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Auf einem Steilhang des Monte Croce di Muggio hoch über dem Comer See wird ein Mann angetroffen, der offenbar mit den Vögeln redet. Kurz darauf stürzt dieser Hang in die Tiefe. In kurzem Abstand gibt es weitere Erdrutsche in den Alpen. Haben die Vögel vor diesen Naturkatastrophen gewarnt? Ab jetzt begleiten den »Vogelmann« eine renommierte Krähenforscherin und ein Bergsteiger, der sich um die Natur sorgt. Die Schweiz bittet um Amtshilfe, die katholische Kirche glaubt, in dem Mann einen neuen Franziskus zu erkennen. Für die Klimabewegung wird er ebenso eine Leitfigur wie für eine Unternehmensberaterin, die sich für ein nachhaltiges Geschäftsmodell in den Alpen einsetzt. Rund um den Comer See prallen die Akteure aufeinander. Dabei offenbart sich Scheinheiligkeit in Politik und Ökonomie ebenso wie Aktionismus und Wunschdenken der Umweltschützer angesichts der Klimakatastrophe. – Der furiose Auftakt einer neuen Buchreihe. Mit kritischer Fantasie entwerfen die Autoren mögliche Versionen der allernächsten Zukunft.
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Seitenzahl: 436
Veröffentlichungsjahr: 2025
SPINNEN WOLKENSTEIN
ERDRUTSCH
ROMAN
kanon verlag
ISBN 978-3-98568-161-7
eISBN 978-3-98568-162-4
1. Auflage 2025
© Kanon Verlag Berlin GmbH, 2025
Belziger Straße 35, 10823 Berlin
Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining
im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.
Covergestaltung: zero-media.net
Herstellung: Daniel Klotz / Die Lettertypen
Satz: Ingo Neumann / boldfish
Karte: Ingo Neumann unter Verwendung
eines Fotos von iStock / Daniele Mezzadri
Druck und Bindung: Pustet, Regensburg
Printed in Germany
www.kanon-verlag.de
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MÄRZ
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OSTERN
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Spinnen / Wolkenstein
Erdrutsch
2. Oktober
Monte Croce di Muggio
Es ist der Tibeter, der den Vogelmann findet. Später sollte es immer wieder heißen, wie unwahrscheinlich es doch gewesen sei, dass der Vogelmann überhaupt gefunden wurde, in diesem abgelegenen und steilen Hang am Monte Croce di Muggio im Alto Valsassina, östlich des Comer Sees. Der Tibeter war vermutlich der einzig in Frage kommende Mensch, den Vogelmann zu finden, im genau richtigen Moment. Niemand sonst in der Gegend verfügt über seine Ortskenntnis und Trittsicherheit, niemand sonst weiß von den Pilzen, die dort wachsen.
Der Tibeter ist übrigens kein Tibeter, sondern Italiener, aber er wird von allen nur Il Tibetano genannt, weil er mehrfach den Himalaya bereist und dabei den Mount Everest und den Nanga Parbat bestiegen hat. Er heißt Aurelio Campanna, ist Ende Vierzig, schlank und sportlich, er gilt als einer der besten Bergsteiger der Region. Von seinen Reisen hat er die Liebe zur Kultur der Tibeter mitgebracht. Deshalb klingeln auch Glöckchen und wehen bunte Gebetsfahnen vor seinem Rifugio, der Hütte auf der Alpe Giumello, die er mit seiner Familie bewirtschaftet. Alle paar Jahre lädt er tibetische Mönche zu sich ein. Sie unternehmen lange Wanderungen, und an den Abenden legen sie mit farbigem Sand ein großes Mandala aus, das sie nach seiner Vollendung hinwegfegen, als Zeichen der Entsagung von materiellen Gütern.
An diesem Nachmittag im Spätherbst ist Aurelio auf dem Monte Muggio unterwegs. Die Pilzsaison neigt sich dem Ende zu, die leicht zugänglichen Pilzgründe sind längst geplündert, aber es bleibt noch der steile Nordwesthang, an dem er jede Kante und Spalte kennt. Vorsichtig arbeitet er sich hinunter zu einer nur wenige Meter breiten, aber langgestreckten Plattform, einer Art Felsbalkon. Die Sonne verschwindet gerade am gegenüberliegenden Ufer des Comer Sees hinter den Bergen, im Restlicht stimmen die Vögel ihr Abendlied an.
Angekommen auf dem Felsbalkon, entspannt Aurelio sich. Hier ist sicherer Grund, ein kleines Biotop für sich. Hier wachsen Haselnüsse und Steinpilze, aber außer wagemutigen Ziegen und gelegentlich ihm selbst gibt es niemanden, der sie erntet. Er schnallt seinen Rucksack ab und geht vor einer Kolonie prächtiger Steinpilze in die Hocke, da hört er den Warnruf eines Eichelhähers. Er tönt lauter, vehementer, ja, hysterischer, als er ihn jemals gehört hat. Aurelio richtet sich auf, sucht die Umgebung ab, bewegt sich langsam vorwärts. Da sieht er im Halbdunkel, schattenrissartig abgehoben vor dem westlichen Himmel, eine Gestalt, offenbar die Quelle der Vogelstimme. Es ist ein Mensch, er hockt am Rand des Felsbalkons, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, den Kopf in den Nacken geworfen. Und er schreit tatsächlich wie ein Eichelhäher.
Als Aurelio näher herankommt, erkennt er einen Mann, der angegriffen und energisch zugleich wirkt. Er ist barfuß, trägt nur Hose und Unterhemd. Mit einer ruckartigen Drehung wendet er Aurelio sein Gesicht zu, reißt den Kopf noch tiefer in den Nacken, schreit noch lauter und hüpft am Rand des Balkons entlang.
Aurelio tut, was er für richtig hält, und zieht sich ein Stück zurück. Der Mann beruhigt sich. Er leckt seine Achselhöhlen, schüttelt und reckt sich, dreht erneut ruckartig den Kopf, fixiert den Neuankömmling.
»Kann ich Ihnen helfen?«, sagt Aurelio, zuerst auf Italienisch, dann auf Englisch. Keine Reaktion.
»Haben Sie Durst? Möchten Sie etwas trinken?« Er holt eine Wasserflasche aus dem Rucksack und hält sie dem Vogelmann hin, doch der kann das freundliche Angebot offenbar nicht deuten und fühlt sich stattdessen bedroht. Seine Schreie werden intensiver, er scheint sie jetzt aus dem ganzen Körper zu holen, immerhin der Klangkörper eines ausgewachsenen Menschen. Ungehindert breitet der Schall sich zwischen den Bergen aus. Aurelio registriert die Resonanz der anderen Vögel. Der ganze Hang gerät in Aufruhr, es piept, zirpt und ruft aus Tausenden Kehlen. Dabei wechselt der Vogelmann jetzt immer wieder seine Stimme. Wer es wie der Tibeter versteht, der erkennt die Rufe von Rotkehlchen, Alpenbraunellen, Bergpiepern und Kolkraben.
Aurelio schaut nach dem Licht. Sehr bald muss er den Hang wieder hinaufsteigen, sonst wird es dafür zu dunkel sein. Er wirft noch einen letzten Blick auf den Vogelmann, prägt sich Details ein und macht sich an den Aufstieg. Eine halbe Stunde später hat er den Rundweg erreicht. Als er in seinem Rifugio ankommt, stehen bereits die ersten Sterne am Himmel. Seine Familie sitzt beim Abendbrot, seine Mutter, seine Frau und sein Sohn. Er berichtet von seiner Begegnung.
»Hast du einen Schlafsack gesehen?«, sagt der Sohn. »Oder ein Zelt?«
»Nein. Keinerlei Ausrüstung. Der Mann hatte nicht einmal Schuhe an.«
»Die Nacht wird kalt«, sagt die Mutter. »Was willst du unternehmen?«
Aurelio ruft einen alten Schulfreund an, den Capitano der örtlichen Forstpolizei. Da sei ein verwirrter Mensch auf einem Felsbalkon, sagt er, da müsse man etwas tun.
»Wie stellst du dir das vor?«, sagt der Capitano. »Den Hang kann außer dir kaum jemand klettern, und es ist stockdunkel. Ich kann da niemanden hinschicken. Ruf die Bergrettung an. Die sollen es mit dem Heli versuchen.«
Bei der Bergrettung meldet sich der Wachhabende. »Wie ist der Kerl denn dahin gekommen, hat er sich abgeseilt?«
Offenbar nicht, Aurelio hatte auch kein Seil gesehen.
