Materia Prima - Corina C. Klengel - E-Book

Materia Prima E-Book

Corina C. Klengel

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Beschreibung

Nahe Clausthal-Zellerfeld steht eine Köhlerhütte, in der sich einst ein Alchemist verbarg. Mit dem Alchemisten kam eine ebenso grausame wie mysteriöse Krankheit in den Oberharz. Während immer mehr Menschen erkranken und sterben, nehmen der junge Medicus aus Wittenberg, Chuonradius von Bartholdi, und die Harzer Heilerin Agnes den Kampf gegen das Verderben auf. Tatsächlich verschwindet die Seuche. Bartholdi ist davon überzeugt, die sagenumwobene Materia Prima, die Universalmedizin, entdeckt zu haben. Nach fast 500 Jahren ist die Krankheit wieder da. Die moderne Medizin ist zunächst machtlos. Was hat es mit der Goldmünze aus dem 16. Jahrhundert auf sich, die man nahe der Köhlerhütte findet? Ist sie womöglich verflucht? Wieder sind es ein junger Arzt und eine Frau, die sich der Seuche entgegenstellen. Doch der Arzt erkrankt und die junge Frau, eine Nachfahrin von Bartholdi und Agnes, wird als Mörderin gesucht. Wer wird siegen? Die Menschen? Oder die Seuche?

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Inhaltsverzeichnis

Corina C. Klengel

Impressum

Mein Dank geht an

~ KAPITEL 1 ~

~ KAPITEL 2 ~

~ KAPITEL 3 ~

~ KAPITEL 4 ~

~ KAPITEL 5 ~

~ KAPITEL 6 ~

~ KAPITEL 7 ~

~ KAPITEL 8 ~

~ KAPITEL 9 ~

~ KAPITEL 10 ~

~ KAPITEL 11 ~

~ KAPITEL 12 ~

~ KAPITEL 13 ~

~ KAPITEL 14 ~

~ KAPITEL 15 ~

~ KAPITEL 16 ~

~ KAPITEL 17 ~

~ KAPITEL 18 ~

~ KAPITEL 19 ~

~ KAPITEL 20 ~

~ KAPITEL 21 ~

~ KAPITEL 22 ~

~ KAPITEL 23 ~

~ KAPITEL 24 ~

~ KAPITEL 25 ~

~ KAPITEL 26 ~

~ KAPITEL 27 ~

~ KAPITEL 28 ~

~ KAPITEL 29 ~

~ KAPITEL 30 ~

~ KAPITEL 31 ~

~ KAPITEL 32 ~

~ KAPITEL 33 ~

~ KAPITEL 34 ~

~ KAPITEL 35 ~

~ KAPITEL 36 ~

~ KAPITEL 37 ~

~ KAPITEL 38 ~

~ KAPITEL 39 ~

~ KAPITEL 40 ~

~ KAPITEL 41 ~

~ KAPITEL 42 ~

~ KAPITEL 43 ~

~ KAPITEL 44 ~

~ KAPITEL 45 ~

~ KAPITEL 46 ~

~ KAPITEL 47 ~

~ KAPITEL 48 ~

~ KAPITEL 49 ~

~ KAPITEL 50 ~

~ KAPITEL 51 ~

~ KAPITEL 52 ~

~ KAPITEL 53 ~

~ KAPITEL 54 ~

~ KAPITEL 55 ~

~ KAPITEL 56 ~

~ KAPITEL 57 ~

~ KAPITEL 58 ~

~ KAPITEL 59 ~

~ KAPITEL 60 ~

~ KAPITEL 61 ~

~ KAPITEL 62 ~

~ KAPITEL 63 ~

~ KAPITEL 64 ~

~ KAPITEL 65 ~

~ KAPITEL 66 ~

~ KAPITEL 67 ~

~ KAPITEL 68 ~

~ KAPITEL 69 ~

~ KAPITEL 70 ~

~ KAPITEL 71 ~

~ KAPITEL 72 ~

~ KAPITEL 73 ~

~ KAPITEL 74 ~

~ KAPITEL 75 ~

~ KAPITEL 76 ~

~ KAPITEL 77 ~

~ KAPITEL 78 ~

~ KAPITEL 79 ~

~ KAPITEL 80 ~

~ KAPITEL 81 ~

~ KAPITEL 82 ~

~ KAPITEL 83 ~

~ KAPITEL 84 ~

~ KAPITEL 85 ~

~ KAPITEL 86 ~

~ KAPITEL 87 ~

~ KAPITEL 88 ~

~ KAPITEL 89 ~

~ KAPITEL 90 ~

~ KAPITEL 91 ~

~ KAPITEL 92 ~

~ KAPITEL 93 ~

~ KAPITEL 94 ~

~ KAPITEL 95 ~

~ KAPITEL 96 ~

~ KAPITEL 97 ~

~ KAPITEL 98 ~

~ KAPITEL 99 ~

~ KAPITEL 100 ~

~ KAPITEL 101 ~

~ KAPITEL 102 ~

~ KAPITEL 103 ~

~ KAPITEL 104 ~

~ KAPITEL 105 ~

~ KAPITEL 106 ~

~ KAPITEL 107 ~

~ KAPITEL 108 ~

~ KAPITEL 109 ~

~ KAPITEL 110 ~

~ KAPITEL 111 ~

~ KAPITEL 112 ~

~ KAPITEL 113 ~

~ KAPITEL 114 ~

~ KAPITEL 115 ~

~ KAPITEL 116 ~

~ KAPITEL 117 ~

~ KAPITEL 118 ~

~ KAPITEL 119 ~

~ KAPITEL 120 ~

~ KAPITEL 121 ~

~ KAPITEL 122 ~

~ KAPITEL 123 ~

~ KAPITEL 124 ~

~ KAPITEL 125 ~

~ KAPITEL 126 ~

~ Ein Wort zum Schluss ~

~ Über die Autorin ~

Corina C. Klengel

MATERIA PRIMA

Impressum

Materia Prima

ePub-Version 2.0 (01/2018)

ISBN 978-3-943403-76-3

© 2018 Corina C. Klengel

www.ccklengel.de

Lektorat: Sascha Exner

Illustration: Corina C. Klengel

Foto einer Harzer Kote bei Ilsenburg

Herstellung und Verlag:

EPV Elektronik-Praktiker-Verlagsges. mbH

Obertorstr. 33 · 37115 Duderstadt

Fon: +49 5527/84050 · Fax: +49 5527/840521

Mein Dank geht an

Dr. Walter Klengel

und an

Dr. Martin Schareina

Ohne ihr Fachwissen wäre dieser

Roman nie entstanden.

~ KAPITEL 1 ~

Der Geist der Medizin ist leicht zu fassen.

Man studiere die große und die kleine Welt,

um es am Ende gehen zu lassen,

wie es Gott gefällt.

Goethe, Faust

Ein sanfter Windstoß kräuselte die Oberfläche des Waldsees. Der Mann stand zwischen den Tannen oberhalb des kleinen Bergbauteiches und betrachtete versonnen das nahezu schwarz wirkende Wasser. Hohe Bäume hatten jedes verfügbare Plätzchen bis zum Ufer erobert und ließen der Sonne kaum eine Chance. Der Mann kannte die Gegend gut genug, um zu wissen, dass das Wasser auch im Sommer eiskalt und tückisch war, denn es handelte sich nicht um einen natürlichen Waldsee; Menschen hatten vor langer Zeit eine sechs Meter hohe Staumauer aufgetürmt, um den Langebach zu einem Bergbauteich zu stauen. Sein Wasser trieb einst Förderräder von Erzgruben an – zu einer Zeit, als es dem Oberharz noch gut ging.

Dieser Stauteich war so abgelegen, dass sich kaum jemals ein Besucher hierher verirrte. Der Mann wandte sich um und setzte seinen Weg durch den Harzwald fort, der den Menschen seit Tausenden von Jahren so viel Angst machte, dass sich bizarre Sagen um die Gegend rankten.

Das Sonnenlicht, zerrissen durch ein Gewirr dichter Blätter und Tannenzweige, begann in ein warmes Rot überzugehen. Die sich ankündigende Dämmerung störte den Mann nicht, obwohl man sich noch heute hinter vorgehaltener Hand riet, den Harzwald bei Dunkelheit zu meiden.

Mit einem Sprung setzte er über einen Bach. Hier folgte die Natur den Jahreszeiten mit einem wohltuendem, die Jahrhunderte überdauernden Gleichmut. Hier oben, wo die Mondzeiten das Wetter und damit den Stand der Vegetation vorgaben, konnte man noch das Tun der alten Götter spüren.

Der April ging zu Ende. Heute. Es war Walpurgisnacht, das keltische Beltanefest. Die Göttin übergab das Zepter an den Sonnengott. Unwillkürlich spähte der Mann nach Osten. Natürlich konnte man den Brocken von hier nicht sehen, doch es war gut zu wissen, dass er da war.

Seiner sehnigen, schmalen Gestalt war nicht anzusehen, dass er seinen Tag zum großen Teil hinter einem Schreibtisch verbrachte. Der Wald lichtete sich. Die Raunächte des letzten Winters hatten hier eine Schneise der Verwüstung in den Wald geschlagen, doch die Köhlerhütte hatte die winterliche Sturmattacke überstanden. Er suchte sich einen Weg zwischen den umgestürzten Bäumen hindurch. Wie Mikadostangen lagen die Fichtenstämme auf der Ebene verteilt. Zahlreiche Wurzelballen stakten in die Höhe und hinterließen ein Erdloch, dass sofort von dem vorherrschenden Element des Harzes erobert worden war – dem Wasser. Inmitten des Chaos’ ragten zudem runde Felsköpfe aus dem Waldboden. Der Geschichtsforscher erreichte den Pfad, der sich durch vormals stolzen Fichtenwald zog und folgte ihm bergan, bis zu jener Baumgrenze, an der der Wintersturm seine Kraft verloren hatte. Im Schatten betagter Tannen sah er die Kote, deren Bauweise sich seit Jahrhunderten nicht geändert hatte.

