Erlkinder - Corina C. Klengel - E-Book

Erlkinder E-Book

Corina C. Klengel

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Beschreibung

Tilla Leinwigs sechster Fall: Tilla kehrt nach ihrem abgeschlossenen Psychologiestudium als Kriminalpsychologin zur Kripo Goslar zurück. Sogleich wird sie mit einem bizarren Fall konfrontiert: Eine blutverschmierte junge Frau irrt durch St. Andreasberg, murmelt Goethe-Verse und zieht eine Axt hinter sich her. Die Frau, die in Tillas Vorstellung zum Feenmädchen wird, hat keinerlei Erinnerung mehr. Ihr droht eine Mordanklage und die Abschiebung in die Psychiatrie, was Tilla zu verhindern versucht. Während die Ermittler fieberhaft nach einem Opfer suchen, kämpft Tilla mit rätselhaften Farbvisionen, die sie seit dem Anschlag verfolgen. Von ihrem Großvater erfährt sie, dass bereits ihre Großmutter diese Visionen hatte – und in einen dunklen Mythos um Wechselbälger, so genannte Erlkinder, verwickelt war.

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Seitenzahl: 868

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Corina C. Klengel

Erlkinder

Harzkrimi

Impressum

Erlkinder

ISBN 978-3-96901-111-9

ePub Edition

V1.0 (02/2025)

© 2025 by Corina C. Klengel

Abbildungsnachweise:

Umschlag (Front) © BarBus | #8867628 & #8839544 | pixabay.com

Umschlag (Back) © Depositphotos Inc. | #737663760 | depositphotos.com

Porträt der Autorin © Ania Schulz

Lektorat:

Sascha Exner

Verlag:

EPV Elektronik-Praktiker-Verlagsgesellschaft mbH

Obertorstr. 33 · 37115 Duderstadt · Deutschland

Fon: +49 (0)5527/8405-0 · Fax: +49 (0)5527/8405-21

Web: harzkrimis.de · E-Mail: [email protected]

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Gewisse Bücher scheinen geschrieben zu sein,

nicht damit man etwas daraus lerne,

sondern damit man wisse,

dass der Autor etwas gewusst hat.

Johann Wolfgang von Goethe

Prolog

Oh schönes Mädchen du, du mit dem schwarzen Haar.

Die du ans Fenster trittst, auf dem Balkone stehst!

Und stehst du wohl umsonst?

Oh stündest du für mich und zögst die Klinke los.

Wie glücklich wär ich da! Wie schnell spräng ich hinauf!

J. W. von Goethe

Mit fiebrigem Blick, der die Schrift kaum noch fokussieren konnte, folgte sie den Zeilen, die sie doch bereits mehr als gut kannte.

»1779 ... sie traf Goethe in Lausanne ... 1780 besuchte sie ihn in Weimar ... 1783 und 1784 besuchte er sie in Langenstein ... schönes Mädchen mit dem schwarzen Haar ... er muss sie gemeint haben ... er muss ...«

Sie sah das Bildnis der Branconi vor dem inneren Auge. Maria Antonia de Branconi. Sie galt einst als die schönste Frau Deutschlands. Sie stieß ein abfälliges Geräusch aus. Schön ... wieso redete man über ihr Aussehen? Klug war sie. Klug, gebildet und clever. Goethe, er erkannte ihr Wesen, lobte sie als Geistesgröße ...

Dass sie für einen Moment eingenickt war, merkte sie erst, als ihr Kopf niederzusinken drohte. Ruckartig richtete sie sich wieder auf. Zum Schlafen war keine Zeit. Sie musste den Beweis finden. Warum fand sie ihn nicht? Es musste doch irgendwo eine Quelle geben. In ihrer Familie gab es doch dieses Legat von der Branconi. Kurz bevor ihr erneut die Augen zuzufallen drohten, griff sie nach dem Buch, welches sie nahezu auswendig kannte. Niemandes Leben war so ausführlich dokumentiert wie das von Goethe. Er hatte sie seine Fee von Langenstein genannt. Sie hatte ihn betört.

»Es muss hier irgendwo stehen ... ich muss es überlesen haben ...« Sie blätterte so hektisch, dass der alte Einband knirschte und so manches Blatt einriss. Dann verharrten ihre zittrigen Hände. Sie las die bekannten Zeilen erneut.

»... Sie siegt mit Pfeilen ... Amors Pfeile! Und die hatten ihn getroffen. Das muss er gemeint haben. Goethe verzehrte sich nach ihr ... ich muss nur die Quelle finden, den Beweis. Irgendwo muss er sein«, murmelte sie in sich hinein und begann aufs Neue in Blättern und Büchern zu wühlen, die sich auf dem improvisierten Schreibtisch türmten. Warum nur war sie so müde?

Und wenn sie alle recht hatten? Dass Goethes Gunst Charlotte von Stein gehörte? Dass seine Begeisterung für die Branconi nur ein kurzes Strohfeuer war? Ein Äuglein-machen, wie er es selbst immer nannte? Sie sah über die Bretter, die ihr als Tisch dienten. Sie war Wissenschaftlerin, rief sie sich ins Gedächtnis. Es war ihre Aufgabe zu zweifeln. Solange zu zweifeln, bis der Beweis erbracht war.

Sie griff nach der Wasserflasche und trank gierig. Kurz darauf zerfaserten ihr die Gedanken. Ihr Hirn fühlte sich an wie Sirup. Ihr Kopf begann zu schmerzen. Sie zuckte hoch. Ich darf nicht aufgeben! Doch so sehr sich bemühte, sie bekam keinen brauchbaren Gedanken zu fassen. Es wisperte in ihrem Kopf. Da waren sie wieder. Diese Stimmen, die ihr über die Schultern raunten. Waren es Stimmen? Nein nur eine Stimme. Seine Stimme.

»Nein, nein, nein ... geh weg!«, rief sie. Die Tränen rannen ihr über die Wangen. Eine Erinnerung regte sich, ein Gesicht, grüne Augen. Ein wohltuendes Gefühl erfüllte sie. Die Erinnerung zerstob, obwohl sie sich krampfhaft daran festzuhalten versuchte. Ein anderes Gesicht schob sich vor die grünen Augen. Ein Gesicht ohne Merkmale, ohne Leben, mit grauen, gefühlsarmen Löchern, wo die Augen sein sollten. Es war ihre Schuld, dass er sie gefunden hatte. Nun verlangte er von ihr, dass sie die Quelle fand, nach der sie doch seit Jahren schon selbst suchte. Er wollte ihre Arbeit, weil sie seine zerstört hatte. Hatte sie? Sie brauchte Hilfe. Wo waren die grünen Augen, die immer zu lächeln schienen. Lebte er noch? Warum war sie nur wieder so müde? Völlig entkräftet sackte sie zusammen. Ließ zu, dass ihre Gedanken sich in altertümlichen Bildern verfingen.

Dann sah sie sie vor sich. In hellblaue Seide gehüllt, elegant, ihre schlanke Taille über einem Reifrock, ein üppiger Busen, nur mäßig verhüllt von einem gefältelten Dekolleté aus Seide. Kaskaden schwarzer Locken, kunstvoll aufgetürmt, darunter schwarze Augen ...

»Warum hilfst du mir nicht? Wenn ich den Beweis nicht finde, tötet er ihn«, heulte sie verzweifelt das Branconi-Bildnis an, bis sie realisierte, dass das herzförmige Gesicht, mit dunklen, fast schwarzen Augen, einer schmalen Nase und üppigen Lippen sie selbst war. Ihr Antlitz spiegelte sich in dem verdunkelten Laptopbildschirm. Ihr Haar war zu einem nachlässigen Dutt am Oberkopf zusammengenommen, aus dem sich lockige Strähnen gelöst hatten. Es war ihr eigenes Gesicht, welches sie angeschrien hatte. Ein Gesicht, das der berühmen Italienerin zum Verwechseln ähnlich sah. Die Ähnlichkeit mit der Branconi war ihr einziger Beweis.

Abermals verfingen sich ihre Gedanken im Gestern. Eine Kutsche fährt in den großen Innenhof und hält vor dem Eingangsportal. Matthaei, der treue Haushofmeister der Branconi, reißt die Tür auf und verbeugt sich tief. Goethe entsteigt der Kutsche. Nun eilt auch Maria von Branconi ihrem hochgeschätzten Gast entgegen ...

Die Bilder verschwammen vor ihrem inneren Auge, als habe man Säure darüber gekippt. Mühsam zwang sie sich ins Hier und Jetzt zurück. Eine Gegenwart, die so schrecklich war, als hätte niemand Geringerer die Situation ersonnen, als Mephisto selbst.

Die grünen Augen waren glanzlos, aber sie lächelten ihr zu. Sie musste ihn retten. Das gelang nur, wenn sie den Beweis fand. Abermals begann sie, mit wilden Bewegungen in einem Stapel von Papieren zu wühlen, ahnend, dass sie versagen würde. Abermals wurden ihre Lider schwer. Als sie wieder hochfuhr, kehrten die grünen Augen zurück. Sie lächelten nicht mehr. Sie waren starr und leblos. Überall war Blut ...

Kapitel 1

Vor die Wahl gestellt zwischen Unordnung und Unrecht,

entscheidet sich der Deutsche für das Unrecht.

J. W. von Goethe

Die Waffe ... auf sie gerichtet ... der Hass in Sinas blassgrauen Augen ... das gedämpfte Pitsch … ihre Erkenntnis, dass man ihr in den Unterleib geschossen hatte, folgte dem Geschehen träge, wie ein abgehängtes Echo, während sie fiel … immer weiter, immer tiefer, in einen Wirbel aus Farben ...

»Nein!«, drang Andreas’ ungewöhnlich scharfer Ruf in Tillas Bewusstsein, was sie abrupt aus ihrem unliebsamen Erinnerungsfetzen herauskatapultierte. Um diesen, sich ständig wiederkehrenden Traum deuten zu können, hätte sie das Psychologiestudium nicht gebraucht, welches sie wenige Monate zuvor abgeschlossen hatte. Dazu reichte einfachste Küchenpsychologie. Über drei Jahre war es her, als Andreas’ Ex-Freundin, Dr. Gesine Leutner, Sina genannt, auf sie geschossen hatte. Und das in ihrem Haus, dem Efeuhäuschen, das doch ihr Schutzort sein sollte.