»Die Menschen sind verrückt«, sagt der Bergretter. »Jedenfalls können wir im Dunkeln nichts machen. Wir müssen an unsere eigene Sicherheit denken. Schon mal gesehen, wenn so ein Rotorblatt einen Ast trifft?« Er will keine Antwort auf seine Frage. »Wir starten morgen gleich bei Sonnenaufgang.«
Aurelio berichtet der Familie von seinen Telefonaten. »Dann lasst uns jetzt für den Mann beten«, sagt die Mutter. Und das tun sie. Anschließend checkt Aurelio seine Wetter-App. Immerhin soll es über Nacht nicht frieren.
3. Oktober
Monte Croce di Muggio und Lecco
Um kurz nach sieben fliegt der rote Heli der Bergrettung von Lecco aus hoch auf die Alpe Giumello, um dort Aurelio, den Tibeter, abzuholen. Drinnen sitzen der Pilot, eine Notfallmedizinerin und der Teamchef der Rettungseinheit. Nebel wabert über dem Comer See, er schiebt sich die Hänge empor wie kochende Milch in einem Topf, erst oberhalb von 1.200 Metern wird die Sicht besser.
Kaum ist Aurelio an Bord, heben sie wieder ab. »Bieg um die Ostflanke«, sagt er, »dann geh auf 1.500 Meter.«
»Was meinst du?«, sagt der Teamchef. »Ist der Mann nur vorübergehend durch den Wind oder komplett verrückt?«
Aurelio zögert mit seiner Antwort. »Schwer zu sagen. Ich denke, er hält sich für einen Vogel. Wie lange schon, weiß ich nicht, wie lange noch, auch nicht. Das werden uns vielleicht die Psychologen sagen. Aggressiv hat er nicht auf mich gewirkt. Ich hatte eher den Eindruck, er wusste, was er tat, und wollte dabei nicht gestört werden.«
Der Teamchef sieht ihn zweifelnd an. »Da spricht wieder der Buddhist aus dir, oder? Wer mit nackten Füßen und ohne Ausrüstung auf 1.500 Metern übernachtet, ist für mich eindeutig verrückt.«
»Da vorne«, sagt Aurelio. »Auf elf Uhr.«
Der Heli schwenkt in Richtung Berg und nähert sich dem Felsbalkon.
»Warte einen Moment«, sagt der Teamchef zum Piloten. »Ich will ihm möglichst wenig Zeit zum Ausflippen geben. Wenn er in Panik von der Klippe springt, müssen wir viele Formulare ausfüllen.«
»Was schlägst du vor?«, sagt der Pilot durch den Motorenlärm.
»Der Tibeter und ich lassen uns mit der Seilwinde runter. Soweit wie möglich weg von dem Typen, und dann gehst du gleich wieder auf Abstand. Wir sorgen dafür, dass er keine Zeit hat, Unfug zu machen.«
Kurz darauf werden die beiden so abgeseilt, wie der Teamchef es angeordnet hat. Vom Vogelmann ist nichts zu sehen. Sie durchsuchen das Gelände, umrunden die Bäume, kriechen sogar in die Haselnusssträucher, suchen nach Felsspalten, in denen sich ein Mensch verstecken könnte. Alles ohne Erfolg.
»Meinst du, er ist weggeflogen?«, sagt der Teamchef, und Aurelio versteht, dass das kein Witz sein soll. Er weiß, dass die Leute von der Bergrettung sich jedes Todesopfer zu Herzen nehmen. Er will antworten, aber dann hält er inne. Warum sind keine Vogelstimmen zu hören? Der Heli hat sich zurückgezogen und ist bloß noch als fernes Brummen zu hören. Die Stille ist ungewöhnlich, ja, verdächtig. Aurelio schaut nach oben, und da sieht er ihn. Der Vogelmann ist in eine Buche geklettert, der Himmel mag wissen, wie. Er sitzt auf einem kräftigen Ast, wieder in der Hocke, und sieht auf Aurelio herunter, ganz ruhig und unaufgeregt, als hätte er ihn erwartet.
»Guten Morgen«, sagt Aurelio. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
Der Teamchef dreht sich erschrocken um und erfasst die Szene. »Das glaube ich jetzt nicht«, sagt er leise.
»Möchten Sie vielleicht etwas trinken?«, versucht es Aurelio, doch der Vogelmann antwortete nicht, zeigt keine Reaktion, schaut ihn vielmehr nach Vogelart unverwandt an.
»Mann!«, ruft der Teamchef. »Sie müssen doch völlig durchgefroren sein! Kommen Sie da runter, wir haben heißen Tee.« Der Vogelmann beachtet ihn nicht, schaut weiterhin nur den Tibeter an.
Was will er bloß?, denkt Aurelio. Da kommt ihm eine Idee. Er setzt an und imitiert den Warnruf des Eichelhähers. Damit hatte der Mann sein Vogelstimmenkonzert gestern Abend begonnen: ein lautes, machtvolles Rätschen.
Der Vogelmann reagiert unverzüglich. Er richtet sich auf und springt mit ausgebreiteten Armen kraftvoll nach vorne, in Richtung eines tieferen, dünneren Astes. Er greift ihn mit der rechten Hand und lässt sich daran auspendeln wie an einer Reckstange, um sich schließlich kurz vor dem Rand des Felsbalkons aus Schrankhöhe herabfallen zu lassen. Sofort geht er wieder in seine Hockstellung. Aurelio und der Teamchef verfolgen es mit offenem Mund. Eine Nummer für den chinesischen Staatszirkus. Woher nimmt der Mann bloß dieses Maß an Körperbeherrschung? Und das nach einer eiskalten Nacht in den Bergen.
Aurelio setzt sich in Bewegung und nähert sich ihm behutsam. Der Vogelmann steht auf und kommt ihm entgegen, dabei streckt er seine Arme mit überkreuzten Handgelenken nach vorne aus, als sollten ihm Handschellen angelegt werden. Der Teamchef entfaltet die Rettungsdecke und breitet sie dem Mann über die Schultern, Aurelio reicht ihm wie am Tag zuvor seine Trinkflasche, diesmal mit heißem Tee. Jetzt ist der Mann einverstanden. Er trinkt in kleinen Schlucken, schmatzt und gurgelt dabei.
»Pilot, bitte kommen«, sagt der Teamchef in sein Funkgerät. »Rescue drei, ich wiederhole: Rescue drei.« Ein Krächzen kommt als Antwort. Er klopft dem Tibeter auf die Schultern und flüstert ihm ins Ohr. »Das war klasse! Der Warnruf des Eichelhähers, Respekt, auf die Idee muss man erst mal kommen.«
Aurelio antwortet mit einem Kopfnicken.
»Der Typ scheint ganz gut beieinander zu sein, aber ich habe das volle Programm angeordnet. Vielleicht hat er eine von diesen Spezialbegabungen, Asperger-Syndrom oder sowas in der Art.« Er wendet sich um. »Da kommt der Heli.«
Wieder wird die Seilwinde heruntergelassen, diesmal mit der Notfallärztin und einer Rettungstrage am Haken. Der Vogelmann scheint das alles gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. Sicher gelandet, leuchtet die Ärztin ihm in die Augen und fühlt seinen Puls. Sie macht ein Daumen-hoch-Zeichen. Widerstandslos lässt der Mann sich auf der Trage festbinden. Gemeinsam werden die beiden hochgezogen, dann kommt die Seilwinde zurück, um den Teamchef und den Tibeter abzuholen.
»Direkt ins Hospital nach Lecco«, schreit der Teamchef gegen den Lärm, noch bevor die Türen geschlossen werden. Der Flug dauert knapp fünfzehn Minuten. Währenddessen untersucht die Ärztin weiter den Vogelmann. Das Ergebnis ist überraschend genug: keine Unterkühlung, keine Verletzungen, er hat noch nicht mal Schürfwunden. Er scheint zu lächeln, ganz schwach, wie aus weiter Ferne.
Im Hospital angekommen, begleiten sie den Patienten in die Notaufnahme. Der diensthabende Arzt hört sich die Geschichte an und prüft derweil die Reflexe des Vogelmanns, der wie unbeteiligt auf einem Untersuchungstisch sitzt und die Beine ganz leicht baumeln lässt.
»Die Identität des Patienten ist uns nicht bekannt«, erklärt derweil der Teamchef. »Wir haben ihn so gefunden, wie er ist, sonst keine Sachen. Wir müssen in der Zentrale nach Vermissten fragen.«
»Tun Sie das«, sagt der Arzt. »Und nehmen Sie den Mann am besten gleich wieder mit. Medizinische Maßnahmen sind nicht angezeigt. Also können wir ihn nicht hierbehalten, womöglich gegen seinen Willen.«
»Aber der Mann ist doch verrückt«, sagt der Teamchef.