Silberfarbene Stämme gruppierten sich im Kreis und lehnten sich oben in einem kleineren Ring aneinander. Einige wenige Stangen überragten die anderen, sie hielten ein rundes Gebilde, das als Schutz gegen Regen über einer Öffnung fungierte. Zwischen den Stämmen und dem runden Dach, das grasbewachsen wie eine Pudelmütze oben auf der Köhlerhütte thronte, war genügend Platz, dass der Rauch eines Feuers im Inneren der einfachen Holzkonstruktion entweichen konnte.

Der Mann trat durch den Vorbau aus schiefen Ständern und einem löchrigen Dach ins Innere der Rundhütte. Ihn überkam urplötzlich der dringende Verlangen seine luxuriöse Wohnung in Göttingen gegen diese Harzer Kote eintauschen zu können. Wenn das nur möglich wäre …

Die Unerfüllbarkeit dieses Wunsches tat regelrecht weh, so verließ er die Hütte wieder und ließ die Ruhe des Ortes auf sich wirken. Mit zunehmender Dunkelheit präsentierte sich der Wald in einer Vielzahl von Schwarznuancen. Warum, so fragte sich der Mann in diesem Moment, malten Maler nicht mehr in Schwarz? Schwarz war in der Natur eine allgegenwärtige und sehr lebendige Farbe. Aber man malte ja auch keine Natur mehr. Es gab ja Fotoapparate. Und sollten die Fotos zu viel Schwarz enthalten, dann hellte man sie auf. Die Menschen hatten Angst vor allem, was schwarz war.

Der Mann sog die Luft ein, schloss die Augen und genoss die Stille. Dieses Waldstück mit der Hütte darauf war etwas ganz Besonderes … leider. Es war als eines der letzten Waldstücke noch in privatem Besitz. Ein idyllisches Kleinod, das über viele Generationen weitergegeben worden war. Doch seine Besitzer ahnten weder etwas von seiner Schönheit, noch von seiner Geschichte oder dem Schatz, den dieses Stück Land barg. Hier war Wulf von Eichen gestorben, hier hatten Agnes und Bartholdi gelebt. Genau hier. Da war er sicher.

Er hatte beide Frauen angerufen. Die eine Schwester hatte ihn an die andere Schwester verwiesen und die wiederum hatte ihn an einen Anwalt weitergereicht. »Die eine ist weltfremd und die andere arrogant. Den Beiden wünschte ich einen Zusammenbruch ihrer komfortablen Welten, sodass sie hierher kommen müssten. Vielleicht würden sie dann begreifen …« Zornig blickte er über die Lichtung, als sein Blick wie magisch vom Mond angezogen wurde. »Vollmond … und das direkt an Beltane«, murmelte er lächelnd. »An einem solchen Tag hören die alten Götter zu, da sollte ich vielleicht mit solchen Wünschen vorsichtig sein!«

Der Wald wirkte unendlich friedlich. Mit zusammengekniffenen Augen blickte er auf den Schatten eines Wurzelballens, vielleicht fünfzehn Meter entfernt. In Schulterhöhe glitzerte etwas. Was war das? Er ging darauf zu, das Glitzern fest im Blick. Als er die Wurzel erreichte, schob sich eine Wolke vor den Mond und das Glitzern verschwand. Ein Windhauch traf ihn und ließ die Äste leise rauschen. Es klang wie ein verhaltenes Lachen. Die Götter des Harzes galten als launisch. Sie narrten ihn gerade.

Unwillig betrachtete er den Wurzelballen. Nichts. Er fuhr vorsichtig mit den Handflächen über das Gewirr aus Erde und Wurzelgeflecht. Er wollte bereits aufgeben, da kehrte das Mondlicht zurück und mit ihm das Glitzern. Direkt zwischen seinen Händen. Er griff zu und fühlte etwas Hartes zwischen den Fingern. Für einen Kiesel war es zu rund. Erdkrümel rieselten ihm durch die Finger, doch das Etwas hielt sich eisern fest. Nun fühlte er die Form. Es war ein Ring. Er hing fest. Vorsichtig zog er an dem Wurzelgeflecht, riss Wurzel um Wurzel durch, bis das Fundstück in seine Hand plumpste. Ungläubig starrte er auf seine Handfläche. Im Mondlicht war nicht zu erkennen, ob es sich um Silber oder Gold handelte. Es war tatsächlich ein Ring mit einem großen ovalen Stein, dessen helle Sprenkel das Mondlicht reflektierten. Ein Dreckklumpen löste sich und bröselte aus der Rundung. Seine Fingerspitze fuhr über das Innere des Ringes und erfühlte zarte Unebenheiten. Eine Inschrift? Er hielt den Ring ins Mondlicht und konnte kaum glauben, was er sah.

~ KAPITEL 2 ~

Wittenberg, anno 3. Juno 1582

Werter Herr von Eichen!

Erlaubt mir, mich Euch nochmaligst aufzudrängen, nachdem ich Eure Zeit jüngst im Schlosse zu Hartesberg bereits über alle Maßen beansprucht. Es waren Eure Worte, jenes uredle Kleinod betreffend, die mir seither nicht mehr aus dem Sinne gehen wollen.

Angesehener Gelehrter der medizinischen Künste bin ich und doch, wie herb schmerzlich ist mein Scheitern. Erfahrene und belobte Baader und Kollegen rühmen das Wissen, welch mir zu eigen und doch, es ist gerade meine geliebte Frau Elisabeth, der ich nicht zu helfen vermag.

Selbstredend weiß auch ich, dass so manches Ungleichgewicht der Säfte, dessen der Körper sein Kranksein verdankt, nicht zu beheben ist. Und es sind eben die Geschwülste – sie beschweren jene göttliche Partie einer Frau, welche Leben in Form von Milch schenken–- die wohl niemand zu heilen vermag. Seit langer Zeit ist auch meine geliebte Elisabeth diesem Ungleichgewicht anheimgefallen. Nun kommen die Schmerzen und ich weiß allzu gut, was meine noch so junge Frau erwartet, sah ich’s doch mannigfaltig bei anderen. Verzweifelt bin ich, denn mich dünkt, das Unabänderliche bedingt sich lediglich durch mein Nichtwissen.

Belehrt im Wesen des trockenen Wassers, im Mercurion und seinen Gegenspieler Sulphur, in den Elementen und Säften des Körpers – und doch bin ich machtlos. Wer bin ich, der ich auf die Materia Prima der Medicin zu hoffen wage? Ist sie mineralisch? Ist sie feuriges Wasser? Ist sie vegetabilisch? Oder ist sie gar doch tierisch? Nichts anderes beschäftigt meinen in tiefer Verzweiflung umherirrenden Geist noch mehr. Ihr ahnt mein Begehr, es ist das sagenumwobene Horn aus jener Höhle, von dem Ihr mir seinerzeit erzähltet. Ich wünscht, ich könnte aufbrechen noch zur Stund und jene Höhle im tiefen Harce nach einem weiteren Kleinod wie das Eure durchpflügen, das Einhorn, aus der die Materia Prima extrahierbar sein soll.

Nun mehr, ich wage meine Bitte kaum zu formulieren, ist sie doch gleichermaßen anmaßend wie ungebührlich und doch tue ich es, wie ich für meine Elisabeth alles tun würde. Würdet Ihr wohl in Erwägung ziehen können, mir dieses unendlich wertvolle Horn zu überlassen? Oder wenigstens ein Fragmentum dessen?

Wertester Herr von Eichen, solltet Ihr euch entschließen, meinem Wunsche zu entsprechen, so setzt Euren Preis fest. Kein Feilschen wird es geben und ich zahle Euch, was Ihr wünscht. Eine Anzahlung liegt meinen Zeilen bei. Behaltet diese auch, wenn eure Antwort eine abschlägige sein soll, denn das Stückchen Hoffnung auf die Erlangung der Materia Prima ist es wert.

In der Hoffnung Eurer baldigen Antwort

verbleibe ich mit vorzüglicher Hochachtung

Chuonradus von Bartholdi

Das schwere, mit gelblichen Schlieren durchsetzte Pergament wurde zur Seite geschoben. Er legte den Ring darauf. Mittlerweile wusste er, der Ring war alt. Sehr alt. Aus Gold, mit einem Almandin in einer Steigbügelfassung, typisch für Schmuck des 16. Jahrhunderts. Natürlich kannte Professor Georg Mertens die historischen Briefe in- und auswendig, doch erst jetzt erwachten die Worte wirklich zum Leben. Er zog sich ein weiteres Blatt heran.

Zella, anno 5. August 1582

Hochwohlgeborener Herr von Bartholdi!

Verzeiht die viel zu lange Schweigsamkeit meinerseits. Wie mürbend muss dies für Euch gewesen sein. Doch es ergab sich ein bedauerliches Missverständnis mit dem verehrten Herzog von Braunschweig-Grubenhagen, welches mich veranlasste, dem Schlosse zu Hartesberg vorerst den Rücken zu kehren. Deshalb erreichte Euer Schreiben mich erst über Umwege. Leider verbreitete ein unseliger Wicht bei dem hoch verehrten Herzog übelste Worte über meine Profession, doch ist bereits ein Freund und Advocatus auf dem Weg, der meinem Rufe beistehen wird. Sicher wird sich diese ärgerliche Scharade alsbald aufklären.

