Venedigerzeichen - Corina C. Klengel - E-Book

Venedigerzeichen E-Book

Corina C. Klengel

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Beschreibung

Goslar in heller Aufregung. Probebohrungen im Gosetal lassen auf ein neues Erzvorkommen schließen, und so mancher bejubelt bereits die Wiederauferstehung des Bergbaus. Dann taucht in der Gegend ein historisches Venedigerzeichen auf, das auf Betrug hinweist. Ein Geologe verschwindet, ein Nachtwächter aus dem Rammelsberg-Museum wird tot aufgefunden. Schließlich stößt Tilla, die Lebensgefährtin des zuständigen Kommissars, auf ein altes Manuskript aus der Zeit Agrippas, in dem von der Gründung eines Bergbauordens berichtet wird. Sie ahnt, dass sich ein weitreichendes Verbrechen über dem Harz zusammenbraut. Sind mit der dubiosen Bohrfirma tatsächlich die Nachfolger der alten Venediger in den Harz zurückgekehrt?

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Corina C. Klengel

Venedigerzeichen

Impressum

Venedigerzeichen

ISBN 978-3-943403-88-6

ePub-Version V1.0 (05-2017)

© 2017 by Corina C. Klengel

Illustration »Ring« © Alex Gavrilas (www.fiverr.com)

Foto »Stein mit Venedigerzeichen« © Corina C. Klengel (www.ccklengel.de)

Autorenfoto © Ania Schulz (www.as-fotografie.com)

Lektorat & DTP:

Sascha Exner

Druck:

TZ - Verlag & Print, Roßdorf

 

Verlag:

EPV Elektronik-Praktiker-Verlagsgesellschaft mbH

Postfach 1163 · D-37104 Duderstadt

Fon: +49 (0)5527/8405-0 · Fax: +49 (0)5527/8405-21

Web: www.harzkrimis.de · E-Mail: [email protected]

Inhaltsverzeichnis

Innentitel

Impressum

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Epilog

Ein Wort zum Schluss

Über die Autorin

Leseprobe »Harzteufel«

Über den Harzkrimi

Harzkrimi-Tipp 1

Harzkrimi-Tipp 2

Harzkrimi-Tipp 3

Harzkrimi-Tipp 4

Prolog

Vor langer Zeit wurde im hohen Harce das Rotgüldene gefördert. Dieses Erz war so kostbar, dass so mancher in Versuchung geriet. Weil dem so war, durchsuchte man die Bergleute nach jeder Schicht am ganzen Körper nach Gestohlenem. Das Rotgüldene schürte die Gier und brachte die Schlechtigkeit in den Menschen hervor. Doch auch im Stollen selbst geschah Unheimliches...

Immer wieder fanden Bergleute des Nachts den Tod. Erschlagen lagen ihre Körper im Stollen, obwohl kein herabfallendes Gestein von Schlag und Wetter zeugte. Endlich vermochte jemand, der die nächtliche Schicht überlebte, von einer ochsenartigen Gestalt zu berichteten, die brüllend, stampfend und feuerspeiend durch die Stollengänge getost.

Zwei Unerschrockene unter den Bergleuten machten sich eines Abends auf, um das Untier zu stellen. Sie packten ihr Gezähe und fuhren in den Berg ein, obwohl sie nicht Schicht hatten. Und tatsächlich erzitterte die Grube alsbald unter den Hufen des herantosenden Untieres. Während die arbeitenden Kameraden alles von sich warfen und in wilder Hast flüchteten, stürzten sich die zwei Unerschrockenen auf den Stier und schlugen auf ihn ein.

Plötzlich vernahmen sie eine menschliche Stimme, die um Gnade flehte. Als sie die Ochsenhaut herunterrissen, kam ihr Steiger zum Vorschein. Der gab zu, in dieser Verkleidung des Nachts durch die Stollengänge zu streifen, um sich an dem Rotgüldenen zu bereichern. Um nicht entdeckt zu werden, habe er die Bergleute erschlagen.

Mit samtener Stimme bot er den zwei Unerschrockenen von seinem beträchtlichen Reichtum, auf dass sie seine Taten verschweigen und fortan mit ihm tun...

Kapitel 1

Alle Sterne haben ihre natürliche

Natur und Beschaffenheit,

deren Zeichen sie durch ihre Strahlen

unserer Welt der Elemente, Steine, Pflanzen,

Tiere und deren Gliedern mitteilen.

Jede Sache erhält daher gemäß

ihrer harmonischen Ordnung

ein besonderes Zeichen...

Agrippa von Nettesheim

— De Occulta Philosophia —

Von dem Mann ließ sich schwerlich sagen, ob er dreißig, vierzig oder gar gut erhaltene fünfzig Jahre alt war, doch das war auch egal. Niemand schenkte ihm, den man weder schön noch hässlich nennen würde, einen zweiten Blick. Er wusste, dass er zu jenen Menschen gehörte, die weitgehend unsichtbar waren. Was durchaus Vorteile hatte, etwa wenn man jemanden beobachtete, was er gerade tat.

So war er sich auch sicher gewesen, Andreas Kamenz ins Gerichtsgebäude folgen zu können, ohne bemerkt zu werden. Schließlich hatte der ihn auch in den Wochen zuvor nicht bemerkt. Im Flur vor dem Prozesssaal gesellte sich Kamenz zu einer rothaarigen Frau. Er wusste, die beiden kannten sich gut. Im Gedränge derer, die auf den Prozess warteten, drückte er sich frech an Kamenz und seiner Partnerin vorbei, doch die Hybris vermeintlicher Unsichtbarkeit bereute er sofort, denn die Rothaarige drehte sich urplötzlich um und sah ihm direkt ins Gesicht. Es war, als habe sie gefühlt, dass er sie und ihren Freund beobachtete. Ihre Augen hatten eine verstörende Ähnlichkeit mit denen eines Wolfes, das eine grün, das andere braun. Die hellen Sprenkel in dem braunen Auge schienen förmlich vor Empörung über ihn zu explodieren. Ihm war, als sähe sie direkt in seinen Kopf und lese seine Gedanken. Sein Herz machte vor Schreck ein paar holprige Kontraktionen.

Während er völlig erstarrt auf dem Gerichtsflur verharrte, eilte ein hochgewachsener, blonder Mann heran. Endlich ließ der durchdringende Blick der Rothaarigen ihn los und fixierte den Blonden. Der wurde von vorbeigehenden Juristen in Gerichtsrobe begrüßt. Offenbar gehörte er zu ihnen, doch in dem bevorstehenden Prozess fungierte er wohl nur als Zeuge, denn er trug keine Robe, sondern einen gut sitzenden, grauen Anzug. Die dezent gestreifte Krawatte war im aufwendigen Windsor-Knoten geschlungen, den er oft genug bei seinem eigenen Vorgesetzten, Bruder Abundio, gesehen hatte. Er selbst verabscheute Krawatten.

Die Rothaarige zog seinen Blick geradezu magisch an. Sie erzählte den Männern etwas. Kamenz und auch der Blonde schienen völlig gefangen von ihren Worten, die von temperamentvollen Gesten begleitet wurden. Ihre Locken tanzten förmlich auf ihren schmalen Schulterblättern. Hin und wieder warf Kamenz etwas ein. Ein weiterer Mann, offenbar ein älterer Kollege von Kamenz, trat hinzu und das Grüppchen vertiefte sich in einen Wortwechsel, der, soweit er es mitbekam, den bevorstehenden Prozess betraf.

Er starrte noch immer auf den Rücken der Rothaarigen und fragte sich, wann ihn jemand zuletzt so intensiv angesehen hatte, als durch das Öffnen der Tür zum Gerichtssaal Unruhe aufkam. Da er Angst hatte, die Wolfsaugen könnten sich noch einmal auf ihn heften, nutzte er den Moment und ließ sich mit der Menge in den Verhandlungssaal spülen. Hinter mehreren Reihen von Zuschauern verborgen, verfolgte er nun das Prozessgeschehen. Auf die Vorhaltungen des Richters antwortete der Angeklagte mit der Arroganz und Lustlosigkeit derer, die wissen, dass sie verloren haben. Allerdings interessierte es den Unsichtbaren nur mäßig, ob der grobschlächtige Mann auf der Anklagebank verurteilt werden würde oder nicht. Vielmehr hatte er hier die Möglichkeit, Andreas Kamenz zu studieren. Was für ein Mensch war er? So bigott wie seine Eltern? So verschlagen wie sein Bruder? Oder so naiv wie seine Schwester?

Der Hubschrauber mäanderte über den nördlichen Harzwald, einer Stelle, die von der Granetalsperre, der Kaiserstadt Goslar und dem Rammelsberg umrahmt wurde. Letzte milchig-helle Nebelschlieren zogen sich durch die Taleinschnitte, die sich begannen, bergan nach Clausthal-Zellerfeld auszurichten. Unter der zunehmenden Sonne begannen sie, zu zerfasern. Owen Vance liebte es, mit seinem AS 350 – den man wegen seiner Wendigkeit auch Eichhörnchen nannte – und der Natur unter ihm allein zu sein. Wenn er andere Helikopterpiloten traf, was selten genug vorkam, so sah er sich regelmäßig abschätzigen Blicken ausgesetzt. Sie waren entweder beim Militär oder im Rettungsdienst tätig und sahen sich samt und sonders als Helden. So etwas hatte er nie gebraucht. Versonnen betrachtete er die Kontur der Granetalsperre, die ihn vage an einen springenden Delphin erinnerte. Das tiefe Schwarz des Wassers gab diesem Delphin allerdings etwas Düsteres. Unter ihm zogen sich schmale baumlose Abschnitte durch das Schwarzgrün der Tannenwälder und bildeten hellbraune Flecken. Hier und da blitzte noch eine letzte Schneeinsel auf. Der Januar war bisher recht mild gewesen. Die Serpentine der Bundesstraße, die hinauf nach Clausthal führte, begleitete ihn links. Der leichte Helikopter war mit dem neusten Transmissionselektronenmikroskop ausgerüstet. Während er die Gegend südlich von Goslar rasterförmig abflog, nahm das TEM1 mit Hilfe von Elektronenstahlen stetig Bilder auf. Damit, so wusste Owen, konnte man rund fünfhundert Meter in die Erde hinein schauen. Wie das genau funktionierte, hatte er nicht verstanden. Musste er auch nicht. Seine Arbeitgeber hatten ein gesteigertes Interesse daran, dass er nichts ver stand, nichts hinterfragte und keine Schlüsse zog. Also tat er es nicht. Man war zufrieden mit ihm und er war zufrieden mit seinem Job.