Der Arzt lacht. »›Verrückt‹ ist kein medizinisch belastbarer Begriff. Vielleicht ist er stumm. Oder er hat einfach keine Lust zu reden.«
»Dann müsste er ja schreiben können.« Sogleich fällt dem Teamchef auf, wie blödsinnig dieser Satz ist. Doch da hat die Notfallärztin schon Block und Stift aus ihrem Rucksack geholt. Sie geht zum Vogelmann, hält ihm beide vors Gesicht und legt sie neben ihn auf den Untersuchungstisch. Der Vogelmann blickt hin und her, der Notärztin in die Augen, dann auf den Block, dann schaut er den Teamchef an und wieder auf den Block. Schließlich nimmt er Block und Stift in die Hand, mit einer schnellen, routinierten Bewegung, ganz wie ein durch und durch gesunder Mensch. Er schreibt etwas auf und legt den Block neben sich.
Der Teamchef seufzt erleichtert auf. »Warum denn nicht gleich so.« Aurelio nimmt den Block und schlägt ihn auf. »Kraa Kraa«, steht da in großen, geraden Druckbuchstaben. Er zeigt es den anderen.
»Bringen Sie ihn nach Bellano in die Casa San Francesco«, sagt der Arzt. »Die haben Erfahrung mit Leuten, die glauben, ein Tier zu sein. Soll häufiger vorkommen hier in den Bergen. Sie können unsere Ambulanz benutzen. Es ist ja nicht weit.«
Sie verabschieden sich. Die Notärztin ist ein bisschen enttäuscht darüber, dass sie kein Leben retten konnte. Der Teamchef ist froh, dass er und die Bergrettung ohne großen Formularaufwand aus der Geschichte raus sind. Und Aurelio dämmert, dass ihm da ein Mensch in sein Leben geflogen ist, der ab jetzt womöglich sein Schutzbefohlener sein wird.
3. Oktober
Bellano
Die Casa San Francesco, das Heim für die confusi, liegt am östlichen Stadtrand von Bellano, wo die Straße bereits begonnen hat, sich in Serpentinen den Berg hoch Richtung Vendrogno zu winden. Der schlichte Gebäudekomplex rund um einen unzugänglichen Innenhof verrät so gut wie nichts über seine Entstehungszeit. Tatsächlich stand hier bereits ein Kloster, als Bellano noch ein ärmliches Fischerdorf war.
Die Schwester Oberin der Casa, eine hochgewachsene, schlanke Frau in den Fünfzigern, nimmt sich des Vogelmanns ohne jedes Zögern an. Er ist ihr auf Anhieb sympathisch. Sie führt ihn direkt in den Speisesaal, wo er von den anderen Insassen wohlwollend begrüßt oder vollkommen ignoriert wird. Gehorsam lässt er sich an seinen Platz führen. Im Krankenhaus hat man ihn mit Wegwerf-Kleidung in op-grüner Farbe versorgt, dazu trägt er Wegwerf-Schlappen. Seine eigene Kleidung sei verschmutzt gewesen, hat man der Schwester erklärt, Schuhe habe er keine getragen.
Sie wird ihm später etwas zum Anziehen bringen, doch jetzt soll der arme Mann sich erst einmal von innen aufwärmen. Und er muss hungrig sein nach einer Nacht in den Bergen. Dankbar registriert die Schwester Oberin, dass er die Zuppa di Farro zügig löffelt, eine warme Gerstensuppe, die beste Stärkung für einen geschwächten Körper.
Sie betrachtet ihren seltsamen Gast beim Essen genauer. Er ist schlank, mager fast, aber auch kräftig und zäh. Sein Gesicht ist offen, der Blick klar und neugierig, vielleicht ein wenig stechend. Sein Oberkörper wiegt dauernd ganz leicht hin und her, womöglich einem inneren Rhythmus folgend, seine Füße sind nie ganz still, er trippelt auf der Stelle. Auf die Schwester Oberin macht er trotz seiner Geschichte und seines lächerlichen Aufzugs einen kultivierten Eindruck. Und sie fragt sich: Ist es ein Zeichen, dass ausgerechnet heute, am Tag vor dem Gedenktag des heiligen Franziskus von Assisi, dem Namenspatron der Casa, ein Mensch ihrer Obhut übergeben wird, der mit den Vögeln gesprochen hat? Und wenn ja, was will ihr dieses Zeichen sagen?
Als könnte der Mann die Gedanken der Schwester Oberin lesen, beginnt er mit einem Konzert aus Trällern, Zwitschern und Flöten, das im Saal sofort mit Applaus und anerkennenden Pfiffen quittiert wird. Was für eine fröhliche Stimmung am Vortag unseres Festes, denkt die Schwester Oberin.
Nach dem Essen kleidet sie ihn ein. Er bekommt neue Unterwäsche, eine weit geschnittene Hose aus grauer Wolle, dazu einen handgestrickten Pullover aus dem schweizerischen Teil des Bergell, zinnoberrot, sowie braune Strümpfe und braune Halblederschuhe. Den Pullover hat die Schwester Oberin schon lange im Fundus, er stammt aus einem Nachlass. Jetzt hat sie sich seiner erinnert wegen der Vogelornamente, die in Schwarz auf die Brust gestickt sind. Die Verteilung der Kleidung an die Gäste übernimmt sie immer persönlich, sie hat sich in den Kopf gesetzt, die Menschen nicht einfach anzuziehen, sondern typgerecht zu kleiden. Das fordert die Menschenwürde. Auch wenn sie selbst keinen Wert auf ihr Äußeres legen, sollen die Leute ansehnlich sein. Bei Francesco Nuovo, wie sie den neuen Gast für sich schon nennt, hat sich ihre Wahl von selbst ergeben. Das Schicksal hat diesen Mann und diesen Pullover zusammengeführt.
Nach der Einkleidung will sie ihn zu seinem Zimmer bringen. Als sie durch den Innenhof zum Wohntrakt gehen, flötet der Mann eine Lautfolge, die sogleich von Dutzenden Vögeln beantwortet wird. Er bleibt stehen, sieht die Schwester Oberin an und deutet auf die große Platane am Nordausgang der Casa. Die Schwester nickt, und der Mann eilt davon. Sie folgt ihm langsam, ohne jede Eile. Niemand wird hier gefangen gehalten, die Menschen sind frei. Sie sollen im Einklang mit der Natur und den Tieren leben, wie es der heilige Franziskus getan hat.
Unterwegs schaut die Schwester in der Kapelle nach den Vorbereitungen für das morgige Fest. Dann erreicht sie die majestätische Platane. Solange sie denken kann, treffen sich hier die Krähen aus der Umgebung zu ihrem abendlichen Palaver, bevor sie ihre Schlafplätze weiter oben in den Bergen beziehen. Vielleicht hundert oder hundertfünfzig von ihnen sind jetzt versammelt. Francesco Nuovo ist auf das Pförtnerhaus geklettert und hockt dort, die Arme nach hinten abgewinkelt. Er kräht.
Die Schwester Oberin glaubt ein Gespräch zwischen ihm und den Vögeln in unterschiedlicher Lautstärke zu vernehmen. Der Mann beginnt mit einer Folge von kräftigen, schneidenden Rufen, darauf antworten die Krähen mit einem allgemeinen Geschnatter, sehr intensiv, wenngleich deutlich leiser. Dabei wenden sie sich nicht, wie der Mann, an die ganze Versammlung, sondern nur an ihre Nachbarn. Er selbst wartet ab, bis das Geschnatter verebbt. Dann kräht er wieder, und die Versammlung in der Platane scheint zu diskutieren, was er gesagt hat.
Die Schwester Oberin wendet sich ab. Sie hat genug gesehen und vor allem gehört. Der Mann hat ohne Zweifel eine überirdische Begabung. Spontan beschließt sie, das morgige Franziskus-Fest bis in den Nachmittag zu verlängern, wenn die Krähen kommen. Sie wird Francesco Nuovo dann wieder zu der Platane führen. Vielleicht wiederholt er sein Gespräch mit den Vögeln, vor allen Gästen, inklusive den Vertretern der lokalen Presse, die sich ansonsten wenig für die Casa interessieren. Sie hofft es sehr.
4. Oktober
Dervio und Bellano
Am nächsten Morgen ruft Aurelio die Carabinieri an, um sich nach Vermisstenanzeigen zu erkundigen. Nur ein Fall passt auf das Profil eines etwa 50-jährigen Mannes. Ein Veterinär aus Dervio, Dottore Giorgio Colombo, ist gestern von seiner Nachbarin als vermisst gemeldet worden. Aurelio schildert seine Vermutung. Er selbst wolle sich um die Sache kümmern. Dem Polizisten ist es recht, er nennt die Adresse der Nachbarin.