Noch immer plagten sie diese Flashbacks in den unpassendsten Momenten. So auch jetzt, wo sie mit Ermittlern der Kripo Goslar und zwei Staatsanwälten zusammensaß, um über das weitere Vorgehen den Gefängnisinsassen Gregor Kamenz betreffend, zu beraten. Wegen ihrer geistigen Abwesenheit kam der Zorn ihres einstigen Partners für sie überraschend. Krampfhaft versuchte sie, Anschluss an Versäumtes zu finden.

»Das kann nicht Ihr Ernst sein«, rief Andreas aufgebracht in die Runde. »Es war mein Bruder, der Sina damals dazu brachte, auf Tilla zu schießen. Und nun soll sie Gregor therapieren? Denjenigen, der ihren Tod wollte?«

Tilla kämpfte mit ihrer Verwirrung. Es lag nicht nur daran, dass sie sich aus dem Gespräch ausgeklinkt und so nicht mitbekommen hatte, um was es ging. Es waren auch diese überaus lästigen Farbvisionen, die sie seit ihrem Nahtoderlebnis heimsuchten. Dabei waren sie zeitweise völlig verschwunden gewesen und Tilla hatte sich schon auf dem Weg der Besserung gewähnt. Doch gerade kehrten sie mit Macht zurück, was Tilla ziemlich aus der Bahn warf. Andreas’ Gesicht verschwand hinter einem schwarzen Nebel, wobei sich kleine rotglitzernde Funken über seine Wangen nach oben bewegten.

Sina hatte viel mehr zerstört als der Schaden, den das Geschoss in ihrem Unterleib angerichtet hatte. Bedrückt ließ Tilla die letzten Jahre Revue passieren. Andreas war wieder in seine Goslarer Wohnung gezogen, noch bevor sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Am Telefon hatte er beteuert, dass er aus Liebe zu ihr auf Distanz gehen müsse. Sie wusste, es zerfraß ihn geradezu, sah er sich und seine Familie doch als Grund dafür an, was ihr widerfahren war. Mehrfach hatte sie ihm versichert, dass sie ihn nicht für Sinas Tat verantwortlich mache. Das tat sie tatsächlich nicht. Zurückgekommen war er aber nicht. Vielleicht hatte sie auch falsche Signale ausgesandt, denn in ihr schwelte damals eine Mordswut. Auf Sina, auf Gregor und seinen Venedigerorden und vor allem auf Andreas und seine einsame Entscheidung. Das plötzliche Alleinsein hatte sie hart getroffen. Verstärkt wurde das Ganze dann auch noch durch die verfluchte Corona-Epidemie. Über lange Phasen hatte sie mit niemandem Kontakt gehabt. Alle ihre Freunde lebten mit ihren Familien zusammen. Nur sie war von der Eintönigkeit schier zerfressen worden, da sie als Übersetzerin im Homeoffice arbeitete. Also war sie an die Uni zurückgekehrt. Doch auch die war nach einigen Vorlesungen, die ihr gutgetan hatten, zumeist auf digitale Events beschränkt worden. Es waren weitere Lockdowns ins Land gegangen und irgendwie hatten sich alle mit der Isolation abgefunden. Auch sie selbst hatte sich das anfängliche Rebellentum abgewöhnt und sich gefügt.

Doch seit sie Andreas an diesem Morgen wiedergesehen hatte, schien jede Zelle ihres Körpers in Aufruhr. Sie war hin- und hergerissen zwischen wiederaufgeflammtem Zorn und Sehnsucht. Vor allem, als sie bemerkte, dass sich auch seine Augen, sie hatten die Farbe heller Bergseen, geradezu an ihr festgesaugt hatten. Ihre Fingerspitzen fühlten die Muskeln seiner schlanken Figur, obwohl ihre Hände sittsam in ihrem Schoß lagen. Die Hexe in ihr, die ihrem körperlichen Begehren ungehindert von Konventionen nachgab, schien nach einem langen Schlaf zu erwachen. Dass sich auch ihre Seele nach Andreas sehnte, war ihr vorher gar nicht so bewusst gewesen. Eigentlich hatte sie gedacht, dass sich ihre Gefühle beruhigt hatten. Sollte sie nicht doch versuchen, den Kontakt zu ihm zu forcieren? Nein! Sie würde ihn damit ruinieren. Tilla wusste, dass er sich nach einer Familie sehnte, nach Kindern mit ihr. Doch dieser Wunsch war ausgeträumt. Dafür hatte das Projektil gesorgt, welches Sina auf sie abgefeuert hatte. Die Frauen ihrer Familie brachten wohl keinem Mann Glück. Tillas Mutter und auch ihre Großmutter waren ein Beweis dafür. Ob das an ihrem Glauben lag? Tilla war mittlerweile bereit, zu glauben, dass ein Fluch auf ihrer Familie lag. Ihre Mutter und ihre Großmutter waren Altgläubige, also Hexen. Ihre Hand befingerte unwillkürlich das Rosenpentagramm ihrer Großmutter. Wieder einmal erfüllte das schwere, alte Silber aus Waliser Gruben sie mit Zuversicht. Reiß dich zusammen! Vergiss die Hexe in dir. Du bist nun Psychologin mit Schwerpunkt forensische Psychologie, betete sie sich vor und zwang ihre Aufmerksamkeit auf das Geschehen im Konferenzsaal der PI Goslar zurück, zu der man sie gebeten hatte.

Vermutlich war es das erste nicht digitale Briefing überhaupt, seit man die Pandemie für beendet erklärt hatte. Noch immer vermied man körperlichen Kontakt, obwohl einige in einem ersten Impuls folgend verräterisch die Hände vorgestreckt hatten, um diese dann zu der lächerlichen Ghettofaust zu schließen und gegen die Faust des Gegenübers zu tippen. Alle hatten mit der realen Anwesenheit anderer Personen überfordert gewirkt. Die Unsicherheit war mittlerweile in Gereiztheit übergegangen.

Tillas seelisches Ungleichgewicht beschäftigte sich noch immer mehr mit Andreas als mit dem eigentlichen Grund der Zusammenkunft. All die Emotionen, die sie in den letzten Jahren sorgsam mit dem Allerlei des dürren Alltags übertüncht hatte, waren mit diesem Meeting hervorgebrochen und führten nun zu einem kaum erträglichen emotionalen Feuerwerk. Offenbar gehörten diese lästigen farbigen Trugbilder dazu. Drei Jahre lang war es ihr gelungen, sich zu betäuben, indem sie ihren Kopf mit Wissen gefüllt hatte. Die Farben waren weitgehend weggeblieben. Bis jetzt.

Tilla sah Andreas verstohlen an. Abermals waberten schwarze Tropfen hinter seinem Kopf nach oben. Kurz folgte sie den Tropfen, bevor sie die Augen schloss, um das Bild von einem friedlichen Waldweg mit Vogelstimmen vor ihrem inneren Auge heraufzubeschwören. Sie wusste bereits, es half gegen diese verfluchten Farbvisionen. Dann wurde ihr bewusst, dass sechs Leute um sie herum saßen. Beschämt riss sie ihre Augen auf und bemühte sich, einigermaßen akademisch auszusehen. Die Farben verblassten. Entschlossen konzentrierte sich Tilla auf die Stimme von Dr. Jan Berking, der mittlerweile zum Ersten Staatsanwalt aufgestiegen war.

»... und deswegen sollten wir es nicht von vorneherein ablehnen, wenn Gregor Kamenz Tilla als Therapeutin erbittet«, erklärte er in der für ihn typischen gleichbleibend kühl anmutenden Sprachmelodie.

Gerd Wegener, Leiter des ersten Fachkommissariates, zuständig für Gewaltverbrechen, stieß ein Geräusch des Unmutes aus. Währenddessen runzelte Hanjo Berking, Vater des Staatsanwaltes und ehemaliger BKA-Beamter, derart ungnädig die Stirn, dass sich seine Brauen fast in der Mitte berührten. Hanjo war als Berater in die Sonderkommission Venedigerorden eingebunden gewesen. Daher hatte man ihn auch jetzt dazu gebeten, ging es doch um den Kopf dieser kriminellen Organisation – nämlich Gregor Kamenz.

»Das ist doch verrückt!«, blaffte Andreas erneut in die Runde. Er und Berking maßen sich mit Blicken, zornfunkelnd von Andreas’ Seite, abschätzig von Seiten Berkings. Die alte Rivalität zwischen Andreas und Jan Berking war um keinen Deut abgeflaut, erkannte Tilla genervt. Vielleicht sollte sie einfach noch mal mit Berking schlafen. Das würde Andreas sicher von ihr kurieren. Würde Jan Berking nicht in einer festen Beziehung mit Andreas’ Schwester stecken, sie hätte es ernsthaft in Betracht gezogen, um Andreas die Augen zu öffnen. Leider mochte sie Eva und würde ihr das natürlich nicht antun. Ausnahmsweise senkte Berking den Blick zuerst, obwohl er normalerweise keine Möglichkeit ungenutzt ließ, sich mit Andreas zu messen.

Aus den zuletzt erhaschten Wortfetzen setzte sich in Tillas Kopf langsam ein Puzzle dessen zusammen, was hier diskutiert wurde. Demnach wollte Gregor Kamenz, Andreas’ Bruder und hochrangiger Lenker des weltweit agierenden Venedigerordens, dass sie ihn psychologisch behandelte? Andreas hatte recht. Das war verrückt.

Fast vier Jahre zuvor hatte man Gregor im Zuge eines Großeinsatzes in Sachsen-Anhalt festgenommen. Seither saß er in der JVA1 Wolfenbüttel. Bisher war es ausschließlich Finn Neudorf gewesen, der regelmäßig mit ihm gesprochen hatte. Tilla sah zu Andreas’ jungem Kollegen hin, den Gregor seinerzeit entführt und über Wochen gefangen gehalten hatte. Den Erlebnissen zum Trotz saß der junge Ermittler heute wie ein ruhender Pol in dieser aufgeregten Runde und ließ mit keiner Bewegung seiner Gesichtsmuskeln erkennen, was er von Gregors Forderung hielt. Dass man Finns Fassade so schwer durchschaute, war für Tilla schon immer ein Faszinosum gewesen. Sie vermutete, er hatte sich dieses Pokerface bereits in der Jugend zugelegt. Diese war durch seine gewaltbereiten, im Drogensumpf befindlichen Eltern, äußerst dramatisch verlaufen. Doch nun glaubte sie bei ihm zu erkennen, dass ihn Gregors Vorschlag im Gegensatz zu den anderen nicht überraschte. Dann registrierte sie, dass man sie fragend ansah. Wegen ihrer Aufmerksamkeitslücken mit Unkenntnis gestraft, versuchte sie Zeit zu gewinnen.

»So, so, Gregor Kamenz will also, dass ich ihn therapiere ...«, wiederholte sie und bemühte sich um einen einigermaßen intelligenten Gesichtsausdruck, wie man es von einer forensischen Psychologin mit Masterabschluss erwarten konnte.

»Das mag auf den ersten Blick für Sie befremdlich klingen, Frau Leinwig«, hob nun Oberstaatsanwalt Dr. Rüpping an. Er trug eine weiß schimmernde Krawatte, was bedeutete, dass der Jurist direkt aus dem Gerichtssaal zu diesem Treffen geeilt war.

»Auf den zweiten Blick auch, Herr Dr. Rüpping. Sie wissen doch so gut wie ich, dass ein Gregor Kamenz nicht therapierbar ist. Um das zu wissen, brauche ich noch nicht einmal ein Explorationsgespräch. Gregor Kamenz hat seine dunklen Charakterzüge, also Narzissmus, Machiavellismus und Psychopathie, im Laufe seines Lebens geradezu kultiviert. Einfacher gesagt: Der hängt an seiner schwarzen Seele wie Dreck am Schuh ...«

Wegeners herzhaftes Auflachen unterbrach ihre Rede. Der Leiter des ersten Fachkommissariates zeigte glucksend mit dem Zeigefinger auf Tilla. »Endlich mal ein Psychologe, der verständlich redet!« Die allgemeine Stimmung hellte sich etwas auf.

Tilla wusste, dass Wegener hinter seinem zuweilen stoffeligen Auftreten einen messerscharfen Verstand verbarg. Sie wusste auch, dass Andreas für ihn so etwas, wie ein Sohn war. Dass ausgerechnet sie, die Andreas nur Pech brachte, hierher zurückkehrte, konnte ihm nicht behagen. Doch er verbarg seine Gefühle gut. Andreas dagegen sah aus, als ob er kurz vor einer Explosion stand. Mühsam sammelte sie sich.

»Zweitens«, setzte Tilla an, »... mein Studienschwerpunkt ist die forensische Psychologie, nicht die Psychotherapie! Für Letztere bin ich gar nicht ausgebildet.«

Rüpping lächelte gewinnend. »Nun, das mag sein, Frau Leinwig. Aber das Ganze mündet ja vielleicht gar nicht in einer offiziellen Therapie, es wäre vielmehr eine Chance ...«

»... dass Tilla den Mann trifft, der ihre Ermordung in Auftrag gab?«, fiel ihm Andreas zynisch ins Wort. Er fing sich prompt einen tadelnden Blick von Wegener ein.

»Ich verstehe Ihre Vorbehalte, Herr Kamenz«, begann Rüpping unbeeindruckt von Andreas’ unbotmäßigem Ton. »Aber in einem Punkt muss ich Sie korrigieren. Dass Ihr Bruder Frau Dr. Leutner zu dem Mord anstiftete, ist nicht bewiesen. Dr. Gesine Leutner hatte durchaus ein eigenes Motiv, Frau Leinwig den Tod zu wünschen. Meines Wissens waren Sie damals mit Frau Leinwig liiert und Dr. Leutner, die Ihnen wohl noch immer zugetan war, könnte aus Eifersucht auf Frau Leinwig geschossen haben.«

»Sina und ich hatten uns schon lange vorher einvernehmlich getrennt«, erwiderte Andreas trotzig.

»Mehr oder weniger einvernehmlich«, bemerkte nun Jan Berking spitz. »Eva sagte, Sina wäre nie über die Trennung hinweggekommen.«

»Na großartig, dass meine Schwester Sie so gut informiert. Ich bin bis heute nicht sicher, ob Sina überhaupt je etwas für mich empfunden hat.«

»Ich schon«, warf Berking ein. »Nach Evas Meinung hat sich Sina quasi als Ersatz für Sie auf Ihren Bruder eingelassen«, gab Berking kühl zurück.

»Und was wollen Sie mir jetzt damit sagen? Dass ich schuld bin an dem Ganzen?«

»Nicht in juristischem Sinne. Aber das Beziehungsgeflecht spielt durchaus eine Rolle, und genau das könnten wir nun nutzen, um Ihren Bruder auszuhorchen.« Auch Berkings Ton war mittlerweile alles andere als entspannt.

»In diesem Punkt stimme ich mit meinem Kollegen Dr. Berking überein. Vielleicht ließe sich ...«

Genervt von diesem nach ihrem Empfinden nutzlosen Geplänkel unterbrach Tilla den Oberstaatsanwalt mit einer brandwütenden Frage. »Fragt sich denn hier niemand, woher dieser Bastard überhaupt weiß, dass ich mein Studium abgeschossen habe?« Ihr Funkelblick machte die Runde. »Ich hab deswegen weder nackt um das Göttinger Gänseliesel herumgetanzt, noch ganzseitige Anzeigen in deutschlandweiten Tageszeitungen veröffentlicht.«

Dr. Rüpping zuckte sichtlich irritiert zurück. Die anderen waren bereits an Tillas scharfe Zunge gewöhnt, die auch ihr Psychologiestudium nicht gezähmt hatte, und nahmen den Ausbruch gelassener hin. Tilla stierte Finn an. Immerhin war er Gregor Kamenz’ einzige Verbindung zur Außenwelt. Gregor hatte seinerzeit explizit um diese Gespräche mit Finn gebeten. Somit waren Finns Besuche in der JVA von offizieller Seite gewollt und hatten den Sinn, Andreas’ älterem Bruder Informationen über den noch immer bestehenden Venedigerorden zu entlocken, dessen Kopf er gewesen war. Bisher allerdings ohne nennenswerten Erfolg.

Finn antwortete unter Tillas bohrendem Blick hörbar angesäuert: »Also ich hab’s ihm nicht erzählt, falls du das denkst.«

Das luftige Grün, das Finns Kopf umgab, verdichtete sich, wurde dunkler und flirrender. Tilla senkte betreten ihren Blick, starrte auf die lichtgraue Resopalplatte des lichtgrauen Raumes in der ansonsten eher graubraunen Polizeiinspektion Goslar und ruderte zurück.

»Ich weiß. Entschuldige, Finn! Aber woher hat er die Information dann?« Erneut sah sie in die Runde, die in nachdenklichem Schweigen verharrte.

»Tilla hat recht«, bemerkte Andreas, der für Tilla nun in einen blau-violetten Dunst, durchsetzt mit roten Rissen, gehüllt war. »Es stellt sich die Frage: Zu wem hatte Gregor Kontakt, um das zu erfahren?«

»Haben ihn vielleicht seine Eltern besuchen dürfen?«, fragte Tilla umherschauend, wobei ihr Blick Andreas aussparte. Diese Farbvisionen machten sie noch verrückt. Oder war sie das bereits?

Der Oberstaatsanwalt, der wohltuend farblos blieb, straffte sich ein wenig. »Nein, natürlich nicht. Häftling Kamenz wird zwar nicht müde, einen entsprechenden Antrag zu stellen, aber Richterin Dr. Wendhofen hat diesen bis heute stets abschlägig beschieden. Das gilt vor allem für seine ...«, Rüpping blickte Andreas entschuldigend an, »... und Ihre Eltern, Herr Kamenz. Da deren Rolle als mutmaßliche Helfer des Ordens ja bis heute nicht ausgeschlossen werden kann, wäre die Gefahr, dass Gregor Kamenz seine Eltern benutzt, um erneut Einfluss auf diesen unseligen Orden zu nehmen, zu groß.«

Andreas nickte schweigend.

»Prima Plan soweit«, bemerkte Tilla sarkastisch. »Nur geklappt hat er ganz offensichtlich nicht.« Der Ausdruck, der daraufhin auf dem Gesicht des Oberstaatsanwaltes auftauchte, erinnerte an Zahnweh.

»Leider wahr«, stimmte Hanjo Berking ihr zu. »Nach Informationen meiner ehemaligen Kollegen in Wiesbaden ist der Venedigerorden weiterhin aktiv.«

»Wobei Gregor Kamenz da sicher nicht mehr mitmischt«, gab nun Staatsanwalt Berking zurück.

»Fakt ist aber, er wusste von Tillas Abschluss«, wandte Andreas ein. »Könnte Gregors Anwalt ihn informiert haben? Wer ist das eigentlich?«

Berking klappte sein Notebook auf und scrollte durch die Seiten der Akte Kamenz, für die, so vermutete Tilla, man in Papierform vermutlich einen Laster brauchte, um sie zu bewegen. Berkings Finger kam zur Ruhe. Er antwortete nachdenklich: »Dr. Tibor von Breitenfels ... scheint eine große Anwaltskanzlei mit zig Juristen aus München zu sein.« Seine Miene wurde hart, während er weitere Seiten auf dem Bildschirm überflog. »Hm ... wer genau der Ansprechpartner Ihres Bruders war, kann ich aus der Akte nicht ersehen.« Wieder Tippen und Wischen. »Im Besucherverzeichnis des Gefängnisses stehen immer nur der Kanzleiname und ein unleserliches Kürzel.«

»Und bekommt Gregor noch immer regelmäßig Besuch von seinem Anwalt?«, hakte Andreas nach.

Wieder bemühte Berking die digitale Akte. »Nicht regelmäßig, nein. Nach Abschluss des Revisionsverfahrens gar nicht mehr. Aber es gab regelmäßige Telefonate, steht hier.«

»Ein Anwalt aus München kriegt ja wohl kaum mit, dass Tilla einen Abschluss in Psychologie in Göttingen gemacht hat«, bemerkte Gerd Wegener. Er wandte sich an Tilla. »Glückwunsch übrigens! Ich wusste gar nicht, dass man so ein Studium in so kurzer Zeit abschließen kann.«

»Kann man auch nicht«, gab Tilla grinsend zurück. »Aber ich hatte vor einigen Jahren bereits das Grundstudium durchlaufen. Damals brach ich ab, weil mir die Materie zu ...«, auf der Suche nach den richtigen Worten wedelte sie wild mit den Händen herum, »... zu mathematisch und zu menschenfern erschien. Also wechselte ich zu Geschichte. Aber da ging es ohne Mathe und Chemie auch nicht. Ja, also ... ich musste wohl erst erwachsen werden, um bereit zu sein, mich anzustrengen.« Und es musste erst jemand mein Leben in Scherben schießen ... vervollständigte Tilla ihre Erklärung im Geiste.

»Meine Theresa liebäugelt auch mit einem Psychologiestudium ...«, meinte Gerd Wegener gedankenverloren. Wie immer, wenn er von seiner Tochter sprach, trat ein warmer Glanz in seine Augen.

Jan Berking, der generell wenig Interesse für das menschliche Allerlei aufbrachte, erstickte die Abschweifung, indem er sich an Finn wandte. »Herr Neudorf, Sie sind der Einzige, der regelmäßig mit Gregor Kamenz gesprochen hat. Wie ist Ihr Eindruck? Hat er Kontakte nach draußen?«

Finns Antwort ließ gewohnt etwas auf sich warten. Sein Blick schien sich kurz nach innen zu kehren. Vermutlich ploppten in seinem Superhirn gerade die letzten hundert Gespräche mit Gregor auf, die er einer genauen Analyse unterzog, vermutete Tilla. Auch sie wartete gespannt auf sein Urteil.

»Hätte er irgendetwas geäußert, was darauf schließen ließe, dass er Informationen von draußen erhält oder gar beantwortet, dann hätte ich es in meinen Berichten erwähnt. Und das weiß Gregor sehr genau.« Seine Miene geriet kurz in Bewegung, bevor er hinzufügte: »Dennoch bin ich sicher, dass er mit der Außenwelt kommuniziert.«

»Was? Wie soll das vor sich gehen?«, fragte Rüpping alarmiert.

»Wenn ich das wüsste, hätten Sie es erfahren«, erwiderte Finn. »Möglich ist das immer ... vielleicht über Mithäftlinge, wer weiß. Warum haben wir in allen Gefängnissen Drogen? So etwas ist nicht in den Griff zu kriegen, und wir wissen doch, dass der Orden überall mitmischen kann. Ich denke, dass der Einfluss von so einer Organisation nicht vor Gefängnismauern Halt macht. Ein hübsches Sümmchen an der richtigen Stelle ...«

»Darüber hinaus versteht es Gregor bestens, Menschen zu manipulieren und für sich einzunehmen«, murrte Tilla. »Ich fürchte, der hat es selbst im Knast schnell wieder zu einem Fan-Club gebracht.«

Sofort entbrannte eine rege Diskussion darüber, welchen Weg solche Informationen nehmen könnten, ob diese in beide Richtungen, also hinein- und hinausgingen, und wie man so etwas unterbinden könne. Tilla beteiligte sich nicht daran. Wabernde Farben füllten den Raum. Verärgert darüber fixierte Tilla ein nichtssagendes weißes Heizkörperrohr, um sich abzuschirmen. Wochenlang hatte sie keine Farben gesehen. Wieso gerade jetzt?, fragte sie sich mit einer Mischung aus Zorn und Verzweiflung. Die Antwort stellte sich prompt ein. In den den letzten drei Jahren hatte sie außer auf ein paar Jahresfeiern der Altgläubigen, die selbstredend unter verbotenen Partys einzuordnen waren, wenig Menschen getroffen. Sie blieb an der Frage hängen, warum einige Menschen geradezu in einem Farbregen versanken, während andere völlig farblos blieben. Doch als Finn nachdenklich bemerkte: »Mich wundert, dass er mit seiner Bitte, Tilla als Therapeutin zugeteilt zu bekommen, den Informationsfluss deutlich gemacht hat«, kehrte ihre Aufmerksamkeit zurück.

»Stimmt, das scheint ja irgendwie dumm«, pflichtete Wegener ihm bei.

»Man mag Gregor Kamenz vieles nachsagen, dumm ist er ganz bestimmt nicht. Alles, was er tut, ist durchdacht und hat einen Grund. Deshalb frage mich, warum er das getan hat?«, erwiderte Finn.

Der Raum füllte sich mit nachdenklicher Stille, bis Tilla sich zu Wort meldete. »Eine mögliche Antwort wäre: Er ist sich dieses Informationsflusses sehr sicher. Und genau das will er euch mitteilen. Er demonstriert damit ein Stück Überlegenheit, was zu seinem Profil passt.«

»Machtspielchen ...«, bemerkte Andreas zustimmend, »das sähe ihm ähnlich. So was hat er sein ganzes Leben lang trainiert.«

»Und wie reagieren wir nun darauf?«, fragte Gerd Wegener.

»Reagieren wir nicht, würde er das als Schwäche interpretieren«, bemerkte Andreas mit bitterem Unterton.

»Korrekt!«, bemerkte Berking. »Geben wir ihm, was er will, um zu zeigen, dass wir keine Angst vor ihm haben.«

Die Blicke aller richteten sich auf Tilla.

»Äh ... also ... euch ist schon klar, dass ein Gregor Kamenz keine Therapeutin braucht, oder?«, wiegelte die leicht hilflos ab.

»Nein, die braucht er sicher nicht«, stimmte ihr Jan Berking zu. »Aber nun haben wir einen zweiten Grund, dich zu ihm zu schicken. Es besteht der Verdacht des Informationsflusses. Du als nunmehr gelernte Profilerin bekommst vielleicht heraus, ob es diesen Informationsaustausch mit der Außenwelt wirklich gibt und welchen Weg er nimmt.«

Tilla blies die Backen auf, während sie überlegte. Schließlich meinte sie: »Ich weiß nicht, ob ich gut genug dafür bin. Ich bin zwar Kriminalpsychologin, aber ich bin ein Frischling. Und Finn ist, was Gregor angeht, erfahrener als wir alle zusammen.« Sie blickte Hilfe suchend zu Hanjo. »Du wärest auch viel besser für so einen Job geeignet.«

»Danke für die Blumen, Tilla, aber ich bin Rentner«, bemerkte Hanjo grinsend. »Außerdem wird Gregor nicht mit mir sprechen. Er will dich sehen.«

Sein unbeirrt vergnügter Tonfall ärgerte Tilla. Und wieder war es Finn, der ihren Unmut abbekam. »Sag dem Dreckskerl, ich scheiß darauf, was er will!« Die anderen warteten. Schweigend. Als das Schweigen für sie unerträglich wurde, warf sie die Arme hoch. »Okay, ich überleg’s mir.« Muffig sagte sie zu Finn: »Sag ihm trotzdem, was ich über seinen Vorschlag denke.«

Finn nickte grinsend. »Mach ich. Zu leicht sollten wir es ihm ja auch nicht machen.«

Nun war es Andreas, der sich mit schneidender Stimme meldete. »Ihr zieht ernsthaft in Erwägung, Tilla so etwas zuzumuten?«

Hanjo beugte sich vor und sah Andreas eindringlich an. »Sie kann das, Andreas, glaub mir. Tilla hat sich nicht nur während des Studiums, sondern auch schon in den Jahren zuvor, wo sie uns alle bei der Arbeit unterstützt hat, auf genau so etwas vorbereitet.«

»Ich ziehe Tillas Fähigkeiten als Profilerin keineswegs in Zweifel.« Er sah Tilla an. »Ich bin sicher, dass du diesen Job bestens beherrscht.« Dann blickte er wieder in die Runde. »Aber Gregor geht es nicht nur um seine perfiden Machtspielchen, oder gar eine Therapie. Ich sorge mich einfach um Tillas Sicherheit.«

»Glaubst du wirklich, er würde versuchen, ihr etwas anzutun?«, fragte Wegener.

»Bekäme er die Chance, ja, dann würde er sie töten.«

Andreas Antwort hing wie eine Gewitterwolke im Raum. Man warf Tilla verstohlene Blicke zu. Die Gesichter aller waren nun zur Abwechslung mal klar und unverfälscht zu sehen, nur Andreas erschien ihr von einer schwarz-lila Corona umgeben. Diese Farbvision lenkte sie derart ab, dass ihr nichts Sinnvolles einfiel.

»Aus Rache?«, hakte Rüpping nach.

Andreas nickte. »Ich bin überzeugt, dass er Sina so manipulierte, dass sie auf Tilla schoss. Wäre es Sina gelungen, Tilla zu töten, hätte Gregor zwei Fliegen mit einer Klappe erwischt. Er hätte meine Ex auf seine Seite gebracht und mir Tilla weggenommen. Der Versuch, Tilla zu töten, ging schief. Ich bin sicher, er wird es wieder versuchen. Und deswegen halte ich es für nicht vertretbar, dass Tilla auch nur in seine Nähe kommt.«

Seine sorgenvollen Worte trafen Tilla wie ein Guss aus warmem Honig, süß, aber auch klebrig und lähmend.

»Tilla wäre ja nicht mit Gregor allein«, gab Jan Berking in sachlichem Ton zu bedenken. »Das Wachpersonal wäre ja immer dabei.«

»Das Wachpersonal, das womöglich daran beteiligt ist, dass Gregor noch immer Informationen erhält und seine Befehle nach draußen schickt. Na toll«, ätzte Andreas.

»Wir sollten einem Gregor Kamenz wirklich nicht zu sehr entgegenzukommen«, ließ nun Wegener hören. »Wie wäre es, wenn Tilla nicht allein zu ihm ginge? Sie könnte Herrn Neudorf bei einem seiner nächsten Besuche in der JVA einfach begleiten und Gregor fragen, was er sich vorstellt.«

»Ausgezeichneter Vorschlag!«, lobte Rüpping. »Das wäre doch ein Anfang.«

»Nicht so schnell«, bremste Berking. »Dann redet er möglicherweise nicht. Ich denke, jetzt geht es ja nicht mehr nur um den Orden, es geht doch auch darum, das Informationssystem in der JVA Wolfenbüttel unter die Lupe zu nehmen.«

»Wozu?«, fragte Andreas scharf. »Wir kappen einfach die Informationswege. Und zwar, indem er in ein anderes Gefängnis verlegt wird. Das wäre eine deutliche und wirkungsvolle Antwort auf sein dämliches Machtspielchen. Wir machen ihm und dem Venedigerorden klar, dass wir am längeren Hebel sitzen.«

»Stimmt!« Wegener grinste Andreas zufrieden an. »Holen wir ihn doch erst mal hier nach Goslar.«

»Nach Goslar? Das hiesige Gefängnis ist nicht für derart gefährliche Leute ausgelegt«, gab Jan Berking zu bedenken.

»Knast ist Knast«, antwortete Wegener wegwerfend. »Stecken wir ihn hier in eine Einzelzelle und dann schauen wir mal, was mit dem Informationsfluss passiert.«

»Lasst Tilla trotzdem mit ihm reden«, warf Hanjo ein. »Dass Finn sie begleitet, finde ich eine gute Idee.«

Andreas lehnte sich zurück und sog scharf die Luft ein, doch er sagte nichts. Abermals richteten sich alle Blicke auf Tilla.

Die nickte grummelnd.

1 Justizvollzugsanstalt

Kapitel 2

Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde!

Es war getan fast eh gedacht.

Der Abend wiegte schon die Erde,

und an den Bergen hing die Nacht.

J. W. von Goethe

... Du hättest bedenken müssen, was du dir wünschst. Manchmal hören die Götter zu ...

»Verdammt Mutsch! Lass mich mit deinen Glückskeks-Weisheiten in Ruhe!«, fauchte Tilla ins Nichts. Der Sattel, auf dem sie saß, knirschte leise. Die Ohren des Pferdes, zuvor noch in Richtung Wald gespitzt, drehten sich nach hinten. Der Wallach hörte ihr stets zu, was Tilla als wohltuend empfand. Aber auch er hatte Hedera Leinwig nicht hören können, schließlich befand sich die mahnende Stimme ihrer Mutter nur in ihrem Kopf. Tilla hörte sie dagegen klar und deutlich, als ginge sie neben ihr her. Seltsamerweise grenzte sie diese regelmäßige Zwiesprache mit ihrer Mutter deutlich von den verstörenden Farbvisionen ab, obwohl Hederas Stimme genau genommen eine akustische Vision war. Die Kommentare ihrer Mutter gehörten zu ihrem Leben als Altgläubige. Altgläubige kommunizierten ständig mit ihren Ahnen. Würde ihr dagegen ein Häftling erzählen, die Stimme seines Opas hätte ihn zu der Tat getrieben, würde sie ihn in die Psychiatrie einweisen. Hatte sie wirklich den richtigen Job gewählt? Trotz des Masterabschlusses blieb sie eine Hexe. Ihre Mutter sprach seit ihrem Tod vor allem dann mit ihr, wenn sie versuchte, einem Problem aus dem Weg zu gehen. Hatte Mutsch recht? Hatte sie ihre Unfruchtbarkeit herbeigewünscht?

Natürlich habe ich recht, Liebes ...

Tilla grunzte unwillig. Ein Ohr des Wallachs drehte sich nach hinten, das andere horchte nach vorn. Bevor auf sie geschossen wurde, hatte die Vorstellung, für ein Kind verantwortlich zu sein, sie tatsächlich an den Rand der Panik getrieben, gestand sich Tilla ein. Little Merlin unter ihr schnaubte zufrieden, zog sachte an den Zügeln und steuerte den Wegrand an. Tilla verstand, dass ihn das junge Frühlingsgras anleckerte, und gab bereitwillig die Zügel nach. Während das Pferd genüsslich an den Halmen zupfte, hing sie weiter ihren Gedanken nach.

Eine Schwangerschaft war etwas, das sie sich so dringend gewünscht hatte wie einen Meteoriteneinschlag auf ihr geliebtes Efeuhäuschen. Warum?, so fragte sich Tilla nun und begann ihre Selbstanalyse. Mit einem Kind hätte sie erwachsen werden müssen. Davon war sie damals weit entfernt gewesen. Und heute? Sie war vierunddreißig. Wäre sie heute bereit für ein Kind? Oder ärgerte es sie lediglich, dass Sina ihr die Wahl genommen hatte? Sie dachte an den Vortag und an Andreas zurück. Sie kannte ihn gut genug, um zu erkennen, dass er keineswegs über sie hinweg war. Ebenso hatte in ihr alles danach geschrien, ihn zu umarmen, zu berühren, überall. Tilla stieß ob der Erinnerung an diese hormonelle Wallung, die gerade Nachwehen bekam, ein Unmutsgeräusch aus. Dann fielen ihr die wolkigen Farbvisionen ein, und alle wohligen Gefühle zerstoben. Sie blickte in die Baumkronen, die allerdings noch kahl waren. Sie sehnte sich nach Grün und nach Normalität.

Erst war es die Suche nach dem Warum ihrer Farbvisionen gewesen, was sie zurück an die Uni geführt hatte. Zunächst hatte sie nur einen Gasthörerschein beantragt und neben Hanjos Vorlesungen im Fach Kriminologie weitere im Bereich der Trauma-Psychologie besucht. Sie hatte feststellen müssen, wie viel Spaß ihr das vor Jahren abgebrochene Psychologiestudium nun machte, woraufhin sie sich neu einschrieb. Dabei hatte sie Kriminalpsychologie als Schwerpunkt gewählt. Vor allem das Entschlüsseln der Mikromimik hatte es ihr angetan, das als ganz neues Spezialgebiet von den USA herübergekommen war. Ihr Abschluss prädestinierte sie zur Verhörspezialistin. Allerdings drohten die verfluchten Farbvisionen all ihre Pläne zunichtezumachen, da sie durch die bunten Wolken keinerlei Mimik erkennen konnte.

Bisher hatte sie es nicht gewagt, mit irgendjemand darüber zu sprechen. Der Aktionismus der letzten Jahre hatte schließlich auch dem Zweck gedient, aus der Opferrolle herauszukommen und wieder ernst genommen zu werden. Ihre Masterthesis – die dunkle Triade, vom abgelehnten, über geduldeten bis hin zum gefragten Bestandteil der modernen Gesellschaft – war hervorragend bewertet und sogar veröffentlicht worden. Aber wer nahm eine Frau ernst, die imaginäre bunte Wolken sah? Sie nahm die Zügel wieder auf und klopfte unbeholfen mit den Schenkeln an den Bauch des für sie viel zu großen Pferdes.

»Los komm, du Zauberlehrling! Sonst schicken die anderen wieder einen Suchtrupp los.«

Das Pferd, welches eigentlich Eva Kamenz gehörte, rupfte noch ein paar letzte Hälmchen Gras und setzte sich sodann bereitwillig in Bewegung. Das schlechte Gewissen Andreas gegenüber drückte Tilla geradezu nieder. Er wusste nichts von ihrer Angst vor einer Mutterschaft. Damals hatte Tilla drumherum geredet, die Sache aufgeschoben, gesagt, sie denke drüber nach, warte auf den richtigen Zeitpunkt ... all diesen Unsinn, den Frauen von sich gaben, um die Baby-Frage einzudämmen. Dann war er gegangen. Deshalb wusste er auch nicht, was Sinas Tat angerichtet hatte. Und auch nicht, dass es Tilla gewesen wäre, die ihn deswegen verlassen hätte, eben weil sie wusste, wie sehr sich Andreas Kinder wünschte. Mit eigenen Kindern wollte Andreas gutmachen, was seine Familie ihm angetan hatte. Er verdiente eine Frau, die ihm die ersehnte Familie schenkte. Alles war richtig so. Zumindest dachte sie das bis zu ihrem Wiedersehen am Vortag. Seither waren ihre Gefühle völlig aus der Spur geraten.

»Scheiße verdammte!«, schimpfte Tilla. Wieder drehten sich die Pferdeohren nach hinten. »Weißt du, Zauberlehrling, ich leide unter dem Verlust von etwas, was ich nie haben wollte. Wahrscheinlich habe ich deswegen dauernd Regenbögen vor den Augen«, erklärte sie dem geduldig lauschenden Pferd. »Und das ist noch nicht einmal zu erklären, denn die verdrehte Sina hat mir in den Unterleib und nicht in den Kopf geschossen.« Der Fuchs schnaubte, als gebe er ihr Recht. Tilla musste grinsen. Sie klopfte dem jungen Wallach sanft den Hals. »Wenigstens du vertreibst diese Farbwolken. Das ist auch das einzig Sympathische an dir! Dein Unterhalt kostet Eva schweineviel Geld, du stinkst, du machst dauernd Unsinn und produzierst eine Unmenge Mist.« Sie strich dem Pferd über den Mähnenkamm, was der Wallach mit einem behaglichen Schnaubblubbern quittierte. Ohne dass sich Tilla groß mit dem Wallach verständigen musste, bog dieser von dem Waldrandweg ab und steuerte nun seinen Stall an. Hätte das Pferd etwas anderes gewollt, so hätte Tilla ihm nicht viel entgegenzusetzen gehabt. Zwar hatte ihr Eva ein paar Reitstunden gegeben, richtig reiten konnte sie deshalb aber noch lange nicht. Es war einfach dieses Riesenbaby unter ihr, welches ihr von Anfang an nachgelaufen war wie ein Hund. Und das, obwohl Pferde einst so gar nicht zu Tillas Lieblingstieren gehörten. Sie war eigentlich der Überzeugung, ein Katzenmensch zu sein. Reiter, zumeist Pferde- und Hundemenschen, kamen Tilla nicht selten wie Aliens vor. Weder verstand sie deren Geheimsprache, noch teilte sie deren Leidensfähigkeit. Auch Eva verausgabte sich beim Reiten völlig. Sie und ihr Pferd keuchten beim Training gleichermaßen und der Schweiß rann in Strömen. Tilla dagegen beschränkte sich darauf, gemütlich auf einem Westernsattel hockend das Pferd laufen zu lassen. Merlin gefiel das, Dressur mochte er dagegen gar nicht.

Eva hatte Little Merlin einige Jahre zuvor wegen seiner edlen Abstammung gekauft. Leider hatte sich der Wallach als äußerst eigensinnig herausgestellt. Obwohl sein Pedigree ihn für höhere Aufgaben im Reitsport prädestinierte, war mit ihm kein Staat zu machen. Eva war eine hervorragende Reiterin, doch an diesem widerborstigen Tier scheiterte sie. Auch unter Andreas, der ihn hin und wieder ritt, machte der eigenwillige Wallach allerlei Sperenzchen. Der Ruf des Pferdes war mittlerweile berüchtigt. Tauchte der Fuchs an der Tür zur Reithalle auf, gab es genervte Kommentare der anderen Reiter. Einige verließen die Halle sogar vorzeitig, da Little Merlins herzhafte Bocksprünge seine Artgenossen dazu veranlassten, ebenfalls wild herumzuspringen. Außerdem schaffte es Merlin immer, den Knoten seines Anbindestrickes mit den Zähnen aufzufummeln. War ihm einmal die Flucht gelungen, dann sauste der Wallach voller Begeisterung durch das Dorf oder über bestellte Äcker und war nur mit einer Hundertschaft von Leuten wieder einzufangen. Es sei denn, Tilla tauchte auf. Wenn sie ihn rief, kam er brummelnd auf sie zugelaufen und begleitete sie bereitwillig zurück in den Stall. Dort amüsierte man sich bis heute darüber, dass sich dieses Pferd einen Nicht-Reiter als Seelengenossen ausgesucht hatte, und man raunte, dies läge daran, dass Merlin und Tilla die gleiche Haarfarbe hätten.

Anfangs war sie mit Evas Pferd nur spazieren gegangen, weil sich niemand fand, der Merlin regelmäßig bewegte. Das Herumspazieren mit Merlin war für Tilla der Ausgleich zu ihren früheren Laufrunden. Seit dem Anschlag auf sie joggte sie nicht mehr, da sie dabei ständig das Gefühl hatte, dass sich dabei die Schmerzen in ihrem Unterleib zurückmeldeten. Die Ärzte hatten das mit Narbenbildung erklärt. Zuweilen spürte sie das Ziepen auch, wenn sie längere Strecken ging. Also hatte sie es irgendwann gewagt und war von einem Weidezaun aus auf Merlins Rücken geklettert, was ihm zu gefallen schien. Mittlerweile hatte Tilla Spaß daran gefunden, durch den Wald zu reiten. Vor allem, weil dabei nie irgendwelche Farbschleier auftauchten und sie ihren Gedanken nachgehen konnte. So wie jetzt. Auf dem Pferderücken schienen alle Probleme auf ein erträgliches Maß zu schrumpfen.

Der Kopf des Pferdes ruckte hoch und wurde dann unwillig geschüttelt. Tilla sah den Grund dafür auf dem Feldweg heraneilen. Dort blieb ein Grüppchen von Reitern, darunter Eva, stehen. Die anderen entfernten sich wieder. Offenbar hatte man sich gerade auf die Suche nach ihr machen wollen. Es wussten ja alle, dass Tilla keine begnadete Reiterin war. Eva wartete, bis sie in Rufnähe kam.

»Mein Gott, Tilla! Da bist du ja. Ich hatte schon Angst, dass dir was passiert ist.«

»Oh! Waren wir so lange weg? Entschuldige!«

Tilla schüttelte die Bügel von ihren Sneakern, in denen zu reiten Eva ihr wegen der Gefahr des Hängenbleibens im Bügel verboten hatte, schwang das Bein über den Sattel und ließ sich herunterrutschen. Der Fuchs sah sich derweil zu ihr um, als wolle er sich vergewissern, dass sie auch heil den Boden erreichte.

»Na ja, ich war mit Nardus schon fertig, und du warst noch immer nicht zurück.« Eva betrachtete der Fuchs mit scheelem Blick. »Ich weiß ja, dass dieser Teufel dich abgöttisch liebt. Aber er ist halt kein einfaches Pferd und ich konnte dich nicht erreichen«, schloss Eva tadelnd.

Mit schlechtem Gewissen befühlte Tilla ihre Jackentasche. »Au Mist. Ich glaube, mein Handy liegt noch in der Putzkiste.«

»Ja. Die hat vorhin geklingelt.« Eva grinste.

Tilla zog eine Grimasse. »Tut mir leid, dass du dir Sorgen gemacht hast. Aber es war wirklich ein ruhiger Ritt ohne Komplikationen.«

»Das beruhigt mich, wenngleich ich es noch immer nicht verstehe. Bei dir geht er butterweich und folgsam.«

»Na ja, ich streite mich ja nicht mit ihm, so wie du und Andreas. Ich überlasse ihm einfach die Führung und er latscht gemütlich mit mir durch den Wald.«

»Super! Und wenn ihm einfällt, nach Halberstadt zu latschen?«

Tilla entfuhr ein herzliches Lachen. Gemeinsam bewegten sie sich Richtung Hof, wobei der Fuchs tiefenentspannt hinterdrein tappte.

»Wenn Andreas je davon erfährt, dass du mit Little Merlin ausreitest, bringt er mich um«, bemerkte Eva, die das Pferd abschätzig musterte.

»Muss er ja nicht.« Tilla nahm ihren Reithelm ab, was nicht einfach war, weil Little Merlin sich genüsslich an ihr schubberte und sie dabei immer einen halben Meter weiter schubste. Eva betrachtete es mit missbilligendem Blick. Man hatte Tilla schon mehrfach gesagt, dass Pferde das nicht dürfen. Doch sie störte sich nicht daran, machte das Riesenbaby dabei immer einen so zufriedenen Eindruck. Tilla hielt sich nicht für eine Reiterin. Somit sah sie es auch nicht ihre Aufgabe an, das Pferd neben ihr zu erziehen. Bitter für Eva war, dass dieses ungezogene Tier mittlerweile schlichtweg unverkäuflich war. Eigentlich hatte sie Little Merlin erstanden, um ihn ein wenig auszubilden, ihn auf einigen Turnieren vorzustellen und gewinnbringend wieder zu verkaufen. Dieser Plan war gründlich schief gegangen. Nun stand der hochfeine Hannoveraner vergnügt in einem teuren Reitstall, trug einen Westernsattel nebst Harzer Hexe durch den Wald und produzierte täglich verlässlich vier Schubkarren voll Mist. Sie betraten die Stallgasse.

»Jan hat mir erzählt, dass du Gregor treffen sollst«, begann Eva ihren Themenwechsel vorsichtig. »Wie fühlst du dich dabei?«

»Lieber würde ich darauf verzichten«, antwortete Tilla knurrig. »Aber derartig unschöne Gespräche werden wohl künftig mein Job werden.« Sie blieb vor Merlins Boxtür stehen, an der sein Halfter hing. Das Pferd drehte sich um, wobei er Eva frech zur Seite drängte.

»Du verfluchter Büffel«, beschimpfte die den Wallach.

»Und? Soll ich Gregor von dir grüßen?« Tilla öffnete den Kehlriemen und zog die Trense von Merlins Kopf. Der schubberte sich noch einmal an ihrem Bein, um sich sodann brav das Halfter überziehen zu lassen. Eva lehnte nachdenklich an der Boxtür.

»Nein«, meinte sie schließlich. »Grüße hat er nun wirklich nicht verdient. Mein Bruder hat so viel kaputt gemacht. Du wärst beinahe gestorben, Sina wird wegen versuchten Mordes gesucht, ich habe mehr oder weniger meine Familie verloren und du und Andreas, ihr seid nicht mehr zusammen.« Sie senkte den Blick, denn ihre Augen wurden feucht. »Ich weiß, er wollte dich damit schützen, aber ... es ist doch so viel Zeit vergangen. Vielleicht besteht die Gefahr ja gar nicht mehr ...«

Es hatte lange gedauert, bis sich Eva so weit von ihrer Familie gelöst hatte, dass sie der Wahrheit ins Gesicht zu blicken vermochte. Nun war es Zeit, dass sie die ganze Wahrheit erfuhr, deshalb trat Tilla auf sie zu und sagte eindringlich: »Es ist besser so, glaub mir.«

»Aber ihr liebt euch doch«, protestierte Eva.

»Ja, ich werde Andreas immer lieben und gerade deshalb will ich ihm die Chance geben, sich eine vernünftige Frau zu suchen.« Gnadenlos eröffnete Tilla ihrer Fast-Schwägerin: »Eva, ich kann nach Sinas Anschlag keine Kinder mehr bekommen. Ich weiß aber, wie wichtig Andreas das ist. Deswegen wünsche ich ihm von Herzen, dass er sein Glück mit einer anderen Frau findet.«

Damit wandte sie sich um und widmete sich wieder dem Fuchs, der bereits emsig an dem Knoten des Anbindestricks arbeitete. Auch wollte sie nicht, dass Eva ihren Gefühlssturm bemerkte. Ausgesprochen tat die Erkenntnis mehr weh als gedacht. Tilla stieg auf ihre Putzkiste, um den Bügel am Sattelhorn festzuhaken. Dann löste sie den Gurt und zog den Sattel an den Fendern von Merlins Rücken.

Eva schniefte noch einmal vernehmlich, schnappte sich einen Hufkratzer und versuchte sich an einem Themenwechsel.

»Jan sagte, Gregor bekäme von irgendjemand Informationen, also von draußen. Von meinen Eltern aber nicht, die dürfen ihn nicht besuchen. Sie sind noch immer total aufgebracht darüber. Mein Vater nervt sämtliche Juristen im Rotary Club damit, etwas daran zu ändern.«

Tilla wuchtete den Westernsattel auf einen Halter und kam zurück, um das Sattelpad aufzusammeln. Sie hörte Eva zetern. Der Wallach belastete bräsig genau jenes Bein, welches Eva gerade zum Auskratzen anheben wollte.

»Dieses Vieh hasst mich«, schimpfte Eva und rupfte wild an dem Fesselkopf herum, der sich keinen Millimeter rührte. Tilla ahnte, dass das Pferd gerade für ganz andere Dinge den Kopf herhalten musste.

»So sieht er aber gar nicht aus«, widersprach Tilla und wies auf den Fuchs, der gerade spielerisch sein Maul verzog. »Er grinst von einem roten Ohr bis zum anderen.«

Sie rubbelte ihm die Stirn. Genussvoll schloss das Pferd die Augen. Selbst Eva lächelte sichtlich bemüht. Abermals klopfte sie an sein Vorderbein, welches nun endlich angehoben wurde.

»Ich persönlich glaube nicht, dass der Besuch bei Gregor irgendwelche Erkenntnisse bringen wird. In den letzten drei Jahren ist Finn ja regelmäßig bei ihm gewesen. Wenn der nichts aus Gregor herausbekommen hat, gelingt mir das schon gar nicht«, sagte Tilla mit Überzeugung.

Kapitel 3

Wo viel Licht ist, ist starker Schatten.

J. W. von Goethe

Eine halbe Stunde später bog Tilla in ihre Wohnstraße ab und sann darüber nach, wie sich ihr Leben in den letzten Jahren verändert hatte. Zehn Jahre zuvor hatte sie die Göttinger Uni völlig ziellos verlassen und war nach einigem Herumschlingern in das Häuschen am östlichen Rand von Bad Harzburg zurückgekehrt, in dem sie aufgewachsen war. Der ebenso brachiale, wie rätselhafte Tod ihrer Mutter hatte sie auf einen Weg geführt, über den sie zuvor noch nie nachgedacht hatte, nämlich die Kriminalistik. Auf diesem Weg hatte sie auch Andreas kennen- und lieben gelernt.

Andreas – diese Denkrichtung schmerzte. Schnell trieb sie ihre Gedanken weiter, die Andreas’ toxische Familie streiften, und schließlich an Eva hängen blieben. Von Andreas’ Schwester war sie zu Beginn ihrer Bekanntschaft offen abgelehnt worden. Heute verstand sie sich bestens mit ihr. Sie hatte Eva bei der Flucht vor ihrer Familie geholfen, die dem Venedigerorden zuarbeitete. In Tillas ererbten Haus in Ilsenburg hatte Eva Obdach gefunden. Die Freundschaft zu Eva hatte Andreas glücklich gemacht, wenngleich der noch immer an dem Umstand kaute, dass seine Schwester heute mit seinem Erzfeind, dem Staatsanwalt Jan Berking, liiert war.

Tilla nahm die Kurve, ihr Häuschen schon im Blick, da sah sie aus den Augenwinkeln einen gleißenden Blitz von rechts auf ihren Wagen zuschießen. Augenblicklich stieg sie auf die Bremse. Obwohl sie nicht schnell unterwegs gewesen war, ächzte ihr Auto vernehmlich, Kies knirschte, es drückte sie in den Gurt und wieder zurück in den Sitz, bis ihr Wagen und auch ihr Magen zum Stillstand kam.

Verwirrt sah sich Tilla um. Sie wollte schon eine Wutkanonade auf ihre Farbvisionen loslassen, als plötzlich ein dunkler Lockenschopf mit einer schief sitzenden rosa Spange darin vor ihrer Kühlerhaube auftauchte. Von rechts näherten sich nun gellende Schreie, die einer Alarmanlage nicht unähnlich waren. Sie sah ihre ungeliebte Nachbarin Claudia Assmut aus dem Haus rennen. Endlich begriff Tilla, dass sie wohl fast deren Tochter Charlotte überfahren hatte. Hektisch löste sie den Gurt, sprang aus dem Wagen und stob zu dem Kind. Sie nahm das Mädchen an den Schultern, doch ihre vor Aufregung zitternde Stimme fand nicht aus ihrem Mund heraus.

»Hallo«, trällerte das Mädchen. »Dassis n schönes Auto. Rot. Ich mag Rot. Is meine Lieblingsfarbe. Is auch die Lieblingsfarbe von Lara. Lara is meine Sine und meine allerallerbeste Freundin«, erklärte das Kind gewichtig. »Aber eigentlich ...«, sie legte ihren Zeigefinger seitlich an die Nase, » ... eigentlich wollt ich dir sagen, dassich ...«

In diesem Moment wurde das Mädchen hochgerissen. Weinerlich redete Claudia auf ihre Tochter ein, die sich mit Händen und Füßen gegen die Umarmung ihrer Mutter zur Wehr setzte. Claudias Rechte fuhr über den Kopf des Mädchens und dann über ihren Arm, als müsse sie sich vergewissern, dass noch alles an Ort und Stelle war.

»Ist sie in Ordnung?«, fragte Tilla mit brüchiger Stimme. Als Antwort begann das quirlige Mädchen zu brüllen, dass sie runter wolle, und das sofort.

»Ja«, kam es einem Stoßseufzer gleich aus dem Mund ihrer Nachbarin.

»Ich ... es tut mir so leid ...«, haspelte Tilla, doch ihre klägliche Entschuldigung ging in dem wütenden Geschrei von Charlotte unter, das sich allmählich der Lautstärke eines Düsenjets näherte. Mittlerweile eilte auch Charlottes Vater herbei, was angesichts der Geräuschkulisse kein Wunder war. Er musste ja denken, dass man seiner Tochter gerade Arme und Beine ausriss.

Hinter Gerred tappte seine Schwester Dana mit ihrer Tochter an der Hand auf das Geschehen zu. Tilla spürte den Stachel der Eifersucht in sich wüten. Dana war ihre Freundin. Ihre! Obwohl ihr klar war, wie unerwachsen es war, konnte nicht damit umgehen, dass Dana mittlerweile mehr bei Claudia als bei ihr war. Im Kopf wusste Tilla natürlich, dass sich Danas Prioritäten geändert hatten, seit auch sie Mutter der kleinen Lara geworden war. Doch Gefühl und Kopf gingen bei Tilla oft unterschiedliche Wege. Zwar besuchte Dana sie noch immer regelmäßig, dennoch spürte Tilla deutlich, dass es sie mehr zu ihrem Bruder Gerred und Claudia hinzog, da die beiden nahezu gleichaltrigen Mädchen sich bestens verstanden.

»Ruuuntaaaa!«, brüllte Charlotte aus Leibeskräften und wand sich wie ein Wurm in den Armen ihrer Mutter. Resignierend ging Claudia in die Knie und setzte ihre Tochter ab. Als Antwort holte Klein Charlotte aus. Ohne nachzudenken, griff Tilla nach der kleinen Faust, sodass diese kurz vor dem Gesicht von Claudia zum Halten kam. Die fiel vor Schreck fast auf den Hintern.

»Charly«, meinte Tilla neben dem Ohr der Kleinen, »das. ist. nicht. nett!«

Das Kind drehte sich um und musterte Tilla, die ihre Hand losgelassen und sich wieder aufgerichtet hatte.

»Ich heiße Charlotte!«, fauchte sie Tilla an.

»Ist mir egal. Ich nenne dich Charly.«

Bass erstaunt starrte die Kleine sie an. »Warum?«

»Na ja, Charly klingt nach jemand, der andere haut. Es klingt nach dir.«

Charlotte schütze die Lippen und verzog dann unter der Last des Nachdenkens den Mund. Schließlich keifte sie Tilla an. »Ich will aber nicht Charly heißen.«

»Dann benimm dich wie eine Charlotte«, gab Tilla kühl zurück.

Als Antwort trat das resolute Mädchen fast ein Loch in den Schotter und schmetterte ihr entgegen. »Du bist doof!«

Tilla stellte fest, dass sie dieses kampfbereite Gör irgendwie mochte. Unwillkürlich stahl sich ein Lächeln auf ihr Gesicht, was nicht unbemerkt blieb.

Zornesrot darüber, dass sie nun auch noch ausgelacht wurde, kreischte Charlotte: »Ganz, ganz doof bist du!«

Tilla grinste noch breiter. »Ich hab’s schon beim ersten Mal verstanden, Charly, schließlich hast du eine Lautstärke am Leibe, dass die Vögel ringsherum aus ihren Nestern plumpsen.«

Wieder verzog Charlotte das Gesicht, sah sich aber unsicher geworden nach möglichen aus dem Nest gefallenen Vögeln um, bevor ihr grimmiger Blick zu Tilla zurückkehrte.

»Ich will nicht mit dir reden! Nienienie!« Das Mädchen stemmte die Händchen in die Seite und streckte ihr Kinn trotzig vor.

»Ich hab auch keine Lust mit jemand zu reden, der mich taub schreit. Also versuche mir doch künftig nicht mehr vors Auto zu laufen. Wie wäre das?«

»Abba das war doch, weil ich dir sagen wollte, dass ich nienich mit dir reden will.« Als Tilla die Stirn runzelte, zeigte die Kleine mit dem Finger auf Dana. »Tante Dana hat gesagt, dass du ein Püschata bist und dass ich mit dir reden soll.«

Tilla warf Dana einen Funkelblick zu, der diese das Gesicht verziehen ließ. Dann wandte Tilla ihre Aufmerksamkeit wieder dem Kind zu. »Charly ... das ist die erste vernünftige Entscheidung, die ich von dir höre. Weißt du, ich behandele nämlich keine wütenden kleinen Mädchen. Ich behandele Verbrecher.«

»Was is ein Vabrecha?«

»Das sind böse Menschen, die anderen wehtun und die dafür eingesperrt werden. Dazu gehören auch Menschen, die andere hauen. Ich werde mich also erst mit dir unterhalten, wenn du groß bist, wieder jemanden geschlagen hast und die Polizei dich festgenommen hat, um dich im Gefängnis einzusperren.« Während um sie herum Sätze der Empörung auf Tilla herniederprasselten, musterte Charlotte Tilla mit einer Mischung aus Interesse und Trotz.

»Wenn ich haue, bin ich ein Vabrecha?«, fragte die Kleine.

»Ja. Das darf man nicht. Dan kriegst du es mit der Polizei zu tun.«

»Dann hau ich und lauf weg. Ich kann ganz doll schnell laufen.«

»Zwecklos«, gab Tilla zurück. »Dafür gibt es zu viele Polizisten. Sobald ein Verbrechen passiert, geben die das per Funk an ihre Kollegen weiter. Innerhalb kürzester Zeit suchen dann alle Polizisten in diesem Land nach einer Charly, die andere schlägt. Glaub mir, die kriegen dich und stecken dich in eine dunkle Zelle. Drei mal am Tag geht eine Klappe auf und man schiebt Essen in deine Zelle, das widerlich schmeckt. Außerdem ist es ziemlich langweilig dort.«

Unzufrieden verzog Charlotte das Gesicht. Ihr Zeigefinger wanderte in ihren Mund. »Ich will aber nicht ins Gefängnis«, nuschelte sie deutlich leiser um ihren Finger herum.

»Tja Charly, dann wirst du dein Verhalten ändern müssen. Kein Hauen, kein Brüllen und keine Beleidigungen, klar? Und den Prügelversuch eben behalten wir ausnahmsweise mal für uns.«

Charlotte verzog den Mund zu einem Lachen. Ihre Augen blitzten. Sie warf sich geradezu herum und stürmte zu ihrer Cousine. Beide Mädchen rannten nun zusammen in den Garten.

»Echt jetzt? Du drohst einer Vierjährigen mit dem Knast?«, fragte Dana. Ihre Augen verzogen sich allerdings nicht verärgert, sondern belustigt.

»Laut Zeugin Charly warst du es doch, die empfohlen hat, dass Charly-Charlotte mit einem forensischen Psychologen reden soll«, gab Tilla zurück. Auch in ihrer Stimme schwang mehr Schalk als Vorwurf mit.

»Forensische ...?«, fragte nun Claudia. »Du bist also gar keine richtige Psychologin?«

»Doch schon«, antwortete Tilla. »Mein Spezialgebiet ist aber die Kriminologie und nicht die Psychotherapie.«

»Trotzdem könnte Tilla doch mit Charlotte reden. Du hast doch eben gesehen, dass sie auf Tilla hört. Mit uns redet sie kaum einen Satz in normaler Lautstärke«, sagte Gerred in hoffnungsvollem Ton zu seiner Frau. An Tilla gewandt erklärte er: »Charlotte soll demnächst in den Kindergarten. Wenn sie weiterhin so auffällig bleibt ...«

»Charlotte ist nicht auffällig«, brauste Claudia auf. »Sie ist nur ... sehr ... selbstbewusst.«

»Sie ist impulsiv. Schatz, sie hat vorhin versucht, dich zu schlagen«, erinnerte Gerred.

»Das war doch nur, weil sie so traumatisiert war!« Claudias Blick wechselte die Richtung. »Immerhin hat Tilla sie ja fast überfahren.«

Gerred und Claudia diskutierten weiter, während Tilla und Dana einen beredten Blick tauschten. Nach einigen weiteren aufgebrachten Sätzen fuhr Tilla mit einem lauten »Hey!« dazwischen. Als die beiden sie konsterniert ansahen, fragte Tilla: »Habt ihr etwa auch so herumdiskutiert, bevor eure Tochter auf die Straße lief, um mich zu Tode zu erschrecken?« Da ihre Frage lediglich zu verwirrten Gesichtern führte, hakte Tilla nach: »Habt ihr im Beisein von Charly-Charlotte gestritten?« Zwei betreten gesenkte Blicke gaben ihr die gewünschte Antwort. »Aha. Dann wundert es mich nicht, dass eure kleine Kriegerin die Sache selbst in die Hand nehmen und mir sagen wollte, dass sie nicht gewillt ist, mit mir zu reden. Charlottchen ist ungeduldig, aber sehr fokussiert ... im Gegensatz zu euch, die ihr ja nicht recht weiterkommt mit dem Thema.« Gerred und Claudia fanden noch immer keine Worte. Tilla fügte die Hände hochnehmend hinzu: »Ich bin natürlich alles andere als eine Fachfrau in Sachen Kindererziehung ... trotz meines Studiums. Aber erlaubt mir einen Rat: Diskutiert nicht vor Charly-Charlotte herum. Teilt ihr einfach das Ergebnis mit.«

»Aber ... aber unsere Tochter muss doch an Entscheidungen rund um unsere Familie beteiligt werden. Das steht in jedem Erziehungsratgeber«, begehrte Claudia auf.

»Schmeiß solche Bücher in den Müll! Wenn ihr dieses Kind mitreden lasst, gibt es bald nur noch Pizza, Pommes und Berge von Süßigkeiten zu essen, der Fernseher läuft bis in die Nacht und ihr kutscht sie jedes Wochenende zu einem anderen Vergnügungspark. Das wird nicht nur euch schlecht bekommen, Charly hat davon auch nichts. Die bekommt nämlich später mal gewaltige Probleme mit ihren Mitmenschen, weil sie von denen nicht immer kriegen wird, was sie will. Und du, Claudia, wirst irgendwann von einer Halbwüchsigen Prügel beziehen ... du und womöglich noch andere.« Tilla sah Dana an. »Im Moment liebt Charly Lara, weil die alles tut, was sie ihr sagt. Was wird, wenn Lara irgendwann mal anderer Meinung ist?«

Obwohl Dana nachdenklich dreinschaute, begann ihr Gesicht plötzlich zu strahlen, milchig-weiß leuchtender Dunst umgab sie wie ein Heiligenschein. So eine Farbvision hatte Tilla bisher noch nie gehabt. Sie war anders als alle Farbwolken zuvor, denn sie umfloss nicht nur Danas Gesicht, sondern auch ihren Körper, vor allem ... ihre Körpermitte. Plötzlich wusste Tilla, was das bedeutete.

»Du bist wieder schwanger«, sprudelte sie hervor.

Dana schnappte sichtbar nach Luft vor Verblüffung. »Äh ... ja ... woher weißt du das?«

Tilla war nicht minder verblüfft über ihre Eingebung. Was zum Teufel war das mit ihren Farbvisionen? Statt zu antworten, löste sich Tilla aus ihrer Starre und nahm ihre Freundin in den Arm. »Ich freue mich für dich!« Dann wandte sie sich abrupt ab, stieg in ihren Wagen und flüchtete. Was eigentlich idiotisch war, parkte sie doch nur knappe zwanzig Meter weiter vor ihrem kleinen Efeuhäuschen. Dort stürmte sie geradezu ins Haus, als gelte es, die Tür zu schließen, bevor ihre farbigen Probleme ihr folgen konnten. Aus den Augenwinkeln sah sie das verwirrte Grüppchen noch immer auf der Straße stehen, bevor die Haustür so heftig in den Rahmen krachte, dass die Hauswände zitterten und vermutlich Myriaden von Kleinlebewesen aus dem Efeu purzelten. So stand sie eine gefühlte Ewigkeit mit dem Rücken an die Tür gelehnt, darauf wartend, dass sich ihr Gefühlssturm legte.

»Du bist Psychologin ...«, sagte sie zu sich selbst. »Diese Visionen sind Teil meines Traumas. Das wird wieder vergehen. Punkt! Widme dich lieber deiner Zukunft!« Zukunft. Genau. Noch bestand ihr Einkommen überwiegend aus Übersetzungen, von denen sie in den letzten Jahren gelebt hatte. Da ihre Großmutter einst aus Wales in den Harz kam, war Englisch Tillas zweite Muttersprache. Glücklicherweise kamen die Übersetzungsanfragen in komfortabler Regelmäßigkeit. Aber sie hatte ihren Abschluss ja nicht gemacht, um weiterhin Romane und Fachbücher zu übersetzen. Es war an der Zeit, dass sie ihre neuerworbenen Fähigkeiten als forensische Psychologin anbot. Entschlossen stieß sie sich von der Haustür ab und stapfte die Treppe hinauf in ihr Arbeitszimmer.

Geschäftig ließ sie sich an ihrem Schreibtisch nieder und stellte ihren Computer an. Solange dieser hochfuhr, ging sie an ihren Schrank und holte ihr Studienbuch heraus, das sie an ihrem Schreibtisch aufschlug. Es enthielt auch die Abschlussurkunde, die man ihr überreicht hatte. Sie legte das Dokument auf ihren Scanner. Ihr Blick fiel auf die Unterlagen, mit denen sie sich zum Studium neu hatte anmelden müssen, unter anderem ihre Geburtsurkunde. Tilia Lleynwitch – stand dort. Ihre Mutter hatte den komplizierten Waliser Nachnamen später eingedeutscht und ändern lassen, da sie es leid gewesen war, ihn ständig buchstabieren zu müssen. Es hatte Tilla schon immer gestört, dass Hedera mit diesem Akt die Vergangenheit ihrer Großmutter einfach abgeschafft hatte. Aber so war Hedera gewesen. Sie hatte nie zurückblicken wollen. Das Leben liegt vor uns, hatte sie stets gesagt.

Tilla öffnete ein Programm, um Texte und Bilder für ihre neue Homepage vorzubereiten. Sodann überlegte sie, wie sie sich vorstellen sollte. Rein sachlich? War sie das? Irgendwie verselbstständigten sich ihre Finger.

Geboren wurde ich als Tilia Lleynwitch im Harz ...