Seit Helen ihn verlassen hatte, war es ihm sehr recht, Einsätze in der ganzen Welt zu haben. So konnte er sich die Unterhaltszahlungen leisten, und es blieb auch noch der eine oder andere Penny für ihn übrig. Routiniert betätigte er den Steuerknüppel und ließ den AS 350 in eine sanfte Rechtskurve gleiten.

Der Harz war eine nette Gegend, nicht so voll wie das übrige Deutschland. Ihm gefiel es hier. Überall war es sauber und aufgeräumt. In vielen der kleinen Orte hier fegten die Leute doch tatsächlich die Straße vor ihren Häusern, sie stellten Blumen irgendwo auf öffentliche Verkehrsinseln oder sie nahmen Müll mit, den sie gar nicht hingeworfen hatten. Ihr Verantwortungsgefühl endete nicht an der Grundstücksgrenze wie bei seinen Landsleuten. Es schien sich auf den gesamten Harz zu erstrecken. Ein eigenartiges Völkchen, diese Harzer.

Nun lag die Bundesstraße zu seiner Rechten, auf der sich der frühen Stunde zum Trotz mehrere Autos durch die engen Kurven bergan wanden. Es war eng in Deutschland, zumindest aus der Sicht eines Kanadiers. Und dann fingen sie auch noch immer so früh an mit ihrem Arbeitstag. Obwohl er sein Hotelzimmer um kurz nach sechs in der Frühe verlassen hatte, brummte das Hotel bereits. Ein bisschen mundfaul waren sie ja, diese Deutschen, aber das störte ihn nicht. Selbiges warf man auch ihm oft vor. Owen ließ seinen Blick über die grünen Buckel schweifen, die ihn ein wenig an seine Heimat erinnerten. Über den Harz hatte er mal eine Reportage gesehen. Daher wusste er, dass man hier fast ein Jahrtausend lang Schätze aus dem Boden geholt hatte. Owen zweifelte allerdings an der offensichtlichen Überzeugung seiner Arbeitgeber, dass hier noch etwas zu holen war. Aber das hatte ihn nicht zu kümmern.

Und wenn es hier doch noch etwas gab?

Der Blonde betrat den Gerichtssaal. Die Verlesung der Personalien sowie das Sprüchlein des Richters, das jeden Zeugen an seine Wahrheitspflicht erinnerte, fielen kurz aus, denn es handelte sich um einen in Gerichtsformalien bewanderten Staatsanwalt. Dass dieser Staatsanwalt nun als Geschädigter aussagte, schien außer bei dem Angeklagten ein breites Unwohlsein hervorzurufen. Doch es war Berking selbst, der das Unwohlsein aufhob, indem er die Opferrolle hartnäckig ignorierte. Er benutzte eine distanzierte Sprache mit Worthülsen, die zwischen Dominanz und Arroganz wechselten, und vermied alles, was Mitleid hervorrufen könnte. Seine Größe, die markanten Gesichtszüge, der stechende Blick aus den hellgrauen Augen und die Abwesenheit jeglicher Emotionen hatten tatsächlich nichts, was an ein Opfer denken ließ.

Kriminalhauptkommissar Andreas Kamenz wurde als nächster Zeuge aufgerufen und übernahm den exponierten Zeugenplatz mitten im Saal von Berking. Er konnte kein Nicken und keine sichtbare Regung erkennen, als die beiden aneinander vorbei gingen. Nichts, was darauf hindeutete, dass sie seit Jahren zusammenarbeiteten, wie er kurz zuvor erfahren hatte. Sie ignorierten den jeweils anderen. Interessant.

Andreas Kamenz hatte das Jackett angezogen, das er im Flur noch über dem Arm getragen hatte. Der obere Knopf des weißen Hemdes war geöffnet, die Krawatte locker gebunden. Er wirkte, als würde er so ein Outfit nicht ständig tragen. Tatsächlich hatte er ihn bisher ausnahmslos in eher salopper Kleidung gesehen. Kamenz war ebenso groß wie Berking, aber sein Körperbau ein anderer. Die Schultern waren breiter. Ihm fiel auf, dass Kamenz größer war als sein älterer Bruder. Ein hämisches Lächeln kräuselte für einen kurzen Moment seine Miene, bevor er sich wieder auf das Prozessgeschehen konzentrierte.

Obwohl sich die Fragen des Anklagevertreters enervierend pingelig gestalteten, antwortete Kamenz professionell. Seine Ausführungen waren exakt, objektiv und strukturiert. Es folgte eine längere Aussage von Kamenz, bei der ihn der staatliche Ankläger nicht unterbrach. Kamenz gab eine Zusammenfassung ziemlich dramatischer Ereignisse, die in einem Schusswechsel mit darauffolgender Festnahme des Angeklagten mündeten.

Nachdenklich verarbeitete der Unsichtbare die Information, dass Kamenz gefährlichen Situationen keineswegs aus dem Weg ging und dass er offenkundig ziemlich durchsetzungsfähig war. Irgendwie hatte er das nicht erwartet. Aber was hatte er eigentlich erwartet? Der Mann, den er seit geraumer Zeit beobachtete, war immerhin Polizist. Die kurz geschnittenen, dunklen Haare, seine durchtrainierte Figur, die jungenhaften Gesichtszüge und der Umstand, dass Kamenz am liebsten Jeans trug, täuschten darüber hinweg, dass dieser Mann sehr genau wusste, was er wollte.

Als die Wolfsfrau den Saal betrat, begannen sich mehrere Leute in den Besucherreihen aufrecht hinzusetzen und die Hälse zu recken. Tatsächlich wurden sie nicht enttäuscht. Mehrfach unterbrach die Frau die Formalien mit Fragen, was den Richter aus dem Konzept brachte. Umgekehrt ließ sie sich bei der Schilderung der Ereignisse nur schwer unterbrechen. Entsprechende Versuche des Staatsanwaltes gerieten derart hilflos, dass sich trotz der strengen Regeln im Gericht verhaltenes Gelächter in den Zuschauerreihen erhob. Im Wesentlichen wiederholte die Wolfsfrau das bereits Gesagte, doch ihre gefühlvolle und detailreiche Erzählung ließ das Geschehen lebendig und eindringlich werden. Er bemerkte, dass anwesende Reporter besonders emsig mitschrieben.

Sein Blick blieb an Kamenz’ Zügen hängen. Hier ein Stirnrunzeln, dort ein Zusammenpressen der Lippen, Augen, die sich verengten oder weit wurden – er folgte der Aussage mit größter Aufmerksamkeit. Natürlich wusste er warum, er hatte die beiden zusammen gesehen. Oft. Innig. Verkomplizierte das seinen Plan?

Die Wolfsfrau hatte ihre Aussage beendet. Sie stand auf und steuerte den Platz neben Andreas Kamenz an. Für einen kurzen Moment konnte er es sehen, das Symbol der Elemente, das sie um den Hals trug. Ein Pentakel. Selbst auf die Entfernung war zu erkennen, dass es sich bei dem Amulett um ein sehr altes, wertvolles Stück handelte.

Wieder musterte er Kamenz. Sein Arbeitgeber hatte herausgefunden, dass Kamenz ein Versetzungsgesuch eingereicht hatte. Nachdenklich wanderte sein Blick zu Berking. Wegen ihm? War Kamenz frustriert genug, um bei dem perfiden Plan mitzuspielen? Irgendetwas sagte ihm, dass er das nicht tun würde. Es passte nicht zu ihm. Auch die Wolfsfrau mit dem Hexenzeichen würde ihn davon abhalten.

Aber wenn er sich weigerte… würde er das überleben?

1 Transmissionselektronenmikroskop

Kapitel 2

Die Charaktere und Siegel der Geister sind heilige Buchstaben,

die verhüten, dass profane Leute sich ihrer bedienen.

Zu derartigen Siegeln gehören auch jene,

die der Thebaner Honorius überlieferte.

Agrippa von Nettesheim

— De Occulta Philosophia, 3. Buch, 29. Kapitel —

Heißes Wasser prasselte Tilla einem Trommelfeuer gleich auf den Kopf. Andreas war vorhin gegangen, dennoch fühlte sie noch einen süßen Moment lang seiner Nähe nach. Er hatte sogar an das Imbolc-Fest gedacht, das erste Mondfest nach der Wintersonnenwende, und ihr ein Schneeglöckchen auf den Frühstückstisch gelegt. Mit geschlossenen Augen griff sie zum Hebel der Mischbatterie und schaltete ihn auf kalt. Sie drehte sich ein paar Mal unter dem kalten Strahl, bevor sie sich wieder mit einem Schwall heißem Wasser belohnte. Doch die Wechselbäder brachten weder ihren Geist noch ihren Körper zur Ruhe.