Am Nachmittag fährt Aurelio am Seeufer entlang nach Norden. Nicht einmal fünf Kilometer sind es bis Dervio. Dort klingelt er bei der Nachbarin. »Aurelio Campanna. Guten Tag, und entschuldigen Sie bitte die Störung. Ich komme wegen der Vermisstenanzeige, die Sie aufgegeben haben.«
»Haben Sie ihn gefunden?«, platzt die Frau heraus. Ob er Polizist oder was sonst er ist, will sie gar nicht wissen. Aurelio zeigt ihr ein Foto, das er mit seinem Smartphone in der Casa gemacht hat. »Ist er das?«
Die Nachbarin stöhnt auf. »Ja, das ist Giorgio. Aber er sieht so mitgenommen aus. Und was trägt er da für Sachen? Ist er krank? Was ist denn passiert?«
Aurelio erzählt ihr, wie sie den Veterinär auf dem Monte Croce di Muggio gefunden und ins Hospital gebracht haben. »Er hat keine Verletzungen, benimmt sich aber seltsam. Und er spricht nicht, also nicht wie ein Mensch. Wir haben ihn gestern in die Casa San Francesco gebracht.«
»Zu den Konfusen?« Die Nachbarin reißt die Augen auf.
»Ich denke, man kümmert sich dort sehr gut um ihn. Ich müsste jetzt seinen Ausweis oder irgendwelche Papiere haben. Und vielleicht die Adressen von Verwandten oder Freunden, die informiert werden sollten.«
»Verwandte hat er nicht.« Die Frau schüttelt den Kopf. »Und Freunde eigentlich auch nicht. Er bleibt sehr für sich, wissen Sie. Eigentlich spricht er nur mit seinen Patienten. Das heißt, mit deren Besitzern. Aber er hat mir einen Schlüssel gegeben. Nur zur Sicherheit natürlich. Er ist doch so oft unterwegs und mit seinen Vogelsachen beschäftigt. Wir können nachsehen.«
Sie verschwindet kurz und kommt mit einem Schlüsselbund zurück. Zum Nachbarhaus sind es nur wenige Schritte. Im Untergeschoss ist die Praxis. Hier ist alles penibel aufgeräumt, ein Büro scheint es nicht zu geben.
»Wo könnte er seine Dokumente haben? Führerschein, Pass und dergleichen?«
»Wahrscheinlich oben.«
Eine schmale, gewundene Treppe führt in den ersten Stock. Drei Zimmer und ein Bad. Ein Schlafzimmer, geradezu asketisch möbliert, ein Büro, das offenbar der Verwaltung der Tierarztpraxis dient, und schließlich ein Raum, der etwas mehr über seinen Bewohner auszusagen verspricht. An den Wänden Regale mit großformatigen Bildbänden, Fotoalben, Tonbandkassetten und Notizbüchern mit aufgedruckten Jahreszahlen. Auf dem großen Schreibtisch vor dem Fenster liegt eine analoge Kameraausrüstung, die womöglich einmal ein Vermögen gekostet hat. Daneben ein Laptop neueren Baujahrs. Ein großer Monitor versperrt die Hälfte der Aussicht auf die gegenüberliegende Straßenseite.
»Die Vögel sind sein Hobby?«, sagt Aurelio.
»Man sollte es wohl eher eine Leidenschaft nennen. Vielleicht ein bisschen übertrieben, wenn Sie mich fragen.« Die Nachbarin macht eine entschuldigende Handbewegung.
Aurelio öffnet die Schubladen des Schreibtischs und findet den Reisepass des Veterinärs. Er ist abgelaufen, der Mann auf dem Foto sieht deutlich jünger aus, das Haar noch voller und dunkler, aber er hat dieselben markanten Züge und stechenden Augen. Es kann keinen Zweifel geben.
In einer anderen Schublade liegt ein Adressbuch, das auf den ersten Blick unbenutzt aussieht. Aurelio blättert durch die spärlich beschrifteten Seiten. Offenbar keine sozialen Kontakte außerhalb seiner Arbeit, wie die Nachbarin es gesagt hat. Es finden sich nur Einträge wie die von Telekom Italia, verschiedenen Handwerkern und einer Autowerkstatt. Unter M ein Eintrag, der nur aus den Buchstaben mpi und einer deutschen Telefonnummer besteht.
»Ich nehme den Pass und das Adressbuch mit«, sagt Aurelio. »Ich bringe ihm das in die Casa San Francesco.«
»Tun Sie nur, was Sie für richtig halten«, sagt die Nachbarin. »Der arme Mann. Wie konnte es nur dazu kommen?« Aurelio spürt eine Aura unerfüllter Wünsche. Er verabschiedet sich rasch. Aus dem Auto heraus ruft er die deutsche Nummer an und landet in der Telefonzentrale des Münchner Max-Planck-Institutes für biologische Intelligenz.
»I tried to connect with line extension 16«, sagt er.
»That would be our leading crow researcher, Dr. Emilia Brunner. She is not in her room. I’ll make sure she will call you back at the latest tomorrow.«
Aurelio bedankt sich, hinterlässt seine Nummer und legt auf. Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz? Und eine leitende Krähenforscherin? Das würde immerhin passen. Er ist schon wieder auf der Uferstraße nach Bellano, als ein Anruf seine Gedanken unterbricht.
Es ist der Teamchef der Bergwacht. »Sitzt du?«, sagt er ohne jede Einleitung.«
Aurelio bejaht.
»Dann halt dich mal zusätzlich fest. Der Nordwesthang vom Monte Muggio ist abgegangen. Genau dieser Vorsprung, von dem wir den Vogelmann abgeholt haben.«
»Sind Menschen – «, sagt Aurelio.
Der Teamchef lässt ihn nicht ausreden. »Zum Glück nicht. Und weißt du, was ich jetzt denke?«
Aurelio ahnt es, will es aber nicht aussprechen.
»Kann es sein, dass der Vogelmann die Tiere warnen wollte? Mit dem Schrei des Eichelhähers? Und wenn er es gewusst hat, was glaubst du, von wem? Vielleicht von den anderen Vögeln?«
»Ist das nicht etwas weit hergeholt?« Aurelio ist froh, dass nicht er es ist, der diese Vermutung als Erster äußert.
»Dieser Vogelmann«, sagt der Teamchef. »Ich hab‘s doch gleich gesagt: eine Spezialbegabung! Asperger-Syndrom oder sowas in der Art. Er versteht, was die Tiere sagen.«
Aurelio möchte das Thema wechseln und erkundigt sich nach den Schäden, die der Hangabgang angerichtet hat.
Für Statusberichte sei es zu früh, sagt der Teamchef. Eine Begehung habe noch nicht stattgefunden. Im Moment müsse vor allem überwacht werden, ob da vielleicht noch etwas nachkomme. Jedenfalls seien Tausende von Bäumen hinüber. Und Millionen Pilze. Er müsse jetzt Schluss machen, Patrouillenflug. Die Männer verabschieden sich.
Was für eine Katastrophe! Ein Hangabgang, auf seinem Hausberg! Natürlich weiß Aurelio längst, was alle wissen, dass nämlich Bergstürze, Hangabgänge und Lawinen in den Alpen drastisch zunehmen, wahrscheinlich als eine Folge des Klimawandels. Regionen, die seit Jahrtausenden im Dauerfrost existiert haben, tauen jetzt auf. Hänge werden weich, verlieren den Halt und rutschen wie Teig vom Backblech. Aber man erträgt bekanntlich vieles, solange es Hunderte von Kilometern entfernt passiert. Direkt vor der Haustür hat ein solches Ereignis eine ganz andere Wucht. Und wer weiß, denkt Aurelio, was dieser Hangabgang für ihn ganz konkret bedeutet. Immerhin war ein intakter Monte Muggio bislang die Geschäftsgrundlage für sein Rifugio.
Am Nordeingang der Casa hat sich eine Menschenmenge versammelt und starrt auf eine große Platane. Die ist schwarz vor laut krächzenden Krähen. Die Szene erinnert an den Hitchcock-Schocker mit Tippy Hedren und Rod Taylor. Auf dem Pförtnerhäuschen neben dem Tor hockt der Veterinär in Vogelstellung und beteiligt sich am Gesang des Schwarms. Davor hat sich ein Kinderchor aufgebaut, den eine Nonne mit Mühe in Schach hält. Aurelio erkennt Carlo Vitale, den Lokalreporter der Provincia di Lecco. Der Mann hat ihn schon mehrmals interviewt, er interessiert sich für Themen wie Klimawandel und sanften Tourismus. Ein kritischer Kopf, wie man so sagt. Jetzt bemüht er sich gerade um ein Foto, das Krähen, Vogelmann und Kinderchor zusammenbringen soll. Damit ist die Angelegenheit in der Welt, denkt Aurelio.
