Die Zähmung des Büffels - Phil Ephebos - E-Book

Die Zähmung des Büffels E-Book

Phil Ephebos

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Beschreibung

Die erste Liebe eines jungen Menschen hat etwas Überwältigendes und Reines und wird mit der Macht jener überquellenden Erfahrung der erstmals erblühten Gefühle und der unter dem Mantel der Verschwiegenheit lechzenden Leidenschaft noch Jahre fortdauern, auch wenn die Liebe längst erloschen scheint und dem eigenen Denken enthoben rastlos der eigenen Erlösung harrt. Von dieser Liebe handeln diese Geschichten, von ihren Verwirrungen und Eskapaden, vom autistischen Verlorensein, vom Ausgesetztsein, von Leidenschaft, Lust und stillem Verweilen, von Verweigerung und Coming-Out, von Mondscheinserenade und Ertrinken - einfach von Seelen und ihrem lechzenden Begehren, der Liebe hold und dem eigenen Leben auf der Spur zu sein.

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Veröffentlichungsjahr: 2020

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Phil Ephebos

Die Zähmung des Büffels

Eine Parabel

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

DIE ZÄHMUNG DES BÜFFELS

Vorwort

Dies ist keine dieser süffisanten Geschichten, in die sich so einfach mal locker rein beissen lässt. Autismus, Knaben, Freundschaft und Liebe sind heute Begriffe, die Mann und Frau als kuriose, streng getrennte Welten verstehen – verbandeln sich die ach so starren und verwirrlichen Begriffe, ist schnell einmal Feuer im Dach, die Bestürzung kolossal und rasch und zwingend wird nach Remedur verlangt – das Übel hat umgehend ausgegrenzt zu werden. Jeder der vier Daseinszustände wird in rigouros abgegrenzte Bezirke abgeschoben, auf dass sie sich nicht in die Quere kommen oder Unheil stiften – wo das Leben doch fordernd und zwingend nach Ganzheitlichkeit lechzt.

Väter und Mütter wissen Bescheid - das Böse kommt auf leisen Sohlen und gaukelt dem verwirrten Geist Erlösung und Befreiung vor. Zucht und Ordnung seien des Menschen erstes Gesetz und habe den Sinnen den Weg zu weisen. So wird dann dem jungen Menschen mit guten Argumenten die Sicht verstellt. Zucht und Ordnung sind der Jugend suspekt, sind sie es doch die ihr Leiden bedingen. Daran, genau daran haben sie sich wundzustossen. Die Jugend hat sich nach ganz anderen Prioritäten und Vorgaben auszurichten und sucht in Erweiterung und nicht in Begrenzung ihre Erlösung.

Die erste Liebe eines jungen Menschