Fractal Noise - Christopher Paolini - E-Book

Fractal Noise E-Book

Christopher Paolini

0,0
19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Atemberaubende Sci-Fi-Spannung im All – von Weltbestseller-Autor Christopher Paolini Auf dem unbewohnten Planeten Talos VII wird eine Anomalie entdeckt: eine riesige kreisförmige Grube, deren Abmessungen so perfekt sind, dass sie nur einen Schluss zulassen: Die Senke muss künstlich angelegt worden sein. Ein kleines  Wissenschaftsteam soll mehr darüber herausfinden, wer das Loch gebaut haben könnte und warum. Schnell wird ihnen klar, dass die Erbauer keine Menschen gewesen sein können. Für einige Forscher ist diese Mission die Chance ihres Lebens. Für andere ist es ein unkalkulierbares Risiko. Und für den Xenobiologen Alex Crichton ist es ein letzter, verzweifelter Versuch, in einem gleichgültigen Universum einen Sinn zu finden. Doch jeder Schritt, den die Forschungscrew in Richtung des mysteriösen Abgrunds macht, führt sie tiefer hinein in eine unbekannte Gefahr. Denn letztendlich ist niemand auf das vorbereitet, was ihnen dort begegnen wird. Die atemberaubend spannende Vorgeschichte zum Science Fiction Bestseller »Infinitum« »Paolini liefert eine waschechte Space-Opera ab, welche die Herzen von Science-Fiction-Fans höherschlagen lässt.« Phantastik-couch.de über Infinitum

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 430

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Christopher Paolini

Fractal Noise

Mission ins Ungewisse

Aus dem amerikanischen Englisch von Anke Kreutzer und Barbara Häusler

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Im Jahr 2234 macht die Crew des Raumschiffs Adamura auf dem unbewohnten Planeten Talos VII eine unglaubliche Entdeckung. Sie finden einen riesigen kreisförmigen Abgrund, dessen Abmessungen so perfekt sind, dass sie nur einen Schluss zulassen: Die Grube muss künstlich angelegt worden sein. Ein kleines  Wissenschaftsteam soll mehr darüber herausfinden, wer die Senke gebaut haben könnte und warum. Schnell wird ihnen klar, dass die Erbauer keine Menschen gewesen sein können.

Für einige Forscher ist diese Mission die Chance ihres Lebens. Für andere ist es ein unkalkulierbares Risiko. Und für den Xenobiologen Alex Crichton ist es ein letzter, verzweifelter Versuch, in einem gleichgültigen Universum einen Sinn zu finden.

Doch jeder Schritt, den die Forschungscrew in Richtung des mysteriösen Abgrunds macht, führt sie tiefer hinein in eine unbekannte Gefahr. Denn letztendlich ist niemand auf das vorbereitet, was ihnen dort begegnen wird.

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Widmung

TEIL EINS

I

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

II

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

III

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

TEIL ZWEI

I

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

II

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

III

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

IV

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

V

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

TEIL DREI

I

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

II

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

TEIL VIER

I

1. Kapitel

2. Kapitel

II

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

ANHANG

GLOSSAR

Zeittafel

Nachwort & Danksagungen

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

Wie immer meiner Familie gewidmet.

Und all jenen, die zu nächtlicher Stunde in den Abgrund geblickt haben.

TEIL EINS

AHNUNG

Es ist ein schrecklich Ding zu lieben, woran der Tod kann rühr’n.

CHAIM STERN

I

PERSPEKTIVWECHSEL

1.

Am 25. Juli 2234 entdeckten sie die Anomalie.

Es herrschte Schiffs-Nacht in der SLF Adamura, alle Lichter waren aus oder doch zumindest gedimmt und auf Rotlicht umgestellt, um den Tag-Nacht-Rhythmus der Besatzung nicht zu stören. In den Korridoren und Räumen des Raumschiffs war es still … wenn auch nicht totenstill. Die Gebläse der Lebenserhaltungssysteme sorgten für ein konstantes Hintergrundsummen: ein einschläferndes weißes Rauschen, das sich der Wahrnehmung schnell entzog.

Außerhalb der Adamura entfernte sich der sandfarbene Gasgigant Samson in die schwarze Kulisse des Weltraums.

2.

Das Schiffslabor war eng. Gerätschaften wucherten förmlich aus den Wänden in die Raummitte, mit nur schmalen Laufgängen dazwischen. Durch die Computer war es warm und die Luft zum Schneiden stickig. Zahllose winzige Anzeigen erweckten den Anschein von auf den dunklen Maschinenpark verstreuten Sternbildern.

Alex Crichton saß an dem in eine Ecke gequetschten holografischen Display und versuchte, die Ergebnisse der Probe auszulesen, die sie gestern in die Atmosphäre von Samson abgelassen hatten. Kohlenstoff, Ammoniak, Methan … Die Liste verschwamm vor seinen Augen. Es war schon weit nach Mitternacht, aber er hatte seinen Bericht noch nicht geschrieben, den der Captain morgen früh gleich als Erstes erwartete.

Es wäre schlauer gewesen, ihn schon heute Nachmittag zu schreiben, bevor in seinem Kopf das Licht ausging. Ja, das wäre schlau gewesen, und Alex wusste es. Aber er hatte sich nicht dazu aufschwingen können, auch nur ein einziges Wort zu tippen. Wie an den meisten Tagen war er in seinen Wachphasen nur mäßig bis überhaupt nicht motiviert.

Nachts war es auch nicht besser: Ein gelegentlicher Anflug von Panik führte zwar zu einem kurzen Produktivitätsschub, aber selbst dann nur zu einer mäßigen Leistung. Er litt unter Schlafentzug, wollte aber keine Wachmacherpille wie Stimware nehmen. Wozu auch? Um sich besser zu fühlen? Das konnte er vergessen. Solange Captain Idris ihn nicht erneut zusammenstauchte, sah er keinen Grund, sich zusammenzureißen. Letzten Endes war ihm alles egal.

Das Holo vor ihm verschwamm, Zahlen traten zusammenhanglos aus dem Hintergrund hervor.

Alex machte die Augen ein paarmal auf und zu. Es half nichts. Zu kraftlos, um mit der Frustration fertigzuwerden, verschränkte er die Arme auf dem Kunststofftisch und legte den Kopf darauf. Eine schwarze Strähne fiel ihm über die Augen.

Wann hatte er sich das letzte Mal die Haare schneiden lassen? Vor drei Monaten? Vier? Irgendwann davor. So viel stand fest.

Er vergrub das Gesicht in der Armbeuge, und für eine ganze Weile war das Summen der Gebläse das einzige Geräusch im Labor.

3.

Davor.

Noch nie hatte ein Wort Alex dermaßen verfolgt. Vor dem Weggang von Eidolon. Vor dem Anheuern bei der Erkundungsexpedition. Vor der Beerdigung.

Davor.

Es war hell und sonnig gewesen in dem spartanischen Trauer-Center in Nurdachhaus-Architektur. So gleißend hell, wie man es sonst nur aus Albträumen kennt. Alle ihre Freunde hatten an dem Gottesdienst teilgenommen, seine und ihre. Ebenso ihre Familie. Das war das Schlimmste gewesen. Ihr Vater mit seiner dichten, struppigen Mähne, dessen Ratschläge und Beileidsbekundungen Alex an sich vorbeirauschen ließ. Ihre Mutter, eine kleine, zierliche Frau an seinem Arm, deren exaltiertes, zur Schau getragenes Weinen Alex zutiefst abstoßend fand. Natürlich meinten die beiden es gut. Wie auch nicht? Ihre einzige Tochter war tot, und da war er, lebendes Verbindungsglied zu dem Kind, das sie verloren hatten.

Dennoch war ihm ihr Wohlwollen ein Gräuel, jede Sekunde in ihrer Gegenwart Folter gewesen. Er ertappte sich, wie er an ihnen vorbei auf die Kirchenbänke aus dunklem Yaccamé-Holz starrte und im Licht, das durch die Ostfenster einströmte, mit den Augen die gestochen scharfen Kanten nachzeichnete – so wie sich ihm jetzt alles mit der schärfsten Klinge ins Bewusstsein ritzte: der Trauer.