Endlich entdeckt ihn die Schwester Oberin. Mit ausgebreiteten Armen kommt sie auf ihn zu und strahlt ihn an. »Schauen Sie nur: Er spricht mit den Vögeln und versteht ihre Seele.«
Schon der zweite Zeuge der Geschehnisse, der sich in Sachen Vogelmann spontan für die Interpretation »übersinnliche Fähigkeiten« entschieden hat. Aurelio weicht aus. Er zeigt auf den Mann auf dem Pförtnerhäuschen. »Er fühlt sich offensichtlich sehr wohl hier«, sagt er. »Ich denke, seine Identität ist geklärt. Er ist der Veterinär Dottore Giorgio Colombo aus Dervio.« Er reicht der Schwester Oberin den Pass.
»Ein Mediziner, tatsächlich«, sagt sie in einem fast schon salbungsvollen Ton. »Ich dachte mir schon, dass er Akademiker ist.«
»Was passiert jetzt mit ihm?«
»Nichts passiert. Er lebt frei und in Frieden. Er kann kommen und gehen, wann immer er will.«
»Das sind ja paradiesische Zustände. Wird er denn behandelt? Wird er wieder gesund?«
»Wir behandeln ihn nicht, denn er ist ja nicht krank.« Der Tonfall der Schwester wechselt ins Pädagogische. »Kennen Sie Franco Basaglia?«
Aurelio hat den Namen noch nie gehört.
»Er hat uns gelehrt, dass die Konfusen Menschen sind wie wir. Er hat sie verstanden wie Franziskus die Tiere. Er fühlte eine tiefe Empathie mit anderen Wesen. Er hat die Irrenhäuser in Italien abgeschafft. Kurz darauf hat Gott ihn zu sich gerufen. Der Mann war ein Heiliger, so wie dieser hier vielleicht auch.«
Aurelio versucht es mit einem nachdenklichen Nicken, weil er nichts zu sagen weiß, und hört auf zu nicken, kurz bevor es lächerlich wird. Er sollte sich dringenderen Problemen zuwenden. Diese Angelegenheit hier ist abgeschlossen, der Veterinär gut versorgt. Doch schon auf dem Weg zu seinem Auto überwältigt ihn wieder die Ahnung, dass der Vogelmann ihn noch eine Zeitlang beschäftigen wird.
5. Oktober
München und Bellano
Emilia Brunner, die leitende Krähenforscherin beim mpi für biologische Intelligenz, ist eine energische und etwas burschikose Frau Anfang Fünfzig. In der immer noch von Männern dominierten Welt der Wissenschaft hat sie sich ausgesprochen gut behauptet. Vor gar nicht langer Zeit ist sie so etwas wie ein Star geworden. Sie war an einer interdisziplinären Studie zur Intelligenz der Krähen beteiligt, und deren ganz erstaunliche Ergebnisse sind durch alle Medien gegangen. Seitdem sind Krähenvideos in den Sozialen Medien drauf und dran, Katzenvideos an Beliebtheit zu übertreffen: Krähen, die kleine Töpfe korrekt ineinander setzen, Zigarettenkippen auflesen und in Mülltonnen werfen, Memory spielen oder Werkzeuge aus verschiedenen Komponenten zusammensetzen, um damit Futter aus einer Box zu manövrieren.
Emilia Brunner sieht all das mit einer Mischung aus Genugtuung und Sorge. Das ständige Reden von den »geflügelten Superhirnen« nervt sie, dennoch hat sie jede Interviewanfrage positiv beantwortet, schon damit die Drittmittel weiter fließen. Und das tun sie momentan.
Gleich am nächsten Morgen ruft sie Aurelio Campanna zurück. Sie spricht fließend Italienisch, ihre Mutter stammt aus Südtirol. Ja, den Veterinär Colombo kenne sie gut. Sie habe ihn ein paar Mal auf ornithologischen Kongressen getroffen, außerdem habe er ihr regelmäßig Tonaufnahmen und Beobachtungsprotokolle geschickt. Sie stünden gewissermaßen in einem wissenschaftlichen Austausch. Colombo sei natürlich Laie, aber ein Mann mit einer außergewöhnlich entwickelten Beobachtungsgabe, der praktisch seine gesamte freie Zeit an seine Leidenschaft wende und dabei beachtliche Kenntnisse erworben habe.
»Gestern Abend hat er mit Krähen gesprochen«, sagt Aurelio und versucht dabei, neutral zu klingen.
Emilia lacht. »Das machen wir alle. Ich meine, wir Ornithologen. Wir versuchen es jedenfalls. Wir kennen bestimmte Laute und Lautfolgen, und dann versuchen wir einfach mal auf gut Glück, mit den Krähen zu kommunizieren. Aber es kommt nie was Verwertbares dabei raus, jedenfalls nicht im wissenschaftlichen Sinne. Ich persönlich mache das eher zum Vergnügen. Manchmal komme ich dabei auf gute Ideen.«
»Aha.« Aurelio ist erleichtert. Bitte nicht noch mehr Esoterik. Er erzählt die ganze Geschichte. Der Felsbalkon am Hang, der Ruf des Eichelhähers, die schriftliche Mitteilung im Krankenhaus, die »Kraa Kraa« gelautet hat, die Unterbringung in einem Heim für die confusi. Er erzählt von seinem Eindruck bei der ersten Begegnung: dass der Vogelmann sich gestört fühlte. Dagegen habe er am nächsten Morgen den Anschein erweckt, als habe er seine Retter erwartet. Schließlich erzählt Aurelio von der Theorie des Teamchefs, dass es sich bei dem Veterinär um einen Menschen mit speziellen Begabungen handeln könne, womöglich dem Asperger-Syndrom oder etwas Ähnlichem.
»Und gestern Abend, in der Casa San Francesco, da haben die Krähen ihn irgendwie«, Aurelio sucht nach dem richtigen Wort, »aufgenommen. So schien es mir wenigstens.« Es ist nicht leicht, in dieser Geschichte professionell und neutral zu bleiben.
»Ich rede nicht gern von wissenschaftlichen Sensationen«, sagt Emilia ins Telefon. »Das passt nicht zueinander. Aber was Sie da sagen, klingt schon interessant. Ich würde mir das gerne vor Ort ansehen.«
»Natürlich. Er würde sich über Ihren Besuch bestimmt freuen. Vielleicht können Sie zu seiner Stabilisierung beitragen. Und Sie können im Rifugio wohnen. Ich betreibe eine Hütte oberhalb von Bellano.« Emilia ist einverstanden, und sie tauschen Adressen und Telefonnummern aus. Aurelio wird die Schwester Oberin in der Casa San Francesco informieren.
Während des Telefonats wird Emilia von Rama beobachtet, die auf einer Holzstange vor dem Fenster sitzt. Rama ist eine neukaledonische Geradschnabelkrähe. Emilia hat sie vor Jahren aus Australien mitgebracht, zunächst zu reinen Forschungszwecken. Geradschnabelkrähen gelten in der Wissenschaft als eine der intelligentesten Spezies unter den Tieren, schlauer als Makaken und Delphine, auf Augenhöhe mit Schimpansen. Während des Trainings und der Tests haben sie sich dann angefreundet. Mittlerweile wohnt Rama nicht mehr im Institut, sondern bei Emilia zuhause. Sie begleitet ihre Wirtin zur Arbeit und auf Reisen, gerne sitzt sie dabei auf Emilias Schulter. Der hat das im Institut den Spitznamen »Hexe« eingebracht, aber Emilia fühlt sich dadurch nicht gekränkt. Schließlich war »Hexe« in früheren Zeiten oftmals nichts anderes als ein Name für Frauen, die sich wissenschaftlich betätigten.
»Stell dir vor, wir machen einen großen Ausflug«, teilt sie der Krähe jetzt mit und klopft eine Zigarette aus der Schachtel.
»Klok Ritsch«, macht Rama.
Emilia zündet ihre Zigarette an. »Klok Ritsch«, macht ihr Buschfeuerzeug.
Eine Stunde später hat die Krähenforscherin gepackt, den Institutsleiter informiert und ihren alten Land Rover Defender gestartet. Rama sitzt in einer Transportbox auf der Rückbank, mit den Gurten gesichert. In der Schweiz angekommen, werden sie den Splügenpass nehmen und über Chiavenna zum Comer See fahren.
