Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
In aktuellen Kirchenreformbemühungen wird auf Luthers Konzept von Gemeinde und seine Rezeption im Pietismus verwiesen. Unbeachtet blieb bisher die angelsächsische Wirkungsgeschichte. Das Buch untersucht Luthers Vorstellung von Gemeinde, Gottesdienst und Gemeinschaft mit Wesleys Gemeinschaftsmodell und liefert neue Impulse für die Gemeindeentwicklung in der Gegenwart. Dabei kommt es zu einer zweifachen Begegnung zwischen kontinentaleuropäischem und angelsächsischem Protestantismus: zum einen in ökumenischer Hinsicht durch gemeinsame Grundsätze kirchlicher Erneuerung bei Luther und Wesley, zum anderen im Dialog zwischen Kirchentheorien der deutschsprachigen akademischen Tradition mit einer Kirchentheorie der Emerging-Church-Bewegung zu Fragen kirchlicher Reformen in der Postmoderne. [Church Renewal. Impulses for Congregation Development from Martin Luther and John Wesley] The current efforts towards church reform often refer to Luther's concept of congregation and its reception in pietism. Its Anglo-Saxon history of reception has remained unnoticed so far. The book explores Luther's concept of congregation, worship and community along with Wesley's community model and gives new impulses for congregation development today. This leads to two encounters between continental-European and Anglo-Saxon Protestantism: one is ecumenical because of the common principles of church renewal held by Luther and Wesley, the other is a dialogue between church theories of the German-speaking academic tradition and the church theory of the Emerging Church Movement on issues of church reform in an era of postmodernism.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 453
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Friedemann Burkhardt
Erneuerung der Kirche
Impulse von Martin Luther und John Wesley für die Gemeindeentwicklung
Friedemann Burkhardt, Dr. theol., Jahrgang 1961, ist Pastor der Evangelisch-methodistischen Kirche. Er absolvierte ein Musikstudium in Stuttgart und Würzburg und ein Theologiestudium in Reutlingen, Tübingen und München. Er ist Gewinner des Jesse Lee Award der Commission on Archives and History der United Methodist Church in Methodist History. Seit 2017 ist er als theologischer Fachberater zu Themen Interkultureller Kirchen- und Gemeindeentwicklung in den Einrichtungen der Liebenzeller Mission tätig, lehrt Praktische Theologie an der Internationalen Hochschule Liebenzell und ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Liebenzell Institute for Missiological, Religious, Intercultural, and Social Studies (LIMRIS).
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2019 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Cover: Zacharias Bähring, Leipzig
Satz: 3W+P, Rimpar
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019
ISBN 978-3-374-05869-3
www.eva-leipzig.de
In der praktisch-theologischen Debatte um die Neugestaltung kirchlichen Lebens in den evangelischen Kirchen wird im Zusammenhang von Reformvorschlägen immer wieder auf Martin Luthers ecclesiola-Konzept hingewiesen, in dem er seine Idee zur Umbildung und Erneuerung der Kirche skizzierte. Diese Hinweise geschehen meist in Bezug auf die durch Philipp Jacob Spener veranlasste Wirkungsgeschichte des Reformentwurfs Luthers als ecclesiola in ecclesia im Pietismus oder in der volksmissionarischen Bewegung und der darin wahrgenommenen kritischen Distanz zur institutionellen Kirche. Dabei lassen sich in Luthers Vorstellung zur kirchlichen Erneuerung auch bisher noch wenig beachtete Facetten entdecken, die für die Kirchentheoriebildung in der Gegenwart Inspiration versprechen. Unberücksichtigt blieb in diesem Diskurs bisher auch die Wirkungsgeschichte der lutherischen ecclesiola-in-ecclesia-Vorstellung im angelsächsischen Raum, insbesondere im Methodismus John Wesleys.
Hier setzt die vorliegende Arbeit an, indem sie nach einem ersten einleitenden Abschnitt zu Luthers ecclesiola-Konzept im zweiten Teil das methodistische Gemeinschaftsmodell untersucht, wie es Wesley mit den sog. General Rules (Allgemeine Regeln) zur innerkirchlichen Erneuerung eingeführt hat. Im dritten Teil des Buches sollen schließlich fünf Grundsätze wesleyanischer Kirchen- und Gemeindeentwicklung, die auch für Luthers Vorstellung über die Erneuerung der Kirche wesentlich sind, mit drei unterschiedlich profilierten aktuellen kirchentheoretischen Ansätzen ins Gespräch gebracht werden.
Im Ergebnis wurden drei Desiderata für die deutschsprachige Praktische Theologie erforscht und für den Diskurs anschlussfähig gemacht: 1. Luthers Konzept von Gemeinde, Gottesdienst und Gemeinschaft, das er in der Vorrede zur Deutschen Messe als Ansatz zur kirchlichen Eneuerung skizzierte, ist in seiner ursprünglichen Intention, Bedeutung und Gestalt derzeit immer noch verhältnismäßig wenig erforscht. Die vorgelegte Analyse und Interpretation erweist es als ein nach wie vor relevantes Kirchentheoriemodell mit großem innovativem Potential.
2. Das Gemeinschaftsverständnis Wesleys, das er in den Allgemeinen Regeln für die methodistische Bewegung einführte, ist bislang weder wissenschaftlich untersucht noch als Beispiel der Wirkungsgeschichte von Luthers ecclesiola-Konzept verstanden und in der Kirchentheoriebildung beachtet worden. Die hier vorgelegte wissenschaftliche Untersuchung beschreibt erstmals die Entstehung, Bedeutung und Prinzipien der methodistischen Gemeinschaftsregeln. Als ein Beitrag aus der englischsprachigen Ökumene liefert es neue Impulse für die Bearbeitung von Themen der Kirchen- und Gemeindeentwicklung in der Gegenwart.
3. Der Austausch zwischen den kirchlichen und praktisch-theologischen Traditionen von angelsächsischem und deutschsprachigem Protestantismus ist auf akademischer Ebene noch selten. Demgegenüber ist er an der kirchlichen Basis und in der Gemeindepraxis sowohl literarisch als auch in direkten persönlichen Begegnungen in vollem Gange und seine weitere Intensivierung durch die zunehmende Internationalisierung unaufhaltsam. Die vorgelegte Arbeit führt zu einer zweifachen Begegnung zwischen kontinentaleuropäischem und angelsächsischem Protestantismus: zum einen in ökumenischer Hinsicht durch die Herausarbeitung gemeinsamer Grundsätze kirchlicher Erneuerung bei Luther und Wesley. Zum anderen im Dialog zwischen Kirchentheorieansätzen der deutschsprachigen akademischen Tradition mit der Kirchentheorie der Emerging-Church-Bewegung über Fragen kirchlicher Reformen in den Herausforderungen und unter den Bedingungen der Postmoderne.
Dieses Buch verdankt sich den Gemeinden und kirchlichen Arbeitsfeldern, in denen ich zwischen 1993 und 2017 als Pastor in der Evangelisch-methodistischen Kirche wirkte und die mich herausforderten, Kirchen- und Gemeindeentwicklung als Thema zu entdecken und wissenschaftlich zu reflektieren. Das sind die Gemeinden Betzweiler, Neuhütten und München-Erlöserkirche, die Krankenhausseelsorge in den Münchner Einrichtungen des Diakoniewerks Martha-Maria und die internationalen Gemeinden unseres Gemeindezentrums in München, mit denen sich eine interkulturelle Kirchengemeinschaft bildete. Zu danken habe ich meinem derzeitigen Arbeitgeber, der Internationalen Hochschule Liebenzell und der Liebenzeller Mission, die mir Gelegenheit und Freiraum zur Forschung an diesem Projekt gaben und einen Ort, Aspekte des Themas mit Studierenden und Kollegen zu diskutieren. Weiterer Dank gilt den unermüdlichen Korrekturlesern und Helfern bei der Erstellung des Manuskripts, meiner Tochter Michal Burkhardt, meinem Sohn Ruben Burkhardt und Jessica Anderson, die mich während der Zeit der Entwicklung dieser Arbeit unterstützten. Dankbar bin ich Prof. Dr. Andrea Bieler und Prof. Dr. Ralph Kunz, die mich ermutigten, ein kirchenhistorisches Thema für die Praktische Theologie der Gegenwart fruchtbar zu machen. Ohne die freundliche Begleitung und Förderung durch Prof. Dr. Roland Deines und Prof. Dr. Volker Gäckle wäre das Buch nicht zustande gekommen. Sie standen mir bei der Erstellung und Konzeption kritisch und wohlwollend zur Seite und unterstützten mich mit wertvollen Ideen, wofür ich ihnen herzlich danke.