An der Stirnseite des Centers stand ein schmuckloser Betonaltar und darauf das Einzige, was er nicht ansah, nicht ansehen konnte: die glänzende Titanurne, die er drei Tage zuvor ausgesucht hatte. Er war kaum bei der Sache gewesen, als ihm der Bestattungsleiter eine Reihe Alternativen vorführte. Wie alle Kolonisten, die auf Eidolon starben, war Layla eingeäschert worden. Asche zu Asche, Staub zu Staub … Die Vorstellung, wie die Flammen ihren Körper verzehrten, bereitete Alex körperlichen Schmerz. Es hatte etwas Obszönes, ihr Fleisch einer solchen Tortur auszusetzen und in einen Ofen des Bestattungsinstituts zu schieben, damit es darin verkochte, verdorrte und verkohlte.

Die Gedenkhelferin des Centers war eine ernste Frau mit Grabesmiene, die das Ritual mit offenbar als angemessen erachteter Gravität absolvierte. Sie sprach sehr lange und in bedächtigem Ton. Alex war für ihre Worte taub.

Im Anschluss brachte sie ihm die Urne. Ihre schlichte, graue Uniform war picobello, allerdings roch sie nach Konservierungsmitteln, als sei sie einbalsamiert worden. Der Geruch trieb Alex fast in die Flucht.

Das Gewicht der Urne zog ihn zu Boden und ans Ende aller Dinge. Es war ihm recht. Ein Leben hatte sein Gewicht. Ob alt oder jung, die Asche eines Menschen musste einem schwer in den Händen wiegen.

Doch obwohl er ihren Anblick gemieden hatte, sah Alex die Urne mit ihren glänzenden Rundungen immer noch vor sich, er spürte förmlich, wie sie nun zu Hause stand, mit dem ganzen Gewicht einer Wahrheit, die sich nicht leugnen ließ.

Und die er hasste.

4.

Ein leiser Piepton weckte Alex.

Er fuhr hoch und sah sich verwirrt um. Das Labor war noch genauso dunkel wie zuvor. Nichts hatte sich verändert.

Er rieb sich getrockneten Speichel aus dem Mundwinkel und checkte seine Overlays: 0214. Er sollte seit Stunden im Bett sein. Am Rand seiner Overlays wurde ihm eine neue Nachricht angezeigt. Er tippte darauf.

<Hey, komm mal rüber. Das glaubst du nicht. – Jonah>

Alex runzelte die Stirn. Wieso war Jonah noch wach? Der Kartograf war keine Nachteule. Niemand im Erkundungsteam, mit Ausnahme von Alex. Und wieso wollte er reden? Gewöhnlich legten die anderen keinen Wert darauf, mit ihm zu kommunizieren, was Alex durchaus entgegenkam. Reden kostete zu viel Energie.

Eine geschlagene Minute lang kämpfte er mit sich, ob er aufstehen sollte. Er hatte zwar keine Lust, bei aller Erschöpfung aber das Alleinsein satt. Zudem gestand er sich eine gewisse Neugier ein.

Schließlich hievte er sich aus dem kleinen Stuhl, der unter die Vorderkante des Tischs geklemmt war. Kaum stand er, schmerzte sein Rücken und pochte sein Knie; die alte Skiverletzung kam ihm dumm. Trotz aller Wunder der modernen Medizin gab es immer noch Dinge, die sich nicht reparieren ließen. Die Ärzte behaupteten, das Gelenk sei völlig in Ordnung. Es … tat einfach weh. Wie so vieles im Leben.

Alex nahm seine Teetasse – der Tee war inzwischen kalt, roch aber immer noch nach den Gewürzen darin – und verließ das dämmrige, in rotes Licht getauchte Labor.

Der Hauptkorridor war menschenleer. Hohl und einsam hallten seine Schritte auf dem grauen Metall, als wäre er der Letzte und Einzige auf der Adamura.

Er verzichtete darauf, den Summer zu betätigen, als er die Überwachungsstation erreichte, sondern drückte einfach nur den Schalter neben der Tür, woraufhin sie mit einem lauten Rasseln aufglitt.

Jonah blickte von seinem Display zu ihm auf. Das Licht aus dem Holo verlieh seinem Gesicht einen kränklich gelben Farbstich, und um seine Augen kräuselte sich ein Kranz feiner Fältchen wie Mündungen ausgetrockneter Flüsse. Sie erinnerten Alex an die Flüsse auf Eidolon. Er wünschte, sie täten es nicht.

»Du bist also tatsächlich wach«, sagte Jonah mit rauer, angespannter Stimme. »Sagen zumindest die Computer.«

»Und was ist mit dir?«

»War beschäftigt. Konnte nicht schlafen. Egal. Komm, sieh dir das an. Hab ein Mordsding diesmal.« Seine Augen glänzten vor fiebriger Energie.

Alex nippte an seinem Tee und stellte sich hinter Jonahs Schulter. Der Tee brannte auf den Lippen und im Mund und rieselte ihm die Kehle herunter.

Auf dem Display schwebte das Bild einer flachen braunen Ebene. Irgendwo in der nördlichen Hemisphäre von Talos VII, dem zweiten Planeten im System, vermutete er. In der Mitte hob sich ein kleiner dunkler Fleck wie ein Tintentropfen von der ansonsten leeren Landschaft ab.

»Das hier?«, fragte Alex.

»Genau«, bestätigte Jonah. Er berührte den Fleck und zog ihn auseinander, bis er das ganze Display ausfüllte.

Alex durchfuhr ein Adrenalinstoß. »Ach du Scheiße.«

»Allerdings.«

Der Fleck war gar kein Fleck, sondern ein Loch. Ein perfekt kreisförmiges Loch.

Das Brennen in Alex’ Augen verstärkte sich, je länger er darauf starrte. »Bist du sicher, dass das real ist? Könnte es nicht irgendein Schatten sein … eine optische Täuschung?«

Jonah berührte die Ränder des Hologramms und drehte es, sodass die Landschaft von allen Seiten sichtbar wurde. Der schwarze Bereich war definitiv ein Loch. »Ich hab es kurz nach dem Abendessen entdeckt, musste aber warten, bis ich Bilder aus einem anderen Winkel bekommen habe, um es hundertprozentig zu wissen.«

»Könnte es ein Krater sein?«

Jonah schnaubte. »In der Größe?«

»Wie groß ist es denn?«

»Fünfzig Kilometer von hier bis hier.« Jonah markierte zwei einander gegenüberliegende Punkte an den Rändern des Lochs.

»Auch du Scheiße!«

»Das sagtest du bereits.«

Ausnahmsweise ärgerte sich Alex nicht über seinen Ton. Ein Loch. Ein kreisförmiges Loch. Auf einem unbewohnten Planeten, vierzig Lichtjahre von der nächsten Kolonie entfernt. Zumindest nahmen sie an, dass er unbewohnt war. Alle Anzeichen hatten darauf hingedeutet, dass es sich bei Talos VII um einen toten, trockenen Planeten handelte. Es sei denn, es gäbe eine verborgene Lebensform. Oder eine so andersartige, dass sie nicht zu erkennen war.

Ihm trat der Schweiß unter den Achseln aus.

»Was meinte Sharah dazu?«

»Hab’s ihr noch nicht gesagt. Unser Schiffsgehirn braucht schließlich auch seinen Schlaf.«

»Lauten die Vorschriften nicht –«

»Ich melde es morgen früh. Sinnlos, irgendwas zu überstürzen, bevor ich nicht mehr Daten habe.« Jonahs Blick wechselte zwischen ihm und dem Display hin und her. »Konnte es aber trotzdem nicht für mich behalten. Musste es irgendwem sagen, und du bist hier schließlich der Xenobiologe. Also, was denkst du?«

»Ich … ich weiß nicht.«

Sollte das Loch eine artifizielle Struktur sein, wäre es der erste konkrete Nachweis für intelligente Außerirdische mit Bewusstsein. Klar, es hatte Gerüchte und Hinweise gegeben, sogar schon vor der hutterischen Expansion, aber nie etwas Substanzielles. Nie irgendetwas Eindeutiges.

Alex starrte ins Zentrum dieses Abgrunds und schluckte. Das Ganze war zu groß, zu makellos symmetrisch. Trotz all der Fortschritte der letzten Jahrhunderte glaubte er nicht, dass Menschen ein solches Loch schaffen konnten. Dafür hatten sie einfach nicht die Zeit oder Energie. Und wozu auch? Perfektion setzte einen ernsthaften Zweck voraus, und dafür gab es nur ein paar wahrscheinlich erscheinende Möglichkeiten: Fortführung wissenschaftlicher Forschung, Abwehrmaßnahme einer existenziellen Bedrohung, Erfüllung eines religiösen Bedürfnisses oder Funktion als Kunstwerk. Jede Spezies, die es sich leisten konnte, ein solches Maß an Ressourcen für ein nicht lebensnotwendiges Projekt aufzubringen, wäre in der Lage, mühelos jede menschliche Siedlungsform zu zerstören, einschließlich der Erde.

