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Etwas Böses lauert in den Schatten von Alagaësia
Die Welt ist nicht mehr sicher für den Drachenreiter Murtagh und seinen Drachen Dorn. Seit Galbatorix’ Sturz sind Murtagh und sein Drache verhasst und von allen Völkern verachtet, obwohl sie dem grausamen König nicht aus freien Stücken gedient haben.
Als ein Flüstern und Raunen durchs Land geht von brüchiger Erde und Schwefelhauch, spürt Murtagh, dass etwas Böses in den Schatten von Alagaësia lauert. Damit beginnt eine epische Reise ins Unbekannte. Murtagh und Dorn müssen mit allen Waffen kämpfen, die ihnen zur Verfügung stehen, um eine geheimnisvolle Hexe zu finden und zu überlisten. Eine Hexe, die so viel mehr ist, als es zunächst scheint.
Von Millionen Fans sehnsüchtig erwartet: Mit MURTAGH erscheint der lang ersehnte neue Roman des meisterhaften Geschichtenerzählers und Weltbestsellerautors Christopher Paolini. MURTAGH ist der perfekte Start für Lesende, die eine sensationelle neue Fantasywelt entdecken wollen, und die heiß ersehnte Gelegenheit für alle, die schon lange darauf warten, wieder nach Alagaësia und in Eragons Welt zurückzukehren.
Alle Bände der World of Eragon:
Eragon. Das Vermächtnis der Drachenreiter (Band 1)
Eragon. Der Auftrag des Ältesten (Band 2)
Eragon. Die Weisheit des Feuers (Band 3)
Eragon. Das Erbe der Macht (Band 4)
Die Gabel, die Hexe und der Wurm. Geschichten aus Alagaësia (Zusatzband)
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Seitenzahl: 1017
Christopher Paolini
Eine dunkle Bedrohung
Aus dem amerikanischen Englischvon Wolfgang Thon
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Dieser Roman ist ein fiktionales Werk. Namen, Figuren und Ereignisse sind das Produkt der Fantasie des Autors oder sind fiktional gebraucht. Alle Ähnlichkeiten mit tatsächlichen lebenden oder toten Personen, Ereignissen oder Orten sind rein zufällig.
© 2023 für die deutsche Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Text © 2023 Christopher Paolini
Die Originalausgabe erschien erstmals unter dem Titel »Murtagh« bei Alfred A. Knopf, einem Imprint von Random House Children’s Books in der Verlagsgruppe Penguin Random House LLC, New York.
Published by arrangement with PAOLINIINTERNATIONAL, LLC
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Aus dem amerikanischen Englisch von Wolfgang Thon
Lektorat: Luitgard Distel, Monika Hofko
Covergestaltung: Geviert, Grafik & Typografie, nach einer Vorlage von April Ward
Coverillustration © 2023 by John Jude Palencar,
www.johnjudepalencar.com
Karten und Innenillustrationen © 2006, 2023 by Christopher Paolini
Innenlayout nach einer Vorlage von Michelle Crowe
Hintergrund der Zwischentitel © zwiebackesser/stock.adobe.com
kk · Herstellung: AW
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-31289-3V002
www.cbj-verlag.de
Wie immer ist dieses Buch meiner Familie gewidmet.
Und auch denen, die außen stehen und hineinsehen.
Prolog
TEIL I: Ceunon
1 Maddentide
2 Zum endlosen Gelage
3 Gabel und Klinge
4 Konklave
5 Drachenflug
TEIL II: Gil’ead
1Feindliches Territorium
2 Fragen an eine Katze
3 Grabschänder
4 Fischgeschichten
5 Schlammschlund
6 Rackern und Schuften
7 Verteidigung der Lügen
8 Masken
9 Uniformen
10 Leise schleichend …
11 Die Tür aus Stein
12 Wege in die Dunkelheit
13 Auf Konfrontation mit einer Katze
14 Duell des Verstands
15 Verwirrfalle
16 Die Folgen
17 Verbannung
TEIL III: Nal Gorgoth
1 Das Dorf
2 Bachel
3 Der Flintturm
4 Träume und Zeichen
5 Glaubensbekenntnisse
6 Der Hof der Krähen
7 Hauer und Klinge
8 Die Gnade der Mutter
9 Grenze der Belastbarkeit
10 Aufruhr
11 Vorahnung
12 Die schlechte Gute Nacht
13 Albtraum
14 Uvek
15 Auslöschung
16 Wachträume
17 Fragmente
18 Ohne Makel
19 Entscheidungen
20 Qazhqargla
21 Eine Frage des Glaubens
22 Schwarzer Rauch
23 Feuer und Wind
24 Grieve
TEIL IV: Oth Orum
1Geschöpfe der Finsternis
2 Befreit von Kummer
3 Das Zentrum halten
4 Islingr
TEIL V: Wieder vereint
1 Einwilligung
Anhang
Namen und Sprachen
Über den Ursprung der Namen
Aussprache
Glossar
Die Runen der Menschen
Nachwort und Danksagung
Seht, das Land Alagaësia, weit und grün, voller Geheimnisse. Hier gibt es Berge, die bis an die Sterne ragen, Wälder, so unermesslich wie ein Ozean, sowie bis zu völliger Kargheit versengte Wüsten und anderes mehr. Mannigfaltige Völker findet ihr dort – von Menschen voller Widerstandskraft über langlebige Elfen und in der Tiefe hausende Zwerge bis hin zu kriegsgewohnten Urgals. Und vor allem: Drachen – strahlend schön und schrecklich in ihrer uralten Pracht.
Im vergangenen Jahrhundert herrschte König Galbatorix als Tyrann über die meisten von Menschen besiedelten Gebiete und verbreitete auch Angst und Schrecken unter den benachbarten Völkern. Durch seinen Willen wurden die Drachen gebrochen und in ihrer Zahl stark vermindert, bis nur noch wenige übrig waren.
Die tapferen Menschen, die sich Galbatorix widersetzten, flohen ins Hinterland, wo sie sich schließlich Varden nannten. Dort lebten sie, mit nur wenig Hoffnung auf Sieg, bis der Drache Saphira für den Menschen Eragon schlüpfte.
Gemeinsam und unter der klugen Führung von Eragons Lehnsherrin Nasuada zogen sie gegen Galbatorix’ Imperium in den Krieg.
Nun ist der König tot, der Krieg, der ihn stürzen sollte, ist beendet, und das Land erneuert sich.
Doch selbst in diesen friedlichen Zeiten rühren sich Schatten, es verbreiten sich Gerüchte über seltsame Vorkommnisse an den Grenzen von Alagaësia und ein Mann versucht die Wahrheit darüber herauszufinden …
Das Zentrum halten, inmitten des Sturms,
sich trennen, bleiben oder gehen?
Diese Frage mag gar den größten Geist bekümmern.
Die Espen wachsen gemeinsam so hoch und stark
wie die einsame Eiche. Ehre fordert, Pflicht verlangt
und Liebe schmeichelt. Das Ich aber beharrt.
Dilemmata 14 – 20 Atten der Rote
Willst du allein gehen?
Murtagh warf Dorn einen fragenden Blick zu.
Der rote Drache hockte zusammengekauert neben ihm auf dem felsigen Hügel, auf dem sie gelandet waren. In der schwindenden Abenddämmerung war das Glitzern der Drachenschuppen nur gedämpft zu sehen, wie mit Asche bedeckte Glut, die auf einen Windhauch wartet, um neu aufzulodern.
»Was? Willst du mich etwa begleiten?«
Dorn öffnete den Kiefer zu einem wölfischen Grinsen und entblößte Reihen scharfer weißer Zähne, jeder so lang wie ein Dolch. Warum nicht? Sie fürchten uns ohnehin. Sollen sie doch schreien und sich verkriechen, wenn wir kommen.
Die Gedanken des Drachen hallten wie der Klang einer Glocke durch Murtaghs Geist. Er schüttelte den Kopf, während er sein Schwert Zar’roc von der Hüfte löste. »Das würde dir wohl gefallen, was?«
Dorns Kiefer öffnete sich noch weiter und er fuhr sich mit der rauen Zunge über die Lefzen. Vielleicht.
Murtagh konnte sich beinah bildlich vorstellen, wie Dorn durch eine schmale Straße stapfte, mit seinen gepanzerten Schultern an den Häuserwänden entlangschrammte, Gebälk, Fensterläden und Simse zertrümmerte, während die Menschen vor ihm flohen. Murtagh wusste, wie das enden würde, mit Feuer und Blut und gewaltiger Zerstörung.
»Ich denke, du wartest besser hier.«
Dorn schüttelte seine samtenen Flügel und es grollte tief in seiner Kehle. Das war seine Art, zu lachen. Vielleicht solltest du die Magie nutzen, um die Farbe meiner Schuppen zu ändern. Dann könnten wir so tun, als wären wir Eragon und Saphira. Das wäre doch ein Spaß?
Murtagh prustete, während er Zar’roc auf einer trockenen Stelle im Gras ablegte. Er war überrascht gewesen, als er herausgefunden hatte, dass Dorn einen ausgeprägten Sinn für Humor besaß. Das war nicht so offensichtlich gewesen, als sie ihre Verbindung eingegangen waren. Zum Teil hatte es an Dorns Jugend gelegen, zum Teil aber auch an den … Umständen.
Einen Moment lang verdüsterte sich Murtaghs Stimmung.
Nein? Falls du es dir anders überlegst …
»… wirst du es als Erster erfahren.«
Hm. Dorn stupste das Schwert mit dem Maul an. Ich wünschte, du würdest deinen Reißzahn mitnehmen. Deine Klaue. Deinen geschärften Kummer.
