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Zwei Dreizehnjährige beginnen sich selbst, die geltenden Sitten und Gesellschaftsstrukturen auf neue und irritierende Weise zu erfahren und entscheiden, alles aus den Angeln zu heben, um den tieferen Wahrheiten auf die Spur zu kommen. Die antiken Götter Apollo und Hyakinthos treten auf den Plan, um die christlichen Untugenden Lust, Unzucht, Liebe und Verlangen nach altgriechischer Philosphie ins Geistige zu weiten.
Die Jahre vergehen. Die Sitten verkommen. Das einst so hartnäckig bekämpfte und mit Füssen getretene menschlich Allzumenschliche nimmt schleichend und klammheimlich Überhand. Am Ende bleibt bloss die krude Erkenntnis: gegen die bare Menschlichkeit ist kein Kraut gewachsen. Die hehren Ideale sind nur noch Dunstschleier im Wind.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
PHIL EPHEBOS EROMENOSPHEROMON
*Bin die Verschwendung,
Bin die Poesie,
Bin der Poet, der sich vollendet,
Wenn er sein eigenst Gut verschwendet.
Auch ich bin unermesslich reich
Und schätze mich dem Plutus gleich,
Beleb' und schmück' ihm Tanz und Schmaus,
Das, was ihm fehlt, das teil' ich aus.*
Erinnere dich! Du bist vor der Buchauslage stehen geblieben und nestelst an einem Exemplar herum. Sommer ist's, schwül und heiss, und der Gedanke allein, dich regen zu müssen, treibt dir den Schweiss in die Achselhöhlen. Ich hebe nur einmal kurz den Blick und muss erkennen: ich kenne dich nicht. Was völlig logisch ist. Ich kann dich noch gar nicht kennen.
Ein Grossstädtischer denke ich. Muss sich in unsere Gefilde verlaufen haben und nestelt zur Neuorientierung an einem der Bücher herum. Scheint mir völlig normal. Geht mir beim Lesen meist ebenso. Ich hatte mit der Mutter gerungen, um meinen Einsatz abzugelten, und hocke jetzt am Eingang der Buchausleihe, Sätzen und Wortkaskaden auf der Lauer, die mich mit Wohllaut begeistern sollen, habe ich doch als Pubertierender starrköpfig, blauäugig, wortsüchtig und ungläubig, von den Hunderten von Büchern verwirrt und verstellt zu sein, die ich mir auf der Suche nach dem wahren Gehalt der Sprache in barer Verzweiflung einzuziehen beliebe. Fakt ist – ich bin der Sprache auf den Leim gegangen. Ich lese alles, was mir unter die Finger kommt und lass mich dann maulend darüber aus.
Meine Mutter, die Leihbibliothekarin, und ihr hirnrissiges Leiden, Hemigrania genannt. So alle zwei Wochen überkommt es sie und wirft sie in ihrem abgedunkelten Schlafgemach aufs Lager zurück, derweil ich mich einen Nachmittag lang, wenn immer die Umstände günstig sind, hinter den Ausgabetisch hocke und Gäste bediene und den Büchern meine Referenz erweise, so diese ihr denn würdig sind. Fakt Nummer zwei: Bücher sind mir näher oder ferner Verwandte, die ich den Kunden vorzustellen habe, um beide miteinander in Berührung zu bringen.
Ein Pubertierender vor der Ladenfront. Und hat sich in unser Revier verirrt. Will sich von Literatur berieseln lassen. Oder doch eher bloss von bedrucktem Papier, weil's heute aus der Mode kommt und er sich als verstockter Unmündiger dagegen mit Trotz verwehren will? Sucht er gar den Gral der Erkenntnis, um sich damit den Weg zu deuten? An Christi Blut nippen, wer ausser mir möchte das nicht? Die weltbekanntesten Reimeschmiede und Geschichtenerzähler wollen nicht müde werden, das Wort in ihre Gewalt zu bringen und breiten es virtuell oder ausgedruckt über Hunderte von Seiten in epischer Länge und Breite aus, um es dem Leser in die Gehirnwindungen zu kneten. Das Wort ist gemeint. Und ist doch nichts als Belletristik. Hunger, man weiss es, ist der beste Koch. Und so liest man sich denn damit genüsslich satt. Als Grossmaul und verrufener Bücherwurm bekommt mir das schlecht. Die madigen Texte schrecken mich ab, die Kolportagen und Geschichtchen stossen mir sauer auf. Ich habe der Belletristik in die Weichteile zu treten, funkt sie mir doch auch hier noch mit schmeichlerischem Gestus durch den Geist. Eine Geschichte lostreten? Ich, Jünger und verrufener Zögling von Hölderlin und Rimbaud, auf meine Unmündigkeit zurückgeworfen? Ja wo sind wir denn hier. Ich entkleide mich in Worten, damit hat sich's.
Freitag ist's. Oder Samstag. Was eh ohne jede Bedeutung ist. Ich hab mir den Bürodrehstuhl aus dem Lager gelangt und mir's darin hinter dem Ladentisch gemütlich gemacht. Hab mir ein paar Bücher auserkoren, denen ich ans Leder will, und hoffe auf einen geruhsamen Nachmittag. Kunden oder Gäste bedienen – na ja. Bin ja auch mehr zum Lesen da und für Smalltalk generell nicht zu haben. Ich hab als Pubertierender und Unmündiger eh nichts zu sagen. So jedenfalls geht die Sage. Schlimme Sache. Ich werde dagegen anzutreten haben, komme Regen, komme Schnee. Wir Knaben haben etwas zu sagen haben. Auch bloss eine Phrase? Wart's ab!
Du bist vor der Auslage stehen geblieben und nestelst an einem der ominösen Bücher herum, denen ich einen Meineid geschworen habe. Um ganz ehrlich zu sein. Was mir der Text in dem Buch unter die Wäsche schiebt, bin ich nicht. Damit hat sich's. Dass du jetzt aber eines dieser Bücher in Betrachtung ziehst, gefällt mir nicht. Ich kann das nicht dulden. Bin doch eigentlich bloss zum Lesen da. Und habe mich jetzt hinter der Guillotine als Richter und Henker aufzubauen.
-Suchst du was?-
Die dämliche Frage stösst mir sauer auf. Um sogleich in die Quere zu laufen.
-Kann ich dir helfen?-
Noch so eine behämmerte Phrase. Hab ich sie nicht alle? Auch der Jugendliche scheint jetzt nach Worten zu suchen. Meine Fragerei muss ihn inspiriert haben. Er verzieht das Gesicht und deutet auf den dämlichen Band.
-Kann ich Harry Potter haben?-
Das war's dann, denke ich. Der Jugendliche ist hin. Der Gedanke allein versaut ihm den Verstand. Nicht die Guillotine, der Text in dem Machwerk wird ihm den Nacken brechen. Und ich habe händeringend machtlos und stumm daneben zu hocken. Also stehe ich auf und wende mich ihm zu.
-Harry Potter?- frage ich, als hätte ich den Namen noch nie gehört.
Der Junge zeigt schweigend auf das Buch. Nicht doch, denke ich. Tu das nicht. Unsere Blicke kreuzen sich. Zauberei? So ein Schwachsinn. Verstehst du denn nicht? Zauberei ist Schwachsinn.
-Verstehe. Zauberei. Hast du denn schon was davon gelesen oder-
-Meine Mutter.-
-Deine Mutter was?-
-Meine Mutter meint, ich soll Bücher lesen. Harry Potter, meint sie. Das sei gut für mich.-
-Gut für dich?-
-Bücher lesen. Ich hab so meine Defizite in deutsch. Meine Mutter meint, ich soll Bücher lesen. Deutsch lernen. Richtiges deutsch.-
-Harry Potter also. Und du hast deine Defizite in deutsch. Lesen sollst du.-
Ich kann das nicht für gut befinden. Defizite in deutsch. Kann ja sein. Aber Potter. Nein. Das kann es nicht sein. Ich hab dagegen anzutreten. Soll ich etwa schlaflose Nächte lang Alpträume durchleben, weil ich einen Verirrten verbraten habe? Nein. Wo sind wir denn hier.
-Wenn du mich fragst – dieser Potter ist nicht gut für dich. Nicht gut genug meine ich. Die Zauberei ist bloss fauler Zauber. Du hast darauf nicht hereinzufallen. Nicht solange ich jedenfalls neben dir steh. -
Ich hab mir an mein Caput coniurationis zu fassen, um meine Gedankengänge wieder auf Reihe zu bringen.
-Sorry Mann, so geht das hier nicht. Sag deiner Mam, alle Potter seien ausgeliehen. Dumme Sache. Ich weiss was Besseres für dich. Nichts, was dich mit Schwachsinn verzaubern soll, um aus dir einen besenreitenden Bebrillten zu machen. Das hat dir ganz einfach zu dämlich zu sein. Was meinst du? Kannst du mir folgen?-
Dem Jugendlichen verwirrt es beharrlich das Denken. Er soll zwar, will aber eigentlich gar nicht lesen. Lesen, weiss er, ist etwas für Mädchen. Ein Mädchen aber mag er nicht sein. Soll er auch nicht. Bloss besseres Deutsch zur Sprache bringen. Soweit durchaus verständlich. Mit Harry Potter aber klappt das nicht.
Der Jugendliche verwirft verloren die Hände. Sprache, denke ich, scheinbar eine Sache ohne Hand und Fuss. Und weiss doch alles, alles in dir anzutönen. Du brauchst der Sprache bloss Raum zu schaffen, ihr zuzuhören und dich ihr zugeneigt zu zeigen. Schon fährt sie dir lechzend unter's Wams, will sie sich dir doch untertan machen. Du sollst ihr sprechend zur Erlösung verhelfen und dir damit die Sinne erweitern.
-Dieser Potter ist was für Analphabeten, die mit Besen und Zauberstöckchen ihren letzten Gehirnzellen ans Eingemachte gehen. Ich mag das nicht für gut befinden. Mann, das ist nicht gut für dich. Ich weiss was Besseres für dich, das dir die Sinne nicht so verrückt und verstellt. Wart's ab. Bin gleich zurück.-
Ich lang mir hinten den 'Zaubergarten' aus dem Gestell und leg das schmale Bändchen dem Jugendlichen vor mir mit wegwerfender Geste auf den Ladentisch. Soll einfach bloss ein Buch sein und sich darüber ausschweigen, mir in ungehöriger Weise ans Herz gewachsen zu sein. Kein Jugendbuch, wohlan. Und gerade darum ein wahres Juwel, das du dir in die Gehirnwindungen klemmen kannst. Und die Sprache, bei Gott, ist von erster Güte. So schreibt nur einer, der nicht nur schreiben, sondern auch fühlen und schreiben kann.
-Darf ich fragen, wie alt du bist? Zwölf etwa, ist es das?-
-Zwölf, im September dreizehn.-
-Verstehe. Im September dreizehn. Dann ist das definitiv was für dich. Etwas frühreif, vielleicht. Kann ja sein. Aber als Buch ein absolutes Juwel. Glaub mir. Etwas Sex und Morbidität muss schon sein, um auf die Welt zu kommen, meinst du nicht?-
-Ich weiss nicht. Morbidität?-
Der Jugendliche kommt sichtlich ins Trudeln. Damit hat er jetzt nicht gerechnet. Er erbleicht. Hab ich vielleicht zu viel verraten? Zu früh, zu schnell, zu tief gegriffen?
-Morbidität. Kommen da Leichen ins Spiel?-
Dem Knaben beengt es das Hemd über der sich weitenden Brust. Er hat rasch und vertieft Luft zu holen. Seiner Stimme will es ans Leibhaftige gehen. Grabeskälte entströmt seinem Blick. Die Augen weiten sich und erstarren. In seinem Wesen regt sich was. Eine dunkle Zeit? Verwunschene Begierden? Wer wüsste das je. Mir kommen Zweifel. Also lege ich betulich die Fakten auf den Tisch.
- Die Eltern sind's. Nicht die Kinder. Die lassen bloss die Leichen verschwinden. Wollen einfach in Ruhe gelassen werden und ihr eigenes Leben leben. Als lebende Kinder. Nicht als die lebenden Leichen ihrer Eltern. Es ist auch ein Va-Banque-Spiel. Ein Wagnis, meine ich. Die Kunst ist das Aushebeln der Normalität, meinst du nicht? Das Fliegen aus eigener Kraft.-
-Ich?- Misstrauen jetzt, verschlossen dein Blick. Als fahre ein böses Erwachen in dich wendest du dich ab und weg von dem Buch, das dir so gar nicht gewogen scheint.
- Bist du immer so einsilbig unterwegs? Ich meine – deine Mutter, Defizite, Harry Potter. Ist das alles, was aus dir selber kommt?-
-Weiss nicht. Ist es nicht.-
Der Junge windest sich, prüfend, die eine Hand an der Brust, die andere drohend fast erhoben, als hätte sie, sie ganz allein, ihn vor Unheil und drohender Gefahr zu bewahren. Sein Mund öffnet sich. Er spricht.
-Alle in meiner Familie haben sich in Bücher verbissen. Alle reden sie fehlerfrei deutsch, als sei das immer schon so gewesen. Nur ich habe noch immer das Maul zu halten. Ich mag nicht reden. Was ich auch sage, man hört mich nicht. Also schweige ich.-
-Mann! Du kannst ja ganze Sätze sprechen. Fehlerfrei und in gutem Deutsch. Und ich dachte schon, du hättest auch da so deine Defizite.-
-Ist doch Schwachsinn.-
-Richtig.-
Eine kurze, lähmende Pause entsteht. Unsere Blicke durchkreuzen sich. Etwas stimmt nicht. Ich seh mir den Jungen zum ersten Mal richtig an. Und komme ins Grübeln. Könnte es sein, dass mit dem Jungen etwas nicht stimmt? Er redet und verschweigt mit den Worten, was er sagt. Höre ich schlecht oder täusche ich mich?
-Du sagst, du habest deine Defizite in deutsch? Was meint denn dein Lehrbeauftragter dazu?-
-Ich sei ein hoffnungsloser Fall.-
-So, sagt der das? Ein hoffnungsloser Fall. Und nennt sich einen Lehrbeauftragten. Der pinkelt dir ungestraft ans Bein. Dagegen ist anzutreten.-
-Anzutreten?-
Dir zischt's und zuckt's durch die Synapsen und Hirnwindungen. Antreten? Ich? Wozu?
