als Anführer ungeeignet ist.
Und wer könnte das sein?
Jemand, der leicht zu manipulieren ist. Eragon schloss die Augen und lehnte sich zurück. Es könnte jeder in Farthen Dûr sein, wirklich jeder.
Sie dachten eine Weile über die Probleme nach, mit denen sie sich konfrontiert sahen, bis Saphira schließlich sagte: Eragon, jemand ist hier, der mit dir sprechen möchte. Ich kann ihn nicht verjagen.
Hä? Er öffnete die Augen und blinzelte ein paarmal, während sich seine Augen an das Licht gewöhnten. Ein blasser Junge stand an ihrem Tisch. Er starrte Saphira an, als hätte er Angst, gleich von ihr aufgefressen zu werden. »Was gibt’s denn?«, fragte Eragon freundlich.
Der Junge schrak zusammen und errötete, dann verneigte er sich rasch. »Ihr werdet gerufen, Argetlam, um vor dem Ältestenrat zu reden.«
»Aus welchen Leuten besteht denn dieser Rat?«
Die Frage verwirrte den Jungen noch mehr. »Der … der Rat ist … sind … Leute, die wir – also die Varden – ernannt haben, um in unserem Namen mit Ajihad zu sprechen. Sie waren seine getreuen Ratgeber, und nun wünschen sie, Euch zu sehen. Es ist eine große Ehre!« Er beendete den Satz mit einem flüchtigen Lächeln.
»Sollst du mich zu ihnen bringen?«
»Ja.«
Saphira sah Eragon fragend an. Schulterzuckend ließ er sein Essen stehen und bedeutete dem Jungen, ihnen den Weg zu zeigen. Unterwegs schaute der Junge mit leuchtenden Augen auf Zar’roc, dann schlug er verlegen die Augen nieder.
»Wie heißt du?«, fragte Eragon.
»Jarsha, Herr.«
»Das ist ein schöner Name. Du bist ein guter Bote. Du kannst stolz auf dich sein.« Jarsha strahlte und eilte weiter.
Sie erreichten eine nach außen gewölbte Steintür, die Jarsha aufschob. Der dahinter liegende Raum war kreisrund und hatte eine himmelblaue, mit Sternenkonstellationen verzierte Dachkuppel. In der Mitte stand ein runder Marmortisch, dessen Platte das Dûrgrimst-Ingietum-Emblem schmückte: ein aufrechter, von zwölf Sternen umringter Hammer. Am Tisch saßen Jörmundur und zwei andere Männer – einer hoch aufgeschossen, der andere stämmig und untersetzt, des Weiteren eine Frau mit zusammengekniffenen Lippen, eng stehenden Augen und üppig bemalten Wangen und eine zweite Frau mit einer imposanten Turmfrisur aus grauen Haaren über einem matronenhaften Gesicht, dessen vermeintliche Gutmütigkeit im krassen Gegensatz zu dem Dolchgriff stand, der zwischen den ausladenden Wölbungen ihres Dekolletees hervorragte.
»Du kannst gehen«, sagte Jörmundur zu Jarsha, der sich rasch verneigte und verschwand.
In dem Bewusstsein, dass man ihn beobachtete, ließ Eragon kurz den Blick über die Runde schweifen, dann setzte er sich auf einen von mehreren freien Stühlen mitten im Saal, sodass die Ratsmitglieder ihre Plätze wechseln mussten, um ihn anschauen zu können. Saphira hockte direkt hinter ihm. Er spürte ihren heißen Atem auf der Schädeldecke.
Jörmundur erhob sich knapp und verneigte sich, dann nahm er wieder Platz. »Danke, dass du gekommen bist, Eragon, obwohl du sicherlich derzeit deine persönlichen Verluste betrauerst. Das da sind Umérth«, er zeigte auf den langen Kerl, »Falberd« – der Stämmige –, »Sabrae und Elessari«, stellte er die beiden Frauen vor.
Eragon nickte kurz und fragte: »Was ist mit den Zwillingen? Waren sie auch Mitglieder dieses Rats?«
Sabrae schüttelte energisch den Kopf und trommelte mit einem langen Fingernagel auf die Tischplatte. »Sie hatten nichts mit uns zu tun. Sie waren Heuchler – schlimmer noch: Blutsauger, die nur ihre eigenen Interessen verfolgten. Sie hatten nicht den Wunsch, den Varden zu dienen. Deshalb hatten sie in diesem Rat nichts verloren.« Eragon konnte ihr Parfüm riechen, obwohl die Frau an der gegenüberliegenden Tischseite saß; es war schwer und ölig, wie eine faulende Blume, und er musste sich bei dem Gedanken das Schmunzeln verkneifen.
»Genug davon. Wir sind nicht zusammengekommen, um über die Zwillinge zu reden«, sagte Jörmundur. »Wir befinden uns in einer Krise, die wir schnell und gewissenhaft beilegen müssen. Wenn wir niemanden zu Ajihads Nachfolger bestimmen, werden es andere tun. Hrothgar hat uns bereits offiziell sein Beileid ausgesprochen. Er war zwar überaus höflich, schmiedet aber mit Sicherheit just in diesem Moment eigene Pläne. Ebenso müssen wir an die Du Vrangr Gata, die Gruppe der Zauberkundigen, denken. Die meisten von ihnen sind den Varden gegenüber loyal, doch selbst in guten Zeiten weiß man nie so genau, was ihnen als Nächstes einfällt. Sie könnten beschließen, zu ihrem eigenen Vorteil unsere Autorität infrage zu stellen. Deshalb brauchen wir deine Hilfe, Eragon: um die Legitimität zu erhalten, die Ajihads Nachfolger benötigen wird.«
Falberd stemmte die fleischigen Hände auf die Tischplatte, um sich zu erheben. »Wir fünf haben uns bereits auf jemanden geeinigt. Wir sind uns absolut sicher, dass es die richtige Person ist. Aber«, er reckte einen dicken Finger, »bevor wir dir verraten, um wen es sich handelt, musst du uns dein Ehrenwort geben, dass nichts, was in dieser Halle besprochen wird, nach außen dringt, ganz gleich ob du unsere Meinung teilst oder nicht.«
Was soll das?, fragte Eragon Saphira.
Ich weiß nicht, erwiderte sie schnaubend. Es könnte eine Falle sein … Das Risiko musst du wohl eingehen. Aber vergiss nicht: Mich haben sie nicht zum Stillschweigen verpflichtet. Wenn nötig, kann ich Arya berichten, was sie gesagt haben. Wie töricht von ihnen, meine Intelligenz so zu unterschätzen!
Angetan von ihrem Vorschlag, sagte Eragon: »Gut, ihr habt mein Wort. Also, wen wollt ihr zum Anführer der Varden bestimmen?«
»Nasuada.«
Überrascht senkte Eragon den Blick und überlegte fieberhaft. Er hatte Nasuada wegen ihrer Jugend – sie war nur wenige Jahre älter als er selbst – eigentlich nicht für die Nachfolge in Betracht gezogen. Aber natürlich gab es keinen triftigen Grund, sie auszuschließen. Doch warum wollte der Ältestenrat ausgerechnet sie als Nachfolgerin? Welchen Nutzen hatten sie davon? Er dachte an Broms Ratschlag und versuchte, die Angelegenheit aus allen möglichen Blickwinkeln zu betrachten, wohl wissend, dass man eine schnelle Antwort von ihm erwartete.
Nasuada hat Stahl in den Adern, bemerkte Saphira. Sie würde sein wie ihr Vater.
Vielleicht, aber aus welchem Grund wählen sie gerade sie aus?
Um Zeit zu gewinnen, fragte Eragon: »Warum nicht du, Jörmundur? Ajihad bezeichnete dich als seine rechte Hand. Bedeutet das nicht, dass du nach seinem Tode seinen Platz einnimmst?«
Eine Welle des Unbehagens ergriff die Ratsmitglieder. Sabrae richtete sich kerzengerade auf und knetete ihre Finger; Umérth und Falberd wechselten düstere Blicke, während Elessari nur verstohlen in sich hineinlächelte. Der Dolchgriff an ihrer Brust geriet in Bewegung.
»Weil«, sagte Jörmundur, und die Worte schienen mit Bedacht gewählt, »Ajihad damals militärische Angelegenheiten meinte, weiter nichts. Außerdem gehöre ich diesem Rat an, dessen Macht in der Gleichheit seiner Mitglieder besteht. Es wäre dumm und fahrlässig, wollte sich einer von uns über die anderen erheben.« Die Spannung legte sich wieder und Elessari tätschelte wohlwollend Jörmundurs Arm.