Murtagh wusste, dass Dorn nervös war. Das war er immer, wenn Murtagh ihn verließ, und sei es nur für kurze Zeit. »Mach dir keine Sorgen. Ich komme schon klar.«
Eine blasse Rauchwolke stieg aus den geblähten Nüstern des Drachen auf. Ich traue diesem Schleicher mit dem Haifischmaul nicht.
»Ich traue niemandem. Außer dir.«
Und ihr.
Murtagh zögerte, während er zu den Satteltaschen trat, die an Dorns Flanken hingen. Ein Bild von Nasuadas mandelförmigen Augen blitzte vor seinem inneren Auge auf. Ihre Wangenknochen. Zähne. Teile, die kein Ganzes ergaben. Eine Erinnerung an ihren Duft, begleitet von Sehnsucht und Trauer, ein schmerzliches Fehlen von etwas, das hätte sein können und jetzt verloren war.
»Ja.« Er hätte Dorn nicht anlügen können, selbst wenn er es gewollt hätte. Dazu waren sie zu eng miteinander verbunden.
Der Drache war so freundlich, das Gespräch wieder auf sicheres Terrain zu lenken. Meinst du, Sarros hat irgendetwas Interessantes erschnüffelt?
»Es wäre besser, wenn nicht.« Murtagh nahm ein Knäuel braune Schnur aus der Satteltasche.
Und wenn doch? Fliegen wir dann dem Sturm entgegen oder davor weg?
Ein schmales Lächeln umspielte Murtaghs Lippen. »Das hängt davon ab, wie heftig der Sturm wird.«
Das ist vielleicht nicht so offensichtlich. Der Wind kann täuschen.
Murtagh maß ein Stück Schnur ab. »Dann schnüffeln wir weiter herum, bis es offensichtlich wird.«
Hm. Solange wir den Kurs noch ändern können, wenn es nötig ist.
»Hoffen wir es.«
Dorns ihm zugewandtes Auge erglühte wie ein tief liegender Rubin, blieb auf Murtagh gerichtet, während der das Stück Schnur abschnitt und damit Zar’rocs Parierstange an Gürtel und Schwertscheide festband, damit das blutrote Schwert nicht herausrutschen konnte. Dann steckte er Zar’roc in die Satteltasche, wo es sicher verborgen war, und trat vor Dorn.
»Ich bin vor Tagesanbruch zurück.«
Der Drache blinzelte und duckte sich, als mache er sich auf einen Angriff gefasst. Mit seinen gebogenen Krallen knetete er den Boden wie eine große Katze eine Decke, und kleine Steine zerbarsten unter der gewaltigen Kraft seiner Klauen. Aus seiner Brust drang ein leises Brummen, fast ein Wimmern.
Murtagh legte eine Hand auf Dorns geschuppte Stirn und versuchte ihm ein Gefühl von Ruhe und Zuversicht zu vermitteln. Düstere Schwingungen der Verzweiflung hallten in den Tiefen von Dorns Gedanken wider.
»Ich schaffe das schon.«
Wenn du mich brauchst …
»… wirst du da sein. Ich weiß.«
Dorn senkte den Hals und seine Klauen kamen zur Ruhe. In seinem Geist spürte Murtagh eine wilde Entschlossenheit, doch gleichzeitig auch Unsicherheit.
Sie verstanden einander.
»Sei vorsichtig. Halte Ausschau, falls sich jemand an dich heranschleichen will.«
Ein weiteres volltönendes Brummen kam tief aus Dorns Brust.
Murtagh zog die Kapuze seines Umhangs über den Kopf und stieg den Abhang hinunter, wobei er sich einen Weg zwischen einzelnen Felsbrocken und stacheligen Dornbüschen hindurchbahnte.
Einmal blickte er zu Dorn zurück. Der Drache kauerte immer noch auf dem Hügelkamm und beobachtete ihn aus zu Schlitzen verengten Augen.
Ein Mann mit einem Drachen war nie wirklich allein.
Dieser Gedanke kam Murtagh, als er sich mit langen, geschmeidigen Schritten nach Westen wandte. Ganz gleich, wie viele Meilen Dorn und ihn trennten, ein Teil von ihnen würde immer verbunden bleiben. Sie mochten vielleicht nicht mehr in der Lage sein, die Gedanken des anderen wahrzunehmen – nicht auf große Entfernungen – oder die Gefühle des anderen zu spüren, dennoch blieb ihre Verbindung bestehen. Die älteste aller Magien verband sie, und sie würde niemals erlöschen, bis einer von ihnen starb.
Doch Magie war nicht ihr einziges Band. Die Erfahrungen, die Dorn und er teilten – die Entbehrungen, die Angriffe auf ihren Geist, die Folter –, waren so intensiv und in ihrer Natur einzigartig gewesen, dass Murtagh sich nicht vorstellen konnte, irgendjemand anders würde wirklich verstehen, was sie durchgemacht hatten.
In diesem Wissen lag ein gewisser Trost. Wohin er auch ging und was er auch tat, Dorn würde immer für ihn da sein. Und was noch wichtiger war: Dorn würde ihn verstehen. Er würde sein Verhalten gelegentlich missbilligen, aber selbst dann mit Empathie und Mitgefühl. Und dasselbe galt umgekehrt.
Doch dieses Wissen hatte auch etwas Einschränkendes. Nie konnten sie einander entkommen. Nicht gänzlich. Aber das machte Murtagh nichts aus. Er hatte das Alleinsein ohnehin satt.
Es ging immer weiter bergab, bis er nach einigen Meilen die Bucht von Fundor erreichte. Dort am Wasser lag die Stadt Ceunon: eine von groben Mauern umgebene Ansammlung von Gebäuden, tief im Schatten liegend und nur gelegentlich erhellt von einer Lampe oder einer Kerze, deren warmes Licht in der hereinbrechenden Nacht funkelte wie ein Edelstein. Reihen von Fischerbooten mit eingerollten Segeln dümpelten an den steinernen Kais, dazwischen drei Hochseeschiffe mit hohen Masten und breitem Rumpf – Schiffe, die in der Lage waren, die Passage um die Nordspitze der Halbinsel zu bewältigen, die die Bucht von der offenen See trennte.
Auf der anderen Seite der Bucht ragten die Berge des Buckels auf, aber ein ferner Dunstschleier verhüllte sie, und das Wasser schien sich endlos zu erstrecken.
Graue Wolken hingen tief über dem Land und eine gedämpfte Stille verschluckte das Geräusch von Murtaghs Schritten.
Etwas Kaltes berührte seine Hand und er blickte auf.
Dicke Schneeflocken fielen herab; der erste Schnee des Jahres. Er öffnete den Mund und fing eine Flocke mit der Zunge auf – wie eine angenehme Erinnerung schmolz sie dahin, flüchtig und unbeständig.
Selbst so weit im Norden war es ungewöhnlich früh für Schnee. Maddentide war vor zwei Tagen gewesen, und das bedeutete die ersten Bergenhed-Schwärme, massenhaft silbrige, hartschuppige Fische, die jeden Herbst in die Bucht einfielen. Die Schwärme waren so groß und dicht, dass man fast auf ihnen laufen konnte, und Murtagh hatte gehört, dass die Fische auf dem Höhepunkt der Laichsaison von selbst auf die Decks der Boote sprangen, von der Intensität ihres Laichtriebs in den Wahnsinn getrieben.
Daraus konnte man lernen, dachte er.
Normalerweise kam der erste Schnee erst ein oder zwei Monate nach Maddentide. Dass es so früh schneite, bedeutete, ein harter, kalter Winter stand bevor. Dennoch genoss Murtagh die sanft fallenden Flocken und die kühle Luft. Es war die perfekte Temperatur zum Wandern, Rennen oder auch zum Kämpfen.
Es gab wenig Schlimmeres, als um sein Leben kämpfen zu müssen, während man vor Hitze ohnmächtig zu werden drohte.
Sein Puls beschleunigte sich, er schob die Kapuze zurück und verfiel in einen zügigen Trott, getrieben von dem Bedürfnis, sich schneller zu bewegen.
In gleichmäßigem Tempo lief er über die Ebene rund um Ceunon, vorbei an Bachläufen und kleinen Wäldern, über Steinzäune und durch Felder mit Gerste und erntereifem Roggen. Niemand bemerkte ihn, außer ein Hund an einem Hoftor, der ihm ein beiläufiges Heulen hinterherschickte.
Danke, gleichfalls, dachte Murtagh.
Seine Verbindung zu Dorn wurde schwächer, je weiter er sich von dem Drachen entfernte, aber sie verschwand nie ganz. Das tröstete Murtagh. Er war genauso unruhig wie Dorn, wenn sie getrennt waren. Aber er bemühte sich, das Gefühl zu verbergen, um die Sorge des Drachen nicht noch zu vergrößern.
Murtagh wäre lieber näher an Ceunon gelandet. Sollte er Hilfe brauchen, zählte jede Sekunde. Doch das Risiko, dass jemand Dorn entdeckte, war zu groß. Es war besser, Abstand zu halten und eine mögliche Konfrontation mit den hiesigen Truppen zu vermeiden.
Murtagh lockerte seinen Nacken. Auf den Beinen zu sein, seine Lunge mit sauberer, frischer Luft zu füllen und den schnellen, stetigen Puls zu spüren, fühlte sich gut an, nachdem er den größten Teil des Tages auf dem Rücken eines Drachen gesessen hatte. Seine Knie und Hüften schmerzten etwas. Er hatte keine krummen Beine wie so viele Reiter von Galbatorix’ Kavallerie, aber wenn er weiterhin so viel Zeit auf Dorn verbrachte, konnte das ja noch kommen. War das ein unvermeidlicher Teil seines Lebens als Drachenreiter?
