Ernst Cassirer zur Einführung - Heinz Paetzold - E-Book

Ernst Cassirer zur Einführung E-Book

Heinz Paetzold

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Beschreibung

Ernst Cassirer (1874-1945) hat die strategischen Grundsatzdebatten der Philosophie in den letzten Jahrzehnten der Moderne wie wenige andere geprägt. Bekannt geworden ist Cassirer, der den Neukantianismus um den Ansatz der Kulturwissenschaft erweiterte und schließlich zu einer übergreifenden Philosophie der Kultur gelangte, insbesondere durch seine »Philosophie der symbolischen Formen«. Alle menschliche Erfahrung, die sich in Sprache, Mythos, Religion, Kunst und Wissenschaft niederschlägt, ist symbolisch geformt. Zwischen Ich und Welt vermitteln Formen des Sinns. Den Grundgedanken und das Lebenswerk Cassirers stellt diese Einführung verständlich und in lesefreundlicher Kürze dar.

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Seitenzahl: 180

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Ernst Cassirer zur Einführung

Heinz Paetzold

Ernst Cassirer zur Einführung

Junius Verlag GmbH

Stresemannstraße 375

22761 Hamburg

Im Internet: www.junius-verlag.de

© 1993 by Junius Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Florian Zietz

Titelfoto: Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin

E-Book-Ausgabe Januar 2017

ISBN 978-3-96060-025-1

Basierend auf Printausgabe

ISBN 978-3-88506-371-1

4. Auflage 2014

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

Inhalt

1. Wer war Ernst Cassirer?

2. Cassirers philosophische Anfänge im Marburger Neukantianismus

3. Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie

Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen

Substanzbegriff und Funktionsbegriff

Philosophie der symbolischen Formen

4. Die Systematik der Philosophie der symbolischen Formen

5. Mythos und Sprache als symbolische Formen

Der Mythos

Die Sprache

6. Von der Kulturphilosophie zur Anthropologie

7. Kunst als symbolische Form

8. Von der Kulturanthropologie zur Sozialphilosophie

9. Die Physiognomie der Kulturphilosophie Ernst Cassirers

10. Der ganze Cassirer soll es sein. Aspekte der zeitgenössischen Cassirer-Forschung

Anhang

Anmerkungen

Literaturhinweise

Zeittafel

Über den Autor

1. Wer war Ernst Cassirer?

Hätte man im Jahre 1915 philosophisch Interessierte in Deutschland nach Ernst Cassirer gefragt, so wäre die Antwort wahrscheinlich gewesen: Cassirer, das ist ein Erkenntnistheoretiker. War doch Ernst Cassirer der Autor des Buches Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen (1902) sowie eines zweibändigen Werkes zur neuzeitlichen Erkenntnistheorie (Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, 1906/07). Namentlich bei dem zuletzt genannten Werk handelt es sich um ein damals neues Genre der Philosophie, die Problemgeschichte. Galilei, Descartes, Leibniz und Kant sind die Heroen. Zu deren Erkenntnistheorien gibt es allerdings eine verwickelte Vorgeschichte, welche Autoren wie Cusanus, Bacon, Hobbes, Locke, Hume, Berkeley, Spinoza, Lambert und viele andere umfasst.

Mit seinem im Jahre 1910 veröffentlichten Buch Substanzbegriff und Funktionsbegriff hat derselbe Autor Cassirer in die damaligen Debatten über den Sinn und die Tragweite der wissenschaftlichen Erkenntnis eingegriffen. Wolle man die treibende Dynamik und die innere Konstellation der zeitgenössischen Erkenntnisproblematik innerhalb der Naturwissenschaften begreifen, so müsse man davon ausgehen, dass die wissenschaftlichen Begriffe keine Wesensbegriffe mehr seien, mithilfe deren die Phänomene »substanziell« definiert und erklärt würden. Wissenschaftliche Begriffe träten vielmehr zu »Feldern« oder »Reihen« zusammen, und nur darin erfüllten sie eine produktive Funktion.