-Klar doch.-
- Du hast gut reden.-
- So? Hab ich das? Etwa weil ich hier hocke und Kinderbücher lese, die bloss stumpfsinnig und abgegriffen sind? Ist es das, was du meinst? Was du willst?-
- Weiss nicht.-
-Du weisst es nicht? Mann, du musst es wissen. Deutsch ist Mathematik in Worten und ganzen Sätzen. Du kennst die Regeln und du bist ein Crack. So einfach ist das. Brauchst einfach nur die Regeln zu kennen und sie treuherzig anzuwenden. Brauchst ja nicht gleich Bücher zu schreiben. Sie zu lesen reicht allemal. Fürs Erste, meine ich. Mach es einfach wie ich. Lies und werde weise. Ist aber nicht wirklich ernst gemeint. Bloss das mit den Regeln hat Hand und Fuss. Und lesen, lesen, lesen.-
Mein Gegenüber kraust angestrengt die Stirn. Das kommt ihm wohl nicht so gelegen. Lesen sei etwas für Mädchen, wird allenthalben propagiert. Darauf muss er sich eingeschworen haben.
Die Fronten klären sich. Lesen als beengendes, auferlegtes Gebot. Immer wieder sind es die Mütter, die ihre Söhne umsorgen. Ich meine – mit den falschen Vorgaben. Mit den falschen Begriffen und Argumenten. Und ihnen damit die Sicht verstellen. In schöner Harmonie mit einem Vater, der den Knaben willfährig zum Manne formt. Na ja. Sagen wir mal, formen will. Die wahnwitzige Idee hat ja Tradition. Soll der Sitte zur Ehre gereichen. Die Söhne sind zu unterjochen. Daraus sollen den Vätern Männer entwachsen. Zum Totlachen. Keiner weiss wie das gehen soll. Ein Mann werden. Egal. Wie auch immer. Die Söhne haben zu begreifen. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. So wird das gnadenlos paktiert. Eltern kennen keine Gnade. Der Pakt ist besiegelt, bevor du auch nur zu denken vermagst. Mit der Muttermilch wird er dir eingeflösst. Behutsam erst noch, dann mit rabiater Selbstverständlichkeit. Das gehöre sich. Einfach so, aus dem Stegreif heraus. Zu deinem eigenen Nutzen. Und du hast noch darauf abzufahren. Man seh sich das an. Schon mit sieben ist der eigene Ofen aus. Die Milch längst übersäuert. Man macht dich zur Niete. Auch göttlicher Segen bleibt nicht aus. Und das Ganze nennt sich Erziehung. Es ist die geballte Energie der Normalität, mit der man dich mit sturer Beharrlichkeit gegen den Strich kämmt. Zu deinem, wie es heisst, eigenen, inhärenten Nutzwert. Nutzwert! Himmel nochmals! Das Wort allein riecht nach der Verwesung, die man dir beschwörend unter die Nase reibt. Du sollst daran deinen Geist aushauchen.
- Deine Mutter meint, dass du Harry Potter lesen sollst. Schon mal ein Buch gelesen?-
Behutsam taste ich mich vor. Dieser Neue ist ein scheues Früchtchen. Noch immer unter Mamas Fuchtel. Und weiss sich nicht zu helfen. Soll Harry Potter lesen. Der Junge soll sich opfern. Hirnrissigen Schwachsinn goutieren und sich damit die Sinne versauen.
-Nicht wirklich. Nö. Meine Eltern meinen, lesen sei wichtig.-
- Lesen also. Deine Eltern meinen das. Lesen sei wichtig. Seid ihr schon eingeschrieben?-
-Wir? Ich? Hier? Wieso? Weiss ich nicht.-
Du kraust deine Hirnwindungen. - Denke nein.-
-Also willst du Mitglied werden.-
-Ich? Weiss nicht. Nö. Mitglied? Nein. Meine Eltern wollen das.-
Dein Gesicht zeigt den Trotz, den du in der Hose hast. Der mich augenblicklich inspiriert. Also doch, denke ich. Dir ist zu helfen.
- Deine Eltern meinen. Mann! So geht das nicht. Du bist hier gefragt. Du ganz allein. Du! Also?-
Weiss auch nicht.-
-Dein Name!-
-Patrick. Patrick Merlin.-
-Was?- Mir fallen gleich die Socken aus den Ohren. -Soll wohl ein Witz sein, was. Du nimmst mich auf den Arm. Merlin. Dass ich nicht lache. Du bist ja ein tolles Früchtchen. Kommst hier rein und machst auf erhaben. Merlin. -
- Merlin. Patrick Merlin.-
-Das glaubt dir jetzt aber keiner. Ausweis her, Mister Merlin!-
-Hab keinen. Mein iPhone?-
Er schiebt mir sein Ding über den Schalter. Auf bläulich leuchtendem Monitor strahlt es mir lachend, grinsend, schäkernd, spöttisch blökend, mir eine lange Nase drehend entgegen. 'Patrick Merlin'. Ich kann es nicht fassen. Ich kann es nicht fassen.
- Patrick Merlin. Und du sagst, das ist dein Name. Dein richtiger Name, meine ich.-
- Sag ich doch.-
- Und ich soll das glauben! - Ich mach meinem Unglauben gehörig Luft. -Darum also die Harry-Potter-Idee. Verstehe. Seid ihr allenfalls mit diesem Prophetiae Merlini aus der Artussage verwandt, der im Mittelalter als Seher und Zauberer geflunkert – entschuldige – gelebt haben soll?-
- Quatsch. Merlin ist bloss mein Familienname.-
- Dein Familienname. Also ist deine Mutter von eurem Familiennamen bezaubert. Und du sollst ihr Zauberlehrling werden.-
- Quatsch. Nicht wirklich. Sie will, dass ich Bücher lese. Wie meine Schwester. Wie mein älterer Bruder. Meine ganze Familie hat sich in Bücher verbissen. Nur ich nicht. Ich kann nicht lesen. Ich meine Bücher. Bücher meine ich. Ich mag keine Bücher lesen. Hab keine Zeit dazu. Bücher sind doof und stinken nach Verwesung. Bücher sind etwas für Mädchen.-
- Verstehe. Das mit den Mädchen brauchst du so nicht zu glauben. Das kriegen wir hin. Auch Knaben lesen Bücher. Nur mit Harry Potter sähe ich schwarz. Lesen ist etwas Tiefgründigeres als flunkern und zaubern und auf einem Besen rumschweben. Weil es mit dir und nur mit dir zu schaffen hat. Du wirst eins mit dem Text. Du hebst ab.-
- Weiss nicht. Hab eh keine Zeit zum Bücherlesen. Schule und Sport. Mehr liegt da nicht drin.-
-Schule und Sport. Mehr nicht. Ist schon mal nicht schlecht. Du siehst ja auch richtig sportlich aus. Outfit und so. Ein Crack, wie ich vermute. Fussball. Ist es das?-
- Nicht wirklich.-
- Nicht wirklich was?-
Ich krall mir eine leere Registerkarte und trage Patricks Namen ein. Bei Merlin komm ich wieder ins Stutzen.
Alter?-
-Zwölf. Im September dreizehn.-
-Richtig. Das hatten wir ja schon. Im September dreizehn. Wenn nicht Fussball, was dann?-
-Gymnastik. Ich meine Turnen. Kunstturnen.-
-Du turnst. Und spielst Fussball.-
-Nicht wirklich. Bloss Turnen. Kunstturnen. Hab ich doch gesagt.-
-Kunstturnen? Richtig. Kunstturnen also.-
Mir läuten die Glocken. Das kann's nicht sein. Dieser Merlin nimmt mich auf den Arm. Schon wieder. Wo sind wir denn hier? Ich bin zum Lesen hergekommen. Und ein Zauberlehrlinganwärter haut mich erbarmungslos aus den Schuhen.