Sie hatte geträumt, schlecht geträumt, wieder einmal. Ein feuerspeiender Stier jagte sie durch dunkle Gänge…

Früher hatte sie sich nie dazu durchringen können, mit jemandem zusammenzuleben. Es wunderte sie, wie sehr sie es heute genoss, neben Andreas aufzuwachen. Sie beide hatten die letzten Monate wie im Rausch verbracht. Dennoch scheuten sie sich beide, den nächsten Schritt zu tun. Andreas bewohnte offiziell noch immer seine Wohnung im Goslarer Stadtteil Jürgenohl. Nur wenige seiner Habseligkeiten befanden sich in Tillas Haus. Die Intensität ihrer Beziehung erschreckte sie beide. Tilla zumindest brachte es völlig durcheinander. Auf der einen Seite war da die Angst, die eigene Persönlichkeit aufzugeben und sich selbst zu verlieren, auf der anderen Seite zehrte dieses unstillbare Verlangen an ihr, mit ihm zusammen zu sein. Sie begehrte ihn so sehr, dass sie manchmal nicht geradeaus denken konnte. Tilla hatte ohnehin das Gefühl, dass ihre Libido größere Kapriolen schlug als bei anderen Frauen. Lag dies daran, dass sie als Altgläubige nicht durch Begriffe wie Sünde und Scham gebremst war? Oder daran, dass sie ihren körperlichen Gelüsten in ihrer letzten Beziehung eine Fastenzeit aufgezwungen hatte? Oder stimmte mit ihr einfach etwas nicht? Letzteres würde wohl so mancher ihrer Zeitgenossen mit Inbrunst bestätigen.

Dass Andreas sie begehrte, seit sie beide vor fast drei Jahren das erste Mal ebenso überraschend wie überstürzt zusammen im Bett gelandet waren, wusste sie. Seiher waren sie umeinander herumgetanzt, die vielfältigsten Gründe hervorkramend, warum sie nicht zusammenkommen konnten, um dann, ein halbes Jahr zuvor, erneut übereinander herzufallen. Die einstmaligen Gründe in Form von Beziehungen, in denen sie beide gesteckt hatten, waren beendet. Abgewickelt. Und nun? Nun hatte ihre Zweisamkeit etwas in Tilla heraufbeschworen, was sie zuvor noch gar nicht gekannt hatte. Da war eine seltsam schmerzliche Angst aufgetaucht, genau diese Zweisamkeit wieder zu verlieren. Zuweilen war diese Angst so schmerzhaft, dass sie nicht wusste, wie sie das auf Dauer ertragen sollte.

Sie stellte das Wasser ab, trat aus der Dusche und wickelte sich in ein Handtuch. Mit einem Zipfel wischte sie über den Spiegel, der jedoch gleich wieder beschlug. Sie dachte an den Gerichtsprozess ein paar Tage zuvor, der die Erinnerungen an die Ereignisse des vergangenen Herbstes wieder lebendig hatte werden lassen. Bei der Erinnerung daran, was damals passiert war, geriet ihr Magen noch immer ins Flirren. Die Schüsse, Andreas, der rücklinks auf den Weg gefallen war, ihre Angst, dass er nie wieder aufstand.

Konnte sie lernen, mit dieser Angst zu leben? Denn ändern würde sich dies nicht. Andreas war Polizist – und das mit Leib und Seele. Das wusste Tilla, und sie wusste auch, sein Beruf war kein harmloser Schreibtischjob. Im Herbst war die Kugel von einer Sicherheitsweste aufgehalten worden. Aber was war, wenn die nächste Kugel so eine Weste durchschlug oder gar seinen Kopf traf? Ihre Angst um ihn ging so weit, dass sie sich am Morgen sogar darüber beschwert hatte, dass er Motorrad fuhr.

„Ich werde noch zu einer Glucke, die ihn aus dem Haus treibt“, murrte sie und wischte noch einmal über den Spiegel. Ein grünes und ein braunes Auge blickten ihr entgegen. Ihre kaum zu bändigenden roten Locken, die eindeutig auf ihre inselkeltischen Gene hinwiesen, kringelten sich um ihr Gesicht, das jetzt im ausgehenden Winter und ohne Make-up blass, aber immerhin sommersprossenfrei aussah. Tilla ärgerte sich stets über ihre unordentliche, kaum zu bändigende Mähne. Ständig pinselte und puderte sie in ihrem Gesicht herum, weil sie selbiges als zu blass, zu sommersprossig oder zu spitz empfand. Doch vor allem mochte sie ihre verschiedenfarbigen Augen nicht. Unwillig griff sie zur Pinzette und zupfte ein vorwitziges Härchen aus, das sich außerhalb der selbst gesetzten Grenzen ihrer geschwungenen Augenbrauen angesiedelt hatte. Obwohl man ihr immer nachsagte, hübsch zu sein, was Tilla per se schon nicht nachvollziehen konnte, geriet sie nun vollends in Zweifel, ob sie Andreas wirklich gefiel. Sie warf die Pinzette auf die Spiegelablage und schalt sich selbst. Sie wusste, er liebte sie. Er liebte sie vermutlich schon lange, lange bevor sie sich über ihre Gefühle zu ihm im Klaren war.

Widerstrebend griff Tilla nach dem Föhn. Normalerweise ließ sie ihr Haar so trocknen, da es dann etwas fügsamer war, aber sie hatte heute Vormittag eine Führung im Museumsbergwerk des Rammelsberges und die Zeit wurde knapp. Ihre Finger kneteten und zwirbelten an ihrem langen Haar herum, um es etwas in Form zu bringen, doch in dem warmen Luftstrom widersetze es sich noch hartnäckiger allen Versuchen, es zu frisieren. Fluchend legte Tilla das Gerät beiseite, suchte stattdessen nach jenem zuletzt erstandenen, maßlos teuren Haarserum, welches – laut Werbung – wundersam allen Frizz bekämpfend aus ihrer wilden Keltenmähne eine zivilisierte Frisur zaubern sollte. Nachdem sie ein Viertel der Flasche in ihren langen Locken verteilt hatte, stellte sie fest, dass sie auch bei diesem Produkt vergeblich auf Wunder gehofft hatte. Ihre Locken trotzten noch immer munter der Schwerkraft, aber immerhin glänzten sie hübsch dabei. Fluchend zwang sie eine breite Spange hinein, legte ihren dunkelroten Lieblingslippenstift auf und verließ das Bad. Sie musste sich beeilen, um pünktlich zu ihrer Führung zu kommen.

Als sie auf ihre Haustür zustürmte, sah sie eine Gestalt durch das Milchglasfenster. Neugierig riss sie die Tür auf. Der Mann in orangefarbener Arbeitskleidung machte einen hektischen Satz zurück, der ihn fast die Treppe hinab beförderte. Die Hand, die ein paar Sekunden zuvor auf dem Weg zum Klingelknopf gewesen war, krampfte sich nun in den Stoff seiner Jacke, die andere umschloss den Handlauf der Treppe. Er gab ein gekeuchtes „Mein Gott“ von sich.

Tilla staunte den Mann fragend an. Erst jetzt sah sie zwei weitere orange-rot gekleidete Kollegen auf der Straße. Sie standen vor einem mit Kies gefüllten Laster und schütteten sich vor Lachen aus.

„Haben Sie mich erschreckt“, japste ihr Besucher. Tatsächlich stach die Blässe seines Gesichtes arg von dem Orange seiner Kleidung ab.

„Tut mir leid … da hatte ich es wohl mal wieder zu eilig.“ Mitfühlend legte sie dem Mann eine Hand auf den Arm und eine weitere auf den Rücken. „Geht’s wieder?“

Seine Kollegen auf der Straße glucksten noch immer vernehmlich. „Wissen Sie, hübsche Frauen erschrecken ihn immer so. Er ist Single“, rief einer der Kollegen von der Straße, was einen neuerlichen Sturm des Gelächters entfachte.

Der Mann vor ihr warf seinem Kollegen einen tadelnden Blick zu und rief: „Ihr benehmt euch wie alberne Kinder!“ Dann wandte er sich wieder an Tilla. „Wir wollen die Straße mit frischem Schüttgut befestigen. Da man uns aber erst heute Morgen sagte, dass noch einige Großfahrzeuge zum Ausdünnen des Waldes hier hindurch fahren müssen, wollte ich fragen, ob wir den Kies vielleicht für ein paar Tage auf Ihrem Parkplatz lagern dürfen. Er ist leer und so schön groß.“ Er grinste sie an. „Hätte den Vorteil, dass dann auch Ihr Parkplatz befestigt würde.“

Tilla besah sich ihren matschigen Parkplatz und erwiderte breit lächelnd: „Ich kann mir wirklich nichts Schöneres vorstellen als einen Berg Kies auf meinem Parkplatz. Den Kies von vor drei Jahren hat er nämlich schon gefressen und er sieht ziemlich hungrig aus, mein Parkplatz.“

„Wunderbar!“

„Kriege ich vielleicht noch ein paar Schubkarren voll Kies für meinen Garten? Ich liebe Steine im Garten und hätte da einen Sitzplatz zu verschönern... klitzekleine Schubkarren?“, bettelte sie mit charmantem Hexenlächeln.

„Na klar“ sagte ihr Gegenüber lachend und rief seinen Kollegen zu: „Ihr könnt den Kies abladen.“ Mit einer herzlichen Dankesbezeugung gesellte er sich wieder zu seinen Kollegen.

Tilla griff sich Jacke und Schlüssel. Auf der Straße angekommen sagte sie im Vorbeigehen zu den zwei Kollegen: „Sind Sie sicher, dass er Single ist? Ich finde, er kann hervorragend mit Frauen.“ Damit machte sie sich zufrieden auf den Weg zu ihrer Freundin Dana, deren Wagen sie sich für ihre Fahrten auslieh. Hinter ihr tobte johlendes Gelächter.

„Gut sieht das aus… richtig gut“, murmelte Dr. Thorben Raffert hochzufrieden, während er die Darstellung der Geländeformation auf dem PC herunter scrollte. Mit ein paar versierten Tastenbefehlen wandelte er die bunte Karte in einen anderen Maßstab. An den Rändern herrschte Blau vor, während in der Mitte gelbe, unregelmäßige, mit Rot durchsetzte Linsen auftauchten. „Sehr gut“, murmelte Raffert abermals.

Ralf Prenzler freute sich, als sei es sein persönlicher Verdienst, dass die TEM-Aufnahmen aus dem Helikopter einen so deutlichen Hinweis auf Bodenschätze zeigten. Seine hagere Statur richtete sich etwas auf und die langen Finger flitzten über die Tastatur seines Computers. Bald erschien auf dem Bildschirm eine ältere Landkarte.