Ha!, entfuhr es Saphira. Wahrscheinlich hätte er das Amt nur zu gern übernommen, wenn er sich der Unterstützung der anderen sicher wäre. Sieh nur, wie sie ihn beäugen! Er ist wie ein Wolf in ihrer Mitte.
Ein Wolf in einem Rudel Schakale.
»Ist Nasuada denn erfahren genug?«, wollte Eragon jetzt wissen.
Elessari packte die Tischkante und beugte sich vor. »Ich war schon sieben Jahre hier, als Ajihad sich den Varden anschloss. Ich habe Nasuada aufwachsen sehen, vom niedlichen kleinen Mädchen bis zu der Frau, die sie heute ist. Gelegentlich ein bisschen impulsiv, aber allemal eine gute Anführerin für die Varden. Die Menschen werden sie lieben. Und ich«, sie schlug sich gönnerhaft gegen die Brust, »und meine Freunde sind ja da, um sie durch diese schweren Zeiten zu begleiten. Es wird immer jemand da sein, der ihr den Weg weist. Ihre Unerfahrenheit soll sie nicht daran hindern, ihre rechtmäßige Position einzunehmen.«
Da fiel es Eragon wie Schuppen von den Augen. Sie wollen eine Marionette!
»Ajihads Begräbnis findet in zwei Tagen statt«, ließ sich jetzt Umérth vernehmen. »Wir haben vor, Nasuada gleich anschließend zu unserem neuen Oberhaupt zu ernennen. Wir müssen sie noch fragen, aber sie ist sicher einverstanden. Wir möchten, dass du an der Zeremonie teilnimmst – dann kann sich keiner, nicht einmal Hrothgar, darüber beschweren – und dass du einen Treueschwur auf die Varden leistest. Das wird den Menschen das Vertrauen zurückgeben, das Ajihads Tod ihnen geraubt hat, und verhindern, dass irgendjemand versucht, unseren Zusammenhalt zu stören.«
Ein Gelübde!
Rasch beschwichtigte Saphira Eragons Geist. Wohlgemerkt – sie wollen dich nicht auf Nasuada schwören lassen, sondern auf die Varden.
Ja, und sie wollen diejenigen sein, die Nasuada ernennen, was zeigen würde, dass der Rat mächtiger ist als Nasuada selbst. Sie hätten ja auch Arya oder uns bitten können, die Ernennung vorzunehmen, doch damit würden wir über allen Varden stehen. So aber gewinnen sie die Macht über Nasuada, haben durch den Treueschwur gleichzeitig uns in der Hand und kommen auch noch in den Genuss eines Drachenreiters, der für Nasuada eintritt.
»Was passiert«, fragte er in die Runde, »wenn ich zu dem Schluss gelange, euer Angebot abzulehnen?«
»Angebot?«, fragte Falberd, sichtlich irritiert. »Also – nichts natürlich. Doch es wäre eine grobe Beleidigung für Nasuada, wenn du nicht bei ihrer Ernennung zugegen sein würdest. Was sollte sie wohl davon halten, dass der Held der Schlacht um Farthen Dûr ihr nicht die Ehre erweist? Sie müsste ja annehmen, dass der neue Drachenreiter Groll gegen sie hegt und die Varden für seiner Dienste unwürdig erachtet. Und wer könnte diese Schande ertragen?«
Die Botschaft hätte eindeutiger nicht sein können. Unterm Tisch ballte Eragon die Faust um den Schwertgriff und hätte am liebsten herausgeschrien, dass es unnötig sei, ihn zur Unterstützung der Varden zu zwingen, weil er ihnen ohnehin verpflichtet sei. Nun aber wollte er instinktiv rebellieren, die Fesseln abwerfen, die sie ihm anzulegen versuchten. »Da man so große Stücke auf die Drachenreiter hält, könnte ich mich ja auch entschließen, selbst die Geschicke der Varden zu lenken.«
Nun breitete sich eine frostige Stimmung aus. »Das wäre unklug«, stellte Sabrae fest.
Eragon zerbrach sich den Kopf nach einem Ausweg aus der Zwickmühle. Ohne Ajihad, bemerkte Saphira, könnte es sich als unmöglich erweisen, unabhängig zu bleiben, so wie er es gewünscht hat. Wir dürfen die Varden nicht verärgern, und wenn der Rat nach Nasuadas Ernennung die eigentliche Macht besitzt, dann sollten wir uns dem fügen. Vergiss nicht, ihr Handeln ist bedingt durch ihren Selbsterhaltungstrieb, genau wie unseres.