Perfektion war mithin eine Warnung, ihr unbedingt Beachtung zu schenken.

Als Jonah das Bild kippte, ergriff ihn Schwindel. Alex packte die Kante des Displays, um sich abzustützen und zu versichern, dass er noch immer fest in der Adamura stand.

Das Loch machte ihm Angst. Dennoch musste er es weiter anstarren. »Warum haben wir es nicht früher bemerkt?«

»Zu weit entfernt, außerdem hatten Yesha und ich keine Zeit. Wir hatten vollauf damit zu tun, die ganzen Monde um Samson zu kartografieren.«

»Bist du ganz sicher, dass es kein Krater ist?«

»Ausgeschlossen. Die Krümmung der Kante weist Abweichungen von weniger als einem halben Meter auf. Genauer kann ich das erst sagen, wenn wir näher dran sind und ich einen besseren Scan davon kriegen kann. Aber das ist nichts Natürliches, so viel kann ich schon sagen.«

»Wie tief ist es?«

»Noch mal, ich weiß es nicht. Noch nicht. Tief. Können Kilometer sein.«

Alex’ Achselhöhlen wurden noch feuchter. »Kilometer.«

»Tja … Wenn es ist, wonach es aussieht –«

»Was auch immer zum Teufel es ist.«

Jonah sprach einfach weiter. »Wenn es ist, wonach es aussieht, sprechen wir über eine der bedeutsamsten Entdeckungen der Geschichte. Gleichauf mit FTL. Mann, selbst wenn es tatsächlich bloß ein großes Loch ist, werden wir in jedem Bericht von hier bis zur Erde erwähnt.«

»Mhm.«

»Was denn? Meinst du nicht?«

»Nein, es ist nur … Wenn das geschaffen wurde, wo zum Henker sind dann die, die es gemacht haben?«

5.

Alex saß auf der Schlafkoje seiner Kabine und starrte auf seine Hände. Mit einem Gefühl der Angst öffnete er die Lade neben seinem Kopfkissen und nahm den würfelförmigen Holocube heraus.

Fast zwei Wochen hatte er ihn nicht angesehen, bisher die längste Zeitspanne. Er hätte es wohl noch ein paar Tage länger geschafft, wäre da nicht Jonahs Entdeckung … wäre da nicht dieses unmögliche Loch.

Jetzt aber musste Alex sie einfach sehen. Auch wenn er wusste, dass es wehtun und es ihm danach schlechter als vorher gehen würde. Er kam sich vor wie ein Junkie, der nach einem Schuss lechzt – nur noch einen, ja, bitte! Die Nadel in die Wunde rammen, sie tief in den Schmerz bohren und das Feuer durch seine Adern strömen lassen. Er hasste sich dafür, konnte es jedoch nicht lassen.

Aus dem Cube sah ihn der Geist von Laylas Gesicht an. Wie immer war es ihr Gesichtsausdruck, der ihm den Atem verschlug: fröhlich und kokett, als wollte sie ihn necken. Was sie auch getan hatte, als das Bild aufgenommen wurde. Sie hatten eine Fahrt außerhalb ihrer Kuppel unternommen, den Grenzzaun entlang. Die Sonne schien warm, Glitzerkäfer zischten geräuschvoll und funkelnd wie edelsteinartige Farbsplitter durch die Luft – und ihr Lächeln … ach, ihr Lächeln. Als sie sich zu ihm umdrehte, hatte er sich für den glücklichsten, anziehendsten Mann der Galaxie gehalten und sie für die bezauberndste, hinreißendste Frau. Was sie alle beide, ehrlich gesagt, mitnichten waren, aber er hatte es so empfunden, und das hatte ihm gereicht.

Ich hätte mitgehen sollen. Ich hätte –

Er versuchte, den Gedanken auszublenden, aber er wollte nicht weichen: ein böses Mantra, das sich in Endlosschleife wiederholte.

Er drehte den Cube in den Händen, presste sich die Ecken und Kanten des Würfels in die Handflächen, als wollte er sich die Haut aufschlitzen. Der physische Schmerz verschaffte ihm Erleichterung.

Sein Kopf sank tiefer. Erneut konnte er spüren, wie das Gewicht der Urne ihn nach unten zog.

Hin und wieder beschloss das Universum, ein Leben in Stücke zu reißen und auf den Fetzen herumzutrampeln. Und man konnte nichts dagegen tun, außer zu fragen: »Was nun?«

Das hatte er sich in den vergangenen vier Monaten seit dem Unfall sehr oft gefragt. Wie sollte er weitermachen? Wie sollte er funktionieren, als gäbe es diesen gigantischen, gähnenden Abgrund in ihm nicht, in dem sich alles, was er als gesichert und verlässlich betrachtet hatte, aufgelöst hatte? Wie sollte er so tun, als wäre er wieder normal?

Alex wusste es nicht. Er fragte sich oft, was passieren würde, wenn er einfach ein Ende machte. Wen würde das auch nur das Geringste kümmern? Seine Eltern nicht, so viel stand fest. Sie hatten keinen Funken Interesse an seinem Leben gezeigt, nachdem er Stewart’s World verlassen hatte. Er bezweifelte, dass sein Tod daran etwas ändern würde. Für sie war er bereits gestorben. Aus den Augen, aus dem Sinn. Ganz pragmatisch.

Zwei Wochen nach dem Gottesdienst im Trauer-Center hatten seine angeheirateten Verwandten darauf bestanden, ihn mit in die Kirche zu nehmen. Selbst unter normalen Umständen hätte er das befremdlich gefunden. Bevor er Layla kennenlernte, hatte er so gut wie nie irgendeine religiöse Einrichtung betreten – geschweige denn eine so offizielle wie eine Kirche. Und er hatte sich auch danach nicht daran gewöhnt, obwohl sie ihn an allen Feiertagen in Gottesdienste geschleppt hatte (regelmäßige Sonntagsbesuche hatte er abgeschmettert, obwohl es ihm die Arbeit durchaus gestattet hätte).

Die Kirche gehörte zu den Reformierten Hutterern, ihr Prediger gehörte zu dieser alten Spezies mit Falten und Bart. Er verzichtete standhaft auf Stammzellinjektionen, da er der Überzeugung war, der natürliche Alterungsprozess würde einen Gott näherbringen. Im weiteren Verlauf ließ er sich zu den üblichen hutterischen Themen aus, was auf einen Sermon über die Segnungen der Bedürfnislosigkeit hinauslief.

An derlei hatte Alex keinen Bedarf. Sollte Gott existieren, schätzte er ihn nicht so ein, dass er sich von Entsagung beeindrucken ließ. Bestimmt nicht! Wenn es ihn gab, dann war dieser Gott ein boshafter Witzbold, entschlossen, aus ihnen allen Hiobs zu machen.

Nach diesem verordneten Gottesdienst war er schnurstracks nach Hause gegangen und hatte sich für die nächste verfügbare Expedition verpflichtet. Hauptsache, weg von Eidolon und den dort eingeäscherten Hoffnungen, Träumen und Erinnerungen.

Doch das Weggehen hatte nicht geholfen. Sosehr er sich auch konzentrierte, so viele Stunden er auch übernahm, der Abgrund in ihm klaffte weiter, mit einer brabbelnden, stumpfsinnigen Version seiner selbst als Bodensatz. Es fehlte nicht viel, um ihn ganz in diese Dunkelheit zu stoßen, dabei fühlte er sich meistens einfach nur müde und erschöpft.

Die Existenz eines außerirdischen Artefakts auf Talos änderte daran nichts.

Natürlich machte es ihm Angst. Wie auch nicht? Aber er hatte kein besonderes Verlangen, das Loch zu untersuchen. Seine Neugier war allenfalls noch das schwache Glimmen eines Dochts in einer letzten Lache Wachs. Selbst davor hatte er sich nie von hochfliegenden Idealen leiten lassen. Er gehörte nicht zu denen, die davon träumten, empfindungsfähige Aliens zu entdecken oder durch die Untersuchung fremdartiger neuer Lebensformen etwas über die tiefen Geheimnisse des Universums zu erfahren. Xenobiologie war ein Job für ihn, weiter nichts. Ihm gefiel der Puzzle-Aspekt seiner Arbeit, größtenteils war sie jedoch lediglich ein Mittel, um seine Rechnungen zu bezahlen. Und das hatte ihm gereicht.