Für eine erste Erläuterung dieses Punktes ist der von Cassirer selbst erörterte Begriff der Energie anzuführen: In der physikalischen Theorie empfiehlt sich der Begriff der Energie aus drei Gründen. (Vgl. SuF, 250ff.) Zunächst einmal ist Energie nicht als eine dingliche Qualität zu verstehen. Sie ist etwas Wirksames, das selbst unsichtbar bleibt. Außerdem eignet sich der Begriff der Energie vorzüglich zu einer mathematisch-numerischen Darstellung. Energie kann man in Quanten ausdrücken. Schließlich erlaubt es der Begriff der Energie, verschiedene Bereiche der physikalischen Welt, wie Kraft, Wärme und Bewegung, miteinander zu verknüpfen. Die Energie tritt nicht als Sonderexistenz in Erscheinung, wie das Licht oder die Elektrizität, sondern sie drückt lediglich einen funktionalen Zusammenhang zwischen den Phänomenen aus.1

Hätte jemand sich zu Beginn des Jahres 1933, also fast zwanzig Jahre später, nach dem Autor Ernst Cassirer erkundigt, so wäre er auf dessen in den Zwanzigerjahren publiziertes dreibändiges Werk Philosophie der symbolischen Formen verwiesen worden (Erster Teil: Die Sprache, 1923; Zweiter Teil: Das mythische Denken, 1925; Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis, 1929). Mit dieser Arbeit war der Erkenntnistheoretiker Cassirer zum Kulturphilosophen geworden. Damit nahm Cassirer Anteil an der Formung eines damals neuen Genres der Philosophie: der Kulturphilosophie. Die wissenschaftliche Erkenntnis war nicht länger der einzige Fokus der Philosophie, neben ihn traten die Sprache sowie der Mythos als Formen, in denen sich eine kulturelle Spontaneität und Aktivität des menschlichen Geistes bekundet. Außerdem machte Cassirer deutlich, dass das wissenschaftliche Erkennen in alltäglichen Formen der Deutung der objektiven, der intersubjektiven und der inneren subjektiven Welt gründet. Geblieben war Cassirers Interesse für die innere »Logik« der menschlichen Erfahrung. Aber es gibt nicht nur die eine »Logik« der wissenschaftlichen Erfahrung, ihr tritt vielmehr eine Logik des sprachlichen, des mythischen und des alltäglichen Weltverstehens zur Seite.

Mit seiner Philosophie der symbolischen Formen verschaffte sich Cassirer schnell eine auch internationale Resonanz und Reputation. 1933 wurde der liberale jüdische Kulturphilosoph von den nationalsozialistischen Machthabern in Deutschland gezwungen, sein Herkunftsland zu verlassen. England zunächst und dann Schweden gewährten dem von Verfolgung bedrohten Gelehrten Aufenthaltsrecht und verschafften ihm akademische Arbeitsmöglichkeiten. Es spricht für die geistige Assimilationsbereitschaft Cassirers, dass er mit Axel Hägerström. Eine Studie zur Schwedischen Philosophie der Gegenwart (1939) nicht nur seiner Kulturphilosophie ein sozialphilosophisches Profil verlieh, sondern dass seine Studie auch ein Zeugnis der intellektuellen Auseinandersetzung mit der philosophischen Mentalität des Gastlandes bietet. Zweifellos hat das noch im Ausgang der Weimarer Republik verfasste Werk Die Platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge (1932) seinem Autor Cassirer die Berufung an die Universität Oxford eingetragen.