Aber was werden sie von uns verlangen, wenn sie uns erst einmal willfährig gemacht haben? Werden sie sich an den Vardenpakt mit den Elfen halten und uns zur Ausbildung nach Ellesméra gehen lassen oder haben sie vielleicht schon etwas ganz anderes mit uns vor? Jörmundur scheint ein Ehrenmann zu sein, aber der Rest des Rats – ich weiß nicht recht.
Saphira strich ihm mit dem Unterkiefer über den Kopf. Sag ihnen, wir nehmen an der Zeremonie teil. Ich denke, so weit sollten wir ihnen entgegenkommen. Was den Schwur betrifft: Versuche, dich um eine klare Aussage herumzureden. Vielleicht geschieht ja in den nächsten Tagen noch irgendetwas, das unsere Position ändert … Vielleicht hat Arya eine Idee.
Ohne Vorwarnung nickte Eragon und sagte: »Wie ihr wünscht. Ich werde an Nasuadas Ernennung teilnehmen.«
Jörmundur wirkte erleichtert. »Gut, gut. Dann müssen wir nur noch eine Angelegenheit klären, bevor du gehst: Wir brauchen Nasuadas Einwilligung. Es gibt keinen Grund zu warten, wo wir doch schon alle hier versammelt sind. Ich lasse sofort nach ihr schicken. Und nach Arya auch – wir benötigen die Billigung der Elfen, bevor wir die Entscheidung öffentlich verkünden, aber das sollte zu bewerkstelligen sein. Schließlich kann sich Arya nicht gegen den Rat und gegen dich stellen, Eragon. Sie wird sich unserer Entscheidung fügen.«
»Halt!«, sagte Elessari mit kaltem Glanz in den Augen. »Wir warten immer noch auf die zweite Antwort, Drachenreiter. Wirst du bei der Zeremonie den Treueschwur auf die Varden leisten?«
»Richtig, du musst den Schwur ablegen«, sagte Falberd. »Die Varden wären ihrer Ehre beraubt, wenn sie dir nicht jeden Schutz gewähren könnten.«
Wie nett formuliert!
Es war einen Versuch wert, sagte Saphira. Ich fürchte, du hast jetzt keine andere Wahl mehr.
Sie würden es nicht wagen, uns etwas zu tun, wenn ich mich weigern sollte.
Nein, aber sie könnten uns in große Schwierigkeiten bringen. Ich sage das nicht meinetwegen, sondern dir zuliebe. Es gibt unzählige Gefahren, vor denen ich dich nicht schützen kann, Eragon. Mit Galbatorix als Gegner braucht man Verbündete und darf sich nicht überall Feinde machen. Wir können es uns nicht leisten, uns mit dem Imperium und den Varden anzulegen.
Schließlich sagte er: »Ich werde einen Schwur ablegen.« Am Tisch gab es sichtbare Zeichen der Erleichterung – sogar Umérth seufzte verstohlen. Sie fürchten sich vor uns!, dachte Eragon.
Das sollten sie auch, erklärte Saphira.
Jörmundur rief nach Jarsha und trug dem Jungen auf, Nasuada und Arya zu holen. Als er fort war, verfiel die Runde in ungemütliches Schweigen. Eragon ignorierte die anderen und konzentrierte sich stattdessen darauf, einen Ausweg aus seinem Dilemma zu finden. Doch es wollte ihm nichts einfallen.
Als die Tür wieder aufging, wandten sich alle erwartungsvoll um. Als Erste erschien Nasuada, das Kinn gereckt und mit stolzem Blick. Sie trug ein tiefschwarzes Kleid, dessen Farbe nur von einem Streifen königlichen Purpurs unterbrochen wurde, der von der Schulter bis zur Hüfte verlief. Hinter ihr kamen Arya – ihr Gang war leichtfüßig und geschmeidig wie der einer Katze – und Jarsha, der sichtlich beeindruckt war.
Der Junge wurde weggeschickt, dann bot Jörmundur Nasuada einen Stuhl an. Eragon beeilte sich, dasselbe für Arya zu tun, doch sie ignorierte seine Bemühungen und blieb einige Meter vom Tisch entfernt stehen.
Saphira, berichte ihr alles, was geschehen ist. Ich glaube, die Mitglieder des Rats werden nicht erwähnen, dass sie mich gezwungen haben, den Varden meine Loyalität zu versprechen.