Jetzt … war es anders. Nichts reichte. Die Arbeit nicht, und ganz bestimmt nicht das Loch. Ginge es nach ihm, würde er noch ein paar Ablesungen vornehmen und dann einfach gehen. Sollte das Loch doch analysieren, wer sich dafür interessierte. Er wollte einfach nur aufhören zu denken und etwas zu empfinden. Irgendwie. Unbedingt.

Layla hätte sich dafür interessiert. All die anspruchsvollen Denkmodelle, die er so oft als unrealistisch und unbrauchbar weit von sich gewiesen hatte, dafür war sie Feuer und Flamme gewesen. Stundenlang hatte sie über die Möglichkeit gesprochen, auf intelligentes Leben zu stoßen; über die Philosophie der Exploration und überhaupt darüber, was es für die Menschheit bedeuten würde, endlich zu wissen, dass sie im Universum nicht allein war. Er hatte sie für ihre Leidenschaft bewundert, auch wenn er sie nie wirklich verstand.

Rational und intellektuell konnte er ihre Überzeugungen natürlich nachvollziehen, aber er empfand einfach nicht so wie sie, was es ihm schwer machte, ihre Standpunkte wirklich zu akzeptieren. Meist hatte das nicht zu Konflikten zwischen ihnen geführt, aber wenn …

Er presste die Lippen zusammen, atmete schwer.

Das Holo flimmerte, als er den Cube hin und her kippte.

»Aliens«, flüsterte er. »Empfindungsfähige Aliens.«

Diese Neuigkeit hätte sie begeistert … nein, mehr als das, sie wäre ausgeflippt. Von so etwas wie dem Loch hatte sie immer geträumt. Er sah ihr aufgeregtes Lächeln vor sich und wusste, dass nichts und niemand sie davon hätte abhalten können, das Gebilde zu untersuchen.

Ihr Lächeln … ihm traten die Tränen in die Augen. Er packte den Holocube mit beiden Händen, so fest er konnte, beugte sich darüber und spürte die Leerstelle in der Welt, die sie hinterlassen hatte.

Den Cube noch immer umklammert, schlief er ein. Die Tränen trockneten auf seinen Wangen. Sein letzter wacher Gedanke war ihr Name.

Layla …

II

FRAGEN

1.

Lautes Hämmern weckte Alex. Es donnerte an die Kabinentür und mit jedem Schlag an seinen Kopf.

»He! Beweg deinen Hintern, Crichton! Du bist spät dran. Briefing in der Kantine. Mach hin!« Es war Yesha, mit der üblichen Mischung aus Verärgerung, Ungeduld und Überheblichkeit im Ton.

Ihre Schritte entfernten sich, es herrschte wieder Stille. Wohltuende Stille.

Alex starrte an die dunkle Wand zu seinen Füßen. Die Lichter waren noch immer aus. Sein Kiefer pochte dumpf. Er musste im Schlaf mit den Zähnen geknirscht haben. Wieder einmal. Wenn er so weitermachte, war bald ein Zahnarztbesuch fällig.

Wenn er weitermachte.

Das Loch kam ihm in den Sinn, schwarz, gewaltig, makellos rund. Es fühlte sich groß genug an, um seine sämtlichen Gedanken zu schlucken – all seine Ängste und Qualen. Restlos.

Es wäre schön, frei zu sein.

Er richtete sich auf und setzte sich auf den Rand der Koje. Er fühlte sich schwerfällig und träge. Ausgelaugt. Er hätte das Briefing in der Kantine am liebsten ignoriert und sich wieder hingelegt, selbst wenn es ihn die Expedition kostete.

Doch er wusste, dass Layla an seiner Stelle hingegangen wäre. Sich sämtliche Daten angesehen und alle erforderlichen Fragen gestellt hätte. Und da sie es nicht konnte … würde er es für sie tun, ihrem Andenken zu Ehren. Es war alles, was ihm blieb.

Er tastete hinter sich, bis er unter den verknäulten Decken den Holocube gefunden hatte, und legte ihn, ohne noch einmal draufzuschauen, in die Lade zurück.

Dann zwang er sich, aufzustehen.

2.

Stimmengewirr schlug Alex entgegen, als er die Kantine betrat. Unter diesem Lärmpegel und der brutalen Vollspektrumsbeleuchtung des Schiffstags zuckte er zusammen. Am liebsten hätte er auf der Stelle kehrtgemacht, um wieder in die dämmrige Geborgenheit seiner Kabine zurückzukehren. Doch er zwang sich, weiterzugehen, ohne sein pochendes Knie zu beachten.

Die Kantine war der Gemeinschaftsraum auf der Adamura – bei voller Besetzung klein und klaustrophobisch eng. Die gesamte Crew hatte sich um den weißen Tisch in der Raummitte gequetscht, alle zwölf. Fünf Frauen und sieben Männer, ein bunt zusammengewürfelter Haufen unterschiedlicher Haar- und Hautfarben und verschiedener Akzente. Nur drei von ihnen – darunter Alex – kamen vom selben Planeten: Stewart’s World. Aus irgendeinem Grund brachte dieser mehr Wissenschaftler und Forscher als andere hervor.

Und keiner stammte von Eidolon. Auch Alex nicht, er war lediglich einer der seltenen Umsiedler gewesen. Er verzog den Mund zu einem bitteren Lächeln. Wer wollte auch schon im Paradies leben, wenn einen dieses Paradies so spielend leicht umbringen konnte? Hätte er Layla doch bloß zum Weggehen überreden können …

Auf dem Tisch erwartete ihn eine Projektion des Lochs auf Talos VII. Der erneute Anblick des gähnenden Schlunds trug nicht gerade dazu bei, ihn zu beruhigen. Irgendetwas stimmte nicht mit diesem Loch. Artefakte waren einfach nicht so groß und so exakt. Sterne, ja. Planeten, ja. Aber keine gottverdammte Aushebung am Rand des bekannten Weltraums.

Pushkin, ihr Geologe, saß zwischen Wand, Stuhl und Tisch eingeklemmt. Er war doppelt so breitschultrig wie alle anderen im Raum und mehr als doppelt so dick – normale Anpassungen für jemanden, der auf dem Planeten Shin-Zar mit seiner starken Schwerkraft aufwuchs. Doch in Pushkins Fall war der Umfang zu gleichen Teilen Muskeln und Fett geschuldet. Ständig jammerte er, auf der Adamura dahinzusiechen. Ob er tatsächlich abgenommen hatte, konnte Alex jedoch nicht sagen.

Der Geologe trug einen kunstvoll gemusterten, oben offenen Seidenmorgenmantel, der den Blick auf einen kräftigen, behaarten und wohlgebräunten Brustkorb freigab. Dieses Outfit verstieß gegen die Regeln – im Dienst sollten alle die Firmen-Uniform tragen: dunkelblaue Overalls mit dem Logo von Hasthoth Conglomerate auf der linken Brust. Aber hierüber mit Pushkin zu debattieren war vergebliche Liebesmühe. Mit dem größten Vergnügen redete er einen in Grund und Boden.

Gerade schlug er mit der flachen Hand auf die Tischplatte und sagte: »– und ich verstehe nicht, warum das Schiff nicht umgedreht hat. Wir haben schon genug Daten gesammelt, um –«

»Du bist einfach ein Feigling«, blaffte ihn Talia in ihrem gewohnten Ton an. Sie war die Astrophysikerin auf der Expedition, dünn wie eine Messerklinge und mit einem glühenden, starren Blick. Der äußere Eindruck trog nicht: Den gesamten Flug über war sie hoch konzentriert, streitbar und kühl wie ein Eisblock gewesen.

Pushkins gutmütiges Lächeln entblößte seine schaufelartigen Zähne. »Nein, meine Liebe. Im Gegenteil. Ich verfüge lediglich über einen ausgeprägten – wie nennt ihr das? – Selbsterhaltungstrieb. Etwas, das dir offenbar fehlt. Es wäre klug, dieses System zu verlassen. Wahrscheinlich stehen wir unter Beobachtung, seit wir FTL verlassen haben. Nach allem, was wir wissen, könnten jeden Moment Außerirdische angreifen. Wir haben hier eine Verantwortung, nämlich die, nicht in die Luft gejagt zu werden und alle anderen zu warnen.« Seine Lippen zuckten. »Auch die Allianz.« Sein spöttischer Ton überraschte Alex nicht. Die Bewohner von Shin-Zar waren nicht besonders angetan von der Solaren Allianz, weshalb ihr Planet (jedenfalls bis jetzt) auf dem Erhalt seiner Unabhängigkeit beharrte.