Hätte man wiederum zu Beginn des Jahres 1945 – der vor dem Holocaust geflohene Cassirer, der 1939 die schwedische Staatsbürgerschaft erhalten hatte2, war im Jahr 1941 in die USA gelangt – in der englischsprachigen Welt den Namen Cassirer genannt, dann wäre man zweifellos belehrt worden, dass es sich um einen kulturanthropologischen Autor handle. Dieser hatte in seinem amerikanischen Exil ein Buch publiziert, das nach dem Erkenntnistheoretiker und Kulturphilosophen Cassirer eine dritte Identität signalisierte: zeichnet doch An Essay on Man aus dem Jahre 1944 eine Wende zur Anthropologie aus. Die berühmte Formel des Aristoteles, der zufolge der Mensch ein »animal rationale« sei, müsse neu gefasst werden. Der Mensch sei eher das »animal symbolicum« (VM, 51) – ein Wesen, das sich seine Identität in der Welt durch den Gebrauch von Symbolen verschaffe. Die symbolische Ideation sei die grundlegende Aktivität der Menschen.

Das Buch The Myth of the State, das, 1944 konzipiert, erst im Jahr 1946 posthum publiziert wurde und langjährige Studien zu diesem Thema zusammenfasst3, ist Cassirers philosophische Verarbeitung des nationalsozialistischen Holocaust. Es gebe nicht nur einen gewissermaßen legitimen Umgang mit den mythischen Energien der menschlichen Erfahrung in Religion und Kunst. Die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts – allen voran der deutsche Faschismus – machten einen illegitimen, aber darum doch äußerst wirkungsvollen Gebrauch vom Mythischen. Die totalitären Machthaber setzten den Mythos zu den Zwecken einer affektiven und mentalen Gleichschaltung der Menschen strategisch ein. Mit den Mitteln der modernen Kommunikationstechnologien (Radio, Zeitung) erzeugten die totalitären »Herren« Mythen. Diese hätten den praktischen sozialen Sinn, eine durch ökonomische, politische und soziale Krisen verunsicherte Gesellschaft totalitär zur Volksgemeinschaft zusammenzuschweißen.

Die intellektuelle Physiognomie Ernst Cassirers bliebe ohne die nötige Kontur, ließe man außer Acht, dass es diesem Autor nicht zuletzt auch um die Ursprünge der kulturellen Moderne ging. Das Buch Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance (1927) porträtiert die Epoche der europäischen Renaissance. Es handelt sich um eine kulturphilosophische Deutung der Ursprünge der Moderne. Nicht nur das wissenschaftliche Profil dieser Epoche, sondern darüber hinaus ihr religiöses, soziales, künstlerisches und politisches Antlitz tritt hervor. Schon 1916, also noch vor der Ausarbeitung seiner Philosophie der symbolischen Formen, hatte Cassirer Studien zur deutschen Entwicklungslinie der kulturellen Moderne veröffentlicht: Freiheit und Form – so der Titel des Werkes – ging der Entfaltung der neuzeitlichen Ästhetik, der Entstehung der modernen Staatskonzeption und modernen Literatur nach. Obwohl Cassirer einen spezifisch deutschen Entwicklungspfad verfolgte, deutete er diesen doch nicht als einen privilegierten, wie deutschtümelnde Ideologen des imperialistischen Deutschland damals suggerierten.4 Ergänzend zeichnet die Studie Die Platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge (1932) kulturelle Modernisierungsschübe auf der britischen Insel nach.

Das von Cassirer selbst am meisten geschätzte Buch war indessen dem 18. Jahrhundert gewidmet: Die Philosophie der Aufklärung (1932). Der Titel ist gewissermaßen Programm: Das Werk befasst sich mit der sozialen und kulturellen Wirkung bzw. Wirksamkeit der Philosophie.

Schon diese kurze Skizze zeigt: Das philosophische Œuvre Ernst Cassirers zu verstehen heißt, interne Transformationen seiner Philosophie zu begreifen. Es bedeutet einzusehen, dass die Erkenntnistheorie sich zur Kulturphilosophie entwickelt. Die Kulturphilosophie indessen verwandelt sich in Anthropologie. Die Anthropologie schließlich ist nur als sozialphilosophisch informierte politische Philosophie möglich.