Nun genug der Worte um meine Person, die Ihr künftig erreichet bei einer Verwandten droben im hohen Harce in Zella. Es bot sich anzutreten einen lang fälligen Besuch bei der Dame Agnes von Kettwig am Rande des Grubenhagener Territoriums. Die dortige kleine Bergbaugemeinschaft bat mich als Gelehrten der Metallurgie um Rat, einem Ersuchen, dem nachzukommen mir in mehrfacher Hinsicht pässlich war.

Gar arg schüttelte mich das Mitgefühl mit Euch und Eurer Gemahlin Schicksal, als ich Euren Zeilen folgte. Auch ich sah eine liebe Base durch jene teuflischen Bruststeine dahingehen. Umso mehr fühle ich mich geschmeichelt, dass ein Geist von so profundem Wissen wie der Eure mir, einem bescheidenen Gelehrten der Alchemie, Gehör schenkte und mehr noch, dass diese meine plappernden Worte Euch, hochverehrter Bartholdi, so nachhaltig erreichten. Umso mehr, da ich heute erfahre, mit welcher Last dieser, Euer Geist beschwert ward. Doch lasst mich in medias res gehen zum Einhorn, denn mir scheint, Euch ist Eile geboten.

Seit ich das Kleinod des gehörnten Pferdes in jener Höhle im westlichen Harce Schwärze und Stein entreißen konnt, frage ich mich, welche Menschen es wert seien, dass seine Kraft ihnen helfe. Mich dünkt, Euer Schreiben gab mir einen göttlichen Wink. Es soll für Eure wunderbare Gattin Elisabeth sein. Und mehr noch, es soll Eurer in seiner Ganzheit sein. Denn wer bin ich, jene Gerechten zu finden, die der heilenden Kraft des Einhorns bedürfen? Dazu bedarf es eines so gut beleumundeten Medicus, wie Ihr es seid. So sollt Ihr und die Universitas zu Wittenberg über das Exilier des Lebens, gewonnen aus dem Einhorn des Harces, verfügen, käme doch so Gnade und Bedürftigkeit auf das Trefflichste zusammen.

Da ich bei Euch wohl kein Laboratorium meiner Ausführlichkeit vorfinde und ich mich zudem ein wenig ziere, mit einem Artefaktum, das anderen Orts mit Gold aufgewogen wird, durch die Lande zu ziehen, schlage ich vor, Ihr bemüht euch zu mir in den hohen Harce. Es bedarf der zehn alchemistischen Stufen genaustem und sorgfältigem Werkens, um aus dem Horne die Panaecee, jene sagenumwobene Einhornmilch zu gewinnen, die als Universalmedizin und Materia Prima jedwedes Ungemach heilt.

Selbstredend wird es mir eine Ehre sein, Euch in die Geheimnisse der Calcination, Solution und Putrefaction einzuführen, ein Gebiet, welches nur sorgsam geprüften Adepten zu vermitteln erlaubt ist. Da Euer Ruf außer Frage steht, will ich Euch unterweisen, auf das hernach Eurer wunderbaren Gemahlin geholfen werden kann.

In vorzüglicher Hochachtung

Wolf von Eichen

Die Schrift des nächsten Bogens war klein, so klein, dass er sich niederbeugen musste, um sie zu lesen. Papier war seinerzeit wertvoll. Dementsprechend nutzte die Verfasserin, die nicht über den Reichtum der anderen Schreiber verfügte, diesen Schatz äußerst redlich.

HERR,

warum nur muss es immer die besten unter den Menschen treffen? Allmächtiger, wenn es dich gibt, warum nur prüfst du einen so guten Menschen wie Bartholdi mit solcher Härte?

Es ist der heilige Monat und um mich herum ist nur Elend und Sterben. Sie sterben so schnell. Ich kann ihnen kaum die Hand streichen, geschweige ihnen helfen. Die Menschen hier oben sind einfache, hart arbeitende Gemüter. Für große Sünden fehlt es ihnen an Muße und Gelegenheit. Warum löscht du sie so gnadenlos aus? Und warum verschonst du ausgerechnet mich, ein ungehorsames Weib, das seinen Ehemann verließ und Unrecht auf sich lud?

Ach Bartholdi, wie glücklich war er, als wir das Versteck des Einhornes enträtselten. Er war sicher gewesen, seine Elisabeth nunmehr retten zu können. Auch wenn mich ein Quäntchen sündiger Neid erfasste, als ich ihn mit so unsagbar liebevollen Worten von seiner Frau erzählen hörte, so rührte mich doch seine aufrechte Liebe zu ihr zutiefst. Er ist ein wirklich guter Mensch, der sich vor Kummer verzehrt und dem Tode näher ist als dem Leben.

Nun liegt er seit über einer Woche siechend auf seiner Bettstatt, den Brief, der vom Ableben seiner Elisabeth berichtet und den Ring seiner Frau in den Händen. Kaum jemand vermag zu ihm hindurch zu dringen. Dabei braucht es Bartholdis gelehrten Geist mehr denn je.

Wenn jemand das gewaltige Sterben aufhalten kann, dann er. Doch wünscht seine Seele sich ebenfalls in lebensferne Gefilde, um Elisabeth nahe zu sein. Ich muss sündigen, um seine Seele zurück ins Leben und in seinen irdischen Körper zu zwingen.

Ich muss ihn wenn nötig mit Schmerzen ins Leben zurückholen. Obwohl er doch ein Recht auf seine Trauer hat, muss ich sie ihm nehmen, denn sie ist dabei, ihn zu vernichten.

Seine Frau ward dir, Herr, bereits gegeben. Erde zu Erde. Bartholdi, der nicht bei ihr war, fehlt der so unendlich wichtige Schritt des Loslassens. Ich muss ihn dazu bringen, den Ring an ihrer statt der Erde anheim zu geben, anderenfalls wird er seiner Frau alsbald folgen.

Ohne ihn und sein Wissen sind die Menschen hier verloren.

Herr, gib mir Kraft.

Agnes Kettwig

Harvest 1582

Mertens lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Abermals griff er nach dem Ring, den er im Harzer Mondlicht fand. Noch immer schien es ihm geradezu unwirklich, dass es der Beltane-Mond war, der ihm den Ring zeigte. Immer wieder glitt sein Finger über die Gravur. Elisabeth stand dort. Er umschloss den Ring mit der Linken, während er sich das nächste Blatt heranzog.

Decembris 1583

Es war niemand reiner als meine geliebte Elisabeth und doch hast du sie nicht verschont. Alles gab ich für sie, alles was ich besaß. Natürlich weiß auch ich, dass eine Seele wie die ihre mit Gold nicht aufgewogen werden kann. Nun muss ich deinen Willen akzeptieren, oh Herr. Doch was hat deinen Willen geleitet? War ich es? War meine Hoffnung, die sich mit der Materia Prima verband, so verwerflich, dass du all die guten Menschen hier strafst? Wolf von Eichen mag ein Tunichtgut gewesen sein, doch war seine Seele nicht von solcher Schlechtigkeit, die sein Ableben rechtfertigt.

Aber wer bin ich, dass ich deinen Willen in Frage stelle. Eine Sünde, der ich immer wieder anheimfalle. Und doch verschonst du mich. Mehr noch, du schenktest mir ein zweites Lebensglück. Zerrissen bin ich zwischen meinen Gefühlen für diese Frau und dem Wissen, ein solches Glück nicht verdient zu haben.

Nun sitze ich hier in Zella, fern dem Grab meiner Elisabeth, und zermartere mir den Kopf, wie ich den wackeren Menschen hier helfen kann, denn dein Zorn und mit ihm die schreckliche Seuche kehrt zurück.

Ich weiß nicht einmal, warum sich die Seuche nach einem Jahr des herben Wütens so plötzlich verflüchtigte. Nun starre ich hilflos in den Schnee, der in diesem Winter so üppig fiel, wo er doch im letzten zur Gänze wegblieb, und überdenke meine Möglichkeiten. Die wenige Medizin, die wir haben, hat Agnes der Natur entnommen. Doch sie vermag nur zu lindern. Das einzige, was ich an Hilfsmitteln habe, ist das Laboratorium und das Einhorn. Zwar bin ich ein Medicus, doch fehlt mir das Wissen des Alchemisten Wulf von Eichen, um aus dem Horn die Universalmedicin zu präparieren.

Nicht einmal bezahlen konnte ich den Alchemisten. Ein Berg goldener Sovereigns, die Mitgift meiner Frau, und der Ring meiner Ehe, der aus dreien davon gefertigt, liegen vor mir. Der goldene Seelenstein, den ich einst am Fuße des Harzes fand und auf dem Eheringe fassen ließ, scheint mich nun zu verhöhnen.

Du schufst den Himmel und die Erde …

Mich dünkt, ich sollte den Reichtum über die Erde an dich zurückgeben, bekäme ich dafür Hilfe für die guten Menschen hier.

Chuonradus von Bartholdi

Das letzte der Dokumente, ein amtliches Dokument aus dem Jahre 1586, das er nur in Kopie besaß, hatte er wie alle anderen so oft gelesen, dass er jedes Wort auswendig kannte. Der Inhalt dieser alten Urkunde war ein Fluch für ihn. Es handelte sich um eine Besitzurkunde mit ungewöhnlich weitreichenden Rechten an jenem Grundstück, auf dem er den Ring gefunden hatte. Der damalige Fürst war so weit gegangen, sogar auf sein Schatzregal zu verzichten. Mertens hatte es kaum glauben können, als ihm ein befreundeter Jurist bestätigte, dass die Rechte aus diesem Dokument noch immer bestanden. Hätte er den Ring nur ein paar hundert Meter weiter gefunden, dann würde er dem Land Niedersachsen gehören und er als Professor für historische Landesforschung in Göttingen hätte ihn auswerten und hernach in einem Museum ausstellen können. Doch auf dieser Parzelle galt die Vormachtstellung des Staats nicht. Das Recht dieses Waldes war ein Relikt des ausgehenden Mittelalters. Er konnte nur hoffen, dass sein Freund, der Jurist, Glück hatte und zu den Eigentümerinnen durchdrang. Wenn sie die Genehmigung verweigerten, würde er den Ring an sie übergeben. Das gebot sein unumstößliches Moralgefühl.