„Schauen Sie sich das an!“, wandte er sich an Raffert. „Die Dichteanomalie der TEM-Aufnahmen entspricht nahezu dem, was in den alten Akten über das Gebiet westlich des Rammelsberges eingezeichnet ist. Die Geologen waren also schon damals auf der richtigen Spur!“

„Hm-mh“, machte Raffert verhalten, was Prenzler etwas irritierte.

„Wenn die doch damals schon von diesem Erzfeld gewusst haben, warum wurde es bisher nicht abgebaut?“

Rafferts strenger Blick heftete sich auf Prenzler. „Ralf, tun Sie sich einen Gefallen und denken Sie nicht so viel und vor allem nicht so laut nach!“

Prenzler wusste zwar nicht genau, was er falsch gemacht hatte, zog aber dennoch den Kopf ein. „Natürlich!“

Raffert schien eine Weile zu überlegen, entschloss sich aber dann zu einer Erklärung. „Wie alt ist diese Karte, Ralf?“

Unsicher blickte Prenzler auf seinen Bildschirm. „Na ja, vielleicht vierzig Jahre…“

Raffert nickte wissend. „Der Rammelsberg führte nur wenig Eisenerz. Dieses neue Vorkommen wird auch hauptsächlich Kupfer, Blei, Nickel und vor allem Zink aufweisen. Vor vierzig Jahren wurde der Abbau dieser Stoffe unprofitabel. Der Preis ist erst in den letzten Jahren wieder gestiegen. Gestiegen ist vor allem aber die Nachfrage nach Elementen, die in der Elektronikbranche verarbeitet werden. Und an dieser Stelle wird es für uns interessant.“

Prenzlers Miene klärte sich auf. „Ah, verstehe.“

Raffert klopfte seinem jungen Kollegen auf die Schulter. „Gut. Wir brauchen als nächstes Bodengasanalysen. Kriegen Sie raus, wer die Grundeigentümer dieser Gebiete sind“, Raffert fuhr mit dem Finger über die gelb-roten Formationen auf dem Computerbildschirm, „… und machen Sie Termine mit denen aus. Wir kaufen das Gebiet auf.“

Kapitel 3

Wo ist der Same des Goldes zu suchen? Wo der des Eisens?

Wo der ganzen Natur sinnreiche Kräfte sich bergen,

dies alles umfasst die Physik, die Erforscherin der Natur.

Agrippa von Nettesheim

— De Occulta Philosophia, 3. Buch, 29. Kapitel —

„This is the realm of the Harz Dwarves – Harzer Zwerge”, begann Tilla in verschwörerischem Flüstern und breitete die Arme aus. Sie trug einen keltischen Umhang aus der Nähstube ihrer Freundin Dana, die historische Kleidung herstellte. Das Mantum bauschte sich bei jeder Drehung und die spitze, lange Kapuze erinnerte an eine Zwergenmütze, zumal Tilla sie über den Schutzhelm gezogen hatte, was den Zipfel etwas hochstehen ließ. Die steinernen Wände des Stollens warfen jeden Ton überdimensioniert zurück, sodass ihre japanische Besuchergruppe ihre Worte bestens verstehen konnte. Zufrieden registrierte Tilla, dass selbst die zwei halbwüchsigen Jungen ihr endlich Aufmerksamkeit zollten und fuhr mit bedeutungsschwerer Stimme in Englisch fort. „Die Harzer Zwerge verstanden sich auf die Mineralogie. Sie brachten den Menschen hier großen Reichtum, aber sie konnten auch sehr launisch sein.“

„Launisch?“, fragte einer der zwei Jungen verblüfft. Manga-Motive zierten ihre Jacken und Base-Caps, die an ihren Gürteln baumelten, da auf ihren Köpfen die vorgeschriebenen Sicherheitshelme thronten.

„Oh ja, Zwerge sind furchtbar schnell beleidigt, weißt du. Und mit beleidigten Zwergen ist nicht zu spaßen… immerhin sind sie ziemlich mächtig, besonders die Harzer Zwerge. Sie sollen spitze Hüte getragen haben, Zauberhüte.“

„Zauberhüte“, echote der zweite Halbwüchsige ironisch.

„Ne-bel-kap-pen“, flüsterte Tilla bedeutungsschwer. „Diese Nebelkappen konnten sogar unsichtbar machen. Glaubt mir, unsichtbare Zwerge im Haus können gewaltig viel Schaden anrichten.“

„Unsichtbare Zwerge…“ Der Junge wusste nicht recht, was er für ein Gesicht machen sollte. Sein Freund kicherte nervös.

„Menschen, die Zwerge nicht respektierten, wurden von dem kleinen Volk nachts bestohlen. Guten Menschen allerdings halfen sie, zuweilen legten sie ihnen sogar Gold hin. Im Allgemeinen versuchten sich die Menschen mit den Zwergen gut zu stellen, besonders hier in Goslar. Die Goslarer waren nämlich sehr darauf angewiesen, was dieser Berg ihnen gab, und dabei halfen ihnen die Zwerge. Der Rammelsberg bestimmte über tausend Jahre lang das Schicksal von Goslar. Dieser Berg war es, der die Stadt zum Sitz des Kaisers machte. Und ihr steht hier im Herzen des Goslarer Zwergenreiches.“

Nun meldete sich der zweite Junge zu Wort. „War es nicht ein Ritter, der die Silberader hier fand?“

„Genau! Ritter Ramm!“, pflichtete der zweite Junge seinem Freund bei.

Tilla lächelte die beiden koboldgleich an. „Ja, diese Geschichte gibt es. Aber nach dieser Geschichte war es nicht der edle Ritter, der das Silber fand, sondern sein Pferd, das beim Scharren eine Silberader frei gelegt haben soll. Traut ihr einem Pferd so etwas wirklich zu?“ Amüsiert über die verblüfften Gesichter ihrer Zuhörer erzählte Tilla mit lebhaftem Gestus weiter. „Eine andere Geschichte berichtete von einer Magd, der das Herdfeuer ausgegangen war. Die ganze Nacht hatte sie sich gesorgt, ob ihre Herrschaft sie wohl würde entlassen müssen, denn Goslar war arm und auch ihrer Herrschaft ging es nicht gut. Umso mehr grämte sie sich um ihre Pflichtvergessenheit. Bei einem Blick aus dem Fenster sah sie unweit von ihrem Haus am Rammelsberg ein Feuer lodern. Da ihre Herrschaft nichts von dem Versäumnis erfahren sollte, schlüpfte die Magd fix mit einem Kohleneimer und einer Schaufel aus dem Haus und lief zu dem Feuer. Kleine Männer mit langen Bärten und spitzen Mützen saßen schweigend um das Feuer herum. Ängstlich fragte die Magd in die seltsam anmutende Runde, ob sie ein paar der glühenden Kohlen für ihr erloschenes Feuer haben könne. Da niemand der Männer sich rührte, schob die Magd einige glimmende Kohlen in den Eimer und lief schnell nach Hause. Doch auf der häuslichen Feuerstelle wollten die Kohlen einfach nicht brennen. Kein Spänchen, Stöckchen oder Scheit fing Feuer. Da ging die Magd doch kleinlaut zur Herrschaft und erbat das Zündbesteck. Als sie zusammen mit dem Herrn des Hauses in die Küche zurückkehrte, lagen mehrere Klumpen Silber in der kalten Feuerstelle. Völlig verwirrt berichtete sie ihrem Herrn, was sich am Morgen zugetragen hatte. Sodann liefen alle Hausbewohner zu jener Stelle, wo das Feuer gelodert hatte. Die kleinen Männer waren verschwunden und dort, wo die Kohle gebrannt hatte, fanden die Menschen nur einen Haufen Kieselsteine. Sie berichteten der Obrigkeit von dem Vorkommnis. Man untersuchte den Ort und was glauben Sie, was man unter dem Haufen Kiesel fand? Richtig! Eine Silberader!“

Ihre Gruppe applaudierte begeistert. Einer der Jungen fragte mit einem Rest von Skepsis: „Warum heißt der Berg denn Rammelsberg, wenn es keinen Ritter Ramm gegeben hat?“

„Wenn ihr im Mai noch einmal nach Goslar kommt, dann findet ihr den Rammelsberg und seine Nachbarn mit einem grünen Kraut bewachsen, aus dem hübsche, aber heftig nach Knoblauch riechende Blumen wachsen. Man nennt dieses Gewächs heute Hexenzwiebel oder Bärlauch, aber früher hieß es… Rammsen.“

Während ihre Besucher sich begeistert über das Gesagte austauschten, fragte Tilla die beiden Halbwüchsigen: „In den Manga-Geschichten, die ihr offensichtlich mögt, kommen doch die Kobito-Zoku vor.“ Tilla deutete dabei auf die Motive auf deren Kleidung.

Verblüfft starrten die beiden Tilla an. Einer der beiden nickte kichernd.

„Also ich finde, eure Kobito-Zoku haben doch viel Ähnlichkeit mit unseren Zwergen. Soweit ich weiß, mussten auch die Kobito-Zoku in den Untergrund, also unter Tage… allerdings haben unsere Harzer Zwerge keinen buschigen Schwanz.“

Die beiden Jungen lachten schallend und erklärten ihren erstaunten Eltern, auf welche Manga-Comics Tilla anspielte. Es entbrannte ein angeregtes Geschnatter, bis einer der erwachsenen Besucher feststellte: „Es gibt tatsächlich viele Parallelen zu Ihren Zwergen-Sagen. Unsere Mangaka1 haben wohl so manche Figur bei Ihren Gebrüdern Grimm entliehen. Wir in Japan lieben deutsche Märchen. Ich frage mich, wie es hier bei Ihnen zu solchen Geschichten kam.“

„Meist steckt ein Stückchen Wahrheit in jeder Sage. Manche behaupten, mit den Zwergen ist das alte Volk der Kelten gemeint, von dem auch ich abstamme. Tilla zog die Kapuzenspitze ihres Mantums in die Höhe. „Kelten trugen immer so einen Umhang mit einer spitzen Kapuze. Die Kelten waren auch bekannt für ihr Wissen um die Metalle und wie man sie verarbeitet. Ihre Schwerter waren überall begehrt. Aber sie waren eher groß und hochgewachsen… nicht so wie ich.“ Ihre Zuhörer lachten herzlich, denn Tilla war zierlich und klein. „Was die Kleinwüchsigkeit angeht, so könnten sich zwei Sagen vermischt haben. Das Attribut des Mangels an Größe könnte auf die Venediger zurückzuführen sein, die den Zwergensagen ebenfalls Nahrung gaben. Sie müssen wissen, im ausgehenden Mittelalter wurde der Harz wegen ganz bestimmter Erze von den Glasbläsern der venezianischen Insel Murano besucht, die diese Erze für ihre Glasherstellung benötigten. Die Italiener sind bekanntlich etwas kleiner gewachsen als die großen Teutonen. Diese Besucher aus Venedig verstanden nicht nur viel von Mineralogie, sie hatten darüber hinaus einen so hohen Bildungsstand, dass sie den Einheimischen wie große Zauberer vorkamen. Viele der Zwergensagen beinhalten Hinweise auf Venediger.“

Während Tilla ihre Gruppe durch den Roederstollen, vorbei an mittelalterlicher Ingenieurkunst, bizarr beschichteten Stollenwänden und einem nachgebauten Grubenfeuer führte, gab sie weitere Geschichten zum Besten. Endlich kletterten sie über zahlreiche Treppenstufen aus den Tiefen des Roederstollensystems wieder auf das Niveau des Werkhofes hoch. Sie passierten die Grubengleise und traten hinaus ans Tageslicht, wo sich Tilla noch einmal zu ihrer Gruppe umdrehte.

Wie immer genoss sie diesen Moment, zeigte sich doch in jeder Miene, wie froh und erleichtert die Menschen waren, dem Inneren des Berges, der sich zu dieser frühen Jahreszeit hinter ihnen wie ein kahler Schädel ausnahm, entronnen zu sein. Heute empfing gleißende Februarsonne die Besucher, die sich sofort fröhlich schwatzend sammelten, um das Erlebte zu verarbeiten. Tilla wies auf die verschiedenen Museumshäuser hin, die den Besuchern offenstanden, und verließ ihr hochzufriedenes Trüppchen mit einem kernigen „Glück Auf!“

Die Spaziergänger maßen ihn nur mit einem kurzen, desinteressierten Blick. Seltsamerweise beruhigte es ihn, dass die junge Mutter nicht einmal ihre Rede unterbrach, als sie ihren nörgelnden Sprössling an ihm vorbei zur Straße bugsierte. In einer Sekunde würde sie und auch ihr lustlos hinterher tappender Gatte vergessen haben, dass gerade ein Mann in beigefarbener Hose und Jacke mit einem quietschgelben Gerät in der Hand an ihnen vorbeigegangen war. Gott sei Dank!

Seit dem Erlebnis mit der Wolfsfrau im Gerichtsflur kämpfte er mit der Befürchtung, seine Unsichtbarkeit verloren zu haben. Was fatal wäre, denn diese Unsichtbarkeit, über die er sich zeitlebens gegrämt hatte, war nun zu seinem Schutz geworden. Die Venerabiles waren auf einen falschen Weg geraten, zumindest sein direkter Vorgesetzter war von Gier und Machthunger korrumpiert. Er hatte mit Vertretern des inneren Kreises der Ehrenvollen reden wollen, immerhin hatte die Vereinigung einst hehre Ziele gehabt. Es hatte sich als schwierig erwiesen, da ihm die geltenden Hierarchien im Weg gestanden hatten. Dennoch hatte er mit einem der Majores des zweiten Kreises gesprochen. Der hatte andächtig genickt, ihm zugehört, Fragen gestellt – kurzum, er hatte alles versucht, um ihn in Sicherheit zu wiegen. Doch bereits nach seinen ersten Worten hatte er an den sich verengenden Augen seines Gegenübers erkannt, dass er einen fatalen Fehler begangen hatte. Man würde sich nicht dem Problem mangelnder Ehrhaftigkeit zuwenden, auf das er aufmerksam hatte machen wollen, man würde sich nun um ihn kümmern.

Die Venerabiles hatten den Erdball durchsetzt wie ein Schimmelpilz. Sie hatten ihre Augen und Ohren überall. Er wusste, es war immer ein Adeptus Custos in der Nähe, der die Ereignisse kontrollierte. Niemand kannte seine Identität. Der Adeptus hatte festzustellen, wie viel Schaden bereits entstanden war. Er würde sich erst um den Schaden und dann um ihn kümmern. Die Adepten waren versierte Killer, und die Wahrscheinlichkeit seines eigenen Überlebens tendierte gegen Null. Also musste es jemand anderes übernehmen, die Geschehnisse aufzudecken.

Daher setzte er seine ganze Hoffnung auf Kamenz. Er gehörte zum zweiten Kreis, auch wenn er das derzeit noch nicht wusste. Im Übrigen zählte er zu den selten gewordenen Menschen, die gegen Gier immun waren. Und dann war da noch seine Freundin, die Wolfsfrau, sie würde das Zeichen erkennen. Das Symbol der Elemente, das er bei ihr gesehen hatte, war ihm wie ein heiliger Fingerzeig vorgekommen. Das Symbol der Druiden. Noch dazu arbeitete sie im Bergwerk, damit war sie für ihn so etwas wie die Hüterin dieses Gebietes, das die UNESCO als schutzwürdig erachtete.

Allerdings hatte er Kamenz und seine Hexe mit dem, was er getan hatte, in große Gefahr gebracht. Aber es ging nicht anders. An die Öffentlichkeit konnte er sich nicht wenden. Kaum jemand wusste von der elitären Vereinigung der Venerabiles, die auf dem Weg war, die Rohstoffe, die der Planet Erde beherbergte, zu kontrollieren. Die Mitglieder fassten in hochgeheimen Treffen Beschlüsse, die sich nicht um Regierungen und deren Interessen scherten. Es ging einzig um Profit, verteilt auf möglichst wenige Schultern. Viel Profit. Nicht, dass man ihn je auch nur in die Nähe eines dieser konspirativen Treffen gelassen hätte, aber er wusste dennoch, was vor sich ging. Denn er war es, der einem hochrangigen Mitglied die Informationen zuarbeitete. Und nun hatte er mehr Einblick in ihre Pläne gewonnen, als ihm lieb war. Er wusste, wie die Venerabiles und ihre hochrangigen Mitglieder arbeiteten.

Dabei war die Grundidee der einstigen Venerabiles durch und durch gut gewesen. Vielleicht war ja auch nur dieser eine Arm des Kraken faul und es reichte, diesen zu entfernen. Aber das ging nur, indem er den Schwindel aufdeckte. Der erste Schritt dazu war getan. Die Wolfsfrau würde das Zeichen an diesem Platz verstehen und Kamenz hörte auf sie. Nur er konnte ihn aufhalten.

Prüfend blickte er auf sein GPS-Gerät, wechselte die Straßenseite und ging bis zu einem Zaun, hinter dem sich steil ansteigende Wiesen erhoben. Er wusste, unter ihm befand sich Tonschiefer, das Gestein des Devon und des Karbon, maritimes Sedimentgestein, gefaltet vor rund 400 Millionen Jahren. Hinter ihm, auf der anderen Straßenseite, gurgelte die Gose zu Tal.

Obwohl er sich seit Jahren vornehmlich damit beschäftigte, was sich unter der Erde befand, so hatte er dennoch nicht den Blick für die Schönheit darüber verloren. Nur verbot er sich meist, diese zu bemerken, wurde sie doch zwangsweise durch das Ergebnis seiner Arbeit zerstört. Auch diese Wiesen würde es schon bald nicht mehr geben. Das Team mit dem Übertagekernbohrgerät war bereits unterwegs. Das Spiel hatte begonnen. Nach ein bisschen Geheimniskrämerei, die zum Plan gehörte, würde man mit der spröde vorgebrachten Information herausrücken, dass sich möglicherweise hier, wo er stand, eine dritte Erzlinse in etwa 800 Metern Tiefe befinden könne, was erdrutschartige Veränderungen auf einer ganz anderen Ebene hervorrufen würde.

Er maß seine Umgebung mit kritischem Blick. Die zwei bereits ausgebeuteten, zum Rammelsberg gehörenden Erzlinsen lagen nordöstlich, nicht weit von seinem Standort entfernt. Eine weitere wäre durchaus denkbar … aber man würde sie nicht ausbeuten dürfen. Die Hexe wusste das.

Er kroch durch den Zaun, ein marodes Gemisch aus silbrigen Eichenholzpfosten und rostendem Draht, und ging auf einen länglichen Felsen zu. Wie ein übergroßer Grabstein ragte er aus dem gelben Vorjahresgras empor, groß genug, um als Menhir zu gelten. Genau an dieser Stelle würden sie bohren wollen.

Über die Wiese gehend zog er eine Sprühdose aus seiner Jackentasche und näherte sich dem Felsen. Die kleinen Kügelchen in der Dose knallten geräuschvoll an die metallenen Wände, während er sie schüttelte.

„Die Wolfsfrau wird das Zeichen erkennen… sie weiß es…“, murmelte er wie ein Mantra vor sich hin. Vor dem Felsen stehend sprühte er das fast tausend Jahre alte Zeichen an den Stein. Zwei geschwungene M’s, die am Ende in ein Kreuz ausliefen. Das erste in den Arkaden der alten Schrift, das zweite in Form des alten Südzeichens. Gerade als er ansetzte, das Symbol der Venerabiles darunter zu setzen, ließ ihn eine Stimme herumfahren. Ihm wurde vor Angst eiskalt. Die Sprühdose fiel ihm aus der Hand und kullerte die Wiese hinab.

Auf dem Weg über den Werkhof zog sich Tilla den Schutzhelm vom Kopf und öffnete die vergoldete Fibel, die ihr Mantum zusammenhielt. Sie genoss noch einen tiefen Zug der Vorfrühlingsluft, bevor sie durch die unspektakuläre Tür in den Trakt für Personal trat. Der Duft von frischem Kaffee zog ihr in die Nase. Aus dem Gemeinschaftsraum am Ende des Ganges drangen aufgeregte Gesprächsfetzen an ihr Ohr. Wahrscheinlich machten sich ihre Kollegen mal wieder Sorgen um ihren Arbeitsplatz hier im Besucherbergwerk, den sie alle so sehr mochten. Selbst ein so außergewöhnliches Museum wie der Rammelsberg war trotz seines Status’ als Weltkulturerbe immer von Finanzierungsschwierigkeiten bedroht. Auch für Tilla hatte es eine Zeit gegeben, in der sie sich von dieser Sorge hätte anstecken lassen. Sie führte hauptsächlich englischsprachige Gruppen durch den Stollen. Zwar beherrschte sie genügend Italienisch, um die Stationen des Berges auch in dieser Sprache darstellen zu können, doch kam dies nicht allzu häufig vor. Mittlerweile lebte sie von ihrem Verdienst als Übersetzerin so gut, dass sie auf die Führungen zumindest finanziell mehr angewiesen war. Manchmal wusste sie allerdings nicht, ob sie sich darüber freuen oder ärgern sollte. Als Übersetzerin arbeitete sie ausschließlich am Schreibtisch, was ihr eigentlich gar nicht lag. Umso mehr hing sie an den Führungen im Rammelsberg, die ihr Bewegung und den Kontakt mit Menschen brachte.

Tilla hängte ihr Keltenkostüm über einen Bügel und holte ihre Alltagsgarderobe heraus. Während sie sich umzog, drangen die Stimmen der Kollegen an ihr Ohr. Als der Begriff Probebohrung fiel, horchte sie auf.

„Stell dir vor, sie würden ein weiteres Erzvorkommen finden…“

„ Das wäre fantastisch!“

„Oder auch nicht. Was passiert dann mit uns?“

„Wieso? Was soll denn passieren?“

„Na… gehen dann die Gebäude nicht zurück an die Bergwerksgesellschaft?“

„Genau! Brauchen die dann überhaupt noch ein Museumsbergwerk?“

„Leute… das ist doch hier alles für Millionen umgebaut worden. Die machen doch jetzt nicht wieder Verwaltungsgebäude hieraus…“

„Glaube ich auch nicht, die bauen lieber was Neues.“

„Wir wissen doch noch gar nicht, wo der neue Schacht hinkommt. Hier doch sicher nicht.“

„Nee, hier nicht.“

„Wenn es denn überhaupt einen neuen Schacht gibt. Noch suchen sie ja.“

„Ich dachte, diese Hubschrauberbilder wären schon eindeutig…“

„Mit diesen Bildern kann man nur unterschiedliches Gestein sehen. Ob das wirklich ein neues Erzfeld ist, weiß man erst nach der Probebohrung.“

„Nee, nee, da kann man schon mehr drauf sehen. Wenn es rot wird, dann deutet das auf Gestein mit einer hohen Leitfähigkeit hin. Metallhaltiges Gestein hat eine hohe Leitfähigkeit. Das hat mir einer von denen erzählt.“

„Echt? Was es alles gibt. Und wissen die schon, in welcher Tiefe das Erz liegt?“

„Das ist derzeit noch die große Unbekannte, denn das lässt sich durch diese Luftbilder nicht sagen. Soweit ich weiß, wollen die erst mal bis sechshundert Meter bohren.“

„Und weiß jemand, wo die bohren?“

„Alle, die es wissen, werden verdonnert, die Klappe zu halten. Da erfahren wir einfachen Bürger nichts.“

„Wann fangen die denn an?“

„Ist auch nicht bekannt.“

„Weitere Erzlinsen können sich ja nur Richtung Granetalsperre oder Richtung Okertal befinden.“

„Genau, da hatte damals ja schon die Preussag2 was vermutet.“

„Mensch Leute, stellt euch das mal vor… der Harz kriegt seinen Bergbau zurück!“

Ergriffenes Schweigen folgte, bis Tilla bemerkt wurde, die mittlerweile in der Tür stand und staunend zuhörte.

„Ah, hallo Tilla! Fertig für heute?“ Irgendwie klang die Stimme von Roswitha Gerlach etwas unsicher.

Tilla kam sich vor, als habe sie etwas gehört, was sie nicht hören durfte. „Äh ja, war eine prima Führung, gut besetzt und nette Leute… sagt mal, stimmt das? Es geht wieder los mit dem Bergbau?“

Die Blicke sämtlicher Anwesenden flüchteten in wilden Bahnen durch den kleinen Raum. Endlich rang sich Roswitha zu einer Antwort durch.

„Bisher ist das nur ein Gerücht. Sprich bloß nicht drüber, die haben uns hier auch schon zur Verschwiegenheit verdonnert.“

„Zur Verschwiegenheit? Wer denn? Wie habt ihr denn davon erfahren?“ Tilla barst geradezu vor Neugier.

Roswitha warf einen Blick in die Runde, bevor sie Tilla aufklärte. „Neulich bei dieser VIP-Führung, wo sie dich rausgekickt haben… ehrlich Tilla, ich konnte nichts dafür, ich war genauso erstaunt…“

Tilla winkte ab. „Mach dir keinen Kopf.“

Roswitha lächelte Tilla dankbar an. „Weißt du, die sprachen dann auch gar nicht englisch, obwohl die Firma doch irgendwo aus England kam. Na ja, jedenfalls tauchte da so ein Typ auf, der wohl Randale machen wollte. Das war, als alle zum Videoraum wollten, wo Sekt und Edel-häppchen bereit standen. Unser cleverer Horst hat diesen Typ gleich bemerkt… kaum hatte der Mann die große Halle betreten, hat Horst ihn sich geschnappt und wieder nach draußen gezogen, bevor er unsere VIP-Truppe groß belästigen konnte.“ Mehrere anerkennende Blicke richteten sich auf Horst Seifert, den die ungewohnte Aufmerksamkeit etwas verunsicherte. Er zupfte an seinem Pullover und zeigte ein schiefes, doch stolzes Lächeln.

Auch Tilla strahlte Horst Seifert an. Der nicht sehr große Mann mit den altmodischen Koteletten tat sich stets durch sein freundliches, ruhiges Wesen hervor. Tilla konnte sich kaum vorstellen, dass Seifert jemanden nachdrücklich zum Gehen aufforderte, aber offenbar war er durchaus dazu in der Lage. „Heilige Göttin, das hört sich ja spannend an.“

Horst winkte bescheiden ab. „Ach so wild war es ja gar nicht. Der Typ war eher aufgeregt als gefährlich. Er wollte sich gar nicht beruhigen und faselte dauernd was von Betrug. Er ließ sich aber dann von mir ganz ruhig rausführen.“

„Was für ein Betrug denn?“, wollte Tilla wissen, doch Horst Seifert zuckte als Antwort lediglich mit den Schultern.

Roswitha erzählte eifrig weiter. „Uns hat man später zusammengerufen und von den Probebohrungen erzählt… allerdings mit einem Gesicht, als hätten sie Zitronen gegessen. Du musst wissen, diese VIPs gehörten zu dem Konsortium, das diese Bohrungen machen will. Man hat uns aber nachdrücklich angewiesen, über das Vorhaben zu schweigen.“

„Warum haben sie euch dann davon erzählt?“, fragte Tilla.

„Ich denke, die denken, dass wir was von diesem Randalierer aufgeschnappt haben. Sie sagten, dieser Randale-Typ soll zu so ’ner militanten Öko-Truppe gehören, die gegen Bohrungen und vor allem gegen die Wiederaufnahme von Bergbau ist, weil da so viele Gifte austreten.“

„Aha. Und wer war der Öko-Freak?“ Als Horst Seifert erneut mit den Schultern zuckte, fragte Tilla erstaunt: „Solltest du denn nicht die Personalien von dem Typ feststellen?“

„Nein. Einer von denen hat sich kurz mit dem Randalierer unterhalten. Danach ist er zu mir gekommen und hat gesagt, ich soll ihn einfach vor die Tür setzen und mich nicht um sein Geschwätz kümmern. Er wollte nicht, dass ich eine Meldung verfasse und dass möglicherweise die Presse Wind davon bekommt. Hab ich dann auch gelassen. Der Kunde ist König… außerdem ist es doch besser, jemandem Schwierigkeiten zu ersparen, und der Typ war wirklich harmlos.“

„Seltsam…“, murmelte Tilla nachdenklich.

Horst Seifert schaute auf die Uhr und schlug sich sodann geschäftig auf die Oberschenkel. „Leute, die Mittagspause ist vorbei!“

Das brachte Leben in das Kantinentrüppchen. Alle erhoben sich, um sich wieder ihrer Arbeit zuzuwenden. Tilla folgte ihren Kollegen nach draußen, als ihr Handy mit der Melodie aus Lord of the Dance nach Aufmerksamkeit verlangte. Der Blick auf das Display ließ sie lächeln.

Mit großem Genuss löffelte Tilla das erste Eis des Jahres in sich hinein. Der sahnige Schokoladengeschmack half ihr darüber hinweg, dass sie Andreas nicht von den Probebohrungen erzählen durfte. Das Thema arbeitete emsig in ihrem Kopf weiter und alles in ihr brannte danach, mit ihm darüber zu sprechen. Doch sie hielt sich ehern an ihr Schweigeversprechen, wusste sie doch, dass die Kollegen sonst derbe Schwierigkeiten bekommen konnten. Als sie Andreas’ leeren Blick bemerkte, der irgendwo über ihrer rechten Schulter festhing, wurde ihr klar, dass es völlig egal war, was sie ihm erzählte, er hörte ihr eh nicht zu.