Scheut man ein wenig Pathos nicht, so kann man sagen: Cassirers philosophisches Werk ist das Zeugnis der Odyssee eines jüdischen Intellektuellen deutscher Herkunft im Ausgang des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. War doch der am 28. Juli des Jahres 1874 geborene und am 13. April 1945 verstorbene Ernst Cassirer Zeuge zweier Weltkriege. Seine Lebensspanne umfasst gewaltige soziale und politische Umwälzungen und Revolutionen. Nicht zuletzt hatte Cassirer die Verkehrung der europäischen Kultur zum Holocaust der Nationalsozialisten zu verarbeiten.

2. Cassirers philosophische Anfänge im Marburger Neukantianismus

Der Name Ernst Cassirers wird heute nahezu automatisch mit der Programmatik einer Philosophie der symbolischen Formen assoziiert. Wörtlich ist damit zunächst einmal Cassirers dreibändiges Werk gleichen Namens gemeint, das in den Zwanzigerjahren publiziert wurde. Der erste Band von 1923 enthält eine Theorie der Sprache. Der zweite Band aus dem Jahr 1925 beschäftigt sich mit dem »Mythischen Denken«. Der dritte Band schließlich umkreist eine »Phänomenologie der Erkenntnis« und erschien 1929. In der Tat muss dieses dreibändige Werk als das Herzstück der cassirerschen Philosophie gelten. Es hat sich allerdings auch eingebürgert, die Philosophie Ernst Cassirers insgesamt als eine Philosophie der symbolischen Formen zu bezeichnen. In diesem Fall rechnet man seine spätere Philosophie – sagen wir: ab 1935 – dazu und meint ganz allgemein eine Kulturphilosophie auf transzendentalkritischer Basis, die an zentraler Stelle mit dem Symbolischen oder mit symbolischen Zeichen operiert.

Der größeren Genauigkeit wegen spreche ich von vier Phasen der Philosophie Cassirers. Eine erste, vom Neukantianismus geprägte Phase reicht bis etwa 1920: Seine Philosophie steht hier im Zeichen der Erkenntnistheorie. Darauf folgt die Ausarbeitung der Philosophie der symbolischen Formen, vor allem in den Zwanziger- und den beginnenden Dreißigerjahren. Es macht Sinn, von diesen beiden noch zwei weitere Phasen zu unterscheiden. Etwa von 1935 an gab Cassirer seiner Symbolphilosophie sukzessive eine anthropologische sowie eine sozialphilosophische Wendung. Diese Phasen im Zeichen von Anthropologie und Sozialphilosophie fallen in sein letztes Lebensjahrzehnt und sind zeitlich nicht deutlich gegeneinander abzugrenzen. Auch trifft es zu, dass Cassirer die symboltheoretischen Grundlagen nicht mehr preisgibt.

Meine Darstellung orientiert sich an dem eben angedeuteten Schema. Das erste Kapitel wird den Erkenntnistheoretiker Cassirer vorstellen und jeweils schon Vorausverweise auf die Symboltheorie andeuten. Im Anschluss daran wird die von Cassirer bis zum Ende seines Lebens grosso modo nicht mehr preisgegebene »Systematik« der Philosophie der symbolischen Formen zu erörtern sein. Das dritte Kapitel stellt Cassirers Analysen zu Mythos und Sprache als Beispiel von symbolischen Formen in das Zentrum der Betrachtung. Die weiteren Kapitel gehen den Motiven nach, die zu einer anthropologischen und dann zu einer sozialphilosophischen Wende der Philosophie der symbolischen Formen geführt haben.

Cassirer begann, wie gesagt, nicht als Kulturphilosoph, sondern als Erkenntnistheoretiker. Die erste Phase seines Schaffens wie überhaupt seine philosophischen Anfänge weisen auf den Neukantianismus zurück. Es war der Marburger Schulzusammenhang, dem die ersten Schritte Cassirers verpflichtet waren. Was bezeichnet der Begriff des Neukantianismus und wie sind aus diesem Kontext heraus Cassirers erste Anfänge zu verstehen?

Vergegenwärtigen wir uns sehr summarisch die philosophische Szene in Deutschland im letzten Drittel des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, denn in diese Zeit fällt die größte Wirksamkeit des Neukantianismus. Der Neukantianismus war, um es vorwegzunehmen, der Versuch, eine angemessene Antwort auf zwei grundlegende Probleme der zeitgenössischen Philosophie zu formulieren: die Krise des Idealismus und die Erfolge der Naturwissenschaften. Spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts war das »Ende« der idealistischen Systeme eingeläutet. Die Systeme des deutschen Idealismus – für unsere Zwecke sind positionelle Differenzen zwischen Schelling, Hegel und Schopenhauer von keinem Belang – hatten versucht, das Ganze des Seins sowie die Stellung des Menschen darin aus einem einsichtigen Prinzip spekulativ zu erklären. Durch die Angabe eines Problemindexes sowie durch die Vermittlung mit grundlegenden Prinzipien sollte ein Phänomen gedeutet und umschrieben werden: Bei Hegel war es die Konzeption des absoluten Geistes, bei Schelling die Indifferenz von Natur und Geist, bei Schopenhauer war es der Begriff des Willens. Durch diese Prinzipien sollte die Welt im Ganzen begreifbar gemacht werden.

Seine Kritik am Philosophieren im System teilte der Neukantianismus mit Außenseitern der akademischen Philosophie. Um nur einige prägnante Beispiele dieser Art Kritik zu nennen: Ludwig Feuerbach (1804-1872) wandte sich gegen die Annahme Hegels, der zufolge die sinnliche Wahrnehmung des Menschen sowie seine leibliche Existenz ohne Rest in Geistiges aufgehoben werden könnten. Sören Kierkegaard (1813-1855) bezweifelte die mit dem Idealismus verbundene Annahme, dass die faktische Existenz des Menschen spekulativ in ein Integral der Versöhnung von »Ich« und »Welt«, von »Ich« und »Geschichte« aufgelöst werden könnte. Die dem Menschen nur allzu vertrauten Phänomene der Angst und der Verzweiflung entlarven in seinen Augen die auf Versöhnung setzende Philosophie als vordergründig. Mit Blick auf das faktisch bestehende soziale Unrecht und auf die permanent aufbrechenden ökonomischen Krisen kritisierten Karl Marx (1818-1883) und Friedrich Engels (1820-1895) den Idealismus hegelschen Zuschnitts als ideologische Feier des Bestehenden. Es gelte vielmehr, die Ansprüche der Philosophie auf eine durch Vernunft bestimmte Einrichtung der Welt zuallererst durch revolutionäre Praxis einzulösen. Friedrich Nietzsche (1844-1900) schließlich diagnostizierte die kulturellen Krisen der Zeit als aufbrechenden Nihilismus. Dieser Nihilismus war eine Konsequenz jener Metaphysik, mit der die idealistische Philosophie nur allzu willig paktiert hatte. Indikatoren wie diese inspirierten beispielsweise auch Karl Löwith zu seinem Buch Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts (1941). Die hier nur paradigmatisch genannten Denker waren – wie gesagt – Außenseiter und Gegner der akademischen Philosophie.

Die Neukantianer ihrerseits waren alles andere als blind gegenüber den sozialen und kulturellen Umbrüchen ihrer Zeit. Aber sie vollzogen keinen revolutionären Bruch der Philosophie. Man war eher reformistisch gestimmt. Eine der Gründergestalten des Marburger Neukantianismus, Friedrich Albert Lange (1828-1875), hatte eine, wenngleich kritische Geschichte des Materialismus (1865) verfasst und war auch persönlich einem undogmatischen Marxismus verbunden. Ähnlich lag die Sache bei Hermann Cohen (1842-1918), dem führenden Kopf der Marburger Schule. Er argumentierte zwar philosophisch gegen den Materialismus, trug aber zusammen mit Rudolf Stammler (1856-1938), Fritz Staudinger (1849-1921) und Karl Vorländer (1860-1928) wesentlich zu einer ethischen Begründung des Sozialismus bei. Politisch trafen sich die Neukantianer nicht mit dem orthodoxen Marxismus eines Karl Kautsky, wohl aber mit dem Revisionismus eines Eduard Bernstein.5

Der neukantische Impuls gegen die philosophischen Systeme des Idealismus blieb also primär eine innerakademische Angelegenheit. Man war kritischer Idealist, nicht Idealist pur sang. Aus der Sicht der Neukantianer waren die idealistischen Systeme philosophisch gescheitert, weil sie einem allzu schematischen Bild der Welt folgten. Hegel, Schelling und Schopenhauer hatten die Natur nur aus einigen wenigen Prinzipien erklären wollen. Sie hatten keinen Blick für die Vielfalt der Phänomene, wie sie von der aufblühenden Naturwissenschaft deutlich gemacht wurden.

Nach Auffassung der Neukantianer hat sich die Philosophie an den Ergebnissen der empirischen Naturwissenschaften auszuweisen und zu bewähren. Daher der Ruf »Zurück zu Kant«. Der auf Kant historisch folgende Idealismus Fichtes, Schellings, Hegels und Schopenhauers hatte die bei Kant noch deutliche Verbindung der Philosophie mit den empirischen Wissenschaften leichtfertig zerschnitten. Der Übergang von der Kritik der wissenschaftlichen Erkenntnis – allen voran der Mathematik und der Physik – zur Spekulation war im Hinblick auf seine Konsequenzen nicht durchdacht.

Im Bunde mit Naturwissenschaftlern wie Hermann von Helmholtz und Heinrich Hertz forderten die Neukantianer der Marburger Schule – neben den schon Genannten sind noch Otto Liebmann (1840-1912) und Paul Natorp (1854-1924) zu erwähnen – eine erneute systematische Lektüre Kants im Lichte der Ergebnisse der neueren Naturwissenschaften. Kant wird als Scheitelpunkt der modernen Philosophie gedeutet. Galilei, Descartes und Leibniz galten den Neukantianern als die wichtigsten Vordenker des kantischen Kritizismus. In der Antike war es Platon, nicht Aristoteles, der den kritischen Idealismus initiierte. In den Siebziger- und Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts hat Hermann Cohen zu den drei Kritiken Kants Kommentare geschrieben: Kants Theorie der Erfahrung (1871), Kants Begründung der Ethik (1877) und Kants Begründung der Ästhetik (1889). Damit war das Startzeichen für den Neukantianismus der Marburger Prägung gegeben.

Ernst Cassirer begann seine philosophische Laufbahn in der Schule von Hermann Cohen. Charakteristisch für Cohen war der Versuch, den Kritizismus Kants durch einen begründbaren Nachvollzug der naturwissenschaftlichen Erkenntnis zu erneuern. Das war programmatisch: Philosophie wird zur Erkenntniskritik. Sie soll etwas Drittes sein gegenüber dem früheren spekulativen System, aber auch gegenüber der immanenten Wissenschaftstheorie.

Cohens eigener Ansatz der Erkenntniskritik wird fassbar in seiner Schrift Logik der reinen Erkenntnis (1902). In der Entfaltung seiner philosophischen Systematik blieb Cohen am Vorbild Kants orientiert. Der Logik der reinen Erkenntnis, die im Seitenblick auf Kants Kritik der reinen Vernunft verfasst war, folgte als zweiter Systemteil eine Ethik des reinen Willens (1904). Die architektonische Parallele zu Kants Kritik der praktischen Vernunft ist nicht zu übersehen. Die spezifisch neukantische Verschiebung tritt jedoch sogleich zutage, wenn man bedenkt, dass es Cohen nicht allein um die Rechtfertigung der Moralphilosophie ging, sondern zugleich auch um die Grundlegung der Sozialwissenschaften. Leitend war hierbei die Disziplin der formalen Rechtswissenschaft: Ihre transzendentalkritische Begründung resultiert aus der Moralphilosophie. Beim dritten Teil von Cohens philosophischem System, der Ästhetik des reinen Gefühls (1912), gibt es keine Leitwissenschaft, an der sich die Philosophie methodisch orientieren kann, es ist vielmehr das Faktum des Kunstwerks selbst, nach dessen Bedingungen der Möglichkeit die Philosophie transzendentalkritisch zu fragen hat.

Mit diesen drei Büchern, die mehr waren als lediglich Kommentare zu den drei Kritiken Kants, hat der Marburger Neukantianismus ein eigenständiges Profil gewonnen: Die Erkenntniskritik hat einen deutlichen logischen und methodologischen Primat. Sie gewinnt ihr Profil in der Auseinandersetzung mit der natur- und der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis. Erst auf der Basis der Erkenntniskritik können Ethik und Ästhetik erarbeitet werden.

Cassirers erstes Buch, Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen (1902), bewegt sich noch vollständig im Bannkreis des Denkens seines akademischen Lehrers Hermann Cohen. Es geht gewissermaßen um die »Vorgeschichte« des kantischen Kritizismus. Selbstständige Akzente setzte Cassirer freilich schon mit Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910), applizierte er doch hier den neukantischen Denkrahmen auf die philosophisch noch unerschlossenen neuesten Ergebnisse der Mathematik und der Physik. Doch erst mit seiner Philosophie der symbolischen Formen erreichte er seinen eigenständigen Ansatz einer Kulturphilosophie, der Primat der naturwissenschaftlichen Erkenntnis entfällt. Cassirers Philosophie entfaltet sich in enger Tuchfühlung mit den »Geisteswissenschaften«, der Linguistik, der Ethnologie, der Literaturwissenschaft, der Psychologie einerseits, sowie mit den Naturwissenschaften, der Physik, der Mathematik, der Chemie, andererseits. An die Stelle der früheren Erkenntnistheorie tritt eine symbolische Bedeutungstheorie kultureller Objektivationen. Selbst hierbei sind freilich inhaltliche Rückbindungen zu dem Marburger Neukantianismus – nun vor allem in Gestalt von Paul Natorp – nicht zu übersehen. Natorps Allgemeine Psychologie (1912, erste Fassung 1888) ist zu nennen, geht es Natorp doch um eine Theorie des unmittelbaren Erlebens, welche alle Dimensionen der Subjektivität rekonstruktiv ausleuchtet.

Die Vorgaben des Marburger Neukantianismus hat der »reife« Cassirer in den Zwanzigerjahren definitiv hinter sich gelassen. Dies geschah nicht zuletzt auch deshalb, weil sich die ihn zunehmend interessierenden Probleme der Sprache sowie des mythischen Denkens nicht mehr in der von den Neukantianern favorisierten, systematischen Architektonik von Logik, Ethik, Ästhetik (oder in Natorps Worten: Theoretik, Praxis, Poiesis) unterbringen ließen6, in der sich ja das Vorbild der drei Kritiken Kants spiegelt. Die Philosophie der symbolischen Formen erfordert jedenfalls ein anders geartetes, neues Bauprinzip.

Die Erneuerung der Philosophie im Zeichen Kants im auslaufenden 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts fand ihren Niederschlag nicht allein in der Marburger Schule des Neukantianismus, sondern auch in der »Südwestdeutschen Schule«. Die Begründer dieser Schule waren vor allem Wilhelm Windelband (1848-1915) und Heinrich Rickert (1863-1936). Bei ihnen standen Fragen nach der »Logik« der Wissenschaften im Vordergrund. Windelband unterschied methodisch die »nomothetischen« Naturwissenschaften von den »idiographischen« Geschichtswissenschaften. In dem einen Fall gehe es um »Gesetzeswissenschaften«, im anderen um »Ereigniswissenschaften«: Universale Gesetze standen gegen individuelle Gestalten. Heinrich Rickert verfeinerte das begriffliche Instrumentarium der »Südwestdeutschen Schule«, indem er das spezifische Verfahren der Geistes- oder Kulturwissenschaften durch Rückgriff auf Überlegungen von Hermann Lotze als auf werthafte Sinnaspekte gerichtet charakterisierte. Den Geisteswissenschaftlern ist nur dasjenige erkennbar, was einen »Sinn« in sich trägt und daher als »wertvoll« zu kennzeichnen ist.7

Die Autoren der »Südwestdeutschen Schule« waren um eine »Logik« der Kulturwissenschaften bemüht. Das war zweifellos auch ein Programmpunkt des späten Cassirer, wenn man an sein Göteborger Buch Zur Logik der Kulturwissenschaften von 1942 denkt. Aber dort8 wie auch im Essay on Man von 1944 (vgl. EM, 186, 196; VM, 284f., 298) setzt sich Cassirer deutlich von Rickert und Windelband ab. Man muss daher festhalten, dass es sich eher um miteinander konkurrierende Entwürfe von Kulturphilosophie handelt. Die Denker der »Südwestdeutschen Schule« rückten die Kulturphilosophie in die Nähe der Geschichtsphilosophie. Cassirers Kulturphilosophie mit ihrem zentralen Begriff des Symbolischen dagegen will gerade ohne den Rekurs auf Geschichtsphilosophie auskommen. (Vgl. VM, 313f.)

3. Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie

Das philosophische Œuvre Ernst Cassirers zu verstehen heißt, interne Transformationen seiner Philosophie zu begreifen. Eine Facette dieses Vorgangs soll im Zentrum dieses Kapitels stehen, nämlich der Übergang von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie. Die Erkenntnistheorie ist eine Erfindung der Neuzeit. In ihr geht es um die Frage, wie einem erkennenden Subjekt objektiv gültige Erkenntnisse möglich sind. Dazu ist es erforderlich, dass der Mensch sich emanzipiert von Idolen (Bacon), von Vorurteilen (Holbach, Jaucourt), kurz: von Befangenheiten in Meinungen, die lediglich durch die Macht der Tradition gestützt werden (Descartes). Immer geht es um die Reinigung von Trübungen und Verstellungen des Denkens. Der neuzeitliche Mensch muss, will er zu sicheren und gewissen Erkenntnissen gelangen, die Tradition sowie individuelle Gewohnheiten des Denkens aufs Spiel setzen. Er muss zu einem unerschütterlichen Fundament, zu einem »fundamentum inconcussum«, wie Descartes sagt, gelangen. Das alltägliche Bewusstsein muss in sich selbst zu einer Schicht reinen und ursprünglichen Denkens vorstoßen.

Nun verhält es sich zweifellos so, dass die neuzeitliche Erkenntnistheorie in Atem gehalten wurde durch Fragen nach der Begründbarkeit der Naturwissenschaften. Die neuzeitliche Erkenntnistheorie war an das wissenschaftliche Erkennen gekoppelt. In der Perspektive Cassirers waren es vor allem Descartes und dann Leibniz, die die Erkenntnisproblematik im Lichte der neuzeitlichen Wissenschaften stellten und erörterten und so zu ihrer philosophischen Begründung beitrugen.

Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen

Die erste Buchpublikation Cassirers, Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen (1902), deutet Descartes von dessen 1628/29 vollendeten Regulae ad directionem ingenii