Nach einem kurzen Klopfen flog die Tür zu seinem Büro auf und sein Ärger vergrößerte sich abermals. Sein Assistent war fraglos fähig … doch er konnte den Mann einfach nicht ausstehen.

~ KAPITEL 3 ~

Isa reckte sich und hangelte nach dem Schneebesen. Es polterte. Sie war gegen ein Rührgefäß gestoßen, das mit Getöse ins Spülbecken krachte und dabei seinen buttrigen Inhalt unter anderem über ihre Bluse und Hose verteilte. Innerlich fluchend griff sie nach dem Telefon, das sie zwischen Schulter und Wange festgeklemmt hatte. Sie warf einen hektischen Blick zur Küchentür hinaus. Wo waren Anna und Christian? Unwillig widmete sie sich wieder ihrem Gesprächspartner.

»Hören Sie, ich möchte wirklich nicht unhöflich sein, aber derartige Entscheidungen fälle ich nicht so auf die Schnelle und schon gar nicht Freitagabend um acht Uhr. Es wäre mir lieber, wenn Sie sich an meinen Anwalt wenden würden …« Notdürftig versuchte Isa das Chaos in ihrer Küche zu beseitigen. »Wen? Ich kennen keinen Mertens und nein, ich möchte ihn nicht anrufen … wenden Sie sich an Herrn Dr. Ehlers …« Es fiel Isa zunehmend schwer, höflich zu bleiben. Verdammt! Sie hatte sich auf einen ruhigen Abend gefreut. Dann hatte ihre Schwester urplötzlich vor der Tür gestanden und Christians Blick, als er Anna sah, hatte Bände gesprochen. Wieder linste Isa durch die offene Tür. Wo zum Henker waren die beiden abgeblieben? Die salbungsvolle Stimme an ihrem Ohr machte sie wahnsinnig. »Nein, es reicht jetzt! Ich möchte mich weder mit Ihnen, noch mit Ihrem Freund über den Wald unterhalten. Wenden Sie sich an meinen Anwalt Dr. Ehlers. Und nun muss ich das Gespräch beenden. Tut mir leid.«

Sie unterbrach die Verbindung, legte das Gerät zur Seite und betrat das Wohnzimmer, wo ihr Christian mit versteinerten Gesichtszügen entgegenkam.

»Was ist? Wo ist Anna?« Isa wollte schon in den Flur, wo sie Anna vermutete, doch Christian griff nach ihren Armen und drehte sie zu sich herum.

»Sie ist weg.«

»W… weg? Wieso?«

Er ließ ein Seufzen hören und strich ihr über die Wange.

»Schatz, reg dich bitte nicht auf, aber ich muss dir sagen, deine Schwester hat sich einfach unmöglich aufgeführt.«

Seine Nähe ließ ihre Mitte kribbeln, doch im Moment hätte sie sich gewünscht, sich bewegen zu können. Sie wollte Anna nachlaufen.

»Aber was ist denn passiert?«

Er zog sie an sich. Isa konnte seinen Ärger deutlich spüren. Seine Umarmung war eine Nuance zu fest.

»Kaum warst du in der Küche, hat sie versucht mich anzumachen.«

Isa verblüffte nicht nur die Information selbst, sondern auch seine rüde Wortwahl. »Sie … sie hat was?«

»Deine Schwester hat irgendein Problem mit Männern, oder?«

Sprachlos sah Isa in seine eisblauen Augen und dachte an Annas Streit mit Stefan, der Grund, warum sie zu ihr gekommen war. Schwelende Eifersucht erfasste sie.

~ KAPITEL 4 ~

Mertens antwortete seinem aufgebrachten Assistenten in ruhigem Ton. »Sie kennen doch die rechtliche Situation. Der Waldeigentümer springt nicht an. Ich muss den Ring zurückgeben.«

»Dann lassen Sie mich mit dem Eigentümer reden! Wer ist es?«

Mertens schüttelte den Kopf. »Ich kann nur mit diesem Anwalt verhandeln. Und der lässt sich auf gar nichts ein.«

»Scheiße!« Mertens Kollege tigerte sichtlich aufgebracht hin und her, um sich dann mit einer heftigen Bewegung umzudrehen. »Weiß der Eigentümer von dem Ring?«

»Nein, bisher nicht, aber …«

»Und wenn Sie den Ring nicht auf der Parzelle, sondern in diesem Stollen gefunden hätten, von dem ich Ihnen erzählte?«

Mertens stierte seinen Assistenten schulmeisterlich an. »Was soll das nützen? Der Ring ist doch nur ein Hinweis. Wir suchen das Gold, das sich dort befindet, wo der Ring war. Wenn es das Gold wirklich gibt, befindet es sich auf der Parzelle. Und da dürfen wir nicht graben.«

»Professor«, begann er noch einmal in drängendem Ton. »Der Entwässerungsstollen liegt doch zum größten Teil auf dem Gebiet der Staatsforst, ein kleiner Teil zieht sich aber in den Bereich der Waldparzelle. Wir könnten auch mit dem Gold tricksen. Im Moment sieht es da durch den Sturmschaden so chaotisch aus … wer weiß schon, was eine Grabungsstelle oder ein Wurzelloch ist. Wenn wir etwas finden, dann stammt es halt aus dem Stollen! Ich beschwöre Sie, sagen Sie, sie hätten den Ring im Stollen gefunden. Mit dem Ring bekämen wir eine Grabungslizenz und die nötigen Mittel. Denken Sie an das Gold … es zu finden wäre eine Sensation!«

Das wäre es fraglos. Bartholdis Gold. Mertens Blick fiel auf den Ring. Wider besseres Wissen ließ er sich die Worte seines Assistenten durch den Kopf gehen. Sie kamen aber auch gar zu verführerisch daher.

»Eine Sensation, die diesem Institut und vor allem Ihrer Karriere gut anstehen würde. Sehen Sie sich den Stollen doch wenigstens mal an.«

Die lockenden Worte erreichten Mertens. Er könnte die restliche Zeit bis zu seiner Emeritierung damit verbringen, ein Buch über das Gold des Bartholdi zu schreiben … Nein! Es war einfach nicht recht.

»Ich kann ein Fundstück nicht mit einem falschen Fundort deklarieren. Das würde allem entgegenstehen, was ich bin und an was ich glaube. Aber ich werde gleich morgen in den Harz aufbrechen und mir den Stollen mal ansehen. Danach gebe ich den Ring zurück. Sie haben die GPS-Daten dieses Stollens?«

»Ja, natürlich.« Sein Assistent übergab ihm die Koordinaten. Das Lächeln seines Assistenten erinnerte ihn an eine Bartagame beim Anblick einer leckeren Schabe.

~ KAPITEL 5 ~

Mertens Nacken juckte. Er rieb sich das Genick, obwohl er wusste, dass nicht die Haut das Problem war. Vor einigen Jahren hatte er eine Gürtelrose gehabt. Es war genau dieser Nervenstrang, der sich immer dann schmerzhaft meldete, wenn er in Stress geriet. Einen uralten, vergessenen Stollen zu untersuchen, war nicht ungefährlich. Hinter ihm im Wald knackte ein Ast. Mertens sah sich um, konnte aber nichts entdecken. Warum fühlte er sich heute so unwohl? Normalerweise liebte er es, durch die Harzwälder zu streifen.

Seine Hand ruhte auf seiner Jacke. Der Ring befand sich in der Innentasche. Er hatte es nicht gewagt, das wertvolle Kleinod im Safe des Hotels zu lassen, was ihm sein Assistent so dringend geraten hatte. Missmutig gestand er sich ein, dass sein Assistent gute Arbeit geleistet hatte. Der Mann hatte die Gegend mithilfe von Kartierungen alter Schürfstellen durchstreift und tatsächlich diesen Entwässerungstollen gefunden. Möglicherweise gehörte er ja sogar zu der alten Schürfstelle auf der Waldparzelle. Dass mit dem Waldbesitz auch die Rechte an einer Schürfstelle verbunden waren, wunderte ihn nicht. Schließlich sollte der Besitzer dieses Waldes in ganz besonderer Weise begünstigt werden.

Vor ihm tauchte ein Hang aus losem Geröll auf. Mertens musste sich darauf konzentrieren, wo er seinen Fuß hinsetzte. Endlich erreichte er das schmale Plateau. War er der Waldparzelle wirklich so nah? Er sah sich um. Verkrüppelte Birken hielten sich wacker in schmalen Steinritzen fest. Die Steine rings um die dunkle Öffnung herum waren derart von Moos überzogen, dass der steinerne Schlund für den unbedarften Besucher auch eine natürliche Höhle hätte sein können. Vor dem Eingang drängten sich Brennnesseln. Das dünne Rinnsal, das aus dem alten Stollen quoll, netzte die Pflanzen, deren dunkel verfärbte, zum Teil eingerollte Blätter zeigten, dass das Stollenwasser nicht nur Gutes beinhaltete.

Das Jucken verstärkte sich. Der nicht mehr genutzte, nur etwa hüfthohe Entwässerungsstollen wirkte alles andere als vertrauenerweckend. Rostige Fragmente wiesen darauf hin, dass der Stolleneingang einst mit einem, der im Harz üblichen Schutzgitter versehen war. Allerdings war das Gitter nirgends zu sehen.