»Arya«, begrüßte Jörmundur sie mit knappem Kopfnicken, dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf Nasuada. »Nasuada, Tochter von Ajihad, der Ältestenrat möchte dir offiziell sein Beileid aussprechen zu dem traurigen Verlust, den du erlitten hast… und ebenso das Mitgefühl jedes Einzelnen von uns. Wir alle wissen, wie es ist, jemanden auf so grausame Weise an das Imperium zu verlieren.«
»Vielen Dank«, murmelte Nasuada und schlug die mandelförmigen Augen nieder. Als sie Platz nahm, wirkte sie so scheu und zerbrechlich und strahlte eine solche Verletzlichkeit aus, dass Eragon sie am liebsten getröstet hätte. Ihr Auftreten hatte nichts mehr von der selbstbewussten jungen Frau, die ihn und Saphira vor der Schlacht im Drachenhort besucht hatte.
»Obwohl dies für dich eine Zeit der Trauer ist, stehen wir vor einem Problem, das nur du zu lösen vermagst. Dieser Rat kann die Varden nicht anführen. Und nach der Bestattung Ajihads muss jemand seinen Platz einnehmen. Wir möchten dich darum bitten, diese Position zu bekleiden. Als seine Erbin ist es dein Recht – und die Varden erwarten nichts anderes von dir.«
Nasuada verneigte sich mit feuchten Augen. Der Schmerz in ihrer Stimme war offenkundig, als sie sagte: »Ich hätte nie gedacht, dass man mich schon in so jungen Jahren auffordern müsste, den Platz meines Vaters einzunehmen. Aber wenn ihr darauf besteht, ist es meine Pflicht… Ich werde das Amt annehmen.«
Der Ältestenrat wirkte hocherfreut über Nasuadas Willfährigkeit. »Wir bestehen darauf«, sagte Jörmundur, »zu deinem Wohl und zum Wohl der Varden.« Die übrigen Ratsmitglieder nickten beifällig, was Nasuada mit einem traurigen Lächeln quittierte. Sabrae aber warf Eragon einen düsteren Blick zu, als er sich der allgemeinen Hochstimmung nicht anschließen wollte.
Während des Gesprächs hatte Eragon Arya beobachtet, auf der Suche nach irgendeiner Reaktion, doch ihre unergründliche Miene zeigte keinerlei Gefühlsregung. Allerdings ließ Saphira ihn wissen: Sie möchte nachher mit uns reden.
Bevor Eragon antworten konnte, wandte sich Falberd an die Elfe: »Wird diese Entscheidung die Zustimmung der Elfen finden?«
Arya starrte Falberd unverwandt an, bis der Mann unter ihrem durchdringenden Blick nervös wurde, dann hob sie eine Augenbraue. »Ich kann nicht für meine Königin sprechen, aber ich persönlich habe keine Einwände. Nasuada hat meinen Segen.«
Was sollte sie auch einwenden, nachdem sie weiß, was wir ihr berichtet haben?, dachte Eragon bitter. Wir wurden allesamt überrumpelt.
Aryas Äußerung stellte die Ratsmitglieder offenbar zufrieden. Nasuada dankte ihr und fragte Jörmundur: »Gibt es sonst noch etwas zu bereden? Ich bin sehr müde.«
Jörmundur schüttelte den Kopf. »Wir werden alles Weitere arrangieren. Ich verspreche dir, bis zum Begräbnis hast du deine Ruhe.«
»Nochmals vielen Dank. Würdet ihr jetzt bitte gehen? Ich brauche Zeit, um zu überlegen, wie ich meinen Vater am besten ehren und den Varden dienen kann. Ihr habt mir viel zum Nachdenken gegeben.« Nasuada spreizte die schlanken Finger auf dem dunklen Stoff in ihrem Schoß.
Umérth sah aus, als wollte er dagegen protestieren, dass der Rat weggeschickt wurde, doch Falberd brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Natürlich, ganz wie du wünschst. Falls du Hilfe brauchst, stehen wir dir jederzeit zur Verfügung.« Er bedeutete den anderen, ihm zu folgen, und ging an Arya vorbei zur Tür.
»Eragon, würdest du bitte noch bleiben?«
Überrascht setzte er sich wieder und ignorierte die argwöhnischen Blicke der Ratsmitglieder. Falberd blieb wie angewurzelt an der Tür stehen, als hätte er es sich anders überlegt, verließ dann aber doch widerstrebend den Saal. Arya ging als Letzte. Bevor sie die Tür hinter sich schloss, schaute sie kurz zu Eragon herüber, eine bisher nicht gezeigte Besorgnis im Blick.
Nasuada saß halb abgewandt von Eragon und Saphira. »So sehen wir uns also wieder, Drachenreiter. Du hast mich nicht begrüßt. Habe ich dich beleidigt?«
»Nein, Nasuada, ich wollte nichts sagen, weil ich befürchtete, etwas Unhöfliches oder Dummes von mir zu geben. Unbedachte Äußerungen können in der gegenwärtigen Situation gefährlich sein.« Als ihm bewusst wurde, dass man sie womöglich belauschte, überwand er alle Widerstände in sich und griff zu magischen Sicherheitsvorkehrungen: »Atra nosu waíse vardo fra eld Hórnya … So, jetzt können wir reden, ohne dass ein Mensch, Zwerg oder Elf es hört.«
Nasuada schien erleichtert. »Dank dir, Eragon. Du weißt gar nicht, was für eine wunderbare Gabe das ist.« Sie klang nun stärker und selbstbewusster als zuvor.
Hinter Eragons Stuhl erhob sich Saphira, ging vorsichtig um den Tisch herum und blieb vor Nasuada stehen. Sie senkte den mächtigen Kopf, bis ein saphirblaues Auge tief in Nasuadas schwarze Augen blickte. Die Drachendame schaute sie eine volle Minute lang an, bevor sie leise schnaubte und sich wieder aufrichtete. Sag ihr, forderte sie Eragon auf, dass ich ihr mein tief empfundenes Beileid ausspreche. Und dass ihre Stärke zur Stärke der Varden werden muss, wenn sie Ajihads Amt übernimmt. Die Menschen brauchen eine sichere Führung.
Eragon wiederholte die Worte und fügte hinzu: »Ajihad war ein großartiger Mensch – sein Name wird niemals in Vergessenheit geraten … Es gibt etwas, das ich dir mitteilen muss. Bevor Ajihad starb, trug er mir auf, ja, er befahl mir zu verhindern, dass die Varden im Chaos versinken. Das waren seine letzten Worte. Arya hat sie auch gehört.
Wegen der möglichen Auswirkungen wollte ich es für mich behalten, aber du hast das Recht, es zu erfahren. Ich bin nicht ganz sicher, was Ajihad damit meinte oder was er im Einzelnen wünschte, aber so viel kann ich dir versichern: Ich werde die Varden immer mit allen mir gegebenen Fähigkeiten verteidigen. Ich wollte, dass du das weißt und auch, dass ich nicht vorhabe, die Führung der Varden an mich zu reißen.«
Nasuada lachte schwach. »Aber diese Führung soll auch nicht wirklich in meinen Händen liegen, nicht wahr?« Ihre Zurückhaltung war verschwunden; stattdessen wirkte sie nun beherrscht und entschlossen. »Ich weiß genau, warum du vor mir hier warst und was der Rat vorhat. Glaubst du etwa, in den Jahren, in denen ich meinem Vater diente, hätten wir keine Pläne für diesen Fall gemacht? Ich habe erwartet, dass der Rat genau das tut, was er soeben getan hat. Und nun kann ich tatsächlich die Führung der Varden übernehmen.«
»Du hast also nicht vor, dich von ihnen manipulieren zu lassen?«, sagte Eragon verwundert.
»Nein. Behalte Ajihads letzte Worte bitte für dich. Es wäre unklug, sie herauszuposaunen, denn die Leute könnten denken, dass er dich als seinen Nachfolger bestimmen wollte, und das würde meine Autorität schwächen und die Varden verunsichern. Er tat, was er für richtig hielt, um die Varden zu schützen. Ich hätte dasselbe getan. Mein Vater…« Sie stockte kurz. »Das Werk meines Vaters wird nicht unvollendet bleiben, selbst wenn es mich ins Grab bringt. Ich möchte, dass du, Drachenreiter, das weißt. Ajihads Pläne, Strategien und Ziele sind nun die meinen. Ich werde ihn nicht durch Schwäche enttäuschen. Wir werden das Imperium besiegen, Galbatorix entthronen und dafür sorgen, dass eine rechtmäßige Regierung eingesetzt wird.«
ENDE DER LESEPROBE
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