So unvermittelt Sonderurlaub zu bekommen, ist kein Problem gewesen. Das Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz befindet sich ohnehin noch in seiner Gründungsphase. Dazu werden die beiden schon bestehenden mpi für Ornithologie und Neurobiologie, fachlich und räumlich getrennt, zu einem neuen Institut verschmolzen. Da Emilia auf die zweifellos intelligentesten Vögel spezialisiert ist, hat man sie auf eine leitende Funktion des neuen mpi berufen. Und jetzt: der Ruf des Eichelhähers, um vor einem Erdrutsch zu warnen! Das ist schon einen Sonderurlaub wert.
Dabei werden die Frühwarnfähigkeiten von Tieren schon seit langem von Verhaltensforschern beobachtet. Am Ätna gibt es eine Kolonie Ziegen, die Vulkanausbrüche zuverlässig voraussagt. Und in der Vogelwelt gilt der Goldflügel-Waldsänger als Frühwarner. Es ist dokumentiert, dass er Tornados vorausahnen kann. Oder voraussehen? Es ist schwierig, die richtigen Begriffe zu finden. Schließlich weiß die Wissenschaft nicht, was die Goldflügel-Waldsänger wissen. Sie weiß nur, was sie beobachtet. Der Rest ist Interpretation, wie immer.
»Wir beobachten nur die Beobachter«, sagt Emilia laut vor sich hin, ein Mantra der Systemtheorie, das sie sich zu eigen gemacht hat. Wer nicht nur beobachtet, sondern andere Beobachter beobachtet, der kann auf eine höhere Ebene der Erkenntnis gelangen. Gegen drei Uhr kommt sie in Bellano an. Der Comer See liegt im Sonnenschein, und es ist erstaunlich warm für die Jahreszeit. Sie lässt Rama sicherheitshalber im Wagen. Nach ihrem Besuch in der Casa San Francesco wird sie die Krähe freilassen, damit sie die Umgebung erkunden kann. Das ist gängige Praxis bei ihnen. Ihre Abendflüge unternimmt Rama immer allein, sie treibt sich dann vermutlich mit den Münchner Krähen auf dem Viktualienmarkt herum, bevor sie in die Stadtwohnung im vierten Stock eines Gründerzeithauses zurückkehrt.
Emilia meldet sich jetzt an der Rezeption der Casa, und kurz darauf führt die Schwester Oberin sie in einen Gemeinschaftsraum, in dem ein großer, hellgrüner Kachelofen noch immer auf den Beginn seines Winterdienstes wartet. Giorgio erkennt die Besucherin sofort, springt auf, hüpft aufgeregt um sie herum und beginnt, Vogellaute von sich zu geben, einen fröhlichen, zwitschernden Gesang. Emilia meint, den Ruf des Zeisigs zu erkennen. Sie will Giorgio zur Begrüßung umarmen, wie sie es immer getan hat, aber er weicht zurück. Will er sich bei seinem Gesang nicht stören lassen?
Die Schwester Oberin beruhigt den Vogelmann, führt ihn sanft zum Tisch zurück. Emilia sieht sich um. Zwei Männer sitzen am Fenster und spielen Schach. Am gegenüberliegenden Ende des Saals kämmt eine Frau einer anderen das lange graue Haar. Giorgio sitzt in der Mitte des Raumes allein an einem Tisch, zwei Tische weiter ein weißhaariger Mann, ebenfalls allein. Er trägt Kopfhörer.
Emilia setzt sich Giorgio gegenüber. Sie will ihm in die Augen sehen und bemerkt dabei, dass er mit dem Zeigefinger auf den Tisch trommelt, immer auf denselben Punkt. Er hat eine bekritzelte Papierserviette vor sich liegen. Emilia erkennt darauf geschlossene Formen mit gezackten Rändern in unterschiedlichen Größen. Manche tragen Kreuze an den äußeren Kanten. Auf ein solches Kreuz klopft Giorgio.
Aurelio Campanna hat Giorgio den »Vogelmann« genannt. Emilia findet das sehr treffend. Ihr Freund benimmt sich tatsächlich vogelartig. Jetzt gerade wechselt er die Laute, schreit wie ein Eichelhäher und trommelte noch energischer. Der Grauhaarige zwei Tische weiter nimmt seine Kopfhörer ab und sagt: »sos.«
»Wie bitte?«, sagt Emilia.
»Der da, der trommelt sos, das kennt doch jeder: dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz. Save our Souls.« Er setzt seine Kopfhörer wieder auf.
Emilia schaut die Schwester Oberin an. Die nickt ihr zu, freundlich und mit einem Anflug von Stolz. »Sehen Sie, die Menschen hier sind alle so talentiert.«
»Ich würde gerne etwas ausprobieren.« Emilia legt einen Finger auf ihre Lippen. Dann kräht sie, wie Rama es tut, wenn sie ihr ängstlich oder verunsichert erscheint. Es gelingt ihr mehr schlecht als recht, aber Giorgio steht auf, krächzt wieder, breitet seine Arme aus und schwingt sie, dann beugt er sich weit nach vorne und berührt mit der Nase die Papierserviette vor sich auf dem Tisch.
Emilia betrachtet die Zeichnung genauer. Könnte das eine Landkarte sein? Dann wären die gezackten Gebilde Berge. Und sollen die Kreuze womöglich Orte markieren, an denen demnächst Hänge abbrechen? Oder spinnt sie sich hier etwas zurecht? Sie macht mit dem Smartphone ein Foto von der Zeichnung. Eines ist jedenfalls klar: Sie wird ein paar Tage hierbleiben, das verlangt nicht nur die Freundschaft, sondern auch die Wissenschaft. Sie muss unbedingt den abgerutschten Hang in Augenschein nehmen und mit Aurelio Campanna sprechen.
Sie verabschiedet sich von der Schwester Oberin. »Ich komme bald wieder«, sagt sie.
»Tun Sie das, mein Kind«, sagt die Schwester Oberin, ungeachtet des Umstands, dass sie und Emilia etwa gleich alt sind. Dabei hat sie das starke Gefühl, dass der Geist des heiligen Franziskus sich ab sofort über alle Menschen ausbreiten wird. Sie hat es gerade miterlebt: Wer dem Vogelmann begegnet, der gerät unweigerlich in seinen Bann.
6. Oktober
Monte Croce di Muggio
Gleich nach dem Hangabgang am Monte Muggio hat Aurelio seinen Freund Lucio angerufen, einen Glaziologen von der Universität Mailand. Die beiden haben sich im Alpenverein Lecco kennengelernt, und vor ein paar Jahren haben sie gemeinsam den Nanga Parbat bestiegen, was unter Bergsteigern einiges gilt. Hang- und Murenabgänge in der Lombardei zu untersuchen, ist staatlicher Auftrag der Mailänder Fakultät für Geologie. Lucio hat sich über die Meldung vom frischen Hangabgang erkennbar gefreut. Schließlich lebt er als Wissenschaftler von Naturereignissen, die er dokumentieren und auswerten kann. Erdbebenforscher freuen sich über Erdbeben und Vulkanologen über Vulkanausbrüche, ganz im Gegensatz zu den Betroffenen. Also ist er gleich nach Bellano gekommen.
Inzwischen hat er den Hang inspiziert, mit dem Resultat, dass ein weiterer Abgang wohl nicht unmittelbar zu befürchten ist. Aurelio und Lucio konnten die obere Risskante und die nördliche Bruchlinie des Hangabhangs begehen. Der Glaziologe hat Volumina berechnet, Winkel bestimmt und die Bodenfeuchtigkeit gemessen. Jetzt sitzen die beiden im Gastraum des Rifugios, und Aurelio rückt mit der Geschichte vom Vogelmann heraus. Womöglich könne der Mann mit den Vögeln kommunizieren und von ihnen Informationen über Naturkatastrohen bekommen. Er bemüht sich um einen distanzierten Tonfall, aber offenbar vergeblich.
Lucio grinst. »Das ist was für dich und deine spirituelle Ader«, sagt er. »Aber auch wenn der Mann ein Prophet ist, was ich nicht glaube, spielt das für mich keine Rolle. Für mich zählt die Statistik, nicht der einzelne Fall. Ich brauche Daten, so viele ich kriegen kann, und dann will ich Muster erkennen, damit ich künftige Ereignisse besser voraussehen kann. Das ist reine Mathematik, mein Lieber.« Er hebt sein Glas. »Da ist dieser Rote hier allemal spiritueller.«
»Ich gehe lieber vom Besonderen zum Allgemeinen«, sagt Aurelio. »Deine Statistik und dein deduktives Denken führen doch zu Gleichmacherei. Alles soll den gleichen Prinzipien unterworfen sein. Ich glaube an den Einzelfall als Beispiel für das Ganze.«
»Von mir aus«, sagt der Glaziologe. »Aber dann kannst du nur sitzen und warten, bis die nächste Katastrophe eintritt. Das Allgemeine wirst auch du nicht leugnen können, die Regeln, die Naturgesetze. Hier ist die Schwerkraft am Werk. Schwerkraft plus Regenwasser, das blöderweise nicht mehr frieren will. Das ist das allgemeine Prinzip.«
»Du hast ja recht«, sagt Aurelio. »Ich denke bloß, dass es besser wäre, wenn nicht nur ein Mann wie du Tausende von Hängen beobachten würde, sondern praktisch jeder Berg seinen eigenen Hüter hätte.«
»Ein Vogeldeuter auf jedem Berg der Lombardei?« Lucio schüttelt den Kopf.