Ein schiefes Lächeln umspielte seine Lippen.
Die Vorstellung, die berühmten Drachenreiter – vor allem die elfischen – wären mit Beinen herumgelaufen, so krumm wie die eines zwanzigjährigen Lanzenreiters, war belustigend, aber er bezweifelte es. Die Reiter hatten wahrscheinlich eine Möglichkeit gekannt, die Folgen des langen Sitzens im Sattel auszugleichen. Ohnehin konnte man, sobald ein Drache groß genug war, auf keinen Fall mehr auf ihm sitzen wie auf einem Pferd. Wie zum Beispiel auf Shruikan, dem gewaltigen schwarzen Drachen von Galbatorix. Anstelle eines Sattels hatte der König einen kleinen Pavillon auf dem Buckel von Shruikans riesigen Schultern befestigt.
Murtagh fröstelte und blieb vor einem vom Blitz getroffenen Baum stehen. Ein kalter Schauer lief ihm über Arme und Beine. Er atmete tief ein. Einmal. Zweimal. Galbatorix war tot. Shruikan war tot. Sie besaßen keine Macht mehr über ihn oder sonst jemand Lebendiges.
»Wir sind frei«, flüsterte er.
Von Dorn erreichte ihn ein Gefühl tröstlicher Wärme wie eine ferne Umarmung.
Er zog sich die Kapuze wieder über den Kopf und lief weiter.
Als Murtagh auf die Küstenstraße südlich von Ceunon traf, blieb er zunächst hinter einer nahe gelegenen Hecke stehen und reckte nur den Kopf über die Büsche. Zu seiner Erleichterung war die Straße menschenleer.
Er zwängte sich durch die Hecke und eilte weiter nach Norden, auf die dicht gedrängten Gebäude der Stadt zu, die sich vor ihm ausbreiteten. Das schwache Licht, das durch die Wolken drang, erlosch allmählich, und er wollte in Ceunon sein, bevor es gänzlich dunkel war.
Der ausgefahrene Karrenweg war von tiefen Wagenspuren zerfurcht, und Kuhfladen zwangen ihn, alle paar Schritte die Spur zu wechseln. Der Schnee bildete eine dünne, weiche Schicht auf dem Boden, was ihn an feine Spitze denken ließ, die adlige Damen am Hof bei feierlichen Anlässen trugen.
Als er sich der äußeren Stadtmauer von Ceunon näherte, wurde er langsamer. Die Befestigungsanlage war massiv, wenn auch nicht so hoch wie die von Teirm oder Dras-Leona. Die Blöcke aus grobem schwarzem Stein waren lückenlos vermörtelt, und die Mauer stand auf einem angemessen geneigten Sockel, was er anerkennend bemerkte.
Nicht dass irgendetwas davon eine Rolle spielte, wenn man es mit einem Drachen oder seinem Reiter zu tun bekam.
Zwei Wachen flankierten, auf ihre Piken gestützt, das Südtor von Ceunon. Murtagh warf einen Blick auf die Zinnen und die Pechnasen über ihm. Auf der Mauer waren keine Bogenschützen postiert. Wie nachlässig.
Die Wachen richteten sich auf, als er näher kam, und Murtagh schlug seinen Umhang nach hinten, um ihnen zu zeigen, dass er unbewaffnet war.
Die Wachen kreuzten klirrend ihre Piken.
»Wer bist du?«, fragte der Mann auf der linken Seite. Er hatte ein Gesicht wie eine Kohlrübe, eine dicke Nase mit geplatzten Äderchen und einen gelblichen Bluterguss unter dem rechten Auge.
»Nur ein Maddentide-Reisender«, erwiderte Murtagh ruhig. »Ich bin gekommen, um geräucherten Bergenhed für meinen Herrn zu kaufen.«
Der Mann zu seiner Rechten musterte ihn misstrauisch. Er hätte Dicknases Cousin sein können. »Sagst du. Woher kommst du, Reisender? Und wie heißt du?«
»Tornac, Sohn von Tereth, und ich komme aus Ilirea.«
Bei der Erwähnung der Hauptstadt strafften sich die Wachen noch ein wenig mehr. Sie wechselten einen kurzen Blick, dann spuckte Dicknase auf den Boden. Die Spucke ließ den Schnee darunter schmelzen. »Das ist aber echt ’n langer Weg zu Fuß, ohne Gepäck und ohne Pferd und nur für ’n paar Scheffel Fisch.«
»Das wäre es«, stimmte Murtagh zu, »aber mein Pferd hat sich letzte Nacht das Bein gebrochen. Es ist in ein Dachsloch getreten, das arme Ding.«
»Und du hast deinen Sattel dortgelassen?«, fragte der Mann auf der rechten Seite.
Murtagh zuckte die Schultern. »Mein Herr zahlt gut, aber er bezahlt mich nicht dafür, einen Sattel und Satteltaschen durch halb Alagaësia zu schleppen, wenn ihr versteht, was ich meine.«
Die Wachen grinsten.
»Ja, wir können dir folgen«, sagte Dicknase. »Hast du schon ’n Quartier? Und Münzen für ’n Bett?«
»Ich habe Münzen genug.«
Dicknase nickte. »Gut. Wir wollen nämlich keine Fremden, die auf unsern Straßen schlafen. Wenn wir dich dabei erwischen, setzt’s was. Wenn wir mitkriegen, dass du Ärger machst, fliegst du aus der Stadt. Von Mitternacht bis zur vierten Stunde sind die Tore geschlossen und werden nicht geöffnet außer für Königin Nasuada höchstpersönlich.«
»Das klingt vernünftig«, meinte Murtagh.
Dicknase grunzte und die Wachen zogen ihre Piken zur Seite. Murtagh nickte ihnen respektvoll zu und ging zwischen ihnen hindurch in die Stadt.
Murtagh kratzte sich am Kinn und tauchte tiefer in die Gassen von Ceunon ein.
Anfang des Jahres hatte er sich einen Bart stehen lassen, um zu verbergen, wer er war. Es schien zu funktionieren, denn bislang hatte ihn noch niemand behelligt. Aber der Bart juckte, und er war nicht gewillt gewesen, ihn so lang wachsen zu lassen, bis die Haare weich wurden und sich umbogen. Das Gestrüpp im Gesicht hatte ihn gestört.
Den Bart mit dem Dolch zu stutzen, hatte sich jedoch als unpraktisch erwiesen, und er zögerte, auf Magie zurückzugreifen, weil die Aussicht, den Bart mit nur einem Wort und der Vorstellung des Ergebnisses in Form zu bringen, eher eine unsichere Sache war. Davon abgesehen vertraute er nicht darauf, dass der Zauber zwar die Haare, nicht aber auch die Haut gleich mit entfernte. Zudem verschaffte es ihm eine gewisse Befriedigung, die Arbeit von Hand zu erledigen.
Er hatte sich bei einem Kesselflicker in der Nähe von Narda eine Eisenschere gekauft. Die funktionierte recht ordentlich, solange er dafür sorgte, dass sie scharf, geölt und frei von Rost war. Trotzdem fand er, dass die Bartpflege fast so mühsam war, wie sich zu rasieren. Vielleicht würde er ihn abnehmen, wenn er Ceunon wieder verlassen hatte.
Die Hauptstraße war ein schlammiger Streifen, doppelt so breit wie die Straße, die aus dem Süden hergeführt hatte. Die Fachwerkhäuser waren zwischen den Holzbalken weiß verputzt und die Balken mit Kiefernteer schwarz gefärbt, zum Schutz vor der salzigen Luft der Bucht. Viele waren mit Schnitzereien von Seeschlangen, Vögeln und Svartlingen verziert. Auf jedem der steilen, mit Schindeln gedeckten Dächer drehte sich eine eiserne Wetterfahne und den First der meisten Häuser zierte ein geschnitzter Drachenkopf.
Murtagh zwang sich, mit dem Kratzen aufzuhören.
Er hätte die gesamte Geschichte der Stadt herbeten können, von ihrer Gründung bis heute. Er wusste, dass die Schnitzereien im Kysk-Stil ausgeführt waren, der vor mehr als einem Jahrhundert von einem unbekannten Handwerker begründet worden war. Die schwarzen Steine für die Stadtmauer stammten aus einem Steinbruch keine zwei Dutzend Meilen nordöstlich. Und er wusste, dass die einfachen Leute von Ceunon den Elfenwald Du Weldenvarden zu Tode fürchteten und alles taten, um die Reihen der dunklen Kiefern von ihren Feldern fernzuhalten. All das wusste er und noch mehr.
Aber wozu? Er hatte die beste Ausbildung des Landes genossen, sogar mehr als das, und doch führte er nun ein hartes Leben auf der Straße, wo ein scharfes Gehör und eine schnelle Hand mehr zählten als alle Gelehrtheit. Davon abgesehen waren es zwei sehr unterschiedliche Dinge, zu verstehen, was war, und zu wissen, was man tun sollte. Das hatte er an Galbatorix gesehen. Der König hatte mehr gewusst als die meisten – sogar mehr als einige der ältesten Elfen und Drachen –, aber am Ende hatte ihm all sein Wissen keine Weisheit gebracht.
Wenige Menschen waren noch auf den Straßen unterwegs. Es war spät und die Tage nach Maddentide waren erfüllt von Festen und Gelagen. Die meisten Bürger feierten in ihren Häusern einen weiteren erfolgreichen Bergenhed-Fang.