Bad Wildbad-Calmbach, 1. August 2018
Friedemann Burkhardt
Cover
Titel
Über den Autor
Impressum
Vorwort
Abkürzungen
Teil I Luthers ecclesiola-Konzept und die Erneuerung der Kirche
Kapitel 1: Thematischer Horizont
1. Luthers Kirchenbegriff in seiner Vorrede zur Deutschen Messe
2. Die Wirkungsgeschichte im deutschsprachigen Raum
3. Impulsgeber bei der Kirchentheoriebildung in der Praktischen Theologie
4. Die Rezeption im angelsächsischen Raum und im Methodismus
5. Ergebnis zur Untersuchung von Luthers ecclesiola-Konzept und Überblick über die methodistische Spiritualitätsforschung
Teil II Wesleys Gemeinschaft zur innerkirchlichen Erneuerung
Kapitel 2: Wesleys Allgemeine Regeln
1. Hintergründe
a) Eine Vision für gesellschaftliche Erneuerung und die Entscheidung für die Unterschicht als Zielgruppe
b) Einsichten in die Grenzen einer Neuausrichtung
c) Die Chance für eine Neugründung und Neukonzeption des Gemeinschaftskonzepts
d) Entscheidende Entdeckungen, Einsichten und Innovationen
e) Der letzte Anstoß für die Erstellung eines verbindlichen Leitbildes
2. Die Bedeutung
a) Einführung einer Grundordnung für die Frömmigkeitspraxis
b) Orientierung für ein Leben in schriftgemäßer Heiligkeit
c) Innovation einer Methode gemeinschaftlicher erfahrungsbezogener Frömmigkeit
3. Der Text
a) Verfasserschaft, Druck, Aufbau und Gestaltung
b) Titel
c) Inhaltliche Gliederung
d) Aspekte zur Religiosität, Frömmigkeit und Spiritualität
e) Teil 1: Die GemeinschaftsordnungRegeln etc. der United Societies
f) Teil 2: Das Gebet
Kapitel 3: Aspekte einer transformierenden Frömmigkeitspraxis
1. Das Class Meeting im Gruppenkonzept der methodistischen Society
a) Die Society zur Vermittlung von Wissen und Erkenntnis
b) Das Class Meeting mit Fokus auf Lebensveränderung
c) Die Band mit Konzentration auf die Herzenseinstellung
d) Die Penitent Band zur Rehabilitation
e) Die Select Company als Leiterschaftstraining
f) Zusammenfassung
2. Wesen, Gestalt und Bedeutung des methodistischen Class Meetings
a) Ein relationales Mitgliedschaftsverständnis
b) Das Lokalprinzip als interkulturelle Herausforderung
c) Die Kleingruppe zur Sicherstellung einer »Arbeit der Liebe«
d) Liebe als Kriterium für Leiterschaft
e) Ablauf und Gestalt als Ausdruck einer Vertrauenskultur
f) Zusammenfassung
3. Leben nach den methodistischen Gemeinschaftsregeln
a) Geistlicher Gehorsam als der Weg zur gesellschaftlichen Erneuerung
b) Der Entschluss für ein Leben nach den methodistischen Grundsätzen
c) Die Intensität der Umsetzung
d) Gebrauch der Gnadenmittel
e) Gottesdienst, Lesungen, Predigt und Abendmahl
f) Gebet, Schriftstudium, Fasten und Enthaltsamkeit
g) Das christliche Gespräch
h) Zusammenfassung
Kapitel 4: Die Bedeutung von Gesang und geistlichem Liedgut
1. Die Entdeckung einer spirituellen Kraft- und Inspirationsquelle
a) Erfahrungen in der Herrnhuter Singstunde
b) Die Entdeckung des gemeinschaftlichen Singens
c) Die Prägung methodistischer Spiritualität durch Gesang und Liedgut
d) Die Entwicklung einer Theologie in Liedern als Poesie der Liebe
2. Das Verständnis von Gesang und Liedgut als Charisma der Gemeinde Jesu
a) Anleitung zum rechten Singen
b) Gemeindebau als Hauptkriterium für den Einsatz von Musik und Gesang
c) Der rechte Gebrauch der Musik
3. Das Gesangbuch als Kompendium methodistischer Spiritualität
a) Geist, Inhalt und Aufbau
b) Geistliches Singen und Liedgut als Gnadenmittel
4. Zusammenfassung: Singen und geistliches Liedgut als Gnadenmittel
Kapitel 5: Prinzipien methodistischer Gemeinschaftsbildung
1. Probleme in der Anwendung und Umsetzung der Prinzipien
a) Die Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit
b) Probleme bei der Integration und in der Wertevermittlung
c) Grenzen in der Durchsetzung der Regeln
d) Schwierigkeiten der Überorganisation
e) Das Scheitern christlicher Haushalterschaft in der Praxis
2. Die Erwartung spiritueller Krafterfahrungen
a) Inspiration und geistliche Wahrnehmungsfähigkeit
Exkurs 1: Die Heilige Schrift als normierende Instanz im Inspirationsgeschehen
b) Gnadenmittel
c) Lebensveränderung
d) Weitere Geisterfahrungen
e) Zusammenfassung
3. Gemeinschaftsbildung in der Kirche zur kirchlichen und gesellschaftlichen Erneuerung
a) Als Ergänzung in der Auftragserfüllung
b) Als aktive Mitwirkung im gottesdienstlichen Leben der Kirche
c) Als Sauerteig zur kirchlichen und gesellschaftlichen Erneuerung
4. Soziale Heiligkeit
a) Soziale Heiligkeit als Wesenskern schriftgemäßer Heiligkeit
b) Gemeinschaftliche geistliche Begleitung als Weg der Aneignung
5. Ein relationales Glaubens- und Gemeinschaftsverständnis
a) Die Rolle des Gebets in der Glaubensentwicklung
b) Ein relationales Mitgliedschaftsverständnis
Exkurs 2: Geistlicher Gehorsam als Weg zur Realisierung christlicher Hoffnung
c) Die soziale Integrationskraft der methodistischen Society mit ihren Classes
6. Christliches Gespräch als Partizipationsmögklichkeit aller
a) Bekennen als Hauptmodus
b) Kultur der Liebe und des Gebets
c) Eine Partizipationsmöglichkeit aller
7.Gemeinschaftsgestaltung im Sinn christlicher Haushalterschaft
a) Die Idee urchristlicher Gemeinschaft
b) Die Vorstellung christlicher Haushalterschaft
c) Die Verankerung in den Allgemeinen Regeln
Kapitel 6: Fazit: Gemeinsame Grundsätze kirchlicher Erneuerung bei Luther und Wesley
1. Die missionarische Funktion des öffentlichen Gottesdienstes
2. Gemeinschaftsbildung innerhalb der Kirche zu ihrer Erneuerung
Exkurs 3: Ein bipolares Gemeinde-, Gottesdienst- und Gemeinschaftskonzept
3. Ein relationaler Glaubensbegriff
Exkurs 4: Die Entflechtung von Hinkehr und Glaubenserfahrung in der Konversionsbegründung
4. Gemeinschaften als Raum der Glaubensentwicklung
5. Die Gemeinschaften als Ort für die Organisation sozialer Hilfe
Teil III Wesleyanische Aspekte der Kirchen- und Gemeindeentwicklung im Gespräch mit der Praktischen Theologie heute
Kapitel 7: Im Gespräch mit drei Kirchentheorien der Gegenwart
1. Einleitende Überlegungen zur Auswahl der kirchentheoretischen Ansätze
2. Kirche als Organisation (Jan Hermelink)
a) Die missionarische Funktion des öffentlichen Gottesdienstes
b) Gemeinschaftsbildung innerhalb der Kirche zu ihrer Erneuerung
c) Ein relationaler Glaubensbegriff
d) Gemeinschaften als Raum für Glaubensentwicklung
e) Gemeinschaften als Ort für die Organisation der Armenhilfe
f) Ergebnis
3. Kirche der Zukunft (Eberhard Hauschildt und Uta Pohl-Patalong)
a) Die missionarische Funktion des öffentlichen Gottesdienstes
b) Gemeinschaftsbildung innerhalb der Kirche zu ihrer Erneuerung
c) Ein relationaler Glaubensbegriff
d) Gemeinschaften als Raum für Glaubensentwicklung
e) Gemeinschaften als Ort für die Organisation der Armenhilfe
f) Ergebnis
4. Emerging Church (Michael Frost und Alan Hirsch)
a) Die missionarische Funktion des öffentlichen Gottesdienstes
b) Gemeinschaftsbildung innerhalb der Kirche zu ihrer Erneuerung
c) Ein relationaler Glaubensbegriff
d) Gemeinschaften als Raum für Glaubensentwicklung
e) Gemeinschaften als Ort für die Organisation der Armenhilfe
f) Ergebnis
Kapitel 8: Ergebnis und Ausblick
Quellenverzeichnis
1. Quellen zu Luther und Wesley
2. Gesangbücher und Wesley-Schriften zur Hymnologie
Literaturverzeichnis
Bibelstellenregister
Namen- und Sachregister
Weitere Bücher
Endnoten
Die Abkürzungen folgen dem Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, zusammengestellt von SIEGFRIED M. SCHWERTNER, Berlin/New York 19942, für Methodistica angelehnt an WALTER KLAIBER/MANFRED MARQUARDT, Gelebte Gnade, 20062, 524f:
A History
A History of the Methodist Church in Great Britain (Gesamtdar stellung)
A.M.