„Haalloo!“ Tilla winkte ihm mit großer Geste zu, obwohl nur ein schmaler Bistrotisch sie trennte.

Andreas’ Blick kehrte abrupt zu ihr zurück. „Entschuldige, was hast du gesagt?“

„Latscht da draußen Ritter Ramm mitsamt Gaul umher?“, schnappte Tilla und sah kurz aus dem Fenster des Cafés hinter ihr, um zu ergründen, was Andreas dort draußen so fesselte. Sie konnte aber nichts Auffälliges entdecken.

Andreas schnaufte amüsiert. „Ich hoffe nicht, dass er ausgerechnet auf dem Marktplatz eine neue Silberader findet. Was hattest du gesagt?“

„War nicht so wichtig.“ Sie maß ihn mit einem besorgten Blick. „Aber sag mal, so abwesend, wie du bist… gibt es da etwas, was ich wissen sollte? Hast du einen neuen Fall, der…?“

„Nein“, kam es verdächtig schnell. Sie sah, wie sich seine Kiefer aufeinanderpressten. Mit spitzem Finger schob er an seinem Handy herum, das auf dem Tisch lag. „Es ist nur… ich hatte mal wieder Streit mit meinem Vater.“

Als Andreas seinen Espresso austrank und die kleine Tasse bedächtig abstellte, hatte Tilla das Gefühl, dass er Zeit gewinnen wollte. Ging es wirklich um seinen Vater? „Du sprichst fast nie von deiner Familie. Sie leben doch in der Nähe von Göttingen, oder?“

Andreas blieb einsilbig. „Im Eichsfeld.“

„Was passt deinem Vater denn an dir nicht?“

„Frag lieber, was ihm passt… oder nein, lieber nicht. Da fällt ihm womöglich gar nichts ein.“

„Autsch! So zynisch kenne ich dich gar nicht.“ Tilla blickte Andreas abschätzend an. Dieser verletzte Gesichtsausdruck an ihm war ihr neu. Um die Stimmung zu heben, säuselte sie: „Ein harter zynischer Bulle und dann auch noch so attraktiv… “ Sie stieß ein wohliges Gurren aus.

Wie erhofft, blitzten seine Augen amüsiert auf. „Tja, schade, dass diese Eigenschaften, die dir so gefallen, in meiner Familie keine Rolle spielen.“

„Was würde denen denn gefallen?“

„Lässt sich schnell zusammenfassen: Ein höheres Einkommen.“

„Uhh!“ Tilla verzog affektiert das Gesicht. „Ich nehme an, vom Geldverdienen versteht deine Familie etwas?“

„Oh ja.“

„Und sind heute Morgen irgendwelche neuen Vorhaltungen hinzugekommen? Ich meine, dein Gehalt hat sich ja nicht plötzlich über Nacht halbiert.“

Andreas lachte leise und meinte dann: „Das ist gar nicht nötig. Selbst mein volles Gehalt war ihnen seit je her ein Dorn im Auge. Nach Auffassung meines Vaters vertue ich alle Möglichkeiten, die gut für mich wären, in beruflicher Hinsicht… und auch, was mein Privatleben angeht.“

„Ah.“ Tilla ahnte, um was es ging. „Du bist nicht nur ein Profitverweigerer, du verlässt auch noch Sina, eine wohlverdienende und gesellschaftskompatible Ärztin, die dir den Zugang zu höheren Kreisen ermöglicht hätte… Ist es das?“

Nun war es Andreas, der versuchte, die Stimmung zu heben. „Also doch… du kannst Gedanken lesen. Gib’s zu!“

„Hör mal… ich bin eine Hexe. Selbstverständlich kann ich Gedanken lesen“, verkündete Tilla mit Koboldgrinsen.

„Na, wenn meine Sippe das gehört hätte…“

„Lass mich raten… mein Humor würde ihnen nicht gefallen.“

Andreas starrte die Tischplatte an und bemerkte schmallippig: „Sie sind katholisch.“

„Oh“, machte Tilla dünn. „Sehr… äh… katholisch?“

Andreas verzog das Gesicht und nickte.

In diesem Moment, so schien es Tilla, war ihre noch so herrlich kribbelnde, frische Beziehung urplötzlich im Alltag angekommen, den sie zuvor sorgsam ausgesperrt hatten. Andreas’ Familie hatte Tilla bis dato völlig verdrängt. Katholisch. Sie war eine Altgläubige, eine Wicca. Bestenfalls beschimpfte man Altgläubige als Heiden, schlimmstenfalls als Hexen. Katholisch und altgläubig passten etwa so gut zusammen wie Dynamit und Streichholz. Eigentlich wollte sie es gar nicht hören, dennoch fragte Tilla: „War Sina auch katholisch?“

Andreas sonderte ein vage zustimmendes Geräusch ab.

„Okay. Ich habe also schlechte Karten bei deinen Eltern. Hast du ihnen eigentlich von mir erzählt?“

Er zögerte etwas. „Nein, noch nicht… sie mussten erst einmal die Trennung von Sina verkraften.“

Zwar spürte Tilla keinerlei Verlangen, bei ältlichen, streng katholischen, profitorientierten Eichsfelder Eltern, die ihren zweiunddreißigjährigen Sohn mit Vorhaltungen belästigten, zum Sonntagskaffee aufzuschlagen. Doch Andreas’ Antwort gefiel ihr auch irgendwie nicht. Wie immer waren ihr ihre Gefühle deutlich anzusehen.

„Tilla, du weißt, wie wichtig du mir bist… und meine Eltern werden dich akzeptieren müssen, aber das Timing ist im Moment schlecht. Weißt du, Sina ist bei meinen Eltern ein- und ausgegangen. Sie war häufiger dort als ich… schon deshalb, weil sie meine Eltern als Ärztin betreut. Außerdem ist sie eng mit meiner Schwester befreundet. Meine Mutter klagte sich zu gern bei ihr aus, und mein Vater… sein Herz ist nicht das Gesündeste. Wobei ich nie weiß, ob er sein Herz nicht eher als Druckmittel benutzt.“

Tilla lenkte versöhnlich ein, da sie merkte, wie sehr ihm das Thema zu schaffen machte. „Na, bei euch ist ja wirklich der Wurm drin. Von deiner Schwester hast du mir nie erzählt. Hast du noch mehr Geschwister?“

„Ich hab noch einen Bruder. Meine Geschwister sind beide älter, beide erfolgreicher, beide verheirateter. Als meine Schwester letztes Jahr heiratete – das war der Tag, wo wir diesen Russen geschnappt hatten – ich war deswegen bei der kirchlichen Trauung nicht da und kam erst sehr viel später. Ein Eklat, an den meine Familie sich eigentlich im Laufe der Jahre gewöhnt haben sollte, aber es gab wie immer einen Riesenärger.“

„Oha…“, machte Tilla, verbot sich aber einen Kommentar, um seinen Redefluss nicht zu unterbrechen, doch der kam dennoch ins Stocken. Sie mahnte sich zur Geduld, lediglich das Befingern ihres silbernen Rosenpentagramms, das sie immer um den Hals trug, zeigte, wie ungeduldig sie darauf wartete, dass Andreas weitersprach.

„Es ist nicht nur die Trennung von Sina, im Grunde streite ich mit meiner Familie, seit ich denken kann. Nur einmal gab es für eine kurze Zeit Ruhe, nämlich als ich anfing, Jura zu studieren. Das war endlich mal etwas Anerkennenswertes. Doch ich hab diese dröge Materie nicht ausgehalten. Irgendwie hatte das alles so gar nichts mit der Realität zu tun. Ich brach das Studium nach vier Semestern ab und wechselte zur Polizeiakademie. Seither ist es ganz schlimm. Ständig halten sie mir meinen ach so erfolgreichen Bruder Gregor vor und verlangen, ich solle bei ihm einsteigen. Es nervt.“

„Kann ich mir vorstellen. Was macht dein Bruder denn?“

„Gregor hat sein Betriebswirtschaftsstudium abgeschlossen und zusätzlich noch ein paar Semester Geologie studiert. Er hat das Familienunternehmen, ein Ingenieurbüro, übernommen und um einige Sparten erweitert, bis ein international operierender Konzern darauf aufmerksam wurde. Die haben meinen Bruder übernommen. Gregor ist dort heute ein hohes Tier mit enormem Verdienst. Das Familienunternehmen in Göttingen wird mittlerweile von meinem Schwager geführt, und Gregor hat mehrere Büros, die über den Globus verteilt sind.“

„Wow!“ Tilla brauchte einen Moment, um die Informationen zu verdauen. „Und was solltest du in so einem Konzern tun? Du bist doch Polizist.“

„Der Konzern beschäftigt sich unter anderem mit Bergbau. Sie halten dafür Equipment vor, das ziemlich hochwertig und teuer ist. Dieses Equipment wird regelmäßig zu Bohrstellen in die ganze Welt verschickt, was wohl Diebe und Technikspione in Scharen anlockt. Man sähe es gerne, wenn ich in den Securitybereich einsteigen würde.“

Tilla wurde nachdenklich. „Ich vermute, dort würdest du ein Mehrfaches von deinem Polizeigehalt verdienen.“

„Ja.“ Unwillig schob er sein Smartphone auf dem Tisch herum. „Für die meisten meiner Kollegen wäre das vermutlich sogar ein Traumjob. Übersichtliche Arbeitszeiten, ein Heer von Angestellten, ein schickes Büro, Einsätze überall in der Welt…“

Tilla hatte das Gefühl, als bilde sich gerade ein Klumpen in ihrem Bauch, der ihre Eingeweide zusammenzog. Als sie wieder aufsah, bemerkte sie, dass sie von Andreas interessiert gemustert wurde.

„Die Vorstellung, ich könnte da einsteigen, scheint dir nicht zu gefallen“, stellte er fest.

„Nein… so ein Job passt doch überhaupt nicht zu dir“, gab sie heftiger zurück, als sie wollte.

„Sina gefiel die Vorstellung sehr, mich in Gregors Konzern zu wissen. Sie hat immer versucht, mich dazu zu überreden. Und du machst ein Gesicht, als hätte man dir grad dein Haus angezündet.“

„Ich bin nun einmal nicht Sina!“

Er grinste breit. „Gott sei Dank nicht. Hey…“ er strich ihr kurz über die Wange, „ich werde nicht für Gregor arbeiten. Deshalb hab ich ja Ärger mit meiner Familie.“

Tillas Ärger zerstob wie eine Seifenblase. Ihre Unmutsfalten glätteten sich und machten einem breiten Lächeln Platz. Am liebsten wäre sie ihm um den Hals gefallen. Da sie dabei garantiert wieder etwas umgeworfen hätte, womöglich den zierlichen Bistrotisch samt Geschirr, beschränkte sie sich darauf, ihre Finger in den seinen zu verschränken.

Andreas umfasste ihre Hand mit sanftem Druck, doch das kurze Lächeln verschwand schnell wieder. „Früher hat mich nur mein Vater genervt, jetzt macht Gregor plötzlich auch mit. Der hat sich noch nie für mich interessiert. Außer wenn er auf mir herumhacken und so bei unserem Vater auf Lieb-Kind machen konnte. Nun tut er grad so, als ob er nicht ohne mich auskäme.“

Als Andreas abermals über ihre Schulter hinweg irgendetwas fokussierte, was sich draußen befinden musste, fragte Tilla irritiert: „Dein Bruder steht jetzt aber nicht da draußen vor dem Fenster, oder?“

„Nein“, lachte Andreas. „Ich dachte nur grad, da draußen einen Mann zu sehen, der sich in den letzten Tagen häufig in meiner Nähe herumgetrieben hat… scheint mich zu verfolgen… komischer Typ.“

„Was? Wer denn?“ Tilla drehte sich so heftig um, dass der geleerte Eisbecher auf dem Tischchen umfiel. Nur Andreas’ schneller Griff verhinderte, dass der Glaskelch auf dem Boden landete, während Tilla suchend aus dem Fenster starrte.

„Beruhige dich, er ist nicht da. Hab ihn mit einem anderen Kerl verwechselt, der die gleiche nichtssagende Jacke trug.“ Er stellte den Becher zurück auf den Teller.

War es das, was er ihr vorhin zu verschweigen versucht hatte? „Verstehe ich das jetzt richtig? Jemand verfolgt dich?“ Tilla geriet so in Rage, dass sie erneut gegen den Tisch stieß.

Andreas hielt vorsichtshalber das Geschirr fest und antwortete zögerlich. „Na ja, ich bin mir nicht sicher.“

„Kennst du den Mann?“

„Nein.“

„Wie lange geht das denn schon?“

Widerstrebend gab Andreas zu: „Etwa zwei Wochen. Aber wie gesagt, ich weiß es nicht genau, er war nicht die ganze Zeit an mir dran.“ Er winkte der Bedienung, um zu zahlen.

„Hast du es Gerd Wegener erzählt?“ Tilla war weit davon entfernt, sich zu beruhigen.

Nachdem er bezahlt hatte, grinste er Tilla spitzbübisch an. „Du machst dir Sorgen um mich. Das gefällt mir.“

„Mir aber nicht!“, murrte Tilla. „Verflucht! Mir rennen die Verbrecher schon rudelweise hinterher. Und dann

verliebe ich mich auch noch in einen Bullen, der von einem obskuren Typen verfolgt wird.“

„Nach dieser erfrischenden Bemerkung würde ich ja am liebsten mit dir zu einem Mittagsschlaf nach Hause fahren…“ Er seufzte vernehmlich, „… aber leider muss ich zurück, sonst kriege ich einen Tadel vom Oberbullen.“

„Den wirst du auch bekommen, wenn du pünktlich bist, denn du musst Wegener von diesem Verfolger erzählen. Der wird dich ganz schön zusammenknuffen, weil du ihm das verschwiegen hast!“ Tilla fügte mit süßem Lächeln hinzu: „Wer weiß, vielleicht finde ich mich ja heut Abend bereit, einen verfolgten, zynischen Bullen zu trösten.“

1 Zeichner der japanischen Manga Comics

2 Ehemals Preußische Bergwerks- und Hütten Aktiengesellschaft. Wurde zum Staatsunternehmen Preußische Montanindustrie. Der Rammelsberg war einer der Preussag Standorte.

Kapitel 4

Physik, Mathematik und Theologie —

die drei mächtigsten Zweige der Gelehrsamkeit

welche die Magie umfasst.

Agrippa von Nettesheim

— De Occulta Philosophia, 1. Buch, 2. Kapitel —

Das Wetter war für Februar so erstaunlich mild, dass es Tilla in ihren geliebten Garten trieb. Hochzufrieden betrachtete sie den übermannshohen Berg auf ihrem Parkplatz, bestehend aus hübschen, runden Kieselsteinen in den verschiedensten Graunuancen. Wind blies ihr kräftig ins Gesicht, sodass sie ihre Haare neu zusammenfassen musste, damit ihr nicht dauernd Strähnen ins Gesicht wehten. Sie hatte sich einen Platz im hinteren Teil des Gartens, direkt am Wald, ausgeguckt, den sie geebnet, gejätet und mit einer Unkrautfolie versehen hatte. Dort würde sie ein paar Karren dieses Kieses ausstreuen und den alten schmiedeeisernen Tisch ihrer Mutter mit zwei dazu passenden Stühlen aufstellen. Tisch und Stühle schrien nach einem Anstrich. Als sie die Farbe dafür gekauft hatte, war da diese hübsche, auf antik gemachte Gartenlaterne gewesen, die nun neben dem Farbeimer auf der Treppe stand. Voller Tatendrang griff Tilla nach der Schaufel und stieß sie in den Kies.

Nach einer guten Stunde war ihre Kiesinsel fertig und die Sitzgruppe aufgestellt. Den Anstrich würde auf einen späteren, frostfreien Zeitpunkt verschieben. Gerade wollte sie die Schubkarre wieder in den Schuppen stellen, als ihr drei längliche Gebilde auffielen, die an ihrem Gartenzaun zwischen ihren Rosen lagen. Einige Rosen waren noch mit Tannengrün abgedeckt, bei anderen waren die ausgetrockneten Tannenzweige weggeweht und lagen in einem Laubhaufen an der Schuppenwand, der Tillas Rechen im Herbst zuvor entgangen war. Tilla nahm sich vor, die Rosen noch einmal abzudecken, doch zunächst trat sie neugierig an die seltsamen Steingebilde heran. Es handelte sich um zwei unterschiedlich lange Säulen aus Stein, in einer anderen Lücke zwischen zwei Rosenstrünken befand sich eine weitere Steinrolle. Die runden Gebilde waren völlig glatt an den Seiten und jeweils gut zwölf Zentimeter dick. Die Bruchkanten waren rau. Tilla fuhr mit dem Finger darüber. Ob ihr die Straßenarbeiter die Steine hingelegt hatten? Die Säulen sahen zwar nicht so aus, als erfüllten sie irgendeinen Zweck beim Straßenbau, aber wer sollte sie sonst hier abgelegt haben? Vielleicht war das der Dank für die kurzzeitige Überlassung des Parkplatzes?

„Hübsch“, befand Tilla und stellte eine der Säulen vor sich auf. Kurz entschlossen hievte sie die drei Stelen in ihre Schubkarre. Nach weiteren zwanzig Minuten intensiven Werkelns hatte sie die drei Steingebilde hinter ihrem neuen Sitzplatz soweit in der Erde versenkt, dass sie oben eine ebene Fläche bildeten. Nun stellte Tilla ihre neue Laterne darauf und juchzte vor Begeisterung über ihr hübsches Werk. Hochzufrieden sammelte sie Spaten, Schaufel und Schubkarre ein und verstaute das Werkzeug im Schuppen.

Dann begab sie sich zur Schuppenwand, um nachzusehen, welche Tannenzweige sich noch für die Rosen verwenden ließen. Leider waren sie sehr trocken und damit zu leicht für die scharfen Windböen des Harzes. Sie würde sich wohl im Wald noch einmal frische Tannenzweige holen müssen. Aus dem Haufen vor ihr stakte ihr unversehens eine Papierecke entgegen. Erstaunt zog sie daran, bis ein verdreckter Umschlag zwischen ihrem Daumen und Zeigefinger baumelte. Das Großkuvert war nicht verklebt, die Verschlusslasche an einer Seite eingerissen.

„Was ist das denn?“, murmelte Tilla und untersuchte den Umschlag. Ein einzelnes Blatt ragte halb hervor. Sie versuchte es herauszuziehen, doch der Bogen war mit der gummierten Fläche der Lasche verklebt. Vorsichtig löste sie das Blatt von der Klebefläche. Als sie es umdrehte, erstarrte sie angesichts der Arkadenbögen, die lebhafte Erinnerungen an ihre Jugend auslösten.

„Theban! Das ist die alte Hexenschrift…“ Fassungslos starrte Tilla auf das Papier. Liebster Henricus!, las sie, jedoch mit einiger Mühe, denn es war lange her, seit sie das letzte Mal die Thebanschrift hatte entziffern müssen. Die Zeichen unterschieden sich zudem etwas von den thebanischen Buchstaben, die ihre Mutter sie gelehrt hatte. Es musste sich um die Kopie eines sehr alten Briefes handeln. Er war mit Merghelin unterschrieben. Wer schickte ihr so etwas?

Mühsam löste sich ihr Blick von dem Blatt. Sie drehte die Posttasche um, in der Hoffnung, darauf irgendeinen Hinweis auf den Absender zu finden. In der zerrissenen Ecke stand in manierlichen Druckbuchstaben: ES GRÜSST ERNEST TRISTOS.

„Tristos? Wer im Namen aller Götter ist das?“ Ungeduldig schob sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich wegen des starken Windes aus ihrer Spange gelöst hatte. Nachdenklich befingerte sie die Posttasche.