»Na ja. Er könnte deine Sensoren benutzen und zusätzlich die Tiere studieren. Die Qualität der Prognosen würde steigen.«
»Und wer finanziert das?«
»Da hast du es wieder, das deduktive Denken. Immer top down. Aber ich sage dir: Lösungen werden nicht oben in der Bürokratie gefunden, sondern vor Ort.«
Der Sohn des Tibeters bringt das Tagesgericht: Polenta mit Steinpilzen. Lucio schlägt vor, draußen auf der Terrasse zu essen, dazu trinken sie weiter den Nebbiolo aus dem Valtellina. Es ist warm, viel zu warm für die Jahreszeit. Schnee ist nur ganz in der Ferne zu erkennen, auf dem Monte-Rosa-Massiv im Wallis, 150 Kilometer entfernt und in den Spitzen über 4.000 Meter hoch.
»Sind Sie Aurelio Campanna?«
An ihrem Tisch steht jetzt eine Frau mit einer Krähe auf der Schulter. Sie stellt sich vor, in flüssigem Italienisch, Dr. Emilia Brunner vom Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz. Sie haben telefoniert.
»Und das ist Rama.« Sie deutet auf ihre Schulter. »Es wäre schön, wenn Sie eine Schale Wasser für sie hätten. Sie war jetzt lange eingesperrt.«
Aurelio braucht ein wenig, um den Anblick der Frau mit dem Vogel zu verarbeiten. Sein Sohn ist offenbar Zeuge der Szene geworden und kommt bereits mit einer Wasserschale. Aurelio überspielt seine Verblüffung, indem er Emilia den Glaziologen vorstellt. Während Rama nach Vogelart trinkt, indem sie mit dem Schnabel Wasser schöpft, um es dann in die Kehle rinnen zu lassen, kommen sie rasch ins Gespräch. Und natürlich diskutieren sie gleich den Fall des Vogelmanns.
Nach einer Viertelstunde bestellt Emilia einen Gin Tonic. »Ich habe Sie beim Wort genommen und ein Zimmer bei Ihnen gebucht«, sagt sie mit einem Anflug von Röte im Gesicht. »Ich glaube, Ihre Mutter war am Telefon.« Und mit Blick auf ihr Ginglas: »Ich muss also nicht mehr fahren.«
Die Männer nicken verständnisvoll, Lucio schiebt seinen Nebbiolo ein Stück zur Seite.
»Erklären Sie mir das bitte mit den Hangabbrüchen«, sagt Emilia. »Wie wahrscheinlich ist es, dass Giorgio das voraussehen konnte? Woran hätte er es erkennen können?«
»Moment mal«, sagt der Glaziologe. »Ich dachte, es ist andersherum: Die Vögel haben es vorher gewusst und dann dem Mann geflüstert.« Er grinst die Krähenforscherin an und weist auf seinen Bergkameraden. »Jedenfalls hat er mir das so erzählt.«
»Habe ich nicht«, sagt Aurelio. »Ich sage nur, was die anderen gesagt haben.«
»Egal«, sagt Emilia. »Und wie hätten es die Vögel erkennen können?«
»Fragen Sie mich nicht!« Der Glaziologe hebt beide Hände zur Abwehr. »Ich wüsste nicht, woher ausgerechnet Vögel wissen sollten, wie feucht der Boden in zwei, drei Metern Tiefe ist. Und ich bezweifle, dass sie es hören oder sehen können. Sie sind doch die Ornithologin. Welche Sinne stehen den Vögeln denn zur Verfügung?«
»Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten«, sagt Emilia. »Wie bei uns Menschen. Außerdem vermuten wir, dass Vögel einen Sinn für die Wahrnehmung des Magnetfeldes der Erde haben, einige Vogelarten zumindest.«
»Der sechste Sinn der Vögel?«
Emilia droht Lucio mit dem Finger. »Lachen Sie nicht. Wenn sich herausstellt, dass Vögel tatsächlich Hangabbrüche vorhersagen können, dann bekomme ich die Forschungsgelder für alpine Katastrophenprävention und nicht Sie.«
Der Glaziologe macht eine wegwerfende Handbewegung. »Sie überschätzen die Ressourcen. Der italienische Staat gibt skandalös wenig Geld für die Forschung aus. Dabei ist Italien von Erdrutschen und Hangabgängen stärker betroffen als jedes andere europäische Land. Die finanziellen Schäden liegen bei vier bis fünf Milliarden Euro, wohlgemerkt pro Jahr.«
»Das ist verdammt viel Geld.« Emilia nippt an ihrem Gin Tonic. »Und warum kriegt ausgerechnet Italien so viel ab?«
»Unsere besondere geologische Lage. Afrika driftet nach Norden, staucht die europäische Platte, und der Stiefel ist die Stoßstange. Daraus resultieren starke seismische Aktivitäten weiter südlich im Apennin. Hier oben in den Alpen ist es der Klimawandel, der für Erdrutsche, Steinschlag und Hangabgänge sorgt. Die Schneefallgrenze wandert nach oben. Früher stabilisierte das Eis die Berge, nun haben wir statt Eis Wasser, das in alle Ritzen dringt, die Böden durchfeuchtet und auf seinem Weg nach unten alles mitreißt. Überall auf der Welt schwindet der Permafrost. Es wird noch viel schlimmer werden.«
Ein paar Sekunden Schweigen, dann steht der Glaziologe auf. »Ich bitte um Vergebung, wenn ich die Stimmung ruiniert habe. Aber ich bin nur der Überbringer der schlechten Botschaften.« Er will sich verabschieden. Die Straßen nach Mailand sind zu jeder Tageszeit überlastet.
»Warten Sie, ich muss Ihnen noch etwas zeigen.« Die Krähenforscherin holt ihr Smartphone hervor und zeigt das Foto von der Papierserviette, die der Veterinär bekritzelt hat. »Könnte das eine Karte sein?«
Die Männer beugen sich über die Zeichnung.
»Für mich sieht das aus wie Amöben, die in einer Petrischale schwimmen«, sagt der Glaziologe.
»Und was ist mit den Kreuzen an den Außenlinien?«
»Da sehe ich ein Muster, sie hängen alle unten an den Amöben dran. Oder oben, wenn Sie die Sache umdrehen.«
»Wie haben Sie es denn fotografiert?«, sagt Aurelio. »Aus seiner Perspektive oder aus Ihrer? Ich meine: Wo ist oben?«
Emilia denkt nach. »Über Kopf. Es lag vor ihm, also habe ich es über Kopf fotografiert.«
Aurelio dreht das Foto. »Jetzt sind die Kreuze oben, also im Norden, falls es eine Karte ist.«
Der Glaziologe macht ein grunzendes Geräusch. »Die meisten Hangabgänge gibt es an den Nordhängen, weil der Schnee dort länger locker bleibt.«
»Dann müssen wir nur noch rauskriegen, welche Amöbe welcher Berg sein soll«, sagt Emilia.
Da klingelt Aurelios Telefon. Es ist der Teamchef der Bergrettung. Aurelio hört ihm schweigend zu und beendet das Gespräch mit einem knappen »Danke«. Er legt das Gerät auf den Tisch, als wollte er sich davon distanzieren.
»Am Piz Palü ist ein Steilhang abgegangen. Diesmal hat es wohl Tote gegeben. Jedenfalls gibt es keinen Kontakt mehr zum Rifugio Diavolezza.«
Aurelio deutet auf einen Amöben-Komplex etwa in der Mitte der Serviettenzeichnung. Hier sind die Kreise und Ellipsen so eng beieinander, dass sie zusammen eine große, nierenförmige Amöbe bilden. »Das könnte das Bernina-Massiv sein. Dieses Kreuz hier müsste dann den Piz Palü markieren. Wir brauchen eine topographische Karte zum Vergleichen.« Er steht auf, um eine zu holen.