Drei Arbeiter torkelten vorbei. Sie stanken nach billigem Bier und Fischinnereien. Murtagh lief stur geradeaus weiter und sie wichen ihm aus. Nachdem sie um eine Ecke gebogen waren, wurde es wieder still auf der Hauptstraße, und er sah niemanden mehr, bis er den Marktplatz der Stadt überquerte und zwei wohlhabende Kaufleute aus einer Lagerhaustür kamen. Sie stritten lautstark. Eine kleine, bärtige Gestalt folgte ihnen auf den Platz und brüllte am lautesten von allen.
Ein Zwerg! Murtagh zog den Kopf ein. Seit dem Tod von Galbatorix und dem Fall des Imperiums vor über einem Jahr waren mehr und mehr Zwerge in den von Menschen besiedelten Gebieten aufgetaucht. Die meisten von ihnen als Händler, die mit Steinen, Metallen und Waffen handelten, aber er hatte auch schon Zwerge gesehen, die als bewaffnete Wachen arbeiteten. So klein sie waren, ihre Fähigkeiten als Kämpfer sollte man besser nicht unterschätzen. Murtagh fragte sich unwillkürlich, wie viele von ihnen wohl ihrem König Orik, der auf dem steinernen Thron im Stadtberg von Tronjheim saß, als Augen und Ohren dienten.
Der Zwerg stand im Gegenlicht und schien in seine Richtung zu blicken. Murtagh torkelte leicht – nur ein weiterer Betrunkener, der Maddentide feierte und auf dem Heimweg war. Die List funktionierte und der Zwerg widmete seine Aufmerksamkeit wieder den zankenden Kaufleuten.
Murtagh ging rasch weiter. Dass die Zwerge an immer mehr Orten auftauchten, hatte das Reisen für Dorn und ihn noch schwieriger gemacht. Murtagh hegte keine Abneigung gegen die Zwerge als Volk oder Kultur, im Gegenteil, er mochte Orik sehr – und ihre architektonischen Leistungen waren einfach erstaunlich. Aber sie hegten einen tiefen und anhaltenden Hass gegen ihn, weil er König Hrothgar umgebracht hatte, Oriks Vorgänger … und Onkel. Die Zwerge waren bekannt dafür, mit welcher Hartnäckigkeit sie ihren Groll hegten.
Konnte er je Wiedergutmachung leisten an Orik, seinem Clan und dem ganzen Zwergenvolk? Falls das möglich war, hatte Murtagh bis jetzt noch nicht die Mittel und Wege dafür gefunden.
Allerdings war sein Verhältnis zu den Zwergen nicht sein einziges Problem. Die Elfen waren Dorn und ihm gegenüber ähnlich feindselig gesinnt, weil sein Drache und er am Tod von Oromis und von Glaedr beteiligt gewesen waren, dem letzten überlebenden Reiter mit seinem Drachen aus der Zeit, bevor Galbatorix an die Macht gekommen war.
Auch die meisten Menschen standen ihnen beiden nicht sonderlich wohlwollend gegenüber, und zwar wegen der weitverbreiteten Annahme, sie hätten im Krieg die Varden an Galbatorix verraten. Verräter ernteten in einem Konflikt von beiden Seiten nur Verachtung, und das zu Recht – Murtagh selbst hegte keinerlei Sympathien für schlangenzüngige Eidbrecher wie seinen Vater –, aber das machte es nicht leichter, wenn man fälschlicherweise als einer gebrandmarkt wurde.
Es gibt keinen sicheren Hafen für uns, dachte Murtagh. Ein hartes, humorloses Lächeln umspielte seine Lippen. So war es schon sein ganzes Leben lang gewesen. Warum sollte es jetzt anders sein?
Der Gestank von Fisch, Seetang und Salz wurde stärker, als er sich den Kais näherte und an den Reihen von Trockengestellen am Straßenrand vorbeikam.
Er blickte auf. Noch drei, vier Stunden bis Mitternacht. Genug Zeit, um seine Angelegenheiten zu erledigen und Ceunon wieder zu verlassen. Nach so langer Zeit draußen in der Wildnis bereiteten ihm die eng stehenden Gebäude zunehmend Beklemmungen. In diesen Dingen wurde er Dorn immer ähnlicher.
Stimmen und Musik tönten ihm entgegen, und er erkannte sein Ziel, das Gasthaus Zum endlosen Gelage. Auf der Stirnseite hatte das niedrige Gebäude mit den dunklen Balken Kristallfenster – ein seltener Luxus in diesem Teil der Welt –, und auf dem Pflaster der Straße davor schimmerten gelbe Blütenblätter aus Licht: eine willkommene Einladung, einzutreten, sich auszuruhen und zu feiern.
Sarros hatte diesen Ort für ihr kommendes Treffen ausgewählt und allein das machte Murtagh misstrauisch. Dennoch schien das Endlose Gelage harmlos zu sein – nur ein weiteres schmuddeliges, um seine Existenz kämpfendes Etablissement wie so viele andere. Abgesehen von den Kristallfenstern hätte das Haus in jeder Küstenstadt oder jedem Dorf des Landes stehen können. Aber Murtagh hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass man sich nur selten auf Äußerlichkeiten verlassen konnte.
Er wappnete sich gegen den Lärm, der ihn erwartete, und stieß die Tür auf.
In dem Gasthaus war es behaglich warm und sauber. Der Boden war mit frisch geschnittenen Binsen bedeckt, die Tische waren gewischt und die Fässer, Flaschen und Krüge hinter dem polierten Tresen ordentlich aufgereiht. Ein Feuer knisterte in der von Ruß freien Feuerstelle aus schwarzem Stein und wärmte den großen Raum. Daneben zupfte ein ziegenbärtiger Mann mit ausgefallenen doppelten Glockenärmeln an seiner Jacke die Laute.
Was er sang, war bei den lautstarken Gesprächen in dem voll besetzten Schankraum kaum zu verstehen. Maddentide war vorbei und die Einwohner von Ceunon waren froh darüber.
Der Gastwirt, ein kleiner, kahlköpfiger Mann mit schmutziger Schürze und verschwitzter Stirn, eilte von Tisch zu Tisch und servierte Getränke sowie Teller mit geräuchertem Hering. Und nicht etwa, wie Murtagh feststellte, geräucherten Bergenhed.
Sie müssen schon so viel davon gegessen haben, dass es ihnen für ein Jahr reicht, dachte er.
Er schüttelte ein paar Schneeflocken von seinem Umhang und ging zu dem einen freien Tisch am Feuer. Kaum hatte er sich gesetzt, eilte der Wirt herbei. »Sigling Orefsson, zu Euren Diensten, Meister …«
»Tornac, Sohn von Tereth.«
Sigling wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Ist mir ’ne Ehre. Was kann ich Euch bringen?«
»Etwas Heißes aus deiner Küche. Mein Magen klebt mir am Rückgrat.« Murtagh wollte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, eine warme Mahlzeit zu bekommen, vor allem, wenn er sie sich mal nicht selbst kochen musste.
»Und zu trinken?«
»Einen Krug Bier. Nicht zu stark, wenn’s recht ist.« Murtagh drückte dem Gastwirt drei Kupfermünzen in die Hand.
Sigling eilte bereits in Richtung Hinterzimmer. »Es wird nicht länger als zwei Schläge von ’nem Lämmerschwanz dauern, Meister Tornac.«
Meister Tornac. Immer wenn jemand Murtagh mit diesem Namen ansprach, ließ ihn das nachdenklich werden. Er hoffte, sein alter Fechtlehrer hätte nichts dagegen einzuwenden, dass er ihn benutzte – in Anbetracht der Tatsache, wie angeschlagen Murtaghs Ruf im Moment war. Er wollte nur Tornacs Andenken ehren, wie schon damals, als er den Namen seinem Hengst gegeben hatte, nachdem Tornac bei ihrer Flucht aus Urû’baen gestorben war …
Verärgert zog Murtagh die Brauen zusammen. Er hatte tatsächlich nie herausgefunden, was damals mit dem Pferd passiert war, als Galbatorix ihn in Tronjheim in einen Hinterhalt hatte locken und entführen lassen.
Er sah sich in dem Schankraum um. Die Hafenarbeiter, Fischer und übrigen Einwohner von Ceunon waren ein ausgelassener Haufen. So mancher Vater war von einem wochenlangen Aufenthalt auf See zurückgekehrt, um den Maddentide-Fang zu feiern. Sie wirkten alle recht freundlich. Dennoch prägte sich Murtagh den kürzesten Weg zum Vorder- sowie Hintereingang ein.
Es konnte nie schaden, vorbereitet zu sein.
Sarros war nirgends zu sehen, aber das kümmerte Murtagh nicht weiter. Der Händler hatte den Tag ihres Treffens selbst bestimmt, und Murtagh wusste, dass Sarros sich eher die Hand abhacken würde, als die Gelegenheit zu verpassen, Murtagh noch mehr Münzen abzuknöpfen.
Zwei Arbeiter – Steinmetze, ihren Lederschürzen und den kräftigen, mörtelverschmierten Armen nach zu schließen – stießen gegen die Stühle auf der anderen Seite von Murtaghs Tisch und zogen sie hervor.
»Tut mir leid, aber ich erwarte noch einen Freund«, sagte er und lächelte beschwichtigend, wie er hoffte.
Der eine Steinmetz schien aufbegehren zu wollen, doch der andere bemerkte wohl etwas in Murtaghs Miene, das ihm nicht gefiel. Er zog seinen Freund am Arm. »Komm schon, Herk. Ich geb dir ein Bier am Tresen aus.«
»Ah, na gut. Ist mir recht. Aber nimm die Pfoten weg!«
Doch sein Freund zog ihn weiter am Arm, bis der andere ihm zum Tresen folgte.
Murtagh entspannte sich etwas. Er wollte wirklich nicht in irgendeine sinnlose Schlägerei verwickelt werden.
Dann drang aus dem allgemeinen Stimmengewirr im Schankraum ein Name an sein Ohr. »… Eragon …«
Murtagh erstarrte und drehte sich auf seinem Stuhl hin und her, um herauszufinden, woher er kam. Da! Von dem ziegenbärtigen Troubadour, der seine Laute zupfte. Zuerst waren die Worte des Liedes nur schwer zu verstehen, aber Murtagh starrte konzentriert auf die Lippen des Mannes, und nach und nach verstand er den Sinn.
Der Troubadour sang:
»… und so in Furcht vor Urû’baen.
Frohlockt! Frohlockt!
Der Drachenreiter, ohne Furcht, flog in die Schlacht,
Das Land zu befrei’n von finsterer Macht.
Der große Eragon maß seine Kraft,
In schrecklichem Wettstreit, er zauderte nicht.
Mit flammender Klinge und blendendem Licht,
Besiegt den ew’gen Tyrann er in blutigem Streich,
Galbatorix, Fluch der Drachen und Reiter zugleich.«
Murtagh verzog die Lippen, und ihn überkam der Drang, seinen Stiefel nach dem Mann zu werfen. Die Verse waren nicht nur schlecht komponiert und schlecht gesungen – kein Barde am Hof hätte es gewagt, so misstönend zu singen, aus Angst, verprügelt und fortgejagt zu werden –, sie waren auch falsch.
»Ohne mich hätte er den Kampf verloren«, brummte Murtagh und dachte an Eragon. Doch außer denen, die am Ende in Galbatorix’ Thronsaal dabei gewesen waren, wusste niemand davon, und es interessierte auch niemanden. Dorn und er hatten die Hauptstadt nach dem Tod des Königs verlassen, weil sie es vorzogen, fernab von allen Völkern zu leben, statt sich den Feindseligkeiten der Unwissenden auszusetzen.
Es war die richtige Entscheidung gewesen. Das glaubte Murtagh noch immer. Aber es bedeutete auch, dass sie nicht mehr die Möglichkeit hatten, sich in der Öffentlichkeit gegen die vorherrschenden Ansichten zur Wehr zu setzen. Und sollten Eragon, Nasuada oder Arya Dorn und ihn verteidigt und über ihre Rolle gesprochen haben, die sie beim Töten von Galbatorix und Shruikan gespielt hatten, so hatte Murtagh jedenfalls noch nichts davon gehört. Und das missfiel ihm sehr. Vielleicht brauchte es ja mehr Zeit, bis sich die Wahrheit unter den einfachen Leuten verbreitete. Aber vielleicht wollten Eragon, Nasuada und die Elfenkönigin Arya ja auch, dass alle nur das Schlimmste von ihm dachten. Um ihn als bequemen Sündenbock zu benutzen, als Monster in der Dunkelheit, vor dem die Menschen Angst hatten. Das würde den dreien die Freiheit geben, nach Gutdünken zu regieren.
Bei dem Gedanken verkrampfte sich sein Magen.
So oder so, für die meisten Menschen war Eragon der größte Held, der je gelebt hatte, und keiner konnte ihm das Wasser reichen.
Murtagh schnaubte leise. Von wegen! Aber wenn ein Lied oder eine Geschichte erst einmal beliebt war, kam man nicht mehr dagegen an. So oft beugte sich die Wahrheit dem, was sich richtig anfühlte. Wenigstens hatte sich dieser Troubadour nicht die Mühe gemacht, auch noch Eragons angeblichen Triumph über Murtagh und Dorn ausführlich zu besingen. Sonst hätte Murtagh wirklich seinen Stiefel nach dem Mann geworfen.
»Hier bitte, Meister Tornac!«, verkündete Sigling, als er einen Teller und einen Becher vor ihm abstellte. »Wenn Ihr noch was braucht, ruft einfach meinen Namen, und ich bin gleich wieder da.«
Bevor Murtagh sich bedanken konnte, eilte der Gastwirt davon, um sich um einen anderen Tisch zu kümmern.
Murtagh nahm die schmiedeeiserne Gabel neben dem Teller und begann zu essen. Gebratenes Hammelfleisch, Rüben und einen halben Laib schwarzes Roggenbrot als Beilage. Bescheidene Kost, aber es schmeckte besser als alles, was er sich in den letzten drei Monaten zusammengekocht hatte. Und dass das Bier, so wie er es gewünscht hatte, kaum stärker war als Wasser, war auch in Ordnung. Er wollte hier in Ceunon einen klaren Kopf behalten.
Während er aß, balancierte er den Teller auf einem Knie, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und streckte die Beine aus, als sitze er an einem Lagerfeuer.
Es war ein seltsames Gefühl, unter so vielen Menschen zu sein. In den letzten zwölf Monaten hatte er sich daran gewöhnt, nur Dorn als Gesellschaft zu haben. Nur das Rauschen des Windes und die Rufe der Vögel. Daran, sein Essen selbst zu jagen und selbst gejagt zu werden. Mit den Stadtwachen und mit Sigling zu sprechen – und selbst mit den Steinmetzen –, das war für ihn, als würde er versuchen, ein schlecht gestimmtes Instrument zu spielen.
Er tunkte ein Stück Roggenbrot in die Hammelfleischsoße und schob es sich in den Mund.
Die Tür des Gasthauses schwang auf und ein kleines Mädchen stürmte herein. Ihr dunkles Haar war ordentlich zu zwei lockigen Zöpfen geflochten, ihr Kleid war bunt bestickt, und sie sah aus, als hätte sie geweint.
Murtagh beobachtete, wie das Mädchen durch den großen Raum glitt, leicht wie eine Flaumfeder. Sie schob sich um das Ende des Tresens und Sigling sagte etwas zu ihr. Als sie dort nebeneinanderstanden, bemerkte Murtagh die Ähnlichkeit. Das Mädchen hatte den Mund und das Kinn des Gastwirts.
Dann kam das Mädchen hinter dem anderen Ende des Tresens wieder hervor, einen Teller mit Brot, Käse und einem Apfel in den Händen. Sie hob den Teller über den Kopf und schlängelte sich geschickt und routiniert zwischen den voll besetzten Tischen hindurch, bis sie vor der großen steinernen Feuerstelle ankam. Ohne zu fragen, ließ sie sich auf den Stuhl gegenüber von Murtagh plumpsen.
Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder.
Das Mädchen war nicht älter als zehn, vielleicht sogar erst sechs. Er war noch nie gut darin gewesen, das Alter von Kindern zu schätzen.
Sie riss ein Stück von dem Brotkanten auf ihrem Teller ab und kaute entschlossen, fast wütend darauf herum. Murtagh beobachtete die Kleine neugierig. Es war Jahre her, dass er auf ein Kind getroffen war, und unerwartet faszinierte es ihn. So fangen wir alle an, dachte er. So jung, so rein. Wann war das alles so schiefgegangen?
Das Mädchen sah aus, als würde sie gleich wieder zu weinen anfangen. Sie biss in den Apfel und seufzte frustriert, als der Stiel in der Lücke zwischen ihren Schneidezähnen hängen blieb.
»Du hast dich wohl geärgert«, sagte Murtagh sanft.
Das Mädchen sah finster drein. Sie zupfte den Stiel heraus und warf ihn ins Feuer. »Das ist alles Hjordis’ Schuld!« Sie hatte den gleichen starken nordischen Akzent wie ihr Vater.
Murtagh blickte sich um. Er sah Sarros immer noch nicht, also konnte es nicht schaden, sich ein wenig zu unterhalten. Aber mit Vorsicht. Worte konnten so tückisch sein wie eine Bärenfalle.
»Ach ja?« Er legte seine Gabel weg und wandte sich auf seinem Stuhl ihr zu, um sie besser betrachten zu können. »Und wer ist diese Hjordis?«
»Sie ist die Tochter von Jarek. Er ist der oberste Steinmetz des Fürsten«, antwortete das Mädchen mürrisch.
Murtagh fragte sich, ob dieser Fürst immer noch Fürst Tarrant war oder ob die Elfen bei der Eroberung der Stadt jemand anders an seine Stelle gesetzt hatten. Er hatte Tarrant vor Jahren am Hof kennengelernt: einen großen, in sich gekehrten Mann, der selten mehr als ein paar Worte gesprochen hatte. Der Fürst schien recht anständig zu sein, aber jeder, der jahrelang in Galbatorix’ Gunst gestanden hatte, hatte Eis im Herzen und Blut an den Händen.
»Ich verstehe. Macht sie das zu jemand Wichtigem?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Sie denkt nur, sie wär wichtig.«
»Was hat sie getan, dass du dich derart ärgern musst?«
»Alles!« Das Mädchen biss energisch von dem Apfel ab und kaute kräftig und schnell.
Murtagh sah, wie sie zusammenzuckte, als sie sich anscheinend auf die Innenseite der Wange biss. Tränen traten dem Kind in die Augen und sie schluckte.
Murtagh trank einen Schluck Bier. »Überaus interessant.« Er tupfte sich mit der Serviette etwas Schaum vom Schnurrbart. »Nun denn, ist es eine Geschichte, die du gern erzählen würdest? Vielleicht fühlst du dich besser, wenn du darüber redest.«
Das Mädchen sah ihn an, Argwohn in den blassblauen Augen. Einen Moment lang dachte Murtagh, sie würde aufstehen und gehen. »Mein Papa will bestimmt nicht, dass ich Euch behellige.«
»Ich habe ein wenig Zeit. Ich warte hier auf einen gewissen Geschäftspartner, der leider gewohnheitsmäßig zu spät kommt. Wenn du mir von deinem Kummer erzählen willst, dann bitte. Betrachte mich als aufmerksamen Zuhörer.«
Während er sprach, ertappte sich Murtagh dabei, wie er zu der Sprache und den Formulierungen zurückkehrte, die er am Hof benutzt hätte. Diese Förmlichkeiten fühlten sich sicherer an, und außerdem amüsierte es ihn, mit dem Mädchen zu sprechen, als sei sie eine vornehme Dame.
Das Kind ließ die Beine baumeln und trat mit den Füßen gegen den Stuhl. »Also … Ich würde es Euch gern erzählen, aber das kann ich unmöglich tun, es sei denn, wir wären Freunde.«
»Ist das so? Und wie werden wir Freunde?«
»Ihr müsst mir Euren Namen sagen! Dummkopf!«
Murtagh lächelte. »Natürlich. Wie töricht von mir. Wenn das so ist, ich heiße Tornac.« Er streckte seine Hand aus.
»Essie Siglingstochter.«
Ihre Handfläche und Finger waren klein und verblüffend zart, als sie sich die Hand schüttelten. Murtagh hatte plötzlich das Bedürfnis, behutsam zu sein, als würde er eine zarte Blume berühren.
»Es ist mir ein großes Vergnügen, dich kennenzulernen, Essie. Also, was bedrückt dich?«
Essie starrte auf den halb gegessenen Apfel in ihrer Hand, dann legte sie ihn mit einem Seufzer zurück auf den Teller. »Es ist alles Hjordis’ Schuld.«
»Das sagtest du bereits.«
»Sie ist immer gemein zu mir und bringt ihre Freunde dazu, mich zu piesacken.«
Murtagh wurde ernst. »Das ist gar nicht gut.«
Das Mädchen schüttelte den Kopf und ihre Augen leuchteten vor Empörung. »Genau! Ich meine … manchmal piesacken sie mich auch so, aber, ähm, Hjordis … wenn die dabei ist, ist es wirklich schlimm.«
»So wie heute?«
»Ja. Schon irgendwie.« Sie brach ein Stück Käse ab und knabberte daran, offensichtlich in Gedanken versunken. Murtagh wartete geduldig. Er glaubte, dass er bei ihr – wie bei Pferden – mit Sanftheit weiter käme als mit Druck.
»Vor der Ernte«, sprach Essie schließlich leise weiter, »war Hjordis auf einmal netter zu mir. Ich dachte – ich dachte, vielleicht würde es jetzt besser werden. Sie hat mich sogar zu sich nach Hause eingeladen.« Essie warf ihm einen schüchternen Seitenblick zu. »Sie wohnt gleich oben an der Burg.«
»Beeindruckend.« Allmählich verstand er. Die reicheren Händler hängten sich immer an die Adligen – wie Zecken an Hunde. Neid war ein allgemein menschlicher Wesenszug und auch die anderen Völker waren dagegen nicht gefeit.
Essie nickte. »Sie hat mir eins ihrer Bänder geschenkt, ein gelbes, und gesagt, dass ich zu ihrer Maddentide-Feier kommen darf.«
»Und bist du dort gewesen?«
Sie nickte wieder. »Die Feier – die Feier war heute.« Tränen stiegen ihr in die Augen und sie blinzelte heftig.
»Na komm.« Besorgt zog Murtagh ein verschlissenes Taschentuch aus seiner Weste. Er lebte zwar wie ein Tier in der Wildnis, aber er hatte durchaus noch gewisse Manieren.
Das Mädchen zögerte. Aber dann liefen ihr die Tränen über die Wangen und sie griff nach dem Tuch und wischte sich übers Gesicht. »Danke, Herr.«
Murtagh erlaubte sich ein weiteres schmales Lächeln. »Es ist lange her, seit mich jemand Herr genannt hat, aber du darfst es gern tun. – Ich vermute, das Fest ist nicht so gut gelaufen?«
Essie blickte finster drein und gab ihm das Tuch zurück, obwohl sie immer noch den Tränen nahe schien. »Das Fest war schön. Aber Hjordis – die war wieder gemein zu mir und … und …« Sie holte tief Luft, als müsse sie ihren ganzen Mut zusammennehmen. »Und sie hat gesagt, wenn ich nicht tu, was sie will, sagt sie ihrem Vater, er soll zum Sonnwendfest nicht in unser Gasthaus gehen.« Sie spähte zu Murtagh hinüber, als wolle sie sich vergewissern, ob er ihr folgen konnte. »Alle Steinmetze kommen her zum Trinken, und …« Sie bekam einen Schluckauf. »… sie trinken viel, und das bedeutet, sie lassen stapelweise Kupfermünzen hier.«
Ihre Geschichte weckte in Murtagh viele unangenehme Erinnerungen an die Quälereien durch die älteren Kinder am Hof von Galbatorix. Bevor er gelernt hatte, sich vorzusehen, und bevor Tornac ihm beigebracht hatte, wie er sich wehren konnte.
Ernst stellte er seinen Teller auf den Tisch und beugte sich zu Essie vor. »Was solltest du denn tun?«
Essie senkte den Blick und trat mit ihren schlammigen Schuhen gegen die Stuhlbeine. Als sie zu reden anfing, sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus. »Sie wollte, dass ich Carth in eine Pferdetränke schubse.«
»Carth ist ein Freund von dir?«
Sie nickte unglücklich. »Er wohnt am Hafen. Sein Vater ist Fischer.«
Murtagh empfand plötzlich eine heftige Abneigung gegen Hjordis. Am Hof hatte er viele kennengelernt wie sie: grauenhafte, engherzige Menschen, die unbedingt aufsteigen wollten und dabei allen, die unter ihnen standen, das Leben zur Hölle machten. »Also würde man ihn nie zu einem solchen Fest einladen?«
»Nein, aber Hjordis hat ihre Dienerin geschickt, ihn zu holen, und …« Essie starrte ihn grimmig an. »Ich hatte keine Wahl! Wenn ich ihn nicht geschubst hätte, hätte sie ihrem Vater gesagt, er soll nicht mehr ins Endlose Gelage gehen.«
»Ich verstehe.« Murtagh zwang sich, trotz der aufsteigenden Wut über diese Ungerechtigkeit, ruhig zu bleiben. Es war eine vertraute Gereiztheit. »Du hast also deinen Freund geschubst. Konntest du dich bei ihm entschuldigen?«
»Nein«, murmelte Essie, und sie verzog das Gesicht. »Ich – ich bin weggelaufen. Aber alle haben es gesehen. Er wird nicht länger mein Freund sein wollen. Niemand wird mehr mit mir befreundet sein wollen. Hjordis wollte mich nur austricksen. Ich hasse sie!« Sie schnappte sich den Apfel und biss noch einmal ab. Ihre Zähne schlugen aufeinander.
Murtagh wollte etwas dazu sagen, aber Sigling kam vorbei, um ein paar Krüge auf einen Tisch an der Wand zu stellen. Er warf Essie einen missbilligenden Blick zu. »Meine Tochter fällt Euch doch nicht zur Last, oder, Meister Tornac? Sie hat die schlechte Angewohnheit, Gäste zu belästigen, die hier in Ruhe essen wollen.«
»Ganz und gar nicht.« Murtagh lächelte. »Ich war viel zu lange unterwegs, nur mit der Sonne und dem Mond als Gesellschaft. Ein kleines Gespräch ist genau das, was ich brauche. Ach, und …« Er griff in den Beutel unter seinem Gürtel und gab dem Gastwirt zwei Silberstücke. »… kannst du vielleicht dafür sorgen, dass die Tische neben uns frei bleiben? Ich erwarte einen Geschäftspartner, und wir haben etwas, nun ja, Geschäftliches zu besprechen.«
Die Münzen verschwanden in Siglings Schürze und er nickte beflissen. »Natürlich, Meister Tornac.« Er warf Essie einen weiteren besorgten Blick zu, dann setzte er seinen Weg fort.
Das Mädchen wirkte etwas verlegen.
»Also dann.« Murtagh streckte seine Beine in Richtung Feuer aus. »Du wolltest mir von deinem Kummer erzählen, Essie Siglingstochter. War das der ganze Bericht?«
»Ja, war er«, sagte Essie mit leiser Stimme.
Er nahm die Gabel von seinem Teller und drehte sie zwischen den Fingern. Das Mädchen sah ihm gebannt zu. »Das ist bestimmt alles nicht so schlimm, wie du denkst. Ich bin mir sicher, wenn du es deinem Freund erklärst …«
»Nein«, unterbrach sie ihn energisch. »Er wird es nicht verstehen. Er wird mir nie wieder vertrauen. Sie alle werden mich dafür hassen.«
In Murtaghs Stimme lag ein scharfer Unterton. »Dann waren sie vielleicht gar nicht wirklich deine Freunde.«
Sie schüttelte den Kopf, dass ihre Zöpfe schwangen. »Doch, waren sie! Ihr versteht das nicht!« Ungeduldig schlug sie mit der Faust auf die Armlehne des Stuhls. »Carth ist … Er ist wirklich nett. Alle mögen ihn und jetzt werden sie mich nicht mehr mögen. Ihr könnt das nicht wissen. Ihr seid eben groß und … und alt.«
Murtagh zog die Augenbrauen hoch. »Du wärst vielleicht überrascht, was ich alles weiß. Also, sie werden dich nicht mehr mögen. Was wirst du deswegen unternehmen?«
»Ich werde weglaufen!«, brach es aus dem Mädchen heraus. Als ihr klar wurde, was sie da gesagt hatte, warf sie ihm einen erschrockenen Blick zu. »Erzählt es meinem Papa nicht, bitte!«
Murtagh trank noch einen Schluck von seinem Bier und strich sich über den Bart, während seine Gedanken sich überschlugen. Aus dem unterhaltsamen Geplauder war ein todernstes Gespräch geworden. Wenn er jetzt das Falsche sagte, könnte er Essie auf einen Weg lenken, den sie bereuen würde – und er wusste, dass er es bereuen würde, wenn er nicht versuchte, sie zurück auf den rechten Weg zu führen.
Vorsichtig jetzt, dachte er. »Und wohin würdest du gehen?«
»Nach Süden«, sagte Essie entschlossen. Offenbar hatte sie bereits über diese Frage nachgedacht. »Wo es warm ist. Morgen bricht eine Karawane auf. Der Karawanenführer ist öfter hier. Er ist nett. Ich kann mich hinausschleichen und dann mit ihnen nach Gil’ead reiten.«
Murtagh schnippte mit dem Fingernagel gegen die Zinken seiner Gabel. »Und dann?«
Das Mädchen richtete sich auf. »Ich will das Beor-Gebirge besuchen und die Zwerge sehen! Sie haben unsere Fenster gemacht. Sind sie nicht hübsch?« Sie zeigte darauf.
»Allerdings.«
»Wart Ihr jemals im Beor-Gebirge?«
»Ja«, antwortete Murtagh. »Ein Mal, vor langer Zeit.«
Essie sah ihn mit neu erwachtem Interesse an. »Wirklich? Und sind die Berge so hoch, wie alle sagen?«
»So hoch, dass man die Gipfel nicht einmal mehr sehen kann.«
Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und legte den Kopf in den Nacken, als würde sie sich den Anblick vorstellen. »Wie wunderbar.«
Ihm entfuhr ein Schnauben. »Wenn du außer Acht lässt, dass du mit Pfeilen beschossen wirst, dann ja … Dir ist doch klar, Essie Siglingstochter, dass Weglaufen deine Probleme hier nicht lösen wird.«
»Natürlich nicht.« Dummkopf, sagte ihre Miene. »Aber wenn ich fortgehe, dann kann Hjordis mich nicht länger piesacken.«
Bei ihrem überzeugten Tonfall hätte Murtagh fast gelacht. Er verbarg seine Belustigung, indem er einen großen Schluck aus seinem Krug nahm. Danach hatte er seine Fassung wiedergewonnen. »Vielleicht, und das ist nur ein Vorschlag, könntest du versuchen, das Problem zu lösen, statt wegzulaufen.«
»Das Problem kann man nicht lösen«, behauptete sie trotzig.
»Was ist mit deinen Eltern? Ich bin mir sicher, dass sie dich schrecklich vermissen würden. Willst du ihnen wirklich so viel Kummer bereiten?«
Essie verschränkte die Arme. »Sie haben noch meinen Bruder und meine Schwester und Olfa. Er ist erst zwei.« Sie zog einen Schmollmund. »Sie würden mich nicht vermissen.«
»Das bezweifle ich doch stark«, widersprach Murtagh. »Außerdem, denk darüber nach, was du bei Hjordis getan hast. Du hast geholfen, das Endlose Gelage zu beschützen. Wenn deine Eltern wüssten, welches Opfer du gebracht hast, wären sie bestimmt sehr stolz auf dich.«
»Na ja.« Essie schien nicht überzeugt zu sein. »Ohne mich hätte es überhaupt kein Problem gegeben. Ich bin das Problem. Wenn ich weggehe, wird alles gut werden.« Sie nahm das Kerngehäuse des Apfels und warf es in die Feuerstelle.
Funken stoben den Schornstein hinauf und das Zischen von verdampfendem Wasser übertönte das Knistern der Holzscheite.
Der Ärmel des Mädchens war hochgerutscht, und an ihrem linken Handgelenk bemerkte Murtagh eine gewundene Narbe, rot und erhaben und so dick wie ein Strang. Er fletschte unwillkürlich die Zähne und fragte übertrieben beiläufig: »Was ist das?«
»Was?«, fragte sie.
»Da, auf deinem Arm.«
Essie schaute hin und ihre Wangen und Ohren wurden dunkelrot. »Nichts«, murmelte sie und zog das Bündchen herunter.
»Darf ich?«, fragte Murtagh so freundlich, wie er konnte, und streckte die Hand aus.
Das Mädchen zögerte, doch schließlich nickte sie und ließ zu, dass er ihren Arm berührte.
Sie wandte den Kopf ab, als er behutsam ihren Ärmel hochschob. Die Narbe kroch ihren Unterarm hinauf bis zu ihrem Ellbogen, ein langes, flammendes Zeugnis des Schmerzes. Bei dem Anblick brannte kaltes Feuer in Murtaghs Adern und er spürte einen mitfühlenden Stich in seiner eigenen wilden Narbe auf dem Rücken.
Dann zog er Essies Ärmel wieder herunter. »Das … ist eine sehr beeindruckende Narbe. Du solltest stolz darauf sein.«
Sie sah ihn verwirrt an. »Warum? Sie ist hässlich und ich kann sie nicht ausstehen.«
Ein leises Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Weil eine Narbe bedeutet, dass du überlebt hast. Sie bedeutet, dass du zäh und schwer zu töten bist. Sie bedeutet, dass du am Leben geblieben bist. Eine Narbe ist etwas, das man bewundern muss.«
»Ihr irrt Euch«, widersprach Essie. Sie zeigte auf einen mit Blauglöckchen bemalten Topf auf dem Kaminsims. Ein langer Riss zog sich vom Rand des Topfes bis zum Boden. »Es bedeutet einfach, dass man zerbrochen ist.«
»Ah«, sagte Murtagh sanft. »Aber manchmal, wenn man sich sehr anstrengt, kann man einen Bruch heilen, sodass die Stelle danach stärker ist als zuvor.«
Essie verschränkte die Arme und schob ihre linke Hand in die Achselhöhle. »Hjordis und die anderen verspotten mich deswegen immer«, murmelte sie. »Sie sagen, mein Arm ist rot wie ein Krebs und dass ich deswegen niemals einen Ehemann bekomme.«
»Und was sagen deine Eltern?«
Essie verzog das Gesicht. »Dass das keine Rolle spielt. Aber das ist nicht wahr, oder?«
Murtagh legte den Kopf schräg. »Nein. Das stimmt so wohl nicht. Aber deine Eltern tun ihr Bestes, dich zu beschützen.«
»Sie können mich aber nicht beschützen«, erklärte sie und schnaubte.
Nein, wahrscheinlich können sie das nicht, dachte er, und seine Stimmung verdüsterte sich noch mehr.
Sie sah ihn an und schien auf ihrem Stuhl zusammenzuschrumpfen. »Habt Ihr irgendwelche Narben?«, fragte sie leise und unsicher.
Er stieß ein freudloses Lachen aus. »O ja.« Dann deutete er auf das kleine weiße Mal an seinem Kinn: eine kahle Stelle in seinem ansonsten vollen Bart. »Die hier ist erst ein paar Monate alt. Ein Freund von mir hat sie mir versehentlich zugefügt, als wir herumgespielt haben, der große Tollpatsch.« Dorn hatte Murtagh mit der Spitze einer Schuppe von seinem linken Vorderbein am Kinn erwischt und die Haut aufgerissen. Es war keine schlimme Verletzung gewesen, aber es hatte ziemlich wehgetan und noch mehr geblutet. »Was ist mit deinem Arm passiert?«, fragte er dann.
Essie zupfte an der Tischkante. »Es war ein Unfall«, murmelte sie. »Ein Topf mit heißem Wasser ist auf meinen Arm gefallen.«
Murtaghs Augen wurden schmal. »Er ist einfach so auf dich draufgefallen?«
Das Mädchen nickte.
»Hm.« Murtagh starrte ins Feuer, auf die stiebenden Funken und die wabernde Glut. Er glaubte dem Mädchen nicht. Unfälle passierten, aber so, wie sie sich verhielt, deutete das auf etwas weit Schlimmeres hin.
Sein Kiefer spannte sich und er biss die Zähne aufeinander. Ein warnendes Pochen drang bis in die Wurzel seines rechten unteren Backenzahns. Es gab viele Ungerechtigkeiten, die er zu dulden bereit war, aber eine Mutter oder ein Vater, die ihr Kind vorsätzlich verletzten, gehörte nicht dazu.
Er blickte zum Tresen. Vielleicht musste er ein Gespräch mit Sigling führen, um dem Mann die Furcht vor einem Drachenreiter beizubringen.
Essie rutschte hin und her. »Woher kommt Ihr?«
»Von sehr, sehr weit her.«
»Aus dem Süden?«
»Ja, aus dem Süden.«
Sie trat wieder mit den Füßen gegen die Stuhlbeine. »Wie ist es denn dort so?«
Murtagh atmete tief ein und legte den Kopf in den Nacken, sodass er an die Decke blickte. Das kalte Feuer in seinem Blut brannte noch immer. »Das kommt darauf an, wo du hingehst. Es gibt heiße Orte und kalte Orte, und Orte, an denen der Wind niemals aufhört zu wehen. Wälder, die scheinbar kein Ende nehmen. Höhlen, die sich bis in die tiefsten Tiefen der Erde erstrecken, und Ebenen voller riesiger Herden roter Hirsche.«
»Gibt es dort auch Ungeheuer?«
»Natürlich.« Er richtete seinen Blick wieder auf sie. »Ungeheuer gibt es immer. Einige von ihnen sehen sogar aus wie Menschen … Ich bin selbst von daheim fortgelaufen, musst du wissen.«
»Wirklich?«
Er nickte. »Ich war älter als du. Ja, ich bin weggelaufen. Aber ich bin dem, wovor ich davongelaufen bin, nicht entkommen … Hör mir zu, Essie. Ich weiß, du denkst, durch Weglaufen würde alles besser werden, aber …«
»Da bist du ja, Tornac von der Straße«, erklang eine verschlagene, kriecherische Stimme, die Murtagh sofort erkannte. Sarros.