Er zog eine kleine, aber starke LED-Taschenlampe hervor und bückte sich unter dem steinernen Eingangsgewölbe hindurch. Gerade als die Dunkelheit des Stollens ihn aufgenommen hatte, hörte er das Klackern von Steinen. Er sah sich um. Doch da er vor dem Stollen nichts entdecken konnte, begann er tiefer hineinzukriechen. Es wurde dunkel und kalt. Die feuchte Luft roch mineralisch. Unbehauene Steinbrocken tauchten vor ihm auf. Er warf einen prüfenden Blick auf das Deckengewölbe. Im Schein seiner Taschenlampe sah er an einigen Stellen dunkle Löcher klaffen. Gleich darauf wurde es wieder ein paar Grad kälter. Vorsichtig quetschte er sich über einen Wall aus Steinbrocken, die aus Wänden und Decke gefallen waren.

Kalter Modergeruch kündigte einen Vertikalstollen an. Der Wasserlösungsstollen war nicht so lang, wie sein Assistent angegeben hatte. Reichte er wirklich bis zur Waldparzelle? Er bezweifelte es. Vorsichtig näherte er sich dem in die Tiefe führenden Stollen. Seine Sinne waren so geschärft, dass er jedes Steinchen mit solcher Klarheit sah, als betrachte er es durch ein Mikroskop. Er rutschte auf den Schacht zu. Erst hatte er die dumpfen Schläge gar nicht richtig wahrgenommen, doch nun drehte er sich verwundert um.

Pock, Pock, Pock …

Ein bedrohliches Rumpeln, als würde jemand mit aller Kraft gegen die Stempel hämmern, die den Stollen sicherten, ließ ihn erstarren. Er spürte das Beben des maroden Stollens unter seinen Knien. Die Erkenntnis der nahenden Katastrophe traf ihn schnell und hart. Das war das Ende … sein Ende. Sein Herz begann wie ein Dampfhammer zu arbeiten und der Angstschweiß brach ihm aus. So schnell er konnte stolperte er Richtung Stolleneingang zurück, wissend, dass er es nicht mehr schaffen würde. Während er sich das Schienbein schmerzhaft an einem Felsbrocken stieß, brannte ihm nur eine Frage hinter der Stirn: Warum?

Das Beben verstärkte sich, kam näher. Ohrenbetäubender Lärm umgab ihn. Er hörte Holz bersten und Steine fallen. Staub nahm ihm jegliche Sicht. Er drückte sich Schutz suchend an die Stollenwand. Neben ihm nahm er eine Einbuchtung im Stollen wahr. Erstaunt erkannte er, dass sie aus Lehm und nicht aus Stein bestand. In wirrer Panik begann er sich seitlich in den Lehm zu graben, um den herabfallenden Steinbrocken zu entkommen. Endlich ließ das Getöse nach. Panik erfüllte ihn, als er feststellte, dass er sich in einem engen Zwischenraum befand. Die Hand mit der Taschenlampe steckte fest, die andere krallte sich in seine Jackentasche. Mühsam zog er den Ring aus der Tasche und stülpte ihn über seinen kleinen Finger. Während eine neue Salve kleinere und größere Steine neben ihm herniederprasselte, hörte er sich selbst hysterisch lachen.

~ KAPITEL 6 ~

Polizeikommissar Hans Schönert zog den schweißgetränkten Kragen seiner Uniform auseinander. Dass es draußen über dreißig Grad warm war, war für ihn kein Grund, sich nicht mit einem frischen Becher heißem Kaffee einzudecken, den er nun in sein Büro in der Oberharzer Dienststelle trug. Das Fenster stand weit offen. Genüsslich schlürfte er den ersten, zu heißen Schluck des schwarzen Gebräus und sah zufrieden aus dem Fenster in den angrenzenden Wald. Die Hitze ließ den Asphalt des Parkplatzes flirren. Grillen zirpten. Es duftete nach Heu. Er liebte den Harz. Gerade als er seinen Becher erneut anhob, klingelte das Telefon. Schönert stellte seinen Becher ab und nahm den Hörer ab. Für einen Moment klärte sich seine Miene auf.

»Hallo Herr Wegener! Was kann ich für Sie tun?«

Er schätzte den immer freundlichen Kollegen aus der Goslarer Polizeiinspektion, doch dann wurde sein Blick leicht verdrießlich.

»Ein Professor? Hier oben? Aber hier verschwindet doch keiner einfach so.« Diese Aussage war mehr Hoffnung als Fakt, denn im Sommer mehrten sich regelmäßig Vermisstenanzeigen im Harz. Obwohl der alte Harzgau nur hundert Kilometer lang und rund fünfzig Kilometer breit war, verliefen sich immer wieder Touristen auf dem Sattel des Mittelgebirges, das deswegen oft als tückisch und düster verunglimpft wurde. Für jemanden wie Hans Schönert, der seine Freizeit regelmäßig in der Natur des Harzes verbrachte, war es kaum vorstellbar, dass man sich hier verirren und zu Tode kommen konnte. Doch auch wenn er die Natur liebte, bei diesen Temperaturen mit einer Hundertschaft im Wald herumzustreifen, um einen idiotischen Professor zu suchen, nervte ihn ungemein. Seufzend zog sich Schönert einen Bogen Papier heran und schnappte sich einen Kugelschreiber.

»So, dann legen Sie mal los. Wann und wo wurde der Mann zuletzt gesehen und von wem?«

Die Antwort veranlasste Schönert, den Kugelschreiber wieder fallen zu lassen.

»Was? Das ist ja Wochen her ... Und wie kommen die darauf, dass der Mann doch noch hier oben war, obwohl alle Welt dachte, er sei zurück nach Göttingen gefahren?«

Mit missmutigem Gesicht, nahm er den Kugelschreiber wieder in die Hand und hörte dem Kollegen aus Goslar aufmerksam zu. Das jungfräuliche weiße Blatt vor ihm blieb weiß, obwohl die Kugelschreiberspitze in erwartungsvollen kleinen Kreisen darüber schwebte. Seufzend legte er den Kuli endgültig weg, erhob sich und bewegte sich auf die Bürowand zu, soweit das wild geringelte Hörerkabel des altmodischen Telefons es zuließ. Unwillig warf er einen Blick auf die vergilbte Umgebungskarte, deren Rand mit Produkten warb, die es bereits seit zwei Jahrzehnten nicht mehr gab.

»Ja, ich erinnere mich, dass es da so einen Stollen gab … verdammt, das ist mitten im Wald.« Nach einem weiteren herzhaften Seufzer antwortete er: »Ja gut, aber bevor ich die Suchmannschaft anrücken lasse, fahre ich erstmal selbst hin und schaue mich um. Doch selbst wenn er dort war, ob man nach dieser Zeit noch eine Spur findet, bezweifele ich ...«

~ KAPITEL 7 ~

Der Himmel hatte die Farbe von angelaufenem Zinn angenommen, dennoch war es unsagbar warm. Der bärtige Mann mied den fragenden Blick von Schönert und stokelte stattdessen mit einer Stange in dem aufgeworfenen Boden herum. Das Ganze wirkte eher hilflos als professionell. Dessen ungeachtet übte sich Hans Schönert in Geduld. Leidlich interessiert beobachtete er zwei weitere Männer und eine Frau, die über eine schmale, erdgefüllte Spalte zwischen den Felsen herunter kletterten. Sie wechselten ein paar Worte mit dem Bärtigen. Alle drei bedachten Schönert mit scheelen Blicken. Das konnte nichts Gutes bedeuteten, dachte Schönert. Eigentlich brauchte Schönert all diese Doktoren und sonstigen klugen Leute hier nicht, um festzustellen, dass der Vermisste vermisst blieb. Der alte Stollen war eingestürzt. Basta. Wenn der Kerl da drin gewesen war, würde er dort auch bleiben. Wieso krabbelten diese verdammten Touristen in jedes offene Erdloch, das sie fanden? Im Alltag schnallten sie sich ordentlich im Auto an, bappten sich eine Unzahl von Rauchmeldern an die Zimmerdecken, setzten brav ihre albernen Fahrradhelme auf und schlossen ihre Haustüren sogar ab, wenn sie nur zur Mülltonne gingen. All dieses Sicherheitsdenken schien sich in Luft aufzulösen, sobald diese Leute ihren Urlaub antraten. Dann machten sie plötzlich Bungee-Jumping und robbten in einsturzgefährdeten, uralten Stollen herum.

»Von einem Touristen mit Professorentitel sollte man doch eigentlich mehr Intelligenz erwarten können«, brummte Schönert in sich hinein und stellte fest, dass er Touristen nie verstehen würde.

Der Bärtige löste sich aus der Gruppe. Schönert fiel auf, dass der Mann mit seiner Gesichtsbehaarung gut beraten war.

»Mann, dieses Pferdegesicht schlägt glatt diesen hässlichen Gaul von der kleinen Baader in die Flucht ...«, murmelte der Kommissar, um dem Bärtigen sodann einen Ausdruck geballter Aufmerksamkeit und Wertschätzung zu präsentieren.

»Tja, also ... äh ... meine Kollegen und ich sind uns sicher, dass der Stollen eingestürzt ist.«

»Wirklich?« Schönert bemühte sich redlich, einen sich anbahnenden Lachreiz zu unterdrücken, den die aufwändige Feststellung des Offensichtlichen bei ihm auslöste.

Der Bärtige schien zu begreifen, wie dümmlich seine Worte daherkamen und fügte mit strengem Blick und einer Geste, die aussah, als streue er eine Prise Salz in die Welt, hinzu: »Also ich meine: nach-hal-tig eingestürzt.«

»Nachhaltig?«

»Ja ... auf der gesamten Länge des Ganges, der eben verläuft. Nach einigen Metern stößt dieser Gang ja auf den senkrecht verlaufenden Hauptschacht, den man nach der Stilllegung verfüllt hatte. Meine Kollegen fanden oberhalb des Stollens im vermuteten Verlauf desselben mehrere Bodenvertiefungen, die darauf hindeuten, dass es wohl eine Art Kettenreaktion im Inneren des Stollens gegeben hat. Anpfähle und Grubenstempel sind sicher längst morsch gewesen, da reicht manchmal eine kleine Erschütterung und der erste Stempel bricht, dann der nächste und der nächste ... Wie ich meine, ein nicht ungewöhnliches Ereignis, bedenkt man, wie lange dieser Stollen schon nicht mehr gepflegt wurde. Wenn Sie mich fragen, ist es ein schieres Wunder, dass es diesen Stollen überhaupt noch gab. Er hätte schon vor hundert Jahren einstürzen müssen. Ein Wahnsinn, so einen Stollen zu betreten. War das Stollenmundloch denn nicht gesichert?«

Schönert wusste, dass er diese unangenehme Frage noch häufiger zu hören bekommen würde.

»Selbstverständlich war der Stollen mit einem Gitter und einem Schloss gesichert … wie alle Stolleneingänge hier im Harz. Das Gitter muss irgendwo dort unter den Geröllmassen liegen. Aber gegen einen Bolzenschneider hat ein Schloss nun einmal keine Chance.«

Befriedigt sah Schönert, der sich keineswegs sicher war, ob man auch diesen völlig vergessenen Stollen gesichert hatte, dass ihm der Bärtige eifrig nickend beipflichtete.

Höflich fragte der Kommissar: »Wäre es möglich, den Stollen noch einmal zu öffnen?«

»Öffnen?«, echote der Bärtige mit ungläubiger Fassungslosigkeit.

»Nun ja, wir müssten nach der Leiche suchen.«

Die Antwort des Bärtigen geriet regelrecht hektisch. »Ich würde dringend davon abraten, auch wenn es für die Hinterbliebenen bitter ist. Ich gehe davon aus, dass die Firste und die Stöße eingebrochen sind. Es ist nahezu unmöglich, den Stollen so zu fixieren, dass Suchmannschaften nicht ebenso verschüttet werden. Sehr aufwendig wäre es überdies. Vielleicht im Winter, bei Frost ...«

»Verstehe.«

Schönert überlegte, was er als Nächstes unternehmen konnte. Sein Blick glitt über den schroffen, grauen Hang unterhalb der kleinen Ebene, wo er am Tag zuvor das Leder gebundene Notizbuch mit einem Füller in der Lasche unter einem Berg von alten Backsteinen gefunden hatte. Die arg verschrammte, fleckige Lederhülle des Notizbuches wies, ebenso wie der Füllfederhalter, Initialen auf, die zur Identität des Vermissten passten. Die Edelkladde beinhaltete einige Eintragungen, die ganz offenbar zu dem Archäologen passten. Leider gaben sie keinen Hinweis darauf, was der Professor hier gesucht haben mochte. Schönert hatte den Wagen des Vermissten auf einem der Touristenparkplätze in der Nähe entdeckt. Jemand hatte eine der hinteren Scheiben eingeschlagen. Kein Wunder, wenn das Auto dort schon seit Wochen stand.

Somit erlebte dieser Ort, der sich mangels Gefälligkeit normalerweise keiner Besuche durch Touristen und Wanderer erfreute, eine ungewöhnliche Betriebsamkeit. Warum, fragte sich Schönert einmal mehr, schleppt jemand so ein teures, ledergebundenes Notizbuch mit sich herum, wenn er doch in einem Stollen herumkriechen will? Und warum hatte er die Utensilien am Stolleneingang liegen lassen und nicht im Wagen? Komisch.

Plötzlich ließ ein Rumpeln das Grüppchen von Geologen vor dem eingestürzten Stollen auseinanderspritzen. Mehrere ansehnliche Gesteinsbrocken polterten mit Getöse über den Rand des schmalen Plateaus hinweg nach unten.

»Ist jemand verletzt?«, fragte Schönert in die Runde, die ihm mit blassen Gesichtern und einhelligem Kopfschütteln antwortete. »Gut. Wir brechen das hier vorerst ab!«, bestimmte er in festem Ton.

Goslarsche Zeitung:

Vermisster Tourist vermutlich tot

Wie das Polizeikommissariat Oberharz mitteilte, ist der seit Wochen vermisste Geschichtsforscher vermutlich tot. Zwar konnte die Leiche des 54-jährigen bis heute nicht gefunden werden, doch identifizierte ein Mitarbeiter des Professors aus Göttingen die von den suchenden Beamten gefundenen Utensilien eindeutig als die des Vermissten. Das Verschwinden des Geschichtsforschers, von dem man nicht genau weiß, ob er sich zu beruflichen Zwecken oder privat in den Wäldern um Clausthal-Zellerfeld aufhielt, bleibt mysteriös und mehrt die traurige Bilanz von Harzbesuchern, die in den letzten Jahren den Tod fanden, weil sie sich verirrten und die zuweilen gefährliche Natur des Harzes unterschätzten.

Bürgermeister Kollmann wies jegliche Vorwürfe energisch von sich, die darauf zielten, dass man längst an einem besseren Sicherheitskonzept für Touristen hätte arbeiten müssen. »Wir können nur immer wieder auf die Gefahren hinweisen, die die Natur mit sich bringt. Hier im Oberharz haben wir hervorragend ausgebildete Ranger, die aber nicht überall sein können. In Clausthal-Zellerfeld gibt es eines von neun gut ausgestatteten Bergrettungsteams, es gibt Warnschilder und es gibt eine Menge guter Broschüren. Aber wir können doch nicht die einzigartige Natur des Harzes vergewaltigen, nur weil sich einige nicht an die Regeln halten und alle Warnungen in den Wind schlagen. Für all diejenigen, die vernünftig sind, ist der Harz sicher genug!«

~ KAPITEL 8 ~

Isa querte mit schnellen Schritten den Marktplatz von Göttingen. Ein kleiner weißer Bügel übertrug die Stimme ihrer Schwester von ihrem iPhone in ihr Ohr.

»Was?« Isa blieb stehen und fasste an ihr Headset, als könne das Gerät etwas dafür, dass es ihr so eine ungeheuerliche Nachricht ins Ohr spülte.

»Du warst ja wie immer beschäftigt und hast ewig mit deinem Anwalt gequatscht«, hörte sie ihre Schwester Anna schimpfen, »dein Scheiß-Christian hat die Situation genutzt und mich in den Flur gezerrt, wo er mich förmlich an die Wand genagelt hat. Gott Isa, ich hatte noch nie eine solche Scheißangst vor jemandem. Er hat mich zur Sau gemacht, weil ich unangemeldet aufgekreuzt bin. Er sagte mir wörtlich, ich solle gefälligst wieder verschwinden!«

»Ach ja? Komisch, Christian hat mir aber etwas ganz anderes erzählt!«

»Du glaubst mir nicht? Das ist mal wieder typisch!«

»Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Christian sagte, du hättest ihn angemacht. Er hat dich abgewiesen und deshalb wärst du gegangen.«

»Was? Das ist verdammt noch mal nicht wahr! Dein Machofreund hat mich rausgeworfen!«

»Warum, bitteschön, sollte Christian so etwas tun?«

»Der Kerl hat sie nicht mehr alle! Merkst du denn das gar nicht?«

»Anna, du wirst gerade ziemlich unsachlich. Ich glaube, wir sollten erst weitersprechen, wenn du dich wieder beruhigt hast.«

»Verschon mich mit deinem Therapeuten-Gelaber. Mensch Isa, mach endlich die Augen auf! Der Kerl dominiert dich doch vollständig. Seit wann trinkst du so eine Quietschperle wie diesen grässlichen Meursault? Du hast immer Weißherbst getrunken. Und wie du aussiehst … kurze Kostümchen, High Heels und einen ganzen Farbtopf im Gesicht. Merkst du denn nicht, wie du dich verändert hast? Das bist doch nicht du, so nuttig, wie du herumläufst!«

Isas mühsam aufrecht erhaltene Selbstkontrolle begann zu bersten. »Nuttig? Sag mal, geht’s noch? Du Landei kannst wohl kaum beurteilen, wie man sich hier in der Stadt kleidet. Im Übrigen bist du es, die immer Probleme mit Männern hat. Du hast dich wieder mit deinem Stefan gestritten und nun projizierst du deine Probleme auf meine Beziehung! Das ist billig!«

»Gegen das, was du dir mit diesem Christian aufgeladen hast, sind die Probleme zwischen Stefan und mir Pillepalle. Ob du es hören willst oder nicht … dein Scheiß-Christian hat mir gedroht. Er hat mir wortwörtlich gesagt, ich solle aus deinem Leben verschwinden, weil dein Leben ihm gehören würde. Dein toller Christian hat einen gewaltigen Schaden, aber du, der du nur noch die Symptome der Langeweile deiner Hautevoilee-Kundschaft bekämpfst, hast offenbar vergessen, wie ein echter psychologischer Tiefflieger agiert.«

Isas sorgfältig gezupfte Augenbrauen zuckten nach oben, im gleichen Maße strebte ihre Kinnlade nach unten. »Und das willst du als Studienabbrecherin beurteilen können?«

»Ich brauche kein Studium, um zu erkennen, dass dein Christian ein Psychopath ist!«

Isa zitterte vor Empörung. »Sag mal, was hast du eigentlich in deinem Leben zustande gebracht, dass du glaubst, anderen Vorschriften machen zu können?«

»Hör auf mit der alten Leier!«

»Einen Teufel werd ich tun! Du läufst nämlich immer weg, wenn es anstrengend wird. Du bist vor dem Examen weggelaufen, du läufst vor deinem Stefan weg. Und nun versuchst du auch noch, meine Beziehung zu torpedieren … und das in einer ziemlich miesen Art und Weise! Kannst du nicht endlich mal erwachsen werden?«

»Um was zu tun? Mich von einem Ehemann wie ein Hündchen an der Leine präsentieren zu lassen wie du?«

»Anna, jetzt gehst du zu weit!«

»Ach ja? Weil ich die Einzige bin, die der gottgleichen Isabella noch die Wahrheit sagt?«

»Vielleicht solltest du noch mal mit jemand anderem als mir darüber sprechen, vielleicht mit Stefan. Ich fürchte, dir würde nicht gefallen, was er dir auf dieses boshafte Gerede antwortet.«

»Der gute Stefan lässt sich gerade mit der schönen Ella Gebhard ein, die aller Voraussicht nach auch eine bessere Arztgattin abgibt als ich. So viel dazu. Und was deinen schmierigen Dr. Christian Steinke angeht … behalt ihn. Ich glaube, ihr habt euch verdient!«

Es knackte in der Leitung. »Anna? Annalena!« Zornbebend zog Isa den Bügel vom Ohr und setzte den Weg zu ihrer Praxis fort.

Anna war drei Jahre und drei Tage jünger als sie, benahm sich allerdings wie ein trotziges Kind. Seit dem Unfalltod ihrer Eltern hatte sich Anna nach Isas Dafürhalten nicht nennenswert in Richtung Erwachsenendasein weiterentwickelt. Ihre Schwester verkroch sich vor dem Leben. Dabei hatte sie sich doch so viel Mühe gegeben, ihrer Schwester die Eltern zu ersetzen. Sie hatte sie nach Göttingen geholt, sie durchs Abi geschoben und ihr dann nach Kräften beim Medizinstudium geholfen. Kurz vor dem Examen hatte Anna ihre Sachen gepackt und Göttingen verlassen. Seither lebte ihre kleine Schwester wieder auf dem Hof ihrer Eltern in Clausthal-Zellerfeld, auf der Suche nach einer neuen Bestimmung. Eine Suche, die Isa finanzierte. Mühsam kämpfte Isa ihren Ärger nieder und betrat ihre Praxis in der östlichen Innenstadt Göttingens.

Ihre Assistentin Denise reichte ihr zur Begrüßung einen Packen Post. »Frau Weber ist bereits seit zehn Minuten da. Hab ihr etwas von einem Notfall erzählt und ihr ein Glas Prosecco hingestellt.«

»Du bist ein Genie … sag ihr, ich käme in einer Minute.«

Isa betrat ihr Büro und schälte sich aus ihrer ledernen Kostümjacke. Verstohlen warf sie einen Blick auf ihr Spiegelbild, das sie in der Fensterscheibe sah. Ihr Rock war tatsächlich recht kurz, kürzer als früher, und ihre Stiefel wiesen geradezu absurd hohe Absätze auf. Das lange Haar fiel ihr offen über die Schultern, während sie es noch vor einigen Wochen stets hochgesteckt getragen hatte. Verärgert runzelte sie die Stirn. Na und? Trotzig ließ sie sich vor dem gläsernen Designerschreibtisch nieder und lehnte sich in ihrem nicht minder teuren Ledersessel zurück.

Ihre Gedanken kehrten zu Christian zurück. Dr. Christian Steinke war Chirurg und galt als Genie in seinem Fach. Erfolgreiche Menschen waren selten unkomplizierte Zeitgenossen. Christian versorgte sie mit so viel Aufmerksamkeit, wie es sich eine Frau nur wünschen konnte. Manchmal, so gestand sich Isa nun widerstrebend ein, übertrieb er es tatsächlich ein bisschen. Bisher hatte Isa seine besitzergreifende Art damit erklärt, dass er aus einem sehr konventionellen Elternhaus stammte. Sie würde demnächst mit ihm darüber reden. Zum Beispiel, wenn er mal wieder über ihren Kopf hinweg im Restaurant für sie bestellte oder ihren Terminplan ignorierte. Ein klärendes Wort mit Christian war etwas, was sie aufschob. Seufzend erhob sie sich, um ihrer Patientin zu helfen, damit die ihre Probleme anging und nicht aufschob.

~ KAPITEL 9 ~

Anna warf die Haustür hinter sich zu. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Vor ein paar Tagen hatte Isa sie niedergemacht und nun schulmeisterte auch noch Stefan an ihr herum. Voller Zorn trat sie gegen die Kommode, auf der das moosgrüne Telefon stand, das ob der groben Behandlung auf dem altmodischen Häkeldeckchen nach hinten gegen die Wand krachte und daraufhin einen gequälten Klingelton von sich gab.

Zornig stapfte sie in die Stube, in der sich seit ihrer Jugend nicht viel verändert hatte. Nach einer Weile zornigen Hin- und Herwanderns blieb sie vor dem Terrassenfenster stehen. Der Ausblick stimmte sie etwas friedlicher. Sie liebte die Sicht auf den Harzwald. Es war das Schönste an dem alten Gehöft ihrer Eltern, das etwas außerhalb am östlichen Rand von Clausthal-Zellerfeld lag. Wie hatte sie diesen Blick vermisst, als sie bei Isa in Göttingen gewohnt hatte. Das Gras, das die Weide und die dahinter liegende Wildwiesenebene bedeckte, hatte längst die frische Sommerfarbe verloren. Ihr Pferd Fenrys kaute an ein paar Fichtenzweigen und spähte zum Wald. Anna runzelte die Stirn. Offenbar war dieser seltsame hagere Mann wieder da gewesen und hatte dem Hengst frische Zweige gebracht. Eigentlich müsste sie beunruhigt sein, dass sich ein Fremder hier herumtrieb, doch wenn Fenrys ihn auf seiner Weide duldete, musste er schon etwas Besonderes sein. Der Hengst war ein äußerst schwieriges Tier. Sie hatte ihn vor einigen Jahren wegen seiner Unzugänglichkeit geschenkt bekommen. Noch immer duldete Fenrys niemanden außer ihr in seiner Nähe – ihr und diesen unbekannten Fremden. Sie spähte zum Wald, konnte den Mann aber nicht entdecken.

Wie gern wäre sie jetzt zu einem kernigen Ritt in den Wald gestartet, doch der bleigraue Himmel riet ihr von diesem Vorhaben ab. Anna kannte den herbstlichen Harzhimmel nur allzu gut. In den nächsten Minuten würde er wieder Gallonen von eisiger Nässe zur Erde schicken und die unzähligen Flüsse und Bäche des Oberharzes neu befüllen. Die ersten Tropfen klatschten bereits an die Scheibe.

Missmutig blickte sie in die Scheibe, in der sich ihr Gesicht spiegelte. Es glich dem ihrer Schwester, was sie enorm ärgerte. Schon immer. Immer hatte sie jemand sein wollen, jemand Eigenes. Und was war sie? Ein klägliches, jüngeres Abbild ihrer ach so erfolgreichen, klugen und praktischen Schwester. Auch wenn sie sich noch so sehr anstrengte, anders zu sein, sie wurde immer mit Isa verglichen und dabei kam sie nie gut weg.

Mit der Erinnerung an jenen erniedrigenden Abend kehrte auch der Zorn auf Isa zurück. Die hatte in ihrer Designerküche herumgewerkelt und ewig mit diesem blöden Anwalt geredet. Was gab es bloß über die blöde Waldparzelle so viel zu reden? Hätte sie sich mal aus der Küche herausbewegt, hätte sie sehen können, wie irre ihr Freund war. Dass Isa ihm mehr glaubte als ihr, tat unglaublich weh. Sie fuhr sich mit beiden Händen über die Haare und strich sie im Genick zusammen. Nachdenklich betrachtete sie ihr Spiegelbild im Fenster. Seit einigen Wochen war ihr langes Haar hellblond, so blond wie die Haare der hübschen Ella, die sich so viel Mühe gab, Stefan zu gefallen. Eigentlich glaubte Anne nicht wirklich, dass Stefan sich mit Ella eingelassen hatte. Er merkte nicht einmal, wie sie ihn umgarnte, und reagierte eher ungehalten, wenn Anna ihn darauf aufmerksam machte. Sie wusste selbst nicht, was sie dazu trieb, Stefan ständig mit dem Vorwurf zu provozieren, er betrüge sie. Vielleicht hatte sie ihn, der immer so vernünftig reagierte, einfach mal aus der Reserve locken wollen.

»Tja, das ist gründlich in die Hose gegangen«, flüsterte Anna ihrem Spiegelbild zu.

Vorhin hatte Stefan ihr vorgeworfen, sie würde immer jemanden kopieren, sie solle doch endlich mal sie selbst sein. Sie war unsagbar wütend aus seiner Wohnung gestürmt. Wütend, weil sie erkannte, wie recht er hatte. Düster starrte sie ihr Spiegelbild an. Vor dem Färben hatte sie ausgesehen wie Isa, danach wie diese Ella. Tränen lösten sich und rannen ihr über die Wangen. Sie sank zu Boden, eine Hand auf dem Parkettboden, die andere in ihr Haar gekrallt, als wolle sie es ausreißen. So saß sie eine ganze Weile von Heulkrämpfen geschüttelt, bis die Tränen versiegten. An die Terrassentür gelehnt, starrte sie in das schwarze Glas. Ihr Gesicht war nur noch schemenhaft zu erkennen, weil es hinter einem Kreis aus Kondenswasser verschwand. Anna hatte sich noch nie so klar gesehen. Ein Kranz von undefinierbarem Haar mit einem konturenlosen Gesicht darin.