»Ich muss trotzdem los, jetzt erst recht«, sagt der Glaziologe. »Ich muss mir die Daten von dem Abgang ansehen. Lasst mich wissen, was ihr herausfindet.«
Emilia ist jetzt allein auf der Terrasse des Rifugios. Über den Hängen des Valsassina liegt ein wunderbares Licht, wie von den bunten Lampen eines abendlichen Festes. Den Comer See kann sie von hier nicht sehen, dennoch ist die Aussicht wunderschön. Die bunten tibetischen Fahnen knattern im Wind, die Glöckchen klingeln, was die Majestät der Stille hier oben nur betont. In der Ferne ist ein Schwarm Dohlen zu erkennen, der vor der Abendsonne tanzt.
7. Oktober
Bellano
Die Schwester Oberin hat die beste Zeit ihres Lebens. Carlo Vitalis Bericht in der Provincia di Lecco über den ungewöhnlichen Auftritt ihres Francesco Nuovo am Tag des heiligen Franziskus ist inzwischen von anderen Printmedien übernommen worden. Übrigens auch passend zum 4. Oktober als Welttierschutztag. Das Foto zum Artikel war einfach spektakulär: im Vordergrund die reizenden Kinder in ihrer Choruniform, in der Bildmitte der Vogelmann mit nackten Füßen, auf dem Pförtnerhäuschen in der Hocke sitzend, den Kopf nach hinten geworfen, den Mund weit geöffnet, dahinter die Platane, schwarz vor Krähen.
Ein Bild wie aus einem Film, hat die Schwester Oberin gedacht. Wie rasch sich die Fotos und Filme der Anwesenden in den Sozialen Medien verbreitet haben, weiß sie erst seit gestern, als eine der jungen Schwestern es ihr gezeigt hat. Da hat die Schwester Oberin beinahe Angst bekommen. Schließlich hat der heilige Franziskus doch immer ein schlichtes und zurückgezogenes Leben gepredigt.
Allerdings haben die Spenden am 4. Oktober alle Erwartungen übertroffen, so viele Menschen sind noch nie beim Franziskusfest gewesen. Und der Lokalreporter hat die Casa als vorbildliche Einrichtung der italienischen Zivilisation und der Menschlichkeit gefeiert. Den Dottore Colombo hat er als einen genialen Italiener mit einer einzigartigen Spezialbegabung dargestellt. Der Mann sei in der Lage, die Krähen der Umgebung an einem Ort zu versammeln, und er rede mit ihnen.
Und das alles ausgerechnet am 4. Oktober. Das konnte doch kein Zufall sein! Die Schwester Oberin ist sich sicher: Der Mann ist einfach begnadet. Interviewanfragen hat sie bislang abgelehnt, bis auf die von Radio Vaticana. Eine halbe Stunde lang hat sie am Telefon mit einem freundlichen Pater in Rom gesprochen.
Und sie hat Pläne gemacht. Der Vogelmann ist eine Ikone, eine lebende Ikone, er sollte die Stimme der Casa San Francesco werden. Sie hat bereits begonnen, ihn bevorzugt zu behandeln, obwohl ihr Menschenbild das eigentlich untersagt. Vor Gott und in der Casa sind alle Menschen gleich, aber die Schwester Oberin hat während ihrer Ausbildung auch einmal in den Machiavelli geschaut. Und da stand: Der Zweck heiligt die Mittel. Wohlgemerkt: heiligt! Die katholische Kirche hat das schon immer gewusst.
Folglich muss die Schwester jetzt strategisch handeln, sie muss Francesco Nuovo an die Casa binden. Deshalb hat sie ihm ein Einzelzimmer unter dem Dach zugewiesen, von dem aus man ein kleines Stück vom See sieht. Außerdem ist er da näher am Himmel. Heute Morgen hat sie ihm Haferflocken mit Milch und Honig bringen lassen. Das isst er sicher gerne, als Mensch ebenso wie als Vogel. Dass er immer noch nicht spricht, ist natürlich schade, aber die Schwester Oberin will es für ein Zeichen seiner Bestimmung halten.
Am frühen Nachmittag kommen der Bergsteiger und die Krähenforscherin aus Deutschland zu Besuch. Sie glauben, die Zeichnung des Dottore entschlüsselt zu haben, und bitten darum, das Original zu sehen. Gemeinsam gehen sie hoch zu seinem Zimmer, dort finden sie Giorgio bei bester Laune, allerdings hockt er vor sich hin flötend im offenen Fenster, drei Stockwerke über dem Boden. Als er seinen Besuch erkennt, springt er von der Fensterbank ins Zimmer und hüpft aufgeregt zwitschernd vor seinen Gästen hin und her.
Emilia fällt auf, dass es derselbe Gesang ist wie bei ihrem letzten Besuch. Gibt es womöglich Vögel, die gastfreundlicher sind als andere? Sie zeigt Giorgio das Foto der Karte auf ihrem Smartphone, dann schaut sie sich demonstrativ im Raum um und zuckt mit den Schultern. Wo ist das Original?
Der Vogelmann verstummt und verharrt in einer schiefen Stellung.
»Er könnte sie in seiner Hosentasche haben.« Vorsichtig nähert sich die Schwester Oberin ihrem Gast, dann greift sie behutsam in seine rechte Hosentasche, heikel für eine Frau und erst recht für eine Ordensschwester. Aber wie gesagt: Der Zweck heiligt die Mittel. Dann hält sie triumphierend die Papierserviette in die Höhe, entfaltet sie und breitet sie auf dem Tisch aus. Aurelio legt einen Kartenausschnitt daneben, das Gebiet zwischen Chur im Norden, dem Comer See im Süden, Stelvio und Ortler im Osten sowie Madesimo im Westen. Drei Augenpaare suchen jetzt nach Übereinstimmungen, das des Bergsteigers findet sie zuerst.
Aurelio deutet auf ein bestimmtes Kreuz in der Zeichnung und sagt: »Lenzerhorn.«
Und zum Vogelmann noch einmal: »Lenzerhorn, Lenzerhorn.«
Giorgio lässt ein distinktes und kraftvolles Rätschen hören.
Aurelio zeigt auf ein weiteres Kreuz. »Piz Grisch, Piz Grisch.«
Die Antwort ist dieselbe, und da ist er wieder, ganz eindeutig: der Warnruf des Eichelhähers. Aurelio versucht es ein weiteres Mal und deutet auf ein markantes, mit dickerem Strich gezeichnetes Kreuz. Wieder der Warnruf, und jetzt deutet der Vogelmann selbst auf das Kreuz und krächzt noch lauter als zuvor.
Aurelio nimmt Emilia beiseite. »Der Piz Palü in der Bernina. Gestern abgegangen. Fünf Tote, heute Morgen in den Nachrichten.«
»Das ist faszinierend und beängstigend zugleich«, sagt Emilia leise. »Vorausgesetzt, es ist wirklich eine Karte. Ich bin mir da nicht sicher, aber ich will Ihnen gerne vertrauen. Doch wie um alles in der Welt soll er wissen, dass gerade dort die Hänge abgehen?«
»Vielleicht weiß er es nicht, sondern spürt es. Eine spirituelle Erfahrung.« Kaum hat er das ausgesprochen, bemerkt Aurelio, wie sehr er selbst schon Teil dieses Mythos geworden ist. Oder vielleicht Teil eines Bluffs, eines Wahns?
»Wir sollten da auf jeden Fall dranbleiben.« Emilia reißt Aurelio aus seinen Gedanken. »Schick die Karte doch deinem Freund, dem Eisforscher. Und ich für meinen Teil will unbedingt wissen, was die Vögel damit zu tun haben.«
»Ich auch«, sagt Aurelio.
Die Schwester Oberin findet es an der Zeit, sich einzuschalten. »Ich habe es gleich gesagt: Er ist von Gott begnadet und auserwählt. Ich werde ihn für eine Seligsprechung vorschlagen.«
Giorgio beginnt jetzt unruhig zu werden, er zappelt und piept.
»Er will bestimmt zu seiner Platane«, sagt die Schwester Oberin, durchdrungen von dem Bedürfnis, hier in der Casa die Fäden in der Hand zu behalten. Gemeinsam gehen sie die ausgetretenen Treppen hinunter, der Vogelmann voran. Zielstrebig steuert er zum Nordeingang, dort klettert er wieder auf das Pförtnerhäuschen und beginnt seine Konversation mit den Krähen in der Platane. Ein paar Dutzend Leute sind gekommen, vermutlich angelockt durch Instagram und YouTube. Jeder hat ein Smartphone in der Hand, um wieder andere anzulocken.
Aurelio hilft Emilia, ihre Mikrofone aufzustellen, die sie eilig aus dem Kofferraum ihres Autos herbeischafft. Während die Aufnahme läuft, macht sie sich Notizen. Offenbar werden nicht alle Krähen