The Arminian Magazine, London 1778ff (Methodistische Zeit schrift)
BGEmK
Beiträge zur Geschichte der Evangelisch-methodistischen Kirche (Publikationsreihe zur methodistischen Geschichte)
BSLK
Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, hg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, Göttingen 199812
BzM
Beiträge zum Methodismus (Publikationsreihe zur methodisti schen Geschichte)
CWS Proceedings
Proceedings of The Charles Wesley Society (Zeitschrift zur me thodistischen Hymnologie)
EmK GeschQSM
EmK Geschichte. Quellen – Studien – Mitteilungen (Kirchenhis torische Zeitschrift)
EmK GeschMono EWM
EmK Geschichte. Monographien (Kirchenhistorische Reihe) Encyclopedia of World Methodism, N.B. Harmon [Hg.] (Nach schlagewerk)
GdP
Geschichte des Pietismus. Im Auftrag der Historischen Kommis sion zur Erforschung des Pietismus herausgegeben von Martin Brecht u. a., Bd. 1–4, Göttingen 1993ff
Hymns
Lieder von Charles Wesley zitiert nach »A Collection of Hymns for the Use of The People called Methodists«, 1780 (WJW 7, 1983), mit Liednummer und Strophe
Journal
Tagebuch John Wesleys, zitiert mit Datumsangabe nach WJW 18– 24, 1988ff
Large Minutes
Konferenzgespräche über Lehre und Ordnung, 1744ff, Works3, VIII, 299ff, und WJW 10, 2006, 844ff
Letters
Briefe John Wesleys, zitiert mit Datumsangabe nach WJW 25–27, 1980 ff, 1988ff
Lp
Lehrpredigten John Wesleys in deutscher Übersetzung, M. Mar quardt 2016
MSGEmK
Mitteilungen der Studiengemeinschaft für Geschichte der Evan gelisch-methodistischen Kirche (Kirchenhistorische Zeitschrift)
MSGM
Mitteilungen der Studiengemeinschaft zur Geschichte des Me thodismus (Kirchenhistorische Zeitschrift)
Notes NT
John Wesley, Explanatory Notes upon the New Testament, 1754, London o. J., zitiert nach der erläuterten Stelle
Predigt
Predigten John Wesleys zitiert nach der Nummerierung in WJW 1–4, 1984ff, und der ursprünglichen Gliederung
PuN
Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus, hrsg. v. Martin Brecht u. a., Göttingen 1974ff
Societies
Schriften und Konferenzprotokolle John Wesleys in WJW 9/10, 1989/2011, zitiert nach der ursprünglichen Gliederung
ThFP
Theologie für die Praxis (Zeitschrift)
VLO
Verfassung, Lehre und Ordnung der Evangelisch-methodistischen Kirche in Deutschland, Ausgabe 2012, Stuttgart 2014 (Kirchenordnung)
WA
Martin Luther, Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Aus gabe)
WJW
The Works of John Wesley (neue Historisch-kritische Werkaus gabe)
Works3
The Works of the Rev. John Wesley (alte Werkausgabe)
Martin Luther beschrieb 1526 in der Vorrede zur Deutschen Messe sein »eigentliches Gemeindeideal […] und zugleich seine nüchterne Einsicht, wie weit man davon einstweilen noch entfernt war«.1 Seine Vorstellung über die Erneuerung der Kirche bei der Umbildung katholischer Gemeinden in evangelische sah zwei aufeinander folgende Phasen vor: Die vorrangige Herausforderung lag in Maßnahmen zur Hebung der allgemeinen Volksfrömmigkeit durch eine lateinische Messe zur Sprachförderung der Schuljugend2 und durch ansprechendere Sonntagsgottesdienste mittels einer deutschen Liturgie, die es ermöglichte, das einfache Volk besser »zum glauben zu rufen und zu reytzen«.3 Wenn diese Mittel Wirkung zeigten und »die Christen, so mit ernst das Wort meynen, sich selbst finden und anhalten«,4 sollte gleichsam in einem zweiten Schritt mit der Bildung von speziellen Gemeindegruppen innerhalb der volkskirchlichen Strukturen begonnen werden, die Luther als »die dritte weyse, die rechte art der Euangelischen ordnunge« bezeichnete, und die den angefangenen Weg der kirchlichen Neugestaltung als eine innerkirchliche Revitalisierung weiterführen sollten. Auch wenn Luther damals den Zeitpunkt für die Einführung und den Aufbau einer solchen Gemeindegruppenstruktur noch nicht für gekommen hielt,5 hatte er ein recht konkretes Bild von der Gestalt einer Gemeinde für die kirchliche Erneuerung entworfen, das er auch in späteren Jahren noch aufgriff.6
Dieser Impuls für eine Sammlung derjenigen, die ernsthaft Christ zu sein und evangeliumsgemäß zu leben wünschten,7 wurde in der Folgezeit von verschiedener Seite aufgenommen und führte zu etlichen – auch separatistischen – Experimenten christlicher Gemeinschaftsbildung.8 Was Luther in seiner Zeit noch fraglich schien und ihn von der Verwirklichung dieser Gemeindegruppen abhielt, hatte 150 Jahre später bei Philipp Jacob Spener (1635–1705) durch die gelungene Einrichtung eines collegium pietatis in Frankfurt seine Evidenz erwiesen. 1675 griff er in seiner Reformschrift Pia Desideria Luthers Idee aus der Vorrede zur Deutschen Messe auf und entwickelte daraus einen eigenen Realisierungsvorschlag mit der Absicht, die Willigen zu sammeln und zu fördern, anstatt weiter mit der lutherischen Orthodoxie auf eine Intensivierung der Kirchenzucht gegenüber den Unwilligen zu setzen.9 Noch im selben Jahr belegte Spener diese Reformidee mit dem Begriff ecclesiola-in-ecclesia und profilierte sie damit als ein Programm innerkirchlicher Erneuerung im Gegensatz zu ecclesiola-Konzepten, die von der Kirche separierten.10 Dass Speners ecclesiola in ecclesia-Begriff als Grundprinzip des kirchlichen Pietismus lutherischer Provenienz mehr beinhaltete als Konventikelbildung, zeigt die Rezeption bei August Hermann Francke (1663–1727) mit dem von dort ausgehenden preußischen Pietismus oder die unter Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700–1760) in Herrnhut.
Die Reformation war von den Landesfürsten in ihren Herrschaftsgebieten von oben nach unten und damit entgegen Martin Luthers ursprünglicher Vorstellung eingeführt worden.1 Die Ausbildung eines evangelischen Glaubensbewusstseins im Volk war noch nicht erfolgt.2 Die Spannung zwischen einer traditionellen römisch-katholischen Volksfrömmigkeit und den religiösen Vorstellungen, die sich mit der der Reformation verbanden, äußerte sich auch in einem Reformdruck hinsichtlich der Gottesdienstgestaltung. Bereits Ende September 1521 war es bei einer Abendmahlsfeier Melanchthons zum Bruch mit der gültigen Gottesdienstordnung gekommen und zur Konstituierung einer evangelischen Liturgie für den Predigt- und Abendmahlsgottesdienst.3 In der Hoffnung, dass sich vom Evangelium berührte Menschen freiwillig zusammenführen ließen und es so zu einer Erneuerung der Kirche käme, begann Luther ab 1522 Wege zu suchen, das Abendmahl für evangelisch Gesinnte und unter Fernhaltung von Unwürdigen in beiderlei Gestalt anbieten zu können mit dem Ziel einer Bekenntnisgemeinde.4 Diesem Ziel diente auch die Herausgabe der Formula Missae Ende 1523.5 Indessen verstärkten sich die Erwartungen auf eine deutschsprachige Gottesdienstordnung und wurden an etlichen Orten bereits erfüllt.6 Weil es diese immer mehr aufkommenden deutschen Gottesdienste aber nicht vermochten, die Gemeinde tiefgründig zu erbauen und die christliche Einheit zu bewahren,7 sondern oft Ärger provozierten,8 gab Luther 1526 die Deutsche Messe heraus.9 Dabei vertrat er nicht die Auffassung, dass ganz Deutschland die wittenbergische Ordnung übernehmen müsste, allerdings sollte es in jedem Herrschaftsgebiet nur eine Ordnung geben.10 Ziel seiner Gottesdienstreform war die Einführung einer geeigneten Gottesdienstform für die, die – nach evangelischem Verständnis – noch keine Christen waren,11 dass sie »noch Christen sollen werden oder sterker werden«.12
In seinem Vorrede zur Deutschen Messe unterschied Luther drei verschiedene Weisen von Gottesdienst: erstens die lateinische Messe, mit der er einen eher pädagogischen Zweck verband.13 Zum Zweiten die Deutsche Messe, die einem volksmissionarischen Anliegen diente.14 In ihr sah Luther das Hauptinstrument, um ein Volk getaufter Menschen, die nach seiner Einschätzung »noch nicht glauben odder Christen sind«,15 als gesamte Bevölkerung in den evangelischen Städten und Dörfern zum Glauben zu rufen,16 sie im Glauben zu unterrichten und im Sinn des Evangeliums zu leiten.17 Diese pädagogische und katechetische Funktion der Formula Missae und der Deutschen Messe diente in Luthers Überlegungen zur Neugestaltung des kirchlichen Lebens als Zwischenschritt auf dem Weg hin zu seinem eigentlichen Ziel evangelischer Gemeinde- und Gemeinschaftsbildung, wofür er noch einen weiteren Versammlungstyp beschrieb: »die dritte weyse, die rechte art der Euangelischen ordnunge«.18 Diese »dritte Weise« markiert in Luthers Vorstellung über den Weg der kirchlichen Erneuerung eine Strategieänderung: Hatte sich sein Bemühen bisher darauf konzentriert, Unwissende und offensichtlich unwürdige Sünder von der Abendmahlsgemeinschaft fern zu halten, beschrieb er nun ein Zielbild, wonach das Abendmahl in einer nicht öffentlichen Gemeinschaft gefeiert werden sollte unter denen, die ernsthaft als Christen leben wollen.19
Dieser neue Gemeinschaftstyp ging weit über eine Gottesdienstfeier hinaus. Zentral für ihn war das Moment einer besonderen Gemeinschaft innerhalb der Gesamtgemeinde,20 weswegen Luther diese Form in seiner Charakterisierung nicht Gottesdienst, sondern »gemeyne« oder »versamlunge« nannte21 und mit einer umfassenden Aufgaben- und Zweckbestimmung in drei Richtungen versah:22 Erstens dienten diese Gemeinschaften der Weiterführung einer durch die öffentlichen Gottesdienste und den Schulunterricht begonnenen persönlichen Glaubensentwicklung.23 Es ging um die praktische Einübung des Glaubens durch Gebet und Hören auf die Lesung von Gottes Wort24 mit dem Ziel einer gemeinschaftlichen Seelsorge entsprechend Mt 1825 und orientiert an einem kleinen Glaubenskatechismus, den Zehn Geboten und dem Vaterunser.26 Zweitens sollten diese Gemeindegruppen der Volkskirche als der adäquate Rahmen für den Empfang der Sakramente dienen.27 Und schließlich sah Luther in diesen Gemeinschaften die Zentren für die praktische Organisation der Armenfürsorge durch Sammlung von Beiträgen und ihre Weiterverteilung unter den Armen nach dem Beispiel von 2 Kor 9.28 Die Kultur und das Verhalten sollten in diesen Gemeindegruppen von Gespräch,29 Gebet und Liebe30 geprägt sein31 und sich bei Tauf- und Abendmahlfeiern liturgisch ohne »viel und gros gesenges« auf das Wesentliche beschränken.32
Luther stellt sich mit seiner »dritten Weise« eine verbindliche Gemeinschaft vor, die namentlich erfasst,33 in überschaubarer Größe,34 geleitet von Laien,35 privat36 und freiwillig37 zusammenkommt. Weil keiner dem anderen je ins Herz sehen und sich auch der Glaubende immer nur als simul iustus et peccator verstehen kann, stellt Luthers Bedingung für die »rechte Art« christlicher Gemeinschaft nicht auf die vollständige Erfüllung der Merkmale christlichen Lebens ab, sondern nennt als Voraussetzung und Kriterium für die Mitgliedschaft den ernsthaften Wunsch des einzelnen, Christ sein zu wollen,38 und die Bereitschaft, »das Euangelion mit hand und munde [zu] bekennen«.39 Offensichtlich gilt für Luther als Ausweis der Ernsthaftigkeit christlichen Lebens nicht Sünd- oder Fehlerlosigkeit, sondern das aufrichtige Verlangen und Begehren, als Christ leben zu wollen.40 Die Bedingungen für die Einrichtung einer solchen Gemeinschaft schienen Luther im Moment der Herausgabe der Deutschen Messe Mitte der 1520er Jahre noch nicht erfüllt, weswegen er die Zeit für die Realisierung seiner »dritten Weise« für noch nicht gekommen ansah,41 denn, so schrieb er, »ich habe noch nicht Leute und Personen dazu; so sehe ich auch nicht viel, die dazu dringen«.42 Was für Luther noch ausstand und was er erwartete, war das Motiv der Freiwilligkeit, ein mobilisierendes Verlangen nach christlichem Leben und Gemeinschaft, ohne dass dies durch Amtsträger angeordnet war.43
Freilich wäre Luther gründlich missverstanden, seine Beschreibung der »rechten art« evangelischer Gemeinde- oder Gemeinschaftsbildung als das Bestreben zu verstehen, die Kirche von Menschen zu reinigen, die den Glauben nicht in der von ihm verstandenen Ernsthaftigkeit zu erfahren und zu leben wünschten. Nirgendwo in Luthers Schriften begegnet die Aussage, »dass allein die, die mit Ernst begehren, Christen zu sein, die Kirche sind«.44 Im Gegenteil ist in seinen Augen gerade eine solche Haltung als Ketzerei zu verstehen, »weil dabei Schwache zu Unrecht ausgeschlossen werden könnten«.45
Luthers Kirchenbegriff differenziert zwei Seiten, die unauflösbar zusammengehören und nur in ihrer Verbundenheit die Kirche ergeben: Im Kern oder Wesen handelt es sich nach Luthers Vorstellung bei der Kirche um eine »geistliche« Versammlung, die aber immer nur als »leibliche« Versammlung unter irdisch-endlichen Bedingungen in Erscheinung tritt.46 Allerdings müssen »geistliche und leibliche Gemeinschaft nicht immer gleichzeitig und nicht deckungsgleich vorhanden sein«.47 Beide Fälle sind möglich: »das eyn verbannter mensch werd beraubt des Heiligen sacramentis, dazu auch des begrebniß, und sey doch sicher und selig yn der gemeynschafft Christi un aller heiligen ynnerlich«.48 Ein Mensch kann an der geistlichen Gemeinschaft teilhaben, ohne dass er zur leiblichen Gemeinschaft gehört, genauso wie es Menschen gibt, »eußerlich unvorbannet des sacraments frey nießen, und doch ynnewendig der gemeynschafft Christi ganz entfremdet und vorbandet«.49
Ihrer äußerlichen, leiblichen Seite nach ist die Kirche nach Luther als corpus permixtum zu beschreiben, weil sich in ihr Menschen, die sowohl zur geistlichen als auch zur leiblichen Gemeinschaft gehören, mit solchen vermischen, die nur der leiblichen Gemeinschaft angehören.50
Aus Luthers Sicht wäre es eine Illusion zu meinen, die Kirche, verstanden als äußerliche, leibliche Versammlung könne jemals »von bösen Buben, Heuchlern und falschen Christen rein sein«,51 weil »sobald Gott irgendwo seine heilige Kirche baut, setzt der Teufel seine Kapelle ›dabei‹«.52 Doch auch wenn sich Christen mit dieser Realität abfinden müssen, sieht Luther die Kirche als Versammlung der Christusgläubigen,53 weist sie an, einem falschen Christentum entschieden entgegenzutreten und fordert jeden einzelnen auf:
»DArumb mustu also gegen jnen handeln, das du dich durchs Wort und Glauben wider sie werest, Las dir deinen reinen Glauben, bekentnis und Christlich leben nicht nemen noch stopffen, Vermane und straffe sie, so viel du kannst, Wil es nicht helffen, so thue sie oeffentlichin bann.«54
Für Luther durfte auf keinen Fall »die Reinheit der Lehre und der Sakramente gefährdet werden«. Sofern offensichtlich und praktikabel sollten Ketzer und falsche Christen vom Abendmahl ausgeschlossen sein, an ihren »Ausschluss […] aus der Kirche denkt Luther jedoch nicht«.55
Luthers Aussagen zur Gestalt der Kirche sind an den Konfliktlinien im Streit um seine Grundeinsicht in der Heilszueignung sola fide entstanden, die für ihn zunächst prinzipiell-theologischer Natur war, aber als solche nicht ohne strukturell-ekklesiologische Konsequenzen blieb und darum die Frage nach der Gestalt von Kirche und Frömmigkeit nach sich zog. Insofern wurzelt Luthers Bild von der Gestalt der erneuerten Kirche in seiner Rechtfertigungslehre, nach der in der Kirche die »innere, von Gott gewirkte Seite mit ihrer äußeren, durch menschliche Praxis bewirkten Seite zusammenkommt«.56 Die »Kirche kommt dadurch und nur dadurch zustande, dass in ihr die Rechtfertigung, wie sie fundamental in CA 4 umrissen wird, situationsgerecht entfaltet und verkündigt wird«.57 Weil sich Kirche so in jeder Sozialgestalt ereignen kann,58 waren für Luther zunächst konkrete Pläne für die Entwicklung der Umgestaltung der Kirchen und Gemeinden zweitrangig.59 In der Breite der Kirche fehlte noch das dafür erforderliche geistliche Bewusstsein, dessen Entstehung erst durch die Neugestaltung des Sonntagsgottesdienstes befördert werden sollte.60
Noch im selben Jahr, in dem Martin Luther die Deutsche Messe veröffentlicht hatte, legte sein im Hessischen wirkender Gefolgsmann Franz Lambert von Avignon (1487–1530) den Entwurf für eine »Reformation der Kirchen Hessens« vor.61 Es handelte sich um ein Konzept für die Gestaltung der neuen evangelischen Kirche auf Basis einer Neuordnung der bestehenden Pfarreien durch eine strukturelle Unterscheidung von Gottesdienstgemeinde als Ganzer und darin existierenden kleinen Gemeinschaften von »wahrhaft Gläubigen«,62 das aber auf Luthers Einspruch hin vom hessischen Landgrafen nicht in Kraft gesetzt wurde.63
In den Wirren des Schmalkaldischen Kriegs entstand um 1546 auf Initiative des Straßburger Reformators Martin Bucer (1491–1551) eine christliche Gemeinschaft, die sich an Luthers dritter Weise aus der Vorrede zur Deutschen Messe orientierte.64 Allerdings stellte Bucer in Straßburg ähnlich wie schon Lambert den Gedanken der Liebesgemeinschaft zugunsten einer stärkeren Betonung der Kirchenzucht65 und das Prinzip der Freiwilligkeit zugunsten der pfarramtlichen Sammlung der Gläubigen in den Hintergrund.66 Da die Gemeinschaft aufgrund der schwierigen politischen Verhältnisse keine Anerkennung durch den Straßburger Magistrat erhielt und Bucer 1548 die Stadt verlassen musste, verlor die Bewegung an Kraft und löste sich bis 1551 wieder auf.67
Gut 120 Jahre dauerte es nun, bis 1670 auf Anregung und unter Leitung des Seniors der Frankfurter Pfarrerschaft Philipp Jacob Spener eine Hausversammlung ins Leben gerufen wurde, die sich wöchentlich zwei Mal zum Gebet, Lesen von Erbauungsliteratur und anschließenden Austausch traf.68 Während anfänglich aus Erbauungsbüchern gelesen wurde, galt ab 1674 nur noch die Heilige Schrift als Grundlage für die Betrachtungen.69 Mit Veröffentlichung der Pia Desideria im darauffolgenden Jahr gibt Spener den Collegia pietatis, deren Wirksamkeit und Nutzen sich in der Praxis bestätigt hatten, einen festen Platz in seinem Reformprogramm als ein Mittel für das Bibelstudium. In der Verteidigung dieses Konzepts kirchlicher Erneuerung verweist Spener erstmals 1677 auf Luthers Vorrede zur Deutschen Messe und setzt die Collegia pietatis in Parallele zu Luthers Ziel einer »Sammlung derer, die mit Ernst Christen sein wollen«.70 Spener sieht sich hier in einer Kontinuität zum Reformator, um zu verwirklichen, was bei diesem noch offenbleiben musste.71 Ziel war die Bildung einer »kleinen Personalgemeinde« um die Collegia pietatis herum, einer ecclesiola in ecclesia,72 in der das geschehen kann, was in der ecclesia nicht realisierbar war, nämlich eine Form intensiven Christentums, das durch eine freiwillige Anerkennung einer bestimmten Ordnung zu »reiner Lehre« und »gottseligem Leben« führt.73 Die unerwartet starke Resonanz veranlasste Spener, die Gemeinschaft aus Sorge vor Problemen in die Kirche zu verlegen, bis er sie 1682 vollends einstellte. Der Grundgedanke des Spener’schen ecclesiola-in-ecclesia-Konzepts war der einer Kernzelle innerhalb einer Gemeinde, einer »Kerngemeinde«,74 die sich freiwillig zu einem neuen ethischen Leben als eine Gemeinschaft der Heiligen verpflichtet, um so als Glaubende im Raum der Kirche zusammenzuleben und sie mit einem missionarischen und prophetischen Auftrag gleich einem »Sauerteig« zu »durchziehen« und »ihre Qualität [zu] verändern«.75
Speners Collegia pietatis wurden zu einer sich von Frankfurt aus an viele Orte ausbreitenden pietistischen Bewegung, die durch das Wirken August Hermann Franckes (1663–1727) in Halle ein Zentrum fand.76 1691 war dieser als Professor an die dortige Universität und gleichzeitig als Pastor für die Vorstadtgemeinde Glaucha berufen worden. Herausgefordert durch die katastrophalen sozialen Verhältnisse, erlangte der Pietismus unter Francke eine markante pädagogische Ausprägung, die »Weltverwandlung durch Menschenverwandlung«77 zu erreichen suchte und eine vielgestaltige Institutionalisierung mit Waisenhäusern, Schulen, Apotheke, Verlag etc.