Talia verzog das Gesicht, zerknäulte ihre benutzte Serviette und pfefferte sie aufs Schiffsdeck.

»Hey!«, schrie Jonah und machte einen Satz zurück. Sein Overall war zerknittert, das Haar zerzaust, und er hatte dunkle Ringe unter den Augen. Alex vermutete, dass er die ganze Nacht auf gewesen war. Kein Wunder also.

Talia zeigte mit dem Finger auf Pushkin. »Wie gesagt, Feigling.« Das Wort brannte wie glühende Kohle. »Wir haben allerdings eine Verantwortung – und zwar, dieses Konstrukt zu untersuchen. Sollten Aliens vorhaben, anzugreifen, dann werden sie es tun. Wir müssen jetzt herausfinden, so viel wir können, bevor es zu spät ist.«

»Scheiß auf Verantwortung«, schaltete sich Yesha ein, die neben Jonah saß. Ihr Erscheinungsbild war so schrill wie ihre Stimme: Stachelfrisur, blaue Tattoos von irritierender Leuchtkraft und ein konstantes spöttisches Grinsen. »Was ist mit unserer Bezahlung? Wenn wir früher abhauen, kündigt die Firma dann unsere Verträge?«

»Es reicht«, wies sie Captain Idris vom Kopfende des Tischs aus in die Schranken. Zwei Worte, und in der Kantine wurde es still.

Idris verkörperte den Typus des Ersten Offiziers, wie ihn Alex von anderen Raumschiffen kannte: groß, breitschultrig, intelligent, gut aussehend und bis zur gesetzlich zulässigen Grenze genetisch verändert, wenn nicht darüber hinaus. Man hätte meinen können, sie würden alle aus einer identischen Form ausgestanzt, und jeder von ihnen trat an, um die Ränge aufzusteigen. War diese Gleichförmigkeit vererbt? War es die Erziehung? Folgte sie sozialen Stereotypen? Oder lag es schlicht an der Genveränderung? Was es auch war, Idris’ Auftreten und Haltung trugen nicht dazu bei, Alex’ Stimmung zu heben.

Er war sicher, dies beruhte auf Gegenseitigkeit.

Der Captain lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und zog seine goldbestickten Manschetten zurecht. Mit einem kurzen, gezielten Blick quittierte er Alex’ Zuspätkommen. Mist.

»Jonah, fahren Sie fort«, sagte Idris.

»Jawohl, Sir.« Jonah nickte. »Also, Infrarot zeigt, dass am Boden des Lochs fast siebenhundertsiebzig Grad Celsius herrschen. Könnte geothermisch sein, in dem Fall wäre das Loch aber sehr tief. Echt tief. Wenn nicht …« Er zuckte mit den Achseln. »Dann gäbe es da unten irgendeine Art von Reaktor.«

»Hast du irgendwelche Strahlung aufgefangen?«, fragte Riedemann. Der Maschinenmeister hatte sich auf einem Schreibblock Notizen gemacht. In dieser Hinsicht war er altmodisch.

Jonah zögerte. »Schon.« Er sah zur Decke. »Sharah, willst du es ihnen sagen?«

Aus den Lautsprechern über ihnen ertönte die künstliche Stimme des Schiffsgehirns, trocken und leicht amüsiert. »Wie du wünschst.«

Die Adamura konnte von Glück sagen, dass sie Sharah hatte. Die meisten Forschungsraumschiffe mussten mit Pseudointelligenzen auskommen, ein bescheidener Ersatz. Alex hatte allerdings für das Schiffsgehirn wenig übrig. Den ganzen Flug schon hatte sie ihn damit genervt, er solle sich mehr bewegen, mehr unter Leute gehen, öfter den Arzt aufsuchen. Mehr, mehr, mehr, mehr. Ohne Zweifel sorgte sie sich um seine psychische Verfassung, doch er hatte die Einmischung satt. Schiffsgehirne glaubten immer, es am besten zu wissen, und das möglicherweise aus gutem Grund, aber wenn er unglücklich sein wollte, ging das nur ihn etwas an.

Das Hologramm in der Tischmitte flackerte, und ein nachgestelltes Profil von Sharah trat an die Stelle des außerirdischen Artefakts. Kurzes schwarzes Haar, breite Wangenknochen, kantiges Kinn und derart blaue Augen, dass dies unmöglich ihre ursprüngliche Farbe gewesen sein konnte.

Sharah öffnete den Mund und runzelte die Stirn. Einen Augenblick später verschwand ihr Kopf, und ihr ganzer Körper erschien: dreißig Zentimeter groß und in grauer Arbeitsuniform.

»Sorry, ich hasse es, körperlos zu sein«, drang ihre viel zu ebenmäßige Stimme aus den Lautsprechern.

Dann hättest du kein Schiffsgehirn werden sollen, dachte Alex.

Sharah verschränkte die Hände hinter dem Rücken wie bei einer Inspektion. »Auf Jonahs Wunsch hin habe ich Talos gescannt und bin sämtliche Messwerte durchgegangen, die wir von dem Planeten ermittelt haben. Abgesehen von dem Loch selbst habe ich keinen Hinweis auf eine Raumfahrt- oder gar postindustrielle Zivilisation gefunden. Keine thermischen Signaturen, keine elektromagnetischen Emissionen und keine ungewöhnlichen Spektralmesswerte. Es gibt einige Hinweise auf Leben an der Oberfläche: Sauerstoff, Ammoniak, Methan, Kohlensäure. Nicht gerade viel, aber immerhin – das spricht eher für  niedere Pflanzen wie Algen als für Wirbeltiere oder andere komplexe Organismen. Andererseits wussten wir das bereits aus unseren astronomischen Erhebungen.«

Während sie sprach, bahnte sich Alex einen Weg zur Rückseite der Kantine und machte sich einen Instantkaffee. Er nahm einen Schluck und versuchte, den metallischen Geschmack auszublenden. Dieses gefriergetrocknete Zeug schmeckte nie.

»Irgendwelche Gravitationsbesonderheiten?«, wollte Talia wissen.

»Die gravimetrischen Messungen entsprechen einem Planeten der Größe und Dichte von Talos Sieben.«

»Eventuell sollten wir was hinsenden –«

»Die einzige Anomalie, auf die ich gestoßen bin«, unterbrach sie Sharah, »ist der Ausstoß von statischen Impulsen – hochfrequente Signalwellen von dreihundertvier Megahertz, um genau zu sein –, die alle zehn Komma sechs Sekunden aus dem Loch dringen. Dauer: null Komma zweiundfünfzig Sekunden. Energie: circa achtundfünfzig Komma sieben Terajoule oder einhundertdreißig Terawatt, wenn euch das lieber ist.«

Die Anspannung im Raum stieg.

»Das ist verdammt viel Energie«, bemerkte Riedemann. Er kaute auf der Unterlippe und hatte die dichten Augenbrauen gerunzelt.

Alex sah ihm an, wie er die Zahlen im Kopf überschlug. Alex wusste nicht genau, wie viel einhundertdreißig Terawatt waren, aber wenn das Riedemann beeindruckte – dessen Job es war, die Maschinen und anderen Systeme auf der Adamura zu überwachen –, beeindruckte es ihn auch.

»Sie verteilt sich auf eine ziemlich große Fläche«, sagte Sharah. »Aber richtig, es ist eine Menge Energie.«

»Warum haben wir das Ding nicht früher entdeckt?«, fragte Chen.

Alex vergaß dauernd, dass er ebenfalls zur Crew gehörte. Anders als Talia oder Pushkin – oder selbst Riedemann – wirkte der Chemiker vollkommen unauffällig. Sein Gesicht war nichtssagend und wenig markant, und ihm fehlte die Körperlichkeit der anderen. Selbst sein Akzent war unmöglich zuzuordnen. Als wäre er ein anonymer Platzhalter, der darauf wartete, durch den eigentlichen Funktionsinhaber ersetzt zu werden.

Die Antwort kam von Idris. »Zu viele Interferenzen durch Samson und seine Monde. Außerdem befand sich bis vorgestern Theta P. zwischen uns und Talos.«

Theta Persei war der lokale Stern, gelbweiß und langweilig.