Sie sprang auf, stürmte in die Küche, zog eine Schublade auf und wühlte so heftig darin herum, dass einige Utensilien scheppernd auf dem Boden landeten. Endlich fand sie, was sie suchte. Mit der langen Schneiderschere in der Hand eilte sie ins Bad.

Mit grimmigem Ausdruck blickte sie ihr Spiegelbild an. Es kribbelte in ihrer Mitte, als sie sich seitlich ins Haar griff und die Schere hob. Sie zog eine Strähne so straff vom Kopf weg, dass es schmerzte, und setzte den ersten Schnitt dort an, wo das nachgewachsene Naturbraun in den blondierten Teil überging. Sie hörte die Schenkel der Schere dicht neben ihrem rechten Ohr aneinander schaben, bis ihre Hand keinen Widerstand mehr hatte. Ein Strang hellblonden, langen Haares hing schlaff in ihrer Hand. Sie ließ es ins Waschbecken rieseln und blickte in den Spiegel. Dunkle Haarspitzen von wenigen Zentimetern Länge standen seitlich von ihrer rechten Kopfhälfte ab. Mit geradezu boshafter Befriedigung zog sie sodann ihr Kopfhaar hoch und schnitt den blondierten Teil ab. Das Ergebnis war schockierend und befreiend zugleich. Braune Stoppeln staksten in die Höhe, während daneben langes Blondhaar über ihre Schulter fiel. Sie sah grotesk aus. Wieder griff sie in ihr Haar, zog es straff und schnitt und schnitt und schnitt, während sich das Waschbecken mit blonden Strähnen füllte.

~ KAPITEL 10 ~

Im Gestern …

»Hauptmann, Ihr allein tragt die Verantwortung dafür!«, schallte es ihm mit so unverhohlenem Zorn entgegen, dass es von den Wänden des Residenzsaales widerhallte. Der Fürst von Grubenhagen funkelte ihn an.

Hauptmann Gerald von Langenfeld ärgerte sich nicht minder über die ungerechtfertigten Vorwürfe. Was konnte er für die Flucht des Alchemisten? Oder dafür, dass der Fürst sich von dessen seidigen Worten hatte einwickeln lassen? Zwar beugte er unterwürfig das Knie, doch sagten seine Worte etwas anderes.

»Mit Verlaub … ich warnte Euch mehrfach vor ihm, gerade letztens, als der Herr von Eichen vor einiger Zeit zu einer Wanderung in das Gebiet Eures verhassten Nachbarn, des Grafen zu Stolberg, aufbrach.«

Herzog Wolfgang von Grubenhagen sprang auf. »Was? Der Kerl war auf der Burg Scharzfels?«

»Ja, ich erwähnte es damals kurz …«

»Habt Ihr Eure Worte in einen Vorhang geplauscht oder schimpft Ihr mich gar vergesslich?«, brüllte der Herzog in unmäßiger Wut.

»Nein … ich … ähm, mein Hinweis ging wohl seinerzeit unter … in der Hektik, als der Hühnerstall verwüstet ward.«

Gerald von Langenfeld presste vor Zorn die Kiefer aufeinander. Ein Knappe betrat den Saal und blieb unsicher stehen. Der Hauptmann bedeutete dem Jungen mit einer ungeduldigen Geste, zu ihm zu kommen. Nachdem er die Information erhalten und den Jungen wieder fortgeschickt hatte, wandte sich der Hauptmann erneut an den Herzog.

»Königliche Hoheit, man sagte mir gerade, von Eichen habe mehrere Briefe verfasst. Sie seien in den Oberharz, nach Zella, gegangen und an eine Frau gerichtet gewesen.«

»Name?«, bellte es durch den Saal.

»Agnes von Kettwig.«

»Ist mir nicht bekannt.« Der Herzog überlegte. »Nehmt Euch ein paar Männer und begebt Euch nach Zella, nehmt aber Quartier in Klausthal. Das Territorium Zella untersteht nicht mir, sondern meinem Braunschweiger Verwandten. Ich will keine Verwicklungen. Packt Euch den Betrüger. Man soll wissen, dass man mich nicht ungestraft bestiehlt.«

Gerald von Langenfeld erhob sich und wollte sich schon zurückziehen, als ihm der Herzog in kaltem Ton hinterher warf: »Und kehrt nur mit meinem Gold und dem Laboratorium zurück ... oder gar nicht!«

Langenfelds Züge versteinerten. Der Herzog hatte kein Gold gehabt, was von Eichen hätte stehlen können. Eben weil er nichts hatte, war er auf den Alchemisten reingefallen, der mit salbungsvollen Worten erklärt hatte, Gold aus unedlen Metallen herstellen zu können. Dass dieser Wulf von Eichen mit des Herzogs Laboratorium in der Zwischenzeit Gold hergestellt hatte, glaubte Gerald nicht. Im Grunde konnte er sich genauso gut gleich von den Zinnen stürzen. Dennoch verließ er den Saal ohne eine sichtbare Regung, während ihm mitleidige Blicke folgten. Er würde diesen Alchemisten finden und bestrafen. Dafür strafen, dass er ihm ein Leben in Armut, ohne den Komfort des Schlosslebens, verdankte.

Kurze Zeit später verließ er mit fünf Mitstreitern das Schloss Hartesberg. Da es zu regnen begann, hielten sie sich zunächst in nördlicher Richtung und blieben auf sicheren Wegen. Den Anstieg wollte er erst bei der Burg Osterode beginnen, denn der anhaltende Regen weichte die eh schon schwer passierbaren Wege des Harces auf. Sie hatten den Burgfried von Osterode erst ein paar Stunden zuvor hinter sich gelassen, als urplötzlich ein Stück des Weges einbrach. Langenberg selbst und auch einer seiner der Söldner stürzten mitsamt ihren Pferden den Hang hinab.

Er bekam seinen Fuß nicht schnell genug aus dem Steigbügel und wurde vom Gewicht seines Pferdes mitgerissen. Äste und Ranken schlugen ihm ins Gesicht, während er den schlammigen Hang hinabrutschte. Sein Gaul stieß gurgelnde Laute aus. Verbissen versuchte er, seinen Fuß aus dem vermaledeiten Steigbügel zu befreien, während ihn das Pferd immer weiter in die Tiefe riss. Über sich hörte er Geschrei. Endlich rutschte die lederne Kante seines Stiefels an dem Metall vorbei. Er konnte jedoch nicht verhindern, dass er im Wasser eines Baches landete, der von den Regenfällen der letzten Tage stark angeschwollen war. Benommen nahm er die aufgeregten Stimmen seiner Truppe wahr. Über ihm lärmte es. Äste knackten. Dann sah er das zweite Pferd auf sich zu rutschen. Im nächsten Moment drückte ihn der Pferdekörper im Bach nieder. Panisch versuchte er den Kopf aus dem Wasser zu heben, doch das Gewicht des Tieres nagelte ihn unbarmherzig an den Grund des Harcbaches.

Er hustete und hustete und schien dennoch keine Luft zu bekommen. Als ihn seine Leute unter dem toten Gaul hervorgezogen hatten, war er längst schon nicht mehr bei Bewusstsein gewesen. Nun krümmte er sich wie ein Wurm und versuchte, das Wasser aus seinen Lungen zu husten. Man hatte dem toten Pferd seines Soldaten den Sattel abgenommen und ihm, der er pitschnass auf dem Waldboden lag, die Satteldecke übergeworfen. Keuchend robbte er bis zu einem Baum, richtete sich etwas auf und blieb an den Stamm gelehnt sitzen. Im Sitzen, so schien es, bekam er etwas besser Luft. Sein ganzer Ärger richtete sich auf diesen Wulf von Eichen, der ihm diesen Schlamassel eingebrockt hatte. Wenn er ihn erwischte, würde er ihn töten, qualvoll und langsam, das schwor er sich. Während der zweite Verunglückte sich mit blassem Gesicht den Arm hielt, stellte er fest, dass ihm zwar alles weh tat, er sich aber nichts gebrochen hatte. Flach atmend betrachtete er die Bemühungen seiner Leute, sein Pferd, das den Sturz immerhin überlebt hatte, aus dem Morast zu ziehen. Immer wieder gab das verängstigte Tier tiefe, kurze Schreie von sich, doch es bemühte sich nach Kräften, mit den Vorderhufen festen Grund zu erreichen. Endlich sah er, wie sich der Hengst aufstemmte und schließlich zitternd und schlammbesudelt inmitten der Lichtung stehen blieb.

Es dämmerte bereits, als sie vor der jüngst errichteten Kirche in Klausthal Halt machten.

Zurück im Heute …

Van Hint war müde und fror, obwohl er in einem beheizten Wagen saß. Wegen dieser seltsamen Träume hatte er wieder einmal schlecht geschlafen, wie so häufig in letzter Zeit. Er zog an seinem Hemdkragen, der ihm plötzlich zu eng vorkam und schaute an der strengen Fassade der hölzernen Kirche von Clausthal-Zellerfeld hinauf. Hatte er von dieser Kirche geträumt? Sollten Kirchen nicht etwas Tröstliches haben? Freundlich? Beschützend? Diese Kirche präsentierte sich grau wie fahles Mondlicht, grau, abweisend und unerbittlich. Mondholz, ja genau, das hatte er neulich gelesen, diese Kirche war mit Mondholz errichtet worden. Er beugte sich vor und schaute an den Türmen hinauf. Wolken eilten darüber. Für einen Moment schien es geradezu, als stürzte der Turm auf ihn hernieder. Er ruckte zurück.