Eine tragende und gemeinschaftsbildende Funktion bekamen Speners Collegia pietatis in Württemberg.78 Dort hatte sich »ein stillschweigendes Recht auf pietistische Privatversammlungen herausgebildet«, das 1743 als sog. Pietistenreskript in die Geschichte einging, indem es Speners Vorstellung einer ecclesiola in ecclesia erstmals einen rechtlichen Rang einräumte und ihn in eine vorgegebene Landeskirche eingliederte.79
Geprägt von der in Halle üblichen Form geistlicher Gemeinschaft begann auch Graf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf und Pottendorf (1700–1760) nach Wegen gemeinschaftlicher Erbauung zu suchen und in Herrnhut Menschen zu sammeln, die zu einer christlichen Lebensführung bereit waren.80 Zinzendorf unterteilte dazu die Gemeinde in kleine Gemeinschaften – »Banden« genannt – mit dem Ziel der gegenseitigen geistlichen Begleitung und Seelsorge zur Glaubensentwicklung in Anlehnung an die von Luther beschriebene »dritte Weise«.
Die ecclesiola in ecclesia wurde »das Hauptkennzeichen und das Wesensmerkmal der von Spener in der evangelischen Kirche begründeten Bewegung des Pietismus«.81 Gedacht als ein bewusst innerkirchliches Erneuerungskonzept verfolgte der Pietismus das Ziel, die von weltlichen Obrigkeiten vorgegebenen Kirchentümer für eine christliche Lebensführung durch ein intensiviertes, zeichenhaftes Gemeinschaftsleben zu gewinnen, aber ohne separatistische und Cliquen bildende Tendenzen.82
Die Wirkungsgeschichte des von Luther in der Vorrede zur Deutschen Messe als »dritte Weise und rechte art der Euangelischen ordnunge« skizzierten ecclesiola-Konzepts erlebte im deutschsprachigen Raum eine vielfältige Aufnahme. Von Spener auf die Formel ecclesiola in ecclesia gebracht, erfuhr es im Pietismus als ein Phänomen für die »modernitätsspezifische Emanzipation individueller Religiosität und persönlichen Christentums von den institutionell verfassten Kirchentümern« sehr unterschiedliche Verwirklichungsgestalten.83
Ein nächster Schritt in der Rezeptionsgeschichte von Martin Luthers ecclesiola-Konzept erfolgte Mitte des 19. Jahrhunderts, als Johann Hinrich Wichern (1808–1881) eine Schrift über das Wesen der Kirche verfasste, in der er zur Förderung des christlichen Lebens die Sammlung der Gläubigen in geistlichen Gesprächs-, Haus- oder Familienkreisen anregte.84 Die so entstandenen Hauskirchen verfolgten nach innen das Ziel, ihre Mitglieder geistlich zu versorgen, und nach außen missionarische Zwecke. Knapp zehn Jahre später ergriff Wilhelm Löhe (1808–1872) mit der Gründung eines Lutherischen Vereins für apostolisches Leben als Kern der Kirche eine ähnliche Initiative85 mit dem Ziel, sich Kenntnisse über den christlichen Glauben anzueignen, sich karitativ zu engagieren und geistliche Übungen wie Gebet, Gesang und soziale Beiträge zu leisten.
Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert kam es dann zu einer kontroversen theologischen Debatte über die Bedeutung der von Luther in der Vorrede zur Deutschen Messe gemachten Aussagen zum kirchlichen Leben.86 Diejenigen, die Luthers ecclesiola-Begriff eine Bedeutung für die Ausgestaltung des kirchlichen Lebens in der Gegenwart beimaßen, trafen sich in der Vorstellung einer kirchlichen Erneuerung durch Einrichtung von verbindlichen Gemeindegruppen innerhalb der oft unüberschaubar gewordenen volkskirchlichen Parochien. Insbesondere der Rostocker Praktische Theologe Gerhard Hilbert (1868–1936) bemühte sich, Luthers ecclesiola-Konzept für eine Reform der Kirche fruchtbar zu machen,87 denn »erst durch die Bildung der ecclesiola in ecclesia [wird] unsere Volkskirche wieder Achtung und Anziehungskraft auf Fernstehende gewinnen und ausüben«,88 als »Salz«89 und »als ein Sauerteig wirken innerhalb der volkskirchlichen Gemeinde«.90
Nach Gerhard Hilbert ist Luthers Kirchenbegriff von der Spannung der beiden Pole Volkskirche und Freiwilligkeitskirche geprägt, die er weder in die eine noch in die andere Richtung aufgelöst hat. Luther möchte »beides: die Volkskirche und die Freiwilligkeitskirche«.91 Die Idee Luthers in der Vorrede zur Deutschen Messe, die Kirche durch eine freiwillig sich konstituierende Gemeinschaft von durch das Evangelium berührten Menschen zu reformieren, wertet Gerhard Hilbert als die »Wurzel von Luthers Gedanken der ecclesiola in ecclesia«, die sich damit nicht als »ein fremdes Gewächs«92 erweisen, sondern als genuin lutherisch. Allerdings bestehen diese Gemeinschaften nicht neben oder getrennt von der Kirche, sondern »inmitten des großen Haufens«.93 Für die Praktische Theologie erwächst daraus die Aufgabe, Modelle für Gemeinschaften im Sinn des lutherischen ecclesiola-in-ecclesia-Konzepts zu beschreiben.94
Entsprechend ist das ecclesiola-in-ecclesia-Konzept des Pietismus besonders in seiner Gestalt bei Spener, Francke und Zinzendorf in der Praktischen Theologie bis in die Gegenwart als Modell für die Kirchen- und Gemeindeentwicklung in unterschiedlicher Bewertung und mehr oder weniger ausführlich im Blick.95 Dabei zeigt sich, dass eine »ecclesiola in ecclesia, welche authentische Kirchlichkeit im kleinen Kreis zu realisieren sucht«, nur dann mit einem evangelischen Kirchenbegriff vereinbar ist,96 »wenn sie nicht Cliquenbildung und Separation bewirkt, sondern ausschließlich das Ziel verfolgt, die gegebenen Kirchentümer zur Wahrnehmung und Verwirklichung kirchl[ichen]. Wesens und seiner Merkmale zu bewegen«.97
Was bisher noch fehlt, ist eine Darstellung und Berücksichtigung der Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte von Luthers ecclesiola-Konzept im angelsächsischen Raum, insbesondere im Methodismus John Wesleys (1703–1791): Wesley, der vom Pietismus intensiv beeinflusst wurde,98 knüpfte aktiv und bewusst an diese Vorgänge an, wie im Folgenden ausführlicher dargestellt werden soll.99
Was für den deutschsprachigen Pietismus die Collegia pietatis waren, sind in England die Religious Societies.100 Sie gehen auf den deutschen Pietisten und Spenerschüler Anton Horneck101 (1641–1698) zurück, der Pfarrer an der Londoner Savoykirche war. Zusammen mit dem englischen Geistlichen Richard Smith betreute er seit 1678 einen Kreis von jungen Menschen, nach dessen Muster in nur 20 Jahren die Religious Societies als eine neue Gemeinschaftsform innerhalb der Kirche von England mit einer lebendigen Frömmigkeit und sozialkaritativer Prägung entstanden.102 Ziel Hornecks und der auf ihn zurückgehenden Gemeinschaften war die Förderung von »wahrer Heiligkeit des Herzens und Lebens« durch Bibelstudium, Gebet, Teilnahme am Abendmahl, Fasten, geistliche Selbsterfahrung und gemeinschaftliche Beichte, Meiden von Bösem und die Einübung von christlichen Tugenden wie Sanftmut, Demut und Geduld, Lesen von Erbauungsliteratur und ein Leben entsprechend dem christlichen Auftrag. Die einzelnen Gemeinschaften ermöglichten die Beachtung dieser Frömmigkeitsübungen durch handhabbare Regeln in Statuten oder Leitfäden,103 auf die die Teilnehmer verpflichtet wurden. Die Treffen dienten dazu, sich im Streben nach Heiligkeit gegenseitig zu ermutigen und diejenigen zu disziplinieren, die nicht nach dieser Ordnung lebten. Ein wichtiger Zweck der Treffen lag in der Organisation karitativer Hilfe und von Wohltätigkeitsprojekten, für die die Mitglieder Beiträge zusammenlegten, um mit diesen Mitteln Arme, Kranke oder Gefangene zu unterstützen. Dies geschah durch Besuche, die Verteilung von Nahrungsmitteln, Kleidung, Geld oder durch das Angebot von Schulunterricht.104
Ein typisches Beispiel einer solchen Religious Society ist ein Studentenkreis, der sich im Winter 1729/30 aus Studierenden von Oxforder Colleges und religiös interessierten jungen Menschen zusammengefunden hatte.105 Es waren zunächst sechs junge Männer, die sich unter Leitung von John Wesley zu einem zeichenhaften christlichen Leben verpflichteten, weswegen sie von ihren Kommilitonen spöttisch als »Holy Club« oder »Methodists« verschrien wurden.106 Nach einem kurzen Intermezzo in der nordamerikanischen Kronkolonie Georgia (1736–1738), wo neben John Wesley noch zwei andere Mitglieder des Holy Club, nämlich sein Bruder Charles107 und Benjamin Ingham als Geistliche für die Society for Promoting Christian Knowledge wirkten und prägende Erfahrungen mit Pietisten Herrnhuter und Salzburger Prägung machten, kam es nach ihrer Rückkehr bei John und Charles Wesley zu einem Paradigmenwechsel mit Blick auf ihre Vorstellung religiöser Gemeinschaftsarbeit.