»Nicht nur das, der Impuls ist konzentrierter und gerichteter, als man annehmen könnte«, sagte Sharah. »Hätte ich mir das nicht genauer angesehen, hätte es noch ein paar Tage gedauert, ihn auszumachen.«

»Dreihundertvier Megahertz«, sagte Talia. »Das ist fast genau ein Meter. Eine gute Wellenlänge, um durch die Atmosphäre zu senden.«

»Das Loch strahlt möglicherweise noch andere Frequenzen ab«, erklärte Sharah. »Das können wir aber erst feststellen, wenn wir näher dran sind.« Ihre verkleinerte Gestalt begann auf dem Tisch auf und ab zu gehen. Wo ihre Füße über die Ränder des Projektors hinausgerieten, lösten sie sich in Luft auf. »Und noch etwas. Ich habe den elektromagnetischen Impuls mit allen Programmen und Algorithmen meiner Speicherbank überprüft. Ungeachtet des ersten Anscheins hat er doch eine zugrunde liegende Struktur. Es war ein bisschen schwierig, ihr auf die Spur zu kommen, wie in einem trinären Code – so etwas ist nicht unmittelbar ersichtlich. Aber ich habe es gefunden. Das Signal ist fraktal. Tatsächlich handelt es sich um eine hoch entwickelte Entsprechung zur Mandelbrotmenge.«

Einen Moment lang herrschte Schweigen.

Dann sagte Riedemann: »Es ist kein Loch, sondern ein Lautsprecher!«

3.

Alex beschlich eine seltsame Mischung aus Angst, Erleichterung und Enttäuschung. Die Angst … nun, die war nichts Neues. Doch er war erleichtert, dass das Loch einen vollkommen nachvollziehbaren Zweck haben könnte. Und enttäuscht, weil dieser Zweck so banal war. Ein Lautsprecher, auch ein monströs großer, war wohl kaum etwas Außergewöhnliches.

Die Enttäuschung überraschte ihn. Ihm war nicht bewusst gewesen, dass ihn das Loch so sehr interessierte und er sich mehr von ihm versprochen hatte. Was genau, konnte er nicht sagen. Vielleicht eine Antwort. Oder eine lohnenswerte Frage. Irgendetwas, das größer und bedeutender war als die graue Qual der Existenz.

»Wie viele Wiederholungen?«, fragte Talia. »Wie tief geht die Menge?«

»Darüber bin ich mir noch nicht schlüssig«, antwortete Sharah. »Ich habe noch nicht herausgefunden, wo in der Menge sich das Signal befindet. Die Sequenz ist ziemlich eindeutig, aber die exakte Position in der Mandelbrotmenge … kenne ich noch nicht. Doch sie ist tief, tiefer, als ich berechnen kann. Das Signal könnte einen tagelangen Zyklus haben. Einen jahrelangen. Vielleicht stoppt es nie.«

Auf der anderen Tischseite räusperte sich Korith. Seit er an Bord der Adamura gegangen war, hatte Alex kaum mit dem Arzt gesprochen, er schien aber ein netter Kerl zu sein. Auf eine Weise jung, die nichts mit dem Alter zu tun hatte. Ihm fehlte diese Spur von Traurigkeit, die Alex inzwischen in denen wiedererkannte, die einen schweren Verlust überstanden hatten.

Überstanden … Durchlitten traf es wohl eher. Und mit welchem Ausgang?

»Weshalb die Mandelbrotmenge?«, fragte Korith. »Was könnten sie mitteilen wollen?«

»Dass sie sich mit höherer Mathematik auskennen?«, schlug Talia achselzuckend vor.

Es knisterte laut und enervierend, als Pushkin einen der rationierten Dessert-Riegel aus der Folie wickelte. Dem Anschein nach Käsekuchen. »Wahrscheinlicher ist, dass das Signal eine Warnung ausdrückt. Ein gigantischer Aufruf an den Rest der Galaxie: Bleibt weg!Dringt hier ein, und ihr findet nur den Tod.« Er biss ein Stück ab.

»Kannst du es uns mal vorspielen?«, bat Jonah Sharah.

Sie wirkte überrascht, nickte dann aber, und ein unheimliches, fluktuierendes Jaulen drang aus den Wandlautsprechern. Es klang wie künstlicher Walgesang oder wie Aufnahmen von der kilometrischen Strahlung, wie sie die Ringe von Gasgiganten erzeugen.

Beim Anhören des mysteriösen Gezwitschers kribbelte es Alex im Nacken. Alle im Raum hatten diesen Glanz in den Augen; jeder wusste, dies war ein historischer Moment. Zum ersten Mal hatten sie – hatte überhaupt jemand – ein Signal von einer anderen Spezies vernommen.

Nach einer halben Minute verstummte es. »Das reicht fürs Erste«, sagte Sharah.

Eine Weile sprach niemand ein Wort.

Captain Idris meldete sich als Erster. »Nachdem Sharah darauf gestoßen ist, habe ich angeordnet, auf allen sinnvollen Frequenzen eine kurze Grußbotschaft auf Englisch, Mandarin und Conlang Sieben zu senden und im Anschluss eine sowohl binäre als auch trinäre mathematische Reihe. Bisher gab es noch keine Reaktion.«

Pushkins Gesicht zuckte alarmiert. »Kommt mir nicht sehr weise vor … Sir.«

»Wenn die Aliens wachsam sind, haben sie uns schon geortet«, erwiderte Idris. »Das Signal könnte also auch freundlich sein.«

Pushkin machte schon den Mund auf, als wollte er widersprechen, ließ es dann aber sein.

Yesha hob die Hand. Ihre Nägel waren splittrig. Sie hatte die üble Angewohnheit, beim Lesen daran zu kauen. Ständig fand Alex Nagelschnipsel von ihr im Labor. »Sharah, was ist mit den Planeten, die wir nicht so detailliert untersucht haben? Könnte es dort auch solche Artefakte geben?«

Das Schiffsgehirn zögerte. »Möglich, aber wenn, dann sind sie nicht aktiv. Nachdem ich mir Talos Sieben angesehen hatte, habe ich mir noch einmal sämtliche Daten vorgenommen, die wir seit unserer Ankunft im System gesammelt haben. Bislang habe ich nichts Neues entdeckt. Sollten weitere Strukturen existieren – Löcher, Raumstationen, Raumschiffe, Siedlungen –, wurden sie entweder aufgegeben oder liegen zu tief unter der Oberfläche verborgen, um sie zu orten.«

Chen sah Alex mit einem matten, teilnahmslosen Blick an. »Könnte … keine Ahnung, könnte das Loch eine Art Emergenzphänomen sein? Wie ein Termitenhügel?«

Pushkin lachte laut auf. »Wieso fragst du ihn das überhaupt? Alles ist ein Emergenzphänomen, Chen. Sogar du bist eins, und wenn du das nicht weißt, war deine Ausbildung ein noch größerer Reinfall, als ich dachte.«

»He, halt an dich«, begehrte der Chemiker auf.

Talia schnaubte verächtlich. »Ein Zufallsprozess im Universum kann nichts vergleichbar Komplexes hervorbringen wie der Mensch. Und schon gar nicht dieses Loch.«

Pushkin bedachte sie mit einem herablassenden Lächeln und kämmte sich mit den Fingern Krümel aus dem Bart, der sein Doppelkinn bedeckte. »Meine liebe Fanatikerin, nur für den Fall, dass dich dein Glaube blind für die eindeutigen Realitäten entropischer Prozesse macht, heißt das nicht, dass –«

»Das könnt ihr später diskutieren«, ging Idris in einem Ton dazwischen, der keinen Widerspruch duldete. Er war der Einzige, der Pushkins Schwachsinn Einhalt gebieten konnte. Wahrscheinlich, vermutete Alex, weil er ihre Leistungsberichte unterzeichnete.

Mit einem unbekümmerten Abwinken seiner paddelgroßen Hand lenkte der Geologe ein.

Talia funkelte ihn wütend an, hielt aber den Mund.

Eine unbehagliche Pause trat ein, bis Alex begriff, dass Chen – wie die restliche Crew – immer noch darauf wartete, dass er die Frage beantwortete. Er suchte nach Worten. »Äh … Also, ich meine, es könnte sich durchaus um ein emergentes Phänomen handeln, allerdings … würde das einen Grad an Selbstorganisation voraussetzen, den wir bis jetzt nur an Menschen oder Maschinen gesehen haben.«

Idris nickte. »Wir haben hier also etwas vor uns, das von empfindungsfähigen Aliens geschaffen wurde. Kapiert.«

Eventuell. Doch bevor Alex seine Zweifel äußern konnte, fragte Leutnant Svana, die für Idris’ Entlastung und im Bedarfsfall seine Stellvertretung zuständig war, in einem ihrem Rang gemäßen Ton: »Und was machen wir jetzt, Sir?«

Alex war gespannt.