Der Händler trat zwischen den Tischen hindurch auf sie zu. Er war dünn, ging gebeugt, trug einen geflickten Umhang und darunter zerlumpte Kleidung. Ringe glitzerten an seinen Fingern. Er roch nach nassem Fell und sein Gang hatte etwas Beunruhigendes, Katzenartiges an sich.
Murtagh unterdrückte einen Fluch. Ausgerechnet jetzt musste der Mann auftauchen … »Sarros. Ich habe auf dich gewartet.«
»Der Fluss ist gefährlich in diesen Tagen«, erwiderte Sarros. Er zog den freien Stuhl heraus, stellte ihn genau zwischen Essie und Murtagh und setzte sich so, dass er sie beide ansah.
Mit einem misstrauischen Blick wich das Mädchen auf ihrem Sitz zurück.
Murtagh sah sich im Schankraum um. Er bemerkte sechs Männer, die das Gasthaus betreten hatten, als er abgelenkt gewesen war. Es waren derbe Kerle, aber nicht so wie die örtlichen Fischer. Sie waren mit Pelzen und Leder bekleidet, und wie sie ihre Umhänge um sich geschlungen hatten, sagte Murtagh, dass sie ein Schwert am Gürtel trugen.
Sarros’ Leibwachen. Murtagh ärgerte sich über sich selbst, dass er während des Gesprächs mit Essie gar nicht mehr auf seine Umgebung geachtet hatte. Dabei wusste er es doch besser. So eine Unaufmerksamkeit endete schnell damit, dass man im Gefängnis landete oder starb.
Von der Theke aus beobachtete Sigling die Neuankömmlinge argwöhnisch. Der Wirt zog einen mit Leder umwickelten Knüppel hervor und legte ihn als stumme Warnung neben seinen Wischlappen.
Trotz Murtaghs Vorbehalten, was Siglings Charakter betraf, billigte er dessen Vorsicht. Der Mann war jedenfalls kein Narr, so viel war sicher.
Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Sarros, als der Händler mit einem langen Finger auf Essie zeigte. »Wir haben Geschäftliches zu besprechen. Schick die Kleine weg.«
Nein, ich denke nicht daran, beschloss Murtagh. Er hatte das Gespräch mit dem Mädchen noch nicht zu Ende geführt und zudem könnte ihre Anwesenheit einen mäßigenden Einfluss auf Sarros haben. Der Mann war im besten Fall unkultiviert und im schlimmsten geradezu beleidigend.
»Ich habe nichts zu verbergen«, sagte er. »Sie kann bleiben.« Murtagh sah sie an. »Falls du Interesse hast. Du könntest auf diese Weise vielleicht etwas Nützliches über die Welt lernen.«
Essie wich auf ihrem Stuhl so weit wie möglich zurück, aber sie ging nicht.
Sarros stieß ein lang gezogenes Zischen aus und schüttelte den Kopf. »Wie töricht, Wanderer. Aber wie du willst. Ich werde nicht mit dir streiten, selbst wenn du dich auf den Kopf stellst.«
Murtaghs Blick wurde hart. »Nein, das wirst du nicht. Also verrate mir, was du gefunden hast. Drei Monate sind vergangen und …«
Sarros winkte ab. »Ja, ja. Drei Monate. Ich habe dir doch gesagt, der Fluss ist gefährlich. Aber ich habe eine Spur von dem gefunden, wonach du suchst. Besser noch, ich habe das hier gefunden …« Aus dem Lederbeutel an seinem Gürtel holte er einen faustgroßen schwarzen Brocken hervor, den er auf den Tisch knallte.
Murtagh beugte sich vor, genau wie Essie.
Der Brocken war ein Stein, aber er leuchtete von innen heraus, als sei in seinem Kern ein Stück schwelende Kohle verborgen. Von dem Stein ging ein starker Schwefelgeruch aus, so stechend wie von einem faulen Ei.
Essie roch daran und rümpfte die Nase.
Murtaghs Brust schnürte sich zusammen. Er hatte gehofft, dass er sich irrte. Er hatte gehofft, das Geraune und die Warnungen hätten nichts zu bedeuten … Seid auf der Hut vor den Tiefen und setzt keinen Fuß dorthin, wo der Boden brüchig und schwarz ist und die Luft nach Schwefel stinkt, denn an diesen Orten lauert das Böse. Das hatte der alte Drache Umaroth ihnen geraten, bevor Dorn und er in ihr selbst auferlegtes Exil gegangen waren.
Murtagh hatte gebetet, Umaroth möge sich irren und dass sich keine neue Gefahr in den unbesiedelten Gebieten des Landes erhob.
Er hätte es besser wissen müssen und die Weisheit eines so alten Drachen wie Umaroth nicht infrage stellen sollen.
Ohne den Blick von dem Steinbrocken abzuwenden, fragte er: »Was genau ist das?«
Sarros zog die Schultern hoch. »Ich habe nur den Schatten eines Verdachts. Aber du suchst das Ungewöhnliche, das, was nicht hierhergehört, und das da fällt irgendwie aus dem Rahmen.«
»Waren da noch mehr, oder …«
Sarros nickte. »Das hat man mir gesagt. Ein ganzes Feld voller solcher Steine.«
Murtaghs Brust schnürte sich noch mehr zusammen. »Schwarz und verbrannt?«
»Wie von Feuer versengt, aber ohne eine Spur von Flamme oder Rauch.«
»Woher habt Ihr das?«, fragte Essie.
Sarros lächelte und das Mädchen fuhr zurück. Wie bei vielen von den Reiterstämmen der zentralen Ebenen Alagaësias waren Sarros’ Zähne spitz gefeilt.
Für Murtagh war der Anblick eine unangenehme Erinnerung an einen anderen, noch weniger angenehmen Mann mit ähnlichen Zähnen. Durza.
»Nun, nun«, sagte Sarros, »das ist der springende Punkt, Kleine. Ja, in der Tat.«
Murtagh wollte nach dem Stein greifen, aber Sarros legte rasch die Hand über den leuchtenden Brocken und schloss die Finger darum. »Nein«, sagte er. »Münzen zuerst, Wanderer.«
Ungehalten fischte Murtagh einen kleinen Lederbeutel aus der Innentasche seines Umhangs. In dem Beutel klirrte es, als er ihn auf den Tisch legte.
Sarros’ Lächeln wurde breiter. Er löste hastig die Schnur des Beutels und die Goldmünzen darin blinkten im Licht. Essie sog scharf die Luft ein. Murtagh bezweifelte, dass sie schon einmal eine ganze Goldkrone gesehen hatte.
»Die Hälfte jetzt«, sagte er, »und den Rest, wenn du mir sagst, wo du das da gefunden hast.« Murtagh tippte mit der Fingerspitze gegen den Stein.
Ein seltsam erstickter Laut drang aus Sarros’ Kehle. Gelächter. »O nein, Wanderer«, stieß er dann hervor. »Wirklich nicht. Ich denke, stattdessen solltest du uns den Rest deiner Münzen gleich geben. Dann lassen wir dich vielleicht deinen Kopf behalten.«
Auf der anderen Seite des Schankraums schoben die mit Pelzen bekleideten Männer die Hände unter ihre Umhänge und Murtagh erkannte die halb darunter versteckten Schwertgriffe. Er war zwar nicht überrascht, aber er war enttäuscht. Brach Sarros wirklich aus reiner Habgier ihre Abmachung?
Wie gewöhnlich.
Essie bemerkte die Schwerter ebenfalls und ihre Augen weiteten sich. Verdammt! Bevor Murtagh eingreifen konnte, beugte sie sich vor und wollte offenbar einen Warnschrei ausstoßen, als Sarros ein Messer mit dünner Klinge zückte und es ihr an die Kehle drückte.
»O nein«, zischte er. »Kein Pieps von dir, Kleine, sonst schlitze ich dir die Kehle der Länge nach auf.«
Die Anspannung in Murtaghs Brust schien zu explodieren. Im selben Moment hörte er auf, Sarros als eine Person zu betrachten. Vielmehr wurde der Mann zu einer Sache, zu einem Problem, das schnell und unverzüglich gelöst werden musste.
Essie erstarrte, als das Messer des Händlers ihren Hals berührte. Das war das Klügste, was sie tun konnte.
Besorgt berührte Dorn Murtaghs Geist. Er machte sich bereit, loszufliegen, um ihm zu Hilfe zu kommen. Murtagh antwortete mit einem entschiedenen: Nein, mach das nicht! Das Letzte, was er jetzt brauchte, war, dass der Drache nach Ceunon stürmte.
Murtagh tat sein Bestes, um seine Gefühle zu verbergen, und sagte ruhig: »Warum der plötzliche Gesinnungswandel, Sarros? Ich zahle dir gutes Geld.«
»Jaaa. Das ist genau der Punkt.« Sarros beugte sich vor und zog die Lippen auseinander. Sein Atem stank nach fauligem Fleisch. »Wenn du bereit bist, so viel für Andeutungen und Gerüchte zu bezahlen, dann musst du mehr Münzen als Verstand haben. Viel mehr Münzen.«
Du bist so dumm, schalt Murtagh sich. Er hätte erkennen müssen, dass es zu Problemen führen würde, wenn er so mit Gold um sich warf. Aber diesen Fehler würde er nicht noch einmal machen.
In Wahrheit hatte er schon fast alles an Münzen ausgegeben, was er mitgenommen hatte, als er mit Dorn in die Wildnis geflüchtet war. Er war zu gierig nach Informationen gewesen und jetzt kostete ihn dieses unersättliche Verlangen mehr als nur Geld.