Inspiriert durch die Begegnung mit dem deutschen Pietismus in Nordamerika, durch Erkenntnisse auf einer Deutschlandreise,108 auf der John Wesley Herrnhut und Halle besucht hatte, und aufgrund persönlicher Erfahrungen führte er Ende 1738 in den von ihm betreuten Gruppen ein alternatives Gemeinschaftskonzept von sog. bands oder band societies ein.109 Die Regeln sahen vor, dass sich die Teilnehmer wenigstens einmal pro Woche zu Selbsterfahrung und Gewissenserforschung zusammenfinden, gegenseitig ihre Sünden bekennen110 und füreinander beten sollten. Bedingung zur Teilnahme war nicht das Erlangen einer bestimmten Stufe in der Heiligkeit oder Gewissheit, wohl aber eine für andere wahrnehmbare Ernsthaftigkeit, Heiligkeit erreichen zu wollen. Was von den Mitgliedern der bands gefordert wurde, war zuallererst Verbindlichkeit, Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit. Der Ablauf war genau geregelt: Man begann mit Singen und einem Gebet. Dann sprach jeder der Reihe nach frei und offen über den Zustand seines Herzens, über die Fehler, die er in Gedanken, Worten oder Taten begangen hatte, und die Versuchungen, denen er verfallen war seit dem letzten Treffen. Das Zusammentreffen wurde beschlossen mit einem Gebet passend zur Situation eines jeden, der anwesend war. Voraussetzung für die Aufnahme waren eine Reihe von Fragen, die positiv beantwortet werden mussten. Sie betrafen das geistliche Leben des Kandidaten, aber auch seine Bereitschaft, sich der Gruppe rückhaltlos zu öffnen und die Gewissenserforschung durch sie zuzulassen. In den Treffen sollte es um die folgenden Punkte gehen: Welche bewussten Sünden hast du begangen seit dem letzten Treffen? Welche Versuchungen haben dich heimgesucht? Wie wurdest du davon befreit? Was hast du gedacht, gesagt oder getan, von dem du im Zweifel bist, ob es Sünde ist oder nicht? Hast du nichts, das du zu verschweigen wünschst?111
Was die Methodisten miteinander verband, war die Vision einer umfassenden gesellschaftlichen Erneuerung auf Basis kirchlicher Erneuerung.112 Nachdem sie zur Erreichung dieses Ziels Anfang 1739 begonnen hatten, auf öffentlichen Plätzen und unter freiem Himmel zu predigen, erschienen die Religious Societies, in denen er sich abends im Kreis von Frommen und Gebildeten traf, immer weniger geeignet, um interessierte Erweckte, für die er tagsüber auf Straßen, Feldern oder in Kohlengruben gepredigt hatte, geistlich angemessen weiter zu begleiten. Anpassungen im Konzept der Gemeinschaftsbildung wurden unausweichlich. Sein Entschluss, »I design plain truth for plain people«,113 führte zur allmählichen Abwendung von der gebildeten und belesenen Kultur der Religious Societies mit ihrer »für gewöhnliche Leute unbekannten Sprache«114 und zum Experimentieren und Suchen nach einem für seine neue Zielgruppe passenden Gemeinschaftskonzept. Dabei zeigte sich, dass die methodistische Bewegung nicht nur solche Menschen anzog, die bereit waren, sich verbindlich in derartigen bands zu treffen, um sich auf einen solchen tiefgehenden geistlichen Prozess einzulassen. Außerdem hatte Wesley seit 1741 begonnen, disziplinarische Fragen und die Gemeinschaftszugehörigkeit über die Ausgabe oder Verweigerung von vierteljährlichen Mitgliedskarten (tickets) zu regeln. Immer wieder kam es zum Ausschluss von Mitgliedern, weil sie ihre Verpflichtungen nicht erfüllten, obwohl nirgendwo beschrieben war, was ein Methodist zu tun und zu lassen hatte.
Veranlasst durch solche Probleme und Fragen gab John Wesley 1743 die sog. Allgemeinen Regeln heraus,115 die klarstellten, was von einem Methodisten mit Blick auf seine Lebensführung erwartet wurde. Die Regeln enthielten einen Grundkatalog, der zeigte, wie die drei geistlichen Prinzipien der Wesleys116 »Böses meiden«, »Gutes tun« und »Gottes Gnadenmittel gebrauchen« in der Lebensführung eines Gemeinschaftsmitglieds offensichtlich werden müssten. Und sie gaben in ihrem letzten Absatz eine Handhabe, wie mit denen zu verfahren ist, die diese Regeln nicht bereit waren zu beherzigen. Gleichzeitig unterstrichen die Allgemeinen Regeln die gemeinschaftliche Beichte als ein unverzichtbares Element methodistischer Frömmigkeit. Im Vergleich zu den Regeln für die bands 1738 war das gegenseitige Bekennen von Erfahrungen jetzt offener und allgemeiner formuliert. Allerdings zeigt die Bestimmung, wonach jeder Methodist einem class meeting angehören musste, dass Wesley an dem gemeinschaftlichen Beichtstuhl der wöchentlichen Gruppentreffen als dem grundlegenden methodistischen Prinzip der Nachfolge festhielt und es als etwas für alle Gemeinschaftsmitglieder Verbindliches verstand.
Wie die bands waren auch die class meetings seelsorgerliche Kleingruppen. Sie begannen mit Singen und einem Gebet, worauf jeder der Reihe nach über das berichtete, was ihn bewegte und was ihm ein geistliches Anliegen war. Beschlossen wurden die Treffen jeweils mit einem Gebet, das der Leiter für die Anwesenden sprach und das ihren jeweils verschiedenen Bedürfnissen Rechnung trug. Jede methodistische Gemeinschaft war entsprechend der Wohngebiete ihrer Gemeinschaftsmitglieder in Gruppen von etwa zwölf Personen eingeteilt. Es gab einen Leiter, dessen Aufgabe es war, die Mitglieder seiner Klasse seelsorgerisch zu betreuen117 und den finanziellen Beitrag in Empfang zu nehmen, den der Einzelne für die Unterstützung der sozialen Aufgaben der Gemeinschaft beizutragen bereit war. Was von den Mitgliedern der Gemeinschaften verlangt wurde und Grundlage der Selbsterfahrung und Gewissenserforschung war, hatte John Wesley für den täglichen Gebrauch handhabbar gemacht, indem er die drei geistlichen Prinzipien durch Konkretionen, Anwendungsbeispiele oder Regeln auslegte. Damit zeigte er einen Weg auf, wie die Umsetzung der Prinzipien im praktischen Lebensvollzug erwartet werden konnte.
Die Konzentration der Gemeinschaftsregeln auf die Lebensführung des Einzelnen und ihre Beachtung in den verschiedenen Gruppen führte nicht zu einer selbst- oder ausschließlich auf Gott bezogenen Frömmigkeit. Ihr Anliegen war ein soziales. Nicht nur, dass in den bands und classes die Beiträge eingesammelt wurden, die die karitative Arbeit der Gemeinschaft ermöglichten. Diese Kleingruppen selbst bildeten ein soziales Netz, das entscheidend dazu beitrug, dass man kein Gemeinschaftsmitglied in schwierigen Lebenslagen übersah und es sich darin allein überlassen blieb.118
Das von Martin Luther in der Vorrede zur Deutschen Messe entworfene Bild von Gemeinde, Gottesdienst und Gemeinschaft ist ein bipolares Konzept und gleicht einer Ellipse mit zwei Brennpunkten.119 Der eine Pol oder Brennpunkt liegt in einem missionarisch ausgerichteten öffentlichen Gottesdienst, der sich an die Bevölkerung der gesamten Kirchengemeinde richtet, um sie für Glauben und christliches Leben zu interessieren. Den andere Pol oder Brennpunkt bilden (Haus-)Gemeinschaften innerhalb der Ortsgemeinde. Zu den wichtigsten Aufgaben dieser Gemeinschaften gehören, denen, »die mit Ernst Christen sein wollen«, einen Rahmen für die individuelle Glaubensentwicklung zu bieten, sie an den Sakramenten teilhaben zu lassen und sie in die Organisation der Armenhilfe einzubeziehen. Der entscheidende Akzent von Luthers ekklesiologischem Konzept zeigt sich in der Christus-Relation. Auf ihre Vermittlung hin ist der öffentliche Gottesdienst ausgerichtet und in ihr als der »geistlichen Lebensgemeinschaft der Gläubigen mit Christus«120 gründen die Hausgemeinschaften, die den einzelnen Christen wie der Kirche als Ganzer helfen, sich qualitativ und quantitativ zu entwickeln. Dabei hat sich gezeigt, dass für dieses differenzierte Bild Luthers von der Kirche der gesamte einleitende Textabschnitt der Vorrede zur Deutschen Messe zu berücksichtigen ist,121 nicht bloß die Passage, die die sog. »dritte Weise« beschreibt. Eine solche nuancierte Reflexion von Luthers Gemeindekonzept gilt in der gegenwärtigen Lutherforschung und in der Praktischen Theologie bislang als ein noch zu untersuchendes Themenfeld, zu deren Klärung die vorliegende Untersuchung einen weiterführenden Beitrag zu leisten vermag.