Idris stützte die Ellbogen auf den Tisch und faltete die Hände. Er trug einen wuchtigen Siegelring am linken kleinen Finger und spielte geistesabwesend daran herum. »Das ist die Frage. Sie haben recht, Pushkin –«

»Ah, danke.«

»– wir müssen alle zu Hause warnen. Allerdings ist die Gesetzeslage eindeutig. Solange wir mit keiner offenkundigen und aktuellen Gefahr konfrontiert sind, dürfen wir keinem von Menschen besiedelten Gebiet Meldung machen, bis wir mindestens fünf Lichtjahre von der xenogenetischen Präsenz entfernt sind. Jedenfalls, wenn wir nicht die nächsten zwanzig Jahre im Gefängnis verbringen wollen. Ab sofort also absolute Funkstille.« Er richtete einen Finger auf Yesha. »Keine Tagesmeldungen mehr zum Mars.«

Sie verdrehte die Augen.

Das war eine vernünftige Vorsichtsmaßnahme. Niemand wollte potenziell feindlich gesinnte Aliens zur Erde führen. Eine FTL-fähige Spezies hätte zwar vermutlich keine größeren Schwierigkeiten, Sol zu lokalisieren, falls sie es wirklich wollte, es gab jedoch keinen Grund, es ihr zu erleichtern.

»Zur Sicherheit«, fuhr Idris fort, »habe ich Sharah angewiesen, einige Notsignale zum Markov-Limit abzusetzen. Sollte der Adamura irgendetwas zustoßen, werden diese eine Tightbeam-Salve mit all unseren Aufzeichnungen zu Cygni schicken.«

Auf 61 Cygni waren sie vor über drei Monaten gestartet.

»Schade, dass wir keine Pakete haben«, bemerkte Riedemann.

Idris verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. »Sagen Sie das der Buchhaltung.« Paket-Drohnen waren FTL-fähig, kosteten jedoch so viel wie ein kleines Raumschiff.

»Wie lange wird es dauern, bis die Firma registriert, dass wir uns nicht gemeldet haben, und uns ein Rettungsteam hinterherschickt?«, fragte Korith.

»Unterstützung könnte frühestens in einem Monat eintrudeln, es könnten aber auch zwei werden. In jedem Fall haben wir nicht die Versorgungskapazitäten, um alle so lange wach zu halten. Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber in Kryo darauf zu warten, ist keine verlockende Aussicht. Womit auch immer wir es hier zu tun haben, ich würde dem lieber offenen Auges gegenübertreten.«

Allgemeines Nicken und zustimmendes Gemurmel seitens der Crew.

Idris breitete die Hände aus. »Wir sind hier auf uns allein gestellt, Leute. Die Konzernvorgaben bei Erstkontakt sind vage. Oberste Priorität ist, unsere Sicherheit zu gewährleisten. Danach müssen wir uns nach Maßgabe des Möglichen an die Unternehmensinteressen halten. Wie genau wir das anstellen, ist meine Entscheidung, ich bin aber offen für Vorschläge. Talia, Sie haben ebenfalls recht. Wir müssen so viel wie möglich über dieses Artefakt herausfinden.«

Sie quittierte es mit einem knappen Nicken.

Widerspruch kam von Pushkin. »Und was, wenn wir angegriffen werden?«, wandte er unwirsch ein. »Die Adamura ist kein Schlachtschiff, und –«

»Das Risiko nehme ich in Kauf«, erklärte Idris.

»Sie vielleicht, aber ich nicht. Nein.«

Idris legte die Hände flach auf den Tisch. »Bis sich an der Situation etwas ändert, bleiben wir, und das ist mein letztes Wort. Ist das klar?«

Missmutig brummte Pushkin: »Ist klar.«

»Gut.«

Jonah meldete sich zu Wort. »Und, äh, unser ursprünglicher Auftrag, Captain? Wie Yesha schon sagte, was wird aus unserer Bezahlung?«

Die anderen wiederholten seine Fragen wie Echos.

Mit fest entschlossener Miene beugte sich Idris vor. »Die bleibt, wie sie ist, und auch die Verträge bleiben gültig. Die Möglichkeit, dass sich ein System als ungeeignet für eine Kolonie erweist, bestand schon immer. Die Gründe hierfür spielen keine Rolle. Wir werden für unsere Zeit bezahlt. Falls ich die Regelungen korrekt gelesen habe, sollten wir sogar alle Anspruch auf die volle Gefahrenzulage haben. Das müssen wir mit der Firma klären, sobald wir hier raus sind. Aber ich kann das eigentlich so gut wie garantieren.«

Vereinzeltes erfreutes Gemurmel. Die volle Gefahrenzulage entsprach dem Doppelten ihres Grundgehalts, und Erkundungsmissionen für mögliche Kolonien wie diese hier zahlten sich immer aus. Inklusive Überstunden kam man binnen weniger Wochen auf ein komplettes Jahresgehalt.

Hätte das Geld Alex auch nur das Geringste bedeutet, wäre er begeistert gewesen.

»Die Firma wird nicht gerade glücklich sein, eine potenzielle Kolonie zu verlieren«, gab Jonah zu bedenken.

Idris zuckte mit den Achseln. »Nicht unser Problem.« Die Crew stimmte zu. Auch wenn ein gelegentliches spielerisches Aufbegehren gegen den Captain an der Tagesordnung war, legte es sich wieder, sobald er sich gegen die Bosse zu Hause auf ihre Seite schlug.

»Inwieweit wird das den Zeitplan unserer Mission beeinflussen, Sir?«, fragte Chen.

»Der ändert sich nicht, wir halten weiterhin daran fest. Mit dem einzigen Unterschied, dass wir auf die Überprüfung des restlichen Systems verzichten und uns voll und ganz auf Talos konzentrieren.«

Chen wirkte einigermaßen erleichtert, ebenso einige der anderen. Alex wusste, dass viele für die Zeit nach ihrer Rückkehr schon Pläne hatten. Urlaub machen, Angehörige besuchen, Forschungsberichte schreiben, zu einer anderen Weltraummission aufbrechen … Er nicht. Für ihn war die Zukunft ein unbekanntes Territorium, düster und ohne Verheißungen.

»Also, noch mal«, begann Idris gewichtig. »Wie gehen wir vor? Optionen, Leute. Raus damit.«

Yesha sprach als Erste. »Näher ran an Talos, die Oberfläche scannen und mit jeder Frequenz abbilden, die wir zur Verfügung haben.«

Idris nickte. »Den Gedanken hatte ich auch schon. Was noch?«

»Könnten wir Drohnen rüberschicken, um uns das Loch anzusehen?«, meinte Korith.

»Die kämen nicht nah genug ran«, erklärte Riedemann. »Der elektromagnetische Impuls des Signals würde sie lahmlegen. Wir könnten sie direkt darüber abwerfen und so eventuell ein paar nützliche Informationen erhalten, bevor die Stromkreise überladen. Andererseits es ist es vielleicht keine gute Idee, irgendetwas in das Loch zu werfen.«

Ein leises Lachen von Sharah. »Na ja, verdammt, mein Plan wäre, einen Asteroiden reinzulobben.«

Alle außer Alex kicherten oder grinsten. Man vergaß leicht, dass Schiffsgehirne immer noch menschlich waren; es kam nicht häufig vor, dass sie Witze machten wie gewöhnliche Menschen.

Jonah schlang die Arme um sich, als wäre ihm kalt. »Was, wenn wir … statt einer Drohne eine Raupe an den Rand des Lochs runterlassen?«

»Die würde der elektromagnetische Impuls auch durchschmoren«, sagte Riedemann.

Idris strich sich übers Kinn. »Könnten Sie eine Raupe so verstärken, dass sie dem Impuls standhält?«

»Bin nicht sicher, Captain. Ich prüf das gerne mal, aber … mit der Bleimenge zur Verstärkung würde sie wahrscheinlich zu schwer und bewegungsunfähig.«

»Sehen Sie zu, was Sie tun können, und erstatten Sie mir dann Bericht.«

»Ja, Sir.«

»Noch jemand? Chen? Svana?«

Chen hob die Hand. »Wir könnten es mit einem Stratosphärenballon versuchen.«

Idris nickte. »Stratosphärenballon. Gefällt mir. Sharah, führe ein paar Simulationen durch, um zu sehen, ob das funktionieren würde.«

»Wir hätten immer noch ein Problem mit dem elektromagnetischen Impuls«, sagte das Schiffsgehirn.