- Du meinst wohl Reck- und Barrenturnen, Felgaufschwung, Winkelstütz und so? Handstand vielleicht?-
-Und wenn schon. Du kennst das?-
Jetzt staunst du.
- Ich kenn das. Ich kenn das nur zu gut. Kunstturnen. Damit krieg ich mich auf eine Reihe. Ganz einfach. Weil Kunsturnen wie Lesen beflügelt. Es enthebt dich ganz einfach der Schwerkraft.-
Ich bin etwas von der Reihe. Da kommt dieser Patrick Merlin und will mir die paar Zentimeter Vermessenheit streitig machen, die das Geräteturnen mit sich bringt und die du an den Tag zu legen hast.
- Das war mal. Ich bin jetzt in Leistungsklasse neun. Diamidowkreisel und geschraubte Fliegerelemente am Reck. So Sachen.-
Der Kleine baut sich vor mir auf. Ist knappe zwölf und wächst mir Älterem über den Kopf.
- Du? Diamidowkreisel und geschraubte Fliegerelemente vom Reck? Etwa gar als Einschübe am Gerät, sagst du? Mit zwölf? Sind das jetzt Hirngespinste von dir oder sind wir hier im falschen Film?-
- Ich kann's dir ja beweisen. Wenn du das willst.- Der letzte Satz wirkt abgeschlagen etwas verwegen und frisst sich mir begierig ins Hirn.
- Und ob ich das will. Mann. Ganz zufälligerweise habe auch ich mich in diese Disziplin verbissen. Wenn du weisst, was ich damit meine. Nur mit dem Diamidowkreisel und den geschraubten Fliegerelementen am Reck habe ich so meine Mühe. Beides geht mir höllisch am Arm vorbei. Geschraubte Fliegerelemente sind mir ganz einfach zu abgehoben. Mann! Ich bin ja kein fliegendes Geschoss, wie du das vorgibst zu sein. Fliegerelemente und Diamidowkreisel mit zwölf. Das glaubt mir wieder mal keiner. -
Mir wird ganz mulmig zu Mute. Der Kleine lässt mich kalten Blickes einfach hinter sich. Ich bin in Leistungsklasse acht. Mit tausend faulen Vorbehalten. Ganz knapp am unteren Limit. Und ein paar Monate Jahr älter als der Zwerg. Das kann's nicht sein. Da stimmt doch was nicht.
- Seit wann seid ihr hier? Hab dich doch gar nie in der Halle gesehen. Hier hat noch keiner auf diesem Niveau geturnt. Neun meine ich. Leistungsklasse neun! Du bluffst.-
Es war nicht länger zu leugnen. Es war ein heisser Sommertag. Ich hatte zu lesen versprochen. Und einen Jüngeren vor mir, der mir das Wasser reichen wollte. Nur mit lesen war erstmals nichts. Noch nicht, gab er vor. Dieser Neue gab grossspurig kund, sich besser als wir anderen hier vor Ort an Turngeräten gütlich zu tun. Nur zu lesen verstünde er nicht, gab er kleinmütig zu. Die Widersprüche häuften sich. Sie begannen mir sachte die Sinne zu versengen.
-Sag mal deiner Mutter, alle Harry Potter seien ausgeliehen. Ich geb dir da ja was Besseres zum Lesen. Damit machst du dir die Sinne nicht so kaputt. Und lernst noch was über das Leben. Über dein eigenes, wie ich schon sagte. Was wesentlich besser ist als Zauberei und Geflunker, die dir bloss die Sicht auf dein eigenes Dasein verstellen. Das dir scheinbar entfallen ist.-
-Hab doch Kunstturnen erwähnt. Damit stech ich noch jeden Gleichaltrigen hier aus.-
-Mit Diamidowkreisel und geschraubten Fliegerelementen, wie du sagst.-
-Ist eh egal. Muss ich das wirklich lesen?-
Du beugst dich mit gespieltem Widerwillen über Buch und Tisch. Das steht dir nicht. Du musst weg von hier. Du magst gar nicht lesen. Du bist gar nicht hier. Du bist nicht hergekommen. Das ist nichts für dich. Nicht für dich. Du fasst indigniert nach dem etwas gar schmalen Bändchen. Kommst ins Grübeln. Ob das auch lesbar ist, gibst du mir mit deinem Zweifeln und deiner abwartenden, wehrhaften, starrköpfigen Haltung zu verstehen. Ich will das nicht.
Eben noch warst du mir ganz nahe. Und bist jetzt wieder weit weg von hier. Von mir. Von wem auch immer. Eingeschweisst in ein Schweigen, das sich nicht knacken lassen will.
Die Sache verspricht interessant zu werden. Interessant für mich, meine ich. Dieser Merlin hat seine Bedenken. Bedenken hätte auch ich, das ungelesene Buch vor mir auf dem Tisch. Mama will ihren Buben verzaubert wissen. Dabei verzaubern ganz andere Dinge die Buben. Und dieser Merlin will null Lust auf Bücher verspüren. Etwas ist faul im Staate Dänemark. Die Textaussage ist von Shakespeare aus dem ersten Aufzug von Hamlet und hat hier als Redensart zu gelten. Es sind diese Texte und Bücher, die mich zu beflügeln wissen. Nicht nur weil sie schwer verständlich scheinen und es auch noch so gerne sind, sondern weil sie dich zu begeistern vermögen. Nicht die Geschichte oder der Plot hauen dich um. Die Sprache ist es. Das Wummern in den Ohren allein schon beim Lesen. Und du hast es dir mit der eigenen Stimme in die Ohrgänge zu teleportieren, um der Sprache hörig geworden in Euphorie zu verfallen. Die Geschichte kann mir gestohlen werden. Der Sprache allein leihe ich mein Gehör.
Dem Knaben hier vor dem Tisch muss umgehend geholfen werden. Nicht mit Shakespeare. Natürlich nicht. Auch mit Hamlet nicht. Aber mit einem wirklich guten Buch mit sämigem Text und flottem Plot. Und nicht bloss mit so breiiger Tunke mit faulen Zaubersprüchen wie Sectumsempra, Tarantallegra, Petrificus Totalus, Locomotor Mortis, Conjunktivitio oder Avada Kedavra. Ich hatte den ganzen, faulen Zauber zu lesen, um mit Grausen erfassen zu können, dass es für Schwachsinn und Dummheit keine untere Begrenzung mehr gibt. Noch in der grössten Gosse lässt sich Raum für neue Verfehlungen finden. Man lese die sogenannten Bücher, die sich mit linkischem Schneid an Zauberei versuchen und mit abstrusen Flüchen auf die Schnauze fallen.
-Glaub mir. Im Gegensatz zu diesem Potter ist das ein gottverdammt gutes Buch. Einfach zu lesen. Gut geschrieben. Und wenn du willst, echt geil. Ist auch eher für Ausgewachsene geschrieben. Für Überväter, denen noch nicht alle Sicherungen durchgebrannt sind. Und ich will, dass du das liest. Ich will dich in diesem Buch versinken sehen wie ein Taucher in einer uferlosen, glasklaren See. Tu's einfach mal für mich. Ich meine natürlich: für dich. Ich versprech dir. In diesem Steingarten kommst du als neuer Mensch zur Welt. Als dein wahres, ureigenes Ich, sage ich. Als das einmalige, aussergewöhnliche, supergeile, in Fleisch gemeisselte Ich. Als der einfach, der du in Tat und Wahrheit bist. Nicht als dämlich daumenlutschender Pubertierender, dem die Eltern fürsorglich die Wäsche auslegen. Mann, du wirst dreizehn. Bist schon bald einmal so alt wie ich. Das verpflichtet.-
-Ich weiss nicht.-
Der Jüngling bringt mich auf die Palme. Ich rede mir die Sprechblase wund und wieder hört keiner zu. Patrick, bitte! Lass mich nicht einfach so besudelt im Regen stehen. Ich zähle auf dich.
Ich habe mir ans Gehirn zu fassen. Oh Gott! Warum nur tue ich mir das an? Ich habe doch Schund für Gotteskinder zu rezensieren und nicht einem Hergelaufenen das Blaue vom Himmel zu reden.
- Du weisst nicht? Ich weiss es. Dir schwimmen die Felle davon. Pack sie! Reiss dich am Riemen und lies das gottverdammt gute Buch. Ich versprech dir Ergötzung und Erbauung.-
- Wenn du meinst.-
-Ich meine es nicht, ich weiss es. Denk einfach an September. Mit dreizehn musst du das gelesen haben. Um den Ausgewachsenen, auch und gerade deinen eigenen Eltern, auf die Schliche zu kommen. Die wollen dich nämlich zappeln lassen. Wie schon all die Jahre zuvor. Damit ist jetzt Schluss. Merlin, dein wahrer Name verpflichtet. Nicht zur dämlichen Zauberei. Sondern zur weltbewegenden Erneuerung deines eigenen Seins. Mann, ich rede mir hier den Mund fusselig. Und all das deinetwegen.-
- Ist ja gut. Ich nehm das Buch. -
Patrick fasst widerwillig mit schiefem Grinsen nach dem Buch, wobei er mich aus den Augenwinkeln beobachtet, als lauere ich auf sein Verderben. Ich, auf sein Verderben lauern. Wo sind wir denn hier. Gott. Ich kriege meine Schübe.
- Das ist mir aber nicht gut genug. Mit nehmen ist es hier nicht getan. Lesen musst du. Den gottverdammten Text mit deinen eigenen Augen entziffern. Was sag ich da! Mit den Sinnen. Mit deinen blanken, luststrotzenden, begierigen, hungrigen uferlosen Sinnen. Du hast darin zu baden. Eintauchen musst du. Absaufen. Deine Lungen mit diesen Zeilen durchtränken. Nur so wirst du eins mit dem Text. Alles andere ist Kaffeesatzlesen und bringt dir nichts als gähnende Langeweile.-
- Ist ja gut. Meinetwegen. Dann les ich halt dein Buch.-
Merlin dreht und wendet das Buch in der Hand, als habe er sich daran die Finger zu versengen. Allein meiner abartigen, mörderischen, unseligen, naseweisen Anweisung wegen. Einfach weil ich das so will. Und will doch was ganz anderes.
-Mann! Das ist nicht mein Buch. Das ist das Buch, das dich ins Leben katapultiert. Gerade richtig, für einen Geräteturner wie dich. In einer Woche hast du das locker gelesen. Und erkennst einen anderen Menschen in dir.-
-Wenn du meinst.-
-Mann, ich mein das nicht. Ich weiss das. ICH-WEISS-DAS.-
Ich taxiere Merlin noch einmal so gut es geht von Kopf bis Fuss. Ein Pubertierender, zaghaft und unausgegoren. Auf der Teststrecke des eigenen Seins. Verwirrt und verwirrend. Und raubt mir das letzte Bisschen Verstand.
Die Sache beginnt mir über den Kopf zu wachsen. Da bin ich doch diesem Merlin auf die Schliche gegangen. Gekrochen meine ich. Reiss mir fast den Arm auf. Nur um ihn vor dem Absaufen zu bewahren. Und alles wegen Harry Potter! Man bedenke. Potter ist die ultimative Verballhornung für Pubertät. Für jeden ehrbaren Knaben. Ein No-Go. Pottern bedeutet verlottern. Verblöden heisst das, einen Besen zwischen den Beinen und das Zauberstöckchen du weisst schon wo. Da einfach wo es hingesteckt gehört.
Ich geb es auf. Ich hab diesen Merlin ziehen zu lassen. Und mach da definitiv nicht mit. Fehlte noch, dass auch ich ihn ins Grab zu betten habe. Ins Grab des eigenen Vergessens. Nichts da! Den Knaben zerr ich mir ans Tageslicht. Soll sich und mir den Weg ausleuchten. Soll meiner eigenen Verblendung die Spur vorgeben. Soll er mich die in die Verirrung geleiten. Weg von mir. Weit weg von meiner eigenen Vermessenheit, mit der ich mich noch Tag für Tag zu erschlagen habe, um den Ausgewachsenen nicht auf den Leim zu kriechen.
- Gib mir mal deine Nummer!-
-Meine Nummer? Wozu denn das?-
Patrick ist augenblicklich erwacht. Na endlich, denke ich.
Ihm will das unwirklich erscheinen. Als risse ich mir seine Nummer unter den Nagel. Mit seiner Nummer auch sein Gebein. Was so nicht wirklich falsch sein muss. Nicht falsch sein kann. Und was es definitiv nicht ist.
Er legt das Buch wieder auf die Tischplatte vor sich und fasst nach seinem iPhone. Unsere Blicke kreuzen sich. Nicht zum ersten Mal, gewiss. Jetzt aber gewissenhaft und vertieft. Dinge bleiben zu klären. Unleugbare zwischen ihm und mir. Glaubensdinge, Vorbehalte, Widersprüche, Verdachtsmomente. Und Zweifel. Die Zweifel des eigenen Seins und Befindens, die zwischen uns immer mehr Raum gewinnen. Zweifel, die hier und jetzt auszuräumen sind.
Wir lassen nichts anbrennen. Weder du noch ich. Wir wissen, was es geschlagen hat. Jetzt oder nie. Wir lassen es geschehen. Einfach so.
Patrick hält mir sein iPhone vor die Nase. Die Geste soll die Situation klären. Das genügt. Ich nehm ihm wortlos sein schmales Ding aus der Hand und tippe meine Nummer ins Display. Lasse es einmal läuten. Und reich ihm sein smartes Ding über den Tisch zurück. Das ist auch schon alles. Alle Fragen sind damit geklärt. Er hat meine Nummer. Ich die seine. That's it. Damit lässt sich's weiterleben.
- Ich zieh Leine.-
Eine uralte Floskel. Aus Bibelversen ausgegraben und von Pubertierenden wieder zusammengereimt. Die Leine hält.
- Na also bis dann.-
Patrick hat sein schmales Ding wieder eingepackt und behändigt mit flinker Geste das ominöse Buch. Dreht sich ab. Ob er das Buch je lesen wird? Das kann keiner mit Sicherheit wissen. Keiner von uns beiden. Und das ist gut so. Das ist – und ich spür es jetzt wieder unter der Haut – die Quantenphysik der Pubertät. Alles bleibt offen. Deine Synapsen vibrieren und hyperventilieren und gaukeln dir ihren berauschenden Veitstanz vor. Ein Pubertierender weiss nie, was wirklich abgeht, wo er geht oder steht. Fakten sind dem Pubertierend bloss erstarrte Fiktionen, kalt und ohne inneren Schub, denen er sich zu verweigern hat, will er nicht die Spur verlieren.
- Stopp!, - rufe ich, - stopp! Stopp! Stopp!-
Gerade noch rechtzeitig, bevor er aus dem Laden verduftet. Wo, will ich wissen, wo und wann er trainiere. Ich wolle das mit eigenen Augen erleben. Wie alles, was mich fasziniert. Das braucht er aber nicht zu wissen. Auch ich, gebe ich zu verstehen, sei von seiner Disziplin angefressen. Von seinem Diamidowkreisel und seinen gedrehten Fliegerelementen. Von seiner Leistungsklasse. Neun, denke ich, und fahre darauf ab.
- Vom Kunstturnen, genau wie du, - mach ich mich verständlich. - Bloss nicht ganz auf deinem Niveau. Hab wohl zu spät damit begonnen. Das Talent ist mir etwas durch die Latten gegangen.-
- Täglich. Nach der Schule.-
- Täglich? Jeden Tag?- Spinn ich? -Wo denn das?-
- In R.-
- Von da oben kommst du her. Alles klar. Die Riege ist ja bestens bekannt für die Förderung ihrer Nachwuchstalente. Die beste Halle weit und breit. Renommierter Trainer. Kranzturner. Jede Menge regionaler Meister. Und wie ich wohl annehmen darf, gehörst du dazu.-
-Nicht ganz. Mein Vater.-
-Verstehe. Jetzt geht mir aber ein Licht auf.-
Ich habe mir an den Schädel zu fassen. Begreifen heisst verstehen. Mich selber wie das Befremden, das sich langsam sachte von mir löst.
Patrick verstummt, kraust leicht angestrengt die Stirn und nestelt erneut am angerissenen Bucheinband herum. - Mein Vater ist Trainer und Betreuer.-
-Dein Vater. Verstehe. Also einer der Betreuer dieser renommierten Riege.-
-Nicht einer. Cheftrainer. Mein Vater war bis vor der Invasion Trainer der Nationalen Kunstturnermannschaft in Kiev.-
-Vor der russischen Invasion? In Kiev, sagst du?-
Nun komm auch ich ins Grübeln. Das muss in der Ukraine liegen. In russischem Einflussbereich. -In der Ukraine? Habt ihr denn da auch gelebt? Ich meine, in Kiev?-
Flüchtlingsbilder bauen sich vor meinem inneren Auge auf. Kriegsbilder aus Dörfern und Städten. Menschen auf der Flucht. Das passt mir nicht ins Bild. Das passt überhaupt nicht. Nicht zu dir und nicht zu mir.
-In Kiev und Mariupol. Seit drei Jahren leben wir jetzt hier.- Patrick macht eine fahrige Geste in der Luft. Etwas wie Feindlichkeit stellt sich ein. Mein Gegenüber wirkt ungehalten und geladen.
-Mann! Und ich halt dich noch für ein ganz normales Früchtchen, so brav und angepasst wie du scheinst.- Es haut mir die Puste weg. - Du haust mich aus den Socken.-
Ich seh mir diesen Merlin auf einmal mit ganz anderen Augen an.
- Gott bewahre! Das bist du jetzt aber nicht. Hab ich Recht? Ein hundskommuner Bürger, meine ich.-
-Ja und? - Patrick hebt drohend die Stimme und fixiert mich böse mit dem Blick. -Passt dir das nicht?-
Da bin ich in Teufels Küche geraten. Genau, was ich immer zu meiden versuche. Missverständnisse und Fehlbegriffe. Ob in Texten in Büchern oder simpel auf der Strasse, auf Schulhausplätzen oder in öden Streitgesprächen. Immer heisst es Kompromisse zu suchen. Sie zu finden, meine ich. Wie jetzt mal wieder hautnah vor Ort.
-Jetzt mal molo, Mann, Patrick. Ich und ausländerfeindlich. Da kennst du mich aber schlecht. Das Schimpfwort lasse ich mir nicht gefallen. Das nimmst du jetzt sofort zurück!-
-Sorry, ja. Ich hab ja gar nichts gesagt. Bloss gefragt.-
Behutsam legt er das Buch zurück auf den Tisch, die Stimme gedämpft, zögerlich vornüber gebeugt. Ein sprechendes Bild der Irritation. Von Missmut, Trauer und Trotz. Eine absolut krude Mischung auf dem Antlitz eines scheu vor sich hin Pubertierenden. Das Bild frisst sich mir ins Gehirn. Die Angst vor der Fremdheit. Und was noch viel verstörender ist – die Furcht vor dem eigenen Fremdsein.
-Patrick bitte! Dieses Missverständnis lassen wir uns nicht gefallen. Weder du noch ich.- Ich fasse demonstrativ nach dem Buch. -Dieses Buch muss jetzt vom Tisch, komme was wolle. In diesem Buch steckt auch etwas von dir. Von dir und mir. Von uns allen. Ich rede hier von Abkapselung. Vom lebendigen Totsein. Von den Leichen im Keller. Und von der Angst vor dem eigenen Sein.-
Patrick mustert mich abweisend und kritisch aus den Augenwinkeln, als übe ich Gewalt.
-Was heisst Freundschaft in deiner Sprache? Auf Ukrainisch meine ich.-
Wir haben das jetzt auszukernen. Er und ich. Alle Widerstände sind auszuräumen. Den Widersprüchen hat es ans Eingemachte zu gehen. Denen haben wir den Stecker zu ziehen. Gemeinsam, meine ich, Hand in Hand.
Patrick scheint zu überlegen. -Freundschaft?- Er senkt den Blick und nestelt erneut am Bucheinband herum. -Druschba.-
-Druuschb,- versuche ich stimmmässig nachzuäffen. -Druuschba. Und Freund? Wie heisst Freund auf Ukrainisch?-
-Druch.-
-Druuch. Geil. Tönt schon fast wie du. Du Druuch. Nicht schlecht. Was heisst denn jetzt Du auf Ukrainisch?-
-Ti.-
-Ti. Auch gut. Ti Druch. Das gefällt mir. Ich will, dass du das jetzt zu mir sagst: Ti Druuch.-
-Ti druch?- Patrick macht ein betroffenes Gesicht. - Und was soll das dann heissen?-
-Gott, Mann! Das ist der wichtigste Satz in deinem Leben! Der ultimative!-
Fast augenblicklich fallen mir alle Sicherungen aus.
- Hey, Mann!, es hat der Satz deines Lebens zu sein. Und wieder mal will ihn keiner verstehen. Ich bin dein Freund, muss es heissen. Ich bin dein Freund, heisst das. Also, Patrick, Mann! Was heisst 'ich bin dein Freund' in deiner Sprache?-
Patrick scheint nichts verstanden zu haben. Nichts vom Gesagten, nichts vom Angetönten und Evozierten, nichts von alledem, einfach nichts. Er will es nicht begriffen haben.
-Also? - Ich mache Druck mit Stimme und Blick. Kann doch nicht so verdammt schwer sein.
Patrick zaudert rätselnd noch immer. Scheint sich hinterfragen zu müssen.
Unsere Blicke kreuzen sich. Das ist es. Er weiss es. Wir wissen es. Beide. Dann endlich, erlösend, die gesuchte Formulierung. Fast schroff und widerwillig kommt sie ihm über die Lippen, leise, kaum hörbar, die eigenen Worte niederringend. Stimmbruch, denke ich. Hatte auch ich mit zwölf zu erdulden.
-Ya tviy druch.-
-Na also. Sag ich doch. Ya tviy.- Soviel habe ich gerade noch verstehen können. Der Rest ist im Krächzen der Stimme einfach tonlos untergegangen.
Eine kurze, packende Pause entsteht. Patrick glotzt mich verwundert an. Ich höre mein Blut in den Gehörgängen rauschen. Hört es auch Patrick, mein Gegenüber? Er muss es hören. Verdammt nochmals. Er muss es einfach hören. Das ist doch auch das Wesentliche im Leben. Das Blut rauschen hören. Das Blut des Nächsten, meine ich, in den eigenen Ohren. Und es rauschen hören.
Patrick lauscht. Sucht, verlegen grinsend jetzt, meinen Blick. Alles ist gesagt. In der einzigen Sprache, meine ich, die wesentlich ist. Uns allen inne. Zu jeder Zeit. Jetzt. Immerdar. In einem einzigen, zuckenden, suchenden Blick.
Ich wiederhole es nochmals, ganz langsam und bedächtig, als hätten wir alle Zeit der Welt. - Ya tviy.-
Patrick, halb amüsiert, halb entgeistert, grinst noch immer, jetzt einfach vertieft mit offenem Mund. Er kann es nicht fassen. Da faselt ihm einer unbesehen sein eigenes Kauderwelsch ins Gehör. Völlig neben den Schuhen.
Was das heissen soll, will er wissen.
-Das heisst 'ich will dein Freund sein',- gebe ich etwas zögerlich preis.
--Druch-, habe ich gesagt, -ya tviy druuch,- Patrick schüttelt sehr bedächtig sein Haupt. -Nein. Sein, nicht wollen,- lässt er mit seiner heiseren Stimme kaum hörbar verlauten. - Auch die Russen wollen das. Sie sind es nicht. Sie töten. Ich dein Freund? Wir kennen uns nicht.-
Die Worte, knapp, mit heiser bleckendem Klang, sind so abweisend und schroff wie sein starrer Mund, ganz als versuchten die Worte sich den Lippen zu verweigern.
Stimmbruch, denke ich. Armer Kerl, versteht seine eigenen Worte nicht. Bin aber doch entrüstet von seiner starren, abweisenden Art. Wär ich doch bloss aufs Maul gehockt. Immer muss ich mein Kleinvieh von der Leine lassen. Und mag auch jetzt nicht einfach schweigen. So unsanft vor den Kopf gestossen regt sich in mir stur der Selbsterhaltungstrieb. Und redet wie mir der Mund gewachsen ist. Ins Blaue hinaus.
-Oh Gott! Du lässt mich einfach ungesehen absaufen. Ich wollte dir doch bloss auf die Sprünge helfen. Nach Harry Potter und dessen faulen Zaubereien schien mir das gegeben. Und habe jetzt als Belagerer zu gelten. Ich glaub's einfach nicht. Ich kann es nicht fassen. Ich presche vor. Und du verschanzt dich hinter Vorbehalten. Die Russen. Die Russen! Als hätte ich Gamaschen an den Flossen und ein geladenes Sturmgewehr in der Hand. Habe ich aber nicht, Herrgottnochmals! Ob es dir passt oder nicht. Ich bin dein Freund. Und damit basta. Du hast mich nicht vor den Kopf zu stossen. Bin ich dir etwa nicht gut genug?-
Das scheint jetzt auch Patrick zu viel zu sein. Zuviel des Guten.
-Du? Nicht gut genug? Und du sagst, du bist - ?-
Der Unglaube hockt ihm wie ein Geschwür in den Zügen. Schier beklemmend anzusehen. Was Gefühle doch alles auszulösen vermögen, indem sie dir ungefragt ihre Zügel auferlegen.
-Bist du denn das?-
Die Frage brennt sich mir schwärend ins Gehirn. Das reicht dann. Ich mach da nicht mehr mit, hab ich doch klar und deutlich alles Wesentliche gesagt. Wie eine Zitrone habe ich mich ausgepresst. Und jetzt eine saure Miene im Gesicht. Ja wo sind wir denn hier!
-Du hast ja Recht. Das Ganze war mehr als Metapher gemeint. Als Metapher, bildlich. Gewissermassen als Abziehbildchen, das du dir in die Kniekehlen pappst. Oder eben wie ich hier: frontal auf den Schädel, damit es jeder sehen kann. Du zum Beispiel. Wenn du weisst, was ich damit meine.-
Das war's dann. Zu viel Gelaber, zu viel eindeutige Zweideutigkeit, zu viel Rechthaberei, zu viel Gefühl. Und von alledem habe ich eh gottverdammt zu viel.
Ich schnapp mir den belobten Steingarten, der schon wieder auf den Tisch zu liegen gekommen ist, und fuchtle drohend damit herum.
-Willst du das jetzt lesen oder nicht? Wenn's auf dem Tisch liegen bleibt, gelingt dir das mit Bestimmtheit nicht.-
Ich mag meine Verstörung nicht länger leugnen. Steh ja eh auf verlorenem Posten. Hab mich ausgezogen bis auf's Hemd und eins auf die Fresse bekommen. Na ja, so jedenfalls dämmert's mir. Dieser Merlin hat mich ungefragt verzaubert. Nur mir gelingt die Verzauberung nicht. Ganz im Gegenteil. Patrick hält alles wohl für faulen Zauber. Den Steingarten inbegriffen. Ich muss ihm wohl behämmert erscheinen.
Warum, frage ich mich, warum nur mache ich das? Hier hocken und Bücher lesen. Und bekloppten Typen Schmöker unterschieben, die eh nicht wirklich gelesen werden, statt ihnen eine in die Fresse zu langen. Es ist wie im wahren Leben – immer bin ich im falschen Film. Oder laufe als halbnackter Joker herum. Als Hofnarr des so genannt gesitteten Bürgers. Als Jugendlicher und Pubertierender bist du eh nicht glaubwürdig. Du bist ja nicht nur minderjährig. Du hast auch noch unmündig zu sein. Will sagen – du hast die Fresse zu halten.
Ich hab mich hingehockt und lass diesen Merlin einfach stehen. Soll er doch mit Harry Potter und dessen Stein der Weisen schnurstracks in die Hölle fahren. Ich jedenfalls fahr da nicht mit. Die Sache geht mich nichts mehr an.
Ich werf einen Blick auf die Uhr und schieb die unsäglichen Tugendbücher von mir. So hätte der ganze Schund zu heissen, der die Tugend hofiert und klischeehaft kindisch Minderjährige ins Zentrum stellt. Die ganze Schreibe ist zum Steine Erweichen und eh nicht lesbar. In einer knappen Stunde schliess ich den Laden und lasse das alles hinter mir. Auch diesen unausgegorenen Merlin. Auch meine vermieste Stimmung. Auch diesen pubertierenden Patrick. Auch meine eigene Irritation. Mit alledem auch dich.-Das Buch.- Dieser Pubertierende lehnt sich angestrengt über den Tisch. Also ist er immer noch da. Heisst Merlin und will die Welt verzaubern. Und will ein Buch von mir. Das hatten wir doch schon.
-Ach so. Ja natürlich.- Noch immer halte ich das ominöse Buch in der Hand. -Sorry, Mann.-
Ich steh wieder auf und geh auf ihn zu.
-Dein Buch. Und lesen. Spannend, abgehoben. Gutes Deutsch. Hat Profil. Was will der Mensch mehr. Der Zauber, wenn du willst, hockt wie in jedem richtigen Buch zwischen den Zeilen. Darauf kommt es an. Versuch also auch zwischen den Zeilen zu lesen. Das bereichert ungemein. Von Harry Potter, wenn man dich fragt, ist dummerweise alles ausgeliehen. Wirklich dumme Sache, muss ich sagen. Wie du ja weisst – hat mit dem Stein der Weisen zu tun. Mit dem Hippogreif, dem hypergeilen Pferdevogel. Oder Vogelpferd, den Besen zwischen die Hufe geklemmt. Levicorpus portus-.
Ich leg ihm den Band in die offene Hand. Ungewollt berühren wir uns. Ich trete einen Schritt zurück.
-Ya tviy?- Patrick fasst mir wie suchend ans Hemd, das letzte der Worte unter Zweifeln begraben. -Du?-
Ich fühle mich von der Frage berührt, von der Geste allenfalls. -Ich?-
-Ya tviy druch.- Patricks Stimme, heiser und krächzend, legt die ganze Betonung auf die letzte Silbe. Also wiederhole ich, meiner eigenen Stimme nachsinnierend, -druch. Ya tviy druuch.-
Patrick nickt mir vertrauensvoll zu. -Kommst du-, will er wissen, und macht mit Worten eine klärende Pause, -ins Training?-
-Ins Training?- So direkt um die Ohren geschlagen kommt mir die Frage jetzt ungelegen. -Ins Training? Weiss nicht. Ich hab ja noch Stricken und Häkeln auf dem Programm. Ohne Quatsch – ich weiss nicht. Ins Training, meinst du?-
-Ins Training. Samstag. Fünf Uhr. Könntest mitfahren.- Patrick bettet das Buch von einer Hand in die andere und schaut ganz belanglos zum Fenster hinaus. Vögel im Himmel, kein Mensch im Anzug. Nachmittagsstimmung. Wir beide im Zweifel. Ob daraus etwas wird?
-Mitfahren, sagst du? Morgen, gegen fünf?- Ich lasse mal meine Synapsen kreisen. -Klar doch. Morgen, gegen fünf. Ich bring dann meine Stricknadeln mit. Die ganzen Wollsachen und so. Ohne Quatsch. Deine geschraubten Drehsprünge und Fliegerelemente muss ich gesehen haben, noch bevor ich unter die Erde komme. Also: ich komme.-
War gar nicht so schwer, sich zu der verworrenen Aussage zu bequemen. Und hat mich doch jede Menge Nerven gekostet. Dieser Merlin gaukelt mir Verzauberung vor. Und ich hab mich darauf einzulassen, um mir nicht ganz abhanden zu kommen. Mann! Du denkst das nicht nur. Du weisst es. Es ist dir mit deinem eigenen Blut in die Gene geritzt.
Komme was wolle. Der Zauber hat dich längst in der Hand. Und angefressen löffelst du daraus. Seit Jahr und Tag schon. Ich hab mich mit sechs auf eine Gestalt eingeschworen und jetzt hocke ich fest. Ich bin ein gezeichnetes Kind. Man lasse den Exorzisten kommen. Und Scham über das abgöttisch läppische Tun, das meine Sinne längst zugekleistert hat. Mit deiner Scham, ich mag es nicht leugnen. Sie ist mir mit sechs in die Sinne gefahren. Und ich hatte sie gewähren zu lassen, bezirzt und behext. Ich hatte in dir meinen Erlöser gefunden. Ohne Adamsapfel und Dornenkrone, ohne Lanzenstich in die linke Brust und ohne Essigschwamm zwischen die Lippen geschoben. Auch Dreizehnjährige wie dich oder mich kreuzigt man nicht. Man lässt sie elendiglich verdursten.
Doch zurück in die Leihe. Ich halt mich bedeckt. Wir haben mit dem Blick schon alles gesagt, was es zu beschweigen gilt. Die Volksmeinung lauert. Die kreisenden Vögel sind dem Himmel in endlosen Flugbahnen näher gekommen. Wind macht sich breit. Das Gezwitscher der Vögel lässt uns erahnen, wie weit entfernt der Erde sie sind. Und sie kreisen ohne sich je zu berühren. Ihre Flugbahnen zeichnen Choreographien in mir. So lässt es sich leben. Ich weiss jetzt, welche Flugbahn mir gilt. Was das Fliegen bedingt. Weiss die Spannweite der Flügel der Schwerkraft anzumessen. Lausche auf das Pochen in der Brust. Der Rest ist die Zuneigung in Flugbahn und Wind. Dieses sich Fallenlassen und sich Ausgeliefertwissen. Fliegen ist gefühltes Denken. Noch jeder Vogel weiss es dir aufzuzeigen.
-Genial.- Patrick dreht demonstrativ und geschmeidig eine gekonnte Pirouette und wankt dann winkend aus der Leihe hinaus. Das soll ihm mal einer nachmachen, so katzenhaft und geschmeidig. Mich haut es ziemlich vom Hocker. Na ja. Bin schon so etwas wie fasziniert. Oder sagen wir mal berührt. Was aber wieder zu viel aussagen will. Zu viel von dem, was man verschweigt. Von dem, was man verschweigen will. Wie jetzt gerade wieder. Er dreht eine Pirouette. Ich schaue paffend zu. Ist auch schon alles.
Patrick ist abgezogen. Dieser Merlin gemeinsam mit ihm. Ich hatte Kinder- und Jugendbücher zu rezensieren – lesen kann man's nicht nennen, beschränke ich mich doch meist bloss aufs Querlesen. Oder lese Anfang und Schlusssatz und mach mich in purer Verzweiflung über die Mitte des Textes her. Dass ich selber auch Texte in den Rechner hacke hat damit nichts zu tun. Ich bin – wie meine eigenen Texte – noch in Gestation. In Schwangerschaft heisst das, in ihrem physiologischen Verlauf. Es ist diese körperliche Verfassung, die mit der Empfängnis des kreativen Gedankens beginnt und mit der Geburt des finalen Textes endet, so es denn nicht zur Abstossung oder Fehlgeburt des Erdachten kommt.
Kein neuer Besucher im Laden oder suchend zwischen den Gestellen. Seit Jahren schon seien die Ausleihen rückläufig, wie meine Mutter mit Bedauern vermeldet. Lieber sähen die Leute fern. Oder laden sich die Bücher direkt aus dem Netz. Bloss Kleinkinderbücher seien noch begehrt und gesucht. Darauf wird dann mit Fingerfarben herumgekritzelt und das Werk von meiner Mutter nach Rückgabe lächelnd wieder ins Gestell geschoben. Es sind, im Vertrauen gesagt, die einzigen Werke, die auch den Sinnen noch kongenial entgegenkommen und dem kritzelnden Baby den Himmel erschliessen. Alle anderen Bücher schliessen die Sinne kurz. Ein Funkenregen. Und der Ofen ist aus. Du fasst dir in den Schritt, weil es dich bloss da noch anständig kratzt. Grundlegend, meine ich, ohne Wenn und Aber. Der Rest ist Konvention. Prosaische Literatur gleicht einem Besäufnis. Sich volllaufen lassen, um sich abhanden zu kommen. Ein ehrbares Unterfangen wie das Züchten von Vögeln und Fischen und krepierendem Getier. Es soll dem Menschen in dir die Zügel lösen. Dem baren Menschen soll so zugedient werden. Ihm die eigene Natur beispielhaft erschliessen. Zum Abkreischen. Man lümmelt sich in diesen Texten zu Tode. Und feiert auch das noch als grossartig ab.
Wenig mehr als ein halbes Dutzend Jugendbücher habe ich heute Nachmittag rezensiert, die üblichen Stichworte erstellt und auch diese Bücher wieder zurück in ihr Gestell geschoben. Der Tag ist gelaufen. Um sechs mache ich den Laden dicht und kralle mich auf mein Bike.