Im Kontext der obigen, skizzenhaften Betrachtung von Stationen aus der Wirkungsgeschichte von Luthers ecclesiola-Idee aus der Vorrede zur Deutschen Messe im kirchlichen deutschsprachigen Pietismus und im angelsächsischen Raum erweist sich das methodistische Gemeinschaftsmodell als eigenständige Weiterentwicklung des pietistischen ecclesiola-in-ecclesia-Konzepts. John Wesley hat sein Gemeinschaftsmodell aus den Religious Societies seiner Zeit unter Aufnahme zahlreicher Impulse aus dem deutschsprachigen Pietismus im Sinn seiner eigenen theologischen Auffassung entwickelt. Insbesondere mit dem Class Meeting läutete er für den Bereich christlicher Kleingruppen einen Paradigmenwechsel ein, indem er die vorgefundenen und eher auf Wissens- und Erkenntnisgewinn ausgerichteten Konzepte durch Gemeinschaftsangebote ergänzte, die auf geistliche Erfahrung und Lebens- bzw. Verhaltensänderung ausgerichtet sind.122 Damit schloss er sich, ohne sich dessen bewusst zu sein, eng an Luthers ecclesiola-Idee an. Insbesondere verbindet Luthers und Wesleys Konzept ein sehr ähnliches Zugehörigkeitsverständnis, die Betonung christlicher Lebensführung, eine Kultur der Seelsorge und Liebe, vielgestaltige Gemeinschaftsangebote, katechetische Orientierung für die Glaubensentwicklung der Einzelnen und eine Vorstellung vom allgemeinen Priestertum aller Gläubigen.
Dieses in den Allgemeinen Regeln für die methodistische Bewegung bestimmte Gemeinschaftsmodell verlieh dem Methodismus erst seine immense Breitenwirkung und gesellschaftliche Relevanz. Die Allgemeinen Regeln blieben weit über Wesleys Tod hinaus lebendig. Auch wenn sie im 20. Jahrhundert ihre prägende Kraft für die Frömmigkeitspraxis in den methodistischen Kirchen allmählich verloren123 und ein Soziales Bekenntnis an ihre Stelle trat,124 sind die Allgemeinen Regeln in den methodistischen Kirchenverfassungen bis heute weltweit fester Bestandteil der Lehrgrundlagen.125 Bemerkenswert und sicher nicht unwesentlich mit Blick auf die Beurteilung ihrer Bedeutung ist der Umstand, dass es trotz des hohen verfassungsmäßigen Rangs der Allgemeinen Regeln im deutschsprachigen Raum kaum Literatur zu ihrem Wesen, Nutzen und ihrer praktischen Implementierung im Gemeindeleben gibt, geschweige denn zum diesbezüglichen Stand des wissenschaftlichen Diskurses im angelsächsischen Sprachraum.
Für den deutschsprachigen Raum liegen nur wenige Arbeiten vor, die methodistische Spiritualität als eigenständiges Thema fundiert behandeln. Die wissenschaftlichen Publikationen betrachtenden Methodismus überwiegend aus einem historischen oder biographischen Interesse oder unter systematischer oder ekklesiologischer Perspektive und basieren weitgehend auf Wesleys Lehrpredigten.126 Die Perspektive der Frömmigkeitspraxis ist bisher weniger berücksichtigt und aufgearbeitet, zumindest nicht aus ihren primären Quellen heraus und selten als Beitrag zum Diskurs für die Praktische Theologie anschlussfähig dargestellt. Einen Kontrapunkt setzten hier Arbeiten von Helmut Nausner und Wilfried Nausner in ihrem Bemühen um die Erschließung von Primärquellen für die Debatte im deutschsprachigen Raum.127 Ein anhaltendes Bemühen, diese Lücke zu schließen und die Erfahrungsseite des Glaubens und Themen der Spiritualität in den Blick zu rücken, zeigen Arbeiten von Christoph Raedel. Sein 2017 erschienener Beitrag Methodistische Spiritualität im Handbuch Evangelische Spiritualität gibt einen Überblick und zeigt den Stand zum Thema im deutschsprachigen Methodismus.128 Ein weiterer wertvoller Beitrag hierzu ist die Übersetzung von Theodore Runyons Theologie The New Creation. John Wesley’s Theology Today durch Manfred Marquardt (2005). Manfred Marquardts bereits 1977 erschienene Monographie Praxis und Prinzipien der Sozialethik John Wesleys ist in diesem Bereich nach wie vor ein wichtiges Standardwerk. Christoph Klaiber behandelt in seiner Pneumatologie Von Gottes Geist verändert (2014) grundlegende Themen methodistischer Spiritualität und gibt Impulse für eine Frömmigkeitspraxis in wesleyanischer Tradition heute. Schließlich findet sich in Stefan Zürchers Dissertation Die formative Dimension des Gebets über das Gebet bei John Wesley eine gründliche Beschäftigung mit Aspekten wesleyanischer Spiritualität. Der einzige ausgesprochen praktisch-theologische und anwendungsbezogene Beitrag für die innerkirchliche Debatte im deutschsprachigen Methodismus kommt von Thomas Leßmann mit seinem Aufsatz über das Konzept des Covenant Discipleship von David L. Watson.129
Die trotz der oben erwähnten Arbeiten bis heute weitgehend fehlende Perspektive auf die methodistische Frömmigkeitspraxis im deutschsprachigen Methodismus-Diskurs erstaunt, weil in dem vierbändigen wissenschaftlichen Grundlagenwerk zur methodistischen Geschichte A History of the Methodist Church in Great Britain (1965) Themen methodistischer Spiritualität, Religiosität und Frömmigkeit in der Darstellung des Methodismus im 18. Jahrhunderts einen auffallend breiten Raum einnehmen. Dieses Konzept wurde auch in den nachfolgenden Bänden beibehalten. Damit wurden der Frömmigkeitspraxis und dem christlichen Leben als Perspektiven wissenschaftlicher Betrachtung eine Eigenständigkeit zugestanden, was wichtige, bisher weniger beachtete Facetten methodistischer Spiritualität zur Sprache bringen konnte, denn
»Methodism is neither a doctrine nor a polity. […] Methodism is […] a way of life. The preaching of a doctrine and the foundation of a polity were means to an end. The due end was that a new awareness of God in Christ, and a new equipment of moral power through the operation of the Holy Spirit, should come into the lives of the people, to the renewal of Church and State.«130
Dieser die Spiritualitätsforschung einschließende Blickwinkel ist auch grundlegend für die 1960 begonnene Arbeit an der historisch-kritischen Ausgabe der Werke von John Wesley,131 insbesondere für die Beiträge von Albert C. Outler.132 Methodistische Spiritualität ist im angelsächsischen Bereich bis in die Gegenwart ein wichtiger Fokus, um Wesleys Methodismus für die heutigen Herausforderungen in Kirche und Welt wirksam und ertragreich zu machen. Verwiesen sei auf die Arbeiten zum methodistischen Class Meeting und den Allgemeinen Regeln von David L. Watson133 und D. Michael Henderson,134 die stärker systematischtheologisch ausgerichteten Arbeiten von Randy L. Maddox,135 Theodor Runyon136 oder Paul W. Chilcote137 und die praktisch-theologischen Ansätze von David L. Watson, Paul D. Watson und Kevin M. Watson.138 Mit Band 10 der Bicentennial Edition 2011 liegen zusammen mit Band 9 die wesentlichen Schriften Wesleys zur Frömmigkeitspraxis der Bewegung vor, die in alten Werkausgaben unvollständig waren oder gänzlich fehlten. Die Herausgeber Rupert E. Davies und Henry D. Rack knüpfen mit diesen beiden Bänden an die Artikel zur Spiritualitätsforschung der ersten beiden Bände von A History of the Methodist Church in Great Britain an bzw. ergänzen diese.