»Zur Kenntnis genommen. Was noch?«

Während die anderen den Captain mit Ideen bombardierten, starrte Alex in die schwarzen Tiefen seines Kaffees und sinnierte über die verstörende Ähnlichkeit mit dem gewaltigen Loch. Er sah es vor sich: riesig, gähnend und ohne jeden ersichtlichen Sinn. Und doch konnte Alex an nichts anderes denken. Das Loch bekam er nicht mehr aus dem Kopf … als hätte es sich ihm in den Schädel gebohrt.

Er hörte sich sämtliche Vorschläge der anderen Crewmitglieder an. Auch wenn einige vernünftiger als andere waren, wusste er, dass keiner davon Eindruck auf Layla gemacht hätte. Sie gingen nicht weit genug. Scans, Drohnen, Kommunikationsversuche … allenfalls Halbheiten. Die Crew drückte sich um die nächstliegenden praktischen Konsequenzen.

Es war Talia, die schließlich sagte: »Ich hätte einen Vorschlag.«

Niemand außer Alex nahm Notiz davon.

Sie wiederholte es, diesmal lauter: »Ich sagte, ich hätte einen Vorschlag.«

Die Debatten verstummten, und Idris drehte sich zu der Frau mit den glühenden Augen um. Der Captain zog die Stirn in Falten. »Und der wäre, Miss Indelicato?«

»Wir haben ein Landefahrzeug. Warum benutzen wir nicht das?«

Als hätte sie in ein Wespennest gestochen, redeten alle wild durcheinander und überboten sich mit ihren Bedenken. Alex bekam es mit der Angst, und er versuchte, ein Wort dazwischenzubekommen, doch keiner hörte ihm zu, so wie auch er in dieser Kakofonie kaum einen Satz verstand. Sharah hätte für Klarheit sorgen können, fand es aber offenbar der Mühe nicht wert.

Knallend schlug Idris mit der Hand auf den Tisch und setzte dem Tumult ein Ende. Er sah sie der Reihe nach an. »Beruhigt euch. Wenn alle durcheinanderreden, kommen wir nicht weiter.«

Einige nickten verlegen.

»Also, Indelicato, erklären Sie doch mal.« Der Ton des Captains war zwar ernst, doch sein konzentrierter, gespannter Blick bestätigte Alex seine Vermutung: Genau diese Reaktion hatte sich Idris erhofft. Er sammelte Ideen der Crew, weil er eine Gelegenheit witterte, federführend an einer der größten Entdeckungen der Menschheitsgeschichte beteiligt zu sein. Der Captain war, wie Alex vermutet hatte, ein überaus ehrgeiziger Mann.

»Wir haben einen Lander«, sagte Talia. »Den bringen wir runter und landen so nahe wie möglich am Loch, ohne dort etwas zu beschädigen, und dann stiefeln wir rüber und –«

»Nein!«, schrie Alex. Es rutschte ihm einfach so heraus. Er hatte nicht vorgehabt, etwas zu sagen, aber der Gedanke, sich in die Nähe des Lochs zu begeben, versetzte ihn in eine solche Panik, dass er keinen klaren Gedanken fassen konnte.

Alle drehten sich zu ihm um, auch Idris. Der Captain wirkte alles andere als erfreut. »Sie haben etwas zu sagen, Crichton?«

Alex brauchte einen Augenblick, um sich so weit zu sammeln, dass er etwas über die Lippen brachte. Er wusste, dass Layla seinen Protest nicht gutgeheißen und sich auf die Gegenseite geschlagen hätte, dass er an ihren Idealen Verrat beging, aber er konnte nicht anders. Die Angst war übermächtig. »Nein«, wiederholte er leiser. »Es ist zu riskant, und … wir dürfen den Ort nicht kontaminieren. Die Allianz sollte ein Team rausschicken, um sich Talos genauer anzuschauen. Ein qualifiziertes Team.«

»Die Allianz hat dazu vielleicht keine Möglichkeit«, presste Talia zwischen den Zähnen hervor.

Pushkin schnaubte. »Blödsinn. Du spinnst. Wir haben kein Recht, unsere Nase in etwas zu stecken, wo –«

Idris brachte ihn mit erhobener Hand zum Schweigen. Seine finstere Miene glich einer geschnitzten Maske. »Ich bin überrascht, Crichton. Ich hätte angenommen, dass gerade Sie die Chance ergreifen würden, ein Alien-Artefakt zu untersuchen.«

Alex schluckte. »Ich bin Biologe, kein Archäologe. Ich untersuche Mikroben. Pflanzen. Und Tiere, sofern es welche gibt.«

Idris’ Miene verhärtete sich noch mehr. »Und Sie interessieren sich nicht im Geringsten für das Loch?«

»Ich finde einfach, eine Landung wäre zu riskant. Wir wissen nicht, ob uns die Aliens freundlich oder feindlich gesinnt sind, und noch mal, sollten wir das Gelände verunreinigen oder kompromittieren, könnten wir unschätzbare Informationen vernichten.«

»Das Gelände ist groß, Crichton.«

Idris’ Missbilligung stachelte Alex nur zu weiterem Widerspruch an. »Meiner fachlichen Meinung nach wäre eine Landung ein schwerer Fehler, Sir. Ich möchte diesen Standpunkt als meine offizielle Empfehlung verstanden wissen.«

»Und meine fachliche Meinung lautet, dass wir landen sollten«, sagte Talia.

Wieder ließ Idris den Blick in die Runde schweifen, um die Stimmung einzuschätzen. »Wie denken die anderen darüber? Ehrliche Meinungen jetzt.«

Svana rieb sich die Arme. »Wir sollten abdrehen.«

»Landen«, sagte Korith.

»Landen«, sagte Yesha.

»Abdrehen«, sagte Pushkin. »Und Sie wissen verdammt gut, weshalb.«

»Abdrehen«, sagte Alex.

Sharah lachte leise. »Landen.«

Nach Auszählung der Stimmen lautete das Ergebnis sechs Mal Ja zu sechs Mal Nein, mit dem Captain als Tiebreaker. Die Crew wartete gespannt, derweil Idris schweigend dasaß. Schließlich fragte er: »Riedemann. Wäre es überhaupt möglich?«

Der Maschinenmeister kaute an einem Zipfel seines Barts. »Könnte funktionieren, Captain. Solange der Lander nicht zu nah rankommt, müsste es mit der Elektronik hinhauen. Unsere Skinsuits sind gegen Sonneneruptionen verstärkt. Sie kommen mit elektromagnetischen Impulsen sogar besser klar als eine abgeschirmte Raupe, außerdem könnte ich noch einige Verbesserungen vornehmen.«

»Sie machen es also?«, fragte Talia.

»Sir –«, begann Alex, aber Pushkin kam ihm zuvor. »Das können Sie nicht ernsthaft in Erwägung ziehen, Captain. Das ist kompletter Irrsinn.«

»Ich ziehe im Augenblick alles in Erwägung«, entgegnete Idris. »Und ich werde nichts ausschließen, bis wir uns ein besseres Bild davon machen können, womit wir es zu tun haben. Stoßen wir auf unvorhergesehene Schwierigkeiten, machen wir uns aus dem Staub. Wenn Riedemann die technischen Probleme nicht lösen kann, ist eine Landung ausgeschlossen. Und wenn ich die Adamura aus irgendeinem Grund in Gefahr sehe, breche ich ab. Wir halten jetzt mit vollem Antrieb auf Talos zu und sehen dann weiter.« Idris’ Blick glitt zum Rest der Crew. »Es bleiben uns jetzt also vier Tage, Leute. Machen wir das Beste daraus.«

4.

Während der Beschleunigungsphase von 1.25 G Richtung Talos VII analysierten sie die Anomalie (und das System als Ganzes) mit sämtlichen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln. Alex tat, was von ihm erwartet wurde, obwohl die zusätzliche Antriebskraft jede Bewegung mühseliger, langsamer und gefährlicher machte und er sich zunehmend erschöpft fühlte. Dennoch bemühte er sich. Schon Layla zuliebe.