Im deutschsprachigen Methodismus dagegen herrscht ein offensichtlicher Mangel an wissenschaftlichen Arbeiten, die Anschluss geben an den Stand der methodistischen Spiritualitätsforschung im angelsächsischen Bereich, insbesondere an die Erträge aus einem halben Jahrhundert Arbeit an der Bicentennial Edition, und die praktisch-theologische Ansätze bieten für die Frömmigkeitspraxis einer Kirche, die sich in der Tradition von Wesleys Methodismus sieht. Besonders schwer wiegen der fehlende Zugang zu der Literatur, die in der Zeit des frühen Methodismus die Gemeinschafts- und Frömmigkeitsbildung und den spezifischen Charakter methodistischer Spiritualität bedingte, wie Gemeinschaftsregeln, Liederbücher, Gelegenheitsschriften, Traktate oder die Konferenzprotokolle, und das Fehlen von Arbeiten zum Diskurs über die Untersuchung dieser Literatur im angelsächsischen Methodismus. Die einzigen beiden Quellenschriften zur methodistischen Frömmigkeit, die im deutschen Methodismus in einer gewissen Nachhaltigkeit und Breite rezipiert wurden, sind Wesleys Traktat The Charakter of a Methodist139 und die Predigt The Use of Money.140 Beide Texte haben theologisch-prinzipiellen Charakter, geben aber wenig Vorstellung davon, wie diese Spiritualität praktische Gestalt angenommen hat und heute, dieser Tradition verpflichtet, die Praxis gestalten könnte.
Dieser Mangel an methodistischer Spiritualitätsforschung wiegt umso schwerer, als in einer Zeit der Wiederkehr des Religiösen141 erfahrungsbezogene Konzepte der Frömmigkeit und Kirchentheorien prädestiniert wären, auf ihr Potential für eine Spiritualität der Gegenwart hin befragt zu werden. Manfred Marquardt weist im Vorwort seiner jüngst neu herausgegebenen Ausgabe von Wesleys Lehrpredigten darauf hin, dass
»Wesley seine theologischen Hauptstücke nicht in ein dogmatisches Gesamtwerk, sondern in Lehrpredigten und Traktate, Briefe und Tagebücher [fasste], die er für die Veröffentlichung auswählte und bearbeitete«.142
Umso schwerer wiegt der Umstand, dass weder Traktate noch Briefe oder Tagebücher analog zu den Lehrpredigten für den deutschsprachigen Diskurs durch Untersuchungen erforscht und aufgearbeitet sind. Denn sie sind der Rahmen, innerhalb dessen die in den Predigten entfaltete Theologie verstanden werden muss. Eine empfindliche Lücke für die Nutzung des Potentials wesleyanischer Theologie und Spiritualität in der Kirchen- und Gemeindeentwicklung der Gegenwart verursacht das Fehlen einer historisch-kritischen Bearbeitung der Allgemeinen Regeln, in denen Wesley bekanntlich sein Gemeinschaftskonzept ekklesiologisch und praktisch-theologisch beschrieben hat. Dieser Mangel ist auch für den angelsächsischen Sprachraum als Desiderat zu reklamieren.
Hier setzt die vorliegende Arbeit an, indem sie im Teil II Wesleys Allgemeine Regeln erstmals entsprechend ihrer ursprünglichen, durch den Titel »Wesen, Gestalt und Allgemeine Regeln des Gemeinschaftsbundes« angegebenen Intention als ein Leitbild untersucht und nicht nur in der eingeschränkten Perspektive auf den Textteil mit seinen ethischen Leitlinien und im Verständnis eines Beichtspiegels oder moralischen Regelwerks hin betrachtet. Hierfür ist die Einbeziehung des Gedichts von Charles Wesley von entscheidender Bedeutung. Diese Hymne war im frühen Methodismus fester Bestandteil der Allgemeinen Regeln und ihre Funktion innerhalb dieses Leitbilds bestand in weit mehr als in einer lyrisch-poetischen Zugabe zur Erbauung der Leser. Das Lied vermittelt wichtige Hinwiese auf Haltungen, Einstellungen und Kompetenzen für die religiöse, frömmigkeitspraktische und spirituelle Kultur der Kleingruppen, in denen dieses Leitbild eines seiner wichtigsten Anwendungsfelder fand. Für den deutschsprachigen Bereich stellt die vorliegende Arbeit überhaupt die erste wissenschaftliche Monographie zum Thema dar und gibt Anschluss an den angelsächsischen Diskurs zu den Allgemeinen Regeln und an neuere Arbeiten zur methodistischen Spiritualitätsforschung deutscher Sprache.
Im Prozess der methodistischen Gemeinschaftsbildung im 18. Jahrhundert markiert die Herausgabe der sog. Allgemeinen Regeln1 (1743) den Abschluss einer Phase2 mehr als zehnjährigen Experimentierens auf John Wesleys Suche nach einem tragfähigen Konzept für die spirituelle Begleitung der in Evangelisationsveranstaltungen erweckten Menschen. Entstanden war ein differenziertes System ineinandergreifender und in ihrer Funktion und Zielrichtung sich gegenseitig ergänzender Kleingruppen. Dieses Gemeinschaftskonzept blieb abgesehen von geringfügigen Modifikationen bis weit ins 19. Jahrhundert unverändert erhalten.3 Aus diesem Grund kommt den Allgemeinen Regeln für eine Untersuchung von Wesleys Gemeinschafts-Konzept eine hervorgehobene Bedeutung zu: 1743 flächendeckend als Gemeinschaftsregel eingeführt bestimmten sie das Leben der Gemeinschaft im Sinn einer Grundordnung leitbildartig in allen wichtigen Themen. Vor allem das sog. Class Meeting, deren Teilnahme die Allgemeinen Regeln zur Pflicht erhoben, gilt als Herzstück der Bewegung und als Motor für ihr exponentielles Wachstum. Dwight Lyman Moody (1837–1899), einer der bedeutendsten Erweckungsprediger des 19. Jahrhunderts, urteilte: »The Methodist class-meetings are the best institutions for training converts the world ever saw.«4
Kritisch ist allerdings zu bemerken, dass die Allgemeinen Regeln, auch wenn sie bis heute fester Bestandteil methodistischer Kirchenverfassungen sind, für das kirchliche Leben in der Gegenwart keine Relevanz mehr haben. Offensichtlich war es nicht gelungen, ihre Bedeutung und ihren Wert ohne weitere Reflexion in eine neue Zeit zu transformieren. Daher wäre es falsch, die Erkenntnisse aus der in Teil II vorgelegten Untersuchung (Kapitel 2 – 5) bereits als Anwendungsmöglichkeit für die Kirchen- und Gemeindeentwicklung heute zu präsentieren.5 Vielmehr sollen in einem abschließenden Kapitel 6 die Prinzipien von Wesleys Gemeinschaftsbildung (Kapitel 5) auf Entsprechungen und Ähnlichkeiten mit Luthers Kirchenbegriff (Kapitel 1,1) hin untersucht werden. Die dabei festgestellten gemeinsamen Grundsätze kirchlicher Erneuerung bei Luther und Wesley werden schließlich in Teil III ins Gespräch mit drei Kirchentheorien gebracht, wie sie heute in der Praktischen Theologie diskutiert werden, um daraus Einsichten und Impulse für die Kirchen- und Gemeindeentwicklung in der Gegenwart zu gewinnen.
Im ersten Abschnitt der Allgemeinen Regeln skizziert John Wesley, wie es zum Class Meeting als dem grundlegenden Prinzip methodistischen Gemeinschaftslebens kam. Die Angabe »Gegen Ende des Jahres 1739« markiert den Zeitpunkt in der methodistischen Gemeinschaftsbildung, an dem
»Wesley’s instructional system reached its final stage of development with the establishment of the Founder Society in December of 1739. During a three-year organizational period, several new features were added to the Wesleyan format of group instruction.«6
Dieses Jahr brachte für Wesley etliche grundlegende Einsichten mit Blick auf das Verständnis seines Auftrags, Dienstes und seiner Vision. Dazu zählen:
Wesley sah die Notwendigkeit einer grundlegenden gesellschaftlichen Erneuerung seines Landes. Darum hatte er seinen missionarischen Leitsatz »The World is my Parish«7 mit der Zweckbestimmung verbunden: »to reform the Nation, particularly the Church«.8 Wesleys Vision war eine umfassende gesellschaftliche Erneuerung auf Basis kirchlicher Erneuerung.9 Diese war nötig, weil Wesley die englische Gesellschaft seiner Zeit als weitgehend entkirchlicht verstand. Die einschneidendste Erfahrung in der Verfolgung dieser Vision wurde für ihn das Predigen auf öffentlichen Plätzen unter freiem Himmel.10 George Whitefield (1714–1770), der zur Kerngruppe des Holy Club gehört hatte und einer seiner wichtigsten Weggefährten war, hatte im Februar 1739 begonnen, in der Öffentlichkeit zu predigen, wobei er sofort auf große Resonanz in der Bevölkerung stieß. Anderthalb Monate später, am 2. April, hielt Wesley seine erste Predigt unter freiem Himmel auf dem Gelände einer Ziegelei.11 Von da an ist er im ganzen Land unterwegs und spricht zu riesigen Menschenansammlungen.
»Wesley wanted above everything else to find a remedy to the moral ills of his time and nation. This was reflected in the goal-slogan he adopted as his watchword: ›To spread scriptural holiness throughout the land.‹«12
Eine Herausforderung bestand in der pastoralen Versorgung dieser Menschenmassen. Denn die Religious Societies, in denen er sich abends im Kreis von Frommen und Gebildeten traf, waren ungeeignet, interessierte Erweckte, für die er tagsüber auf Straßen, Feldern oder in Kohlengruben gepredigt hatte, geistlich angemessen weiter zu begleiten. Die Entscheidung für die Unterschicht als Hauptzielgruppe bedeutete einen tiefgreifenden Paradigmenwechsel, der Anpassungen in seiner evangelistischen und gemeinschaftsbildenden Tätigkeit erforderlich machte. Dazu gehörte sein Entschluss: »I design plain truth for plain people.«13 Wesley wandte sich bewusst ab von der gebildeten und belesenen Kultur der Religious Societies mit ihrer »für gewöhnliche Leute unbekannten Sprache«.14 Diese Neuausrichtung hatte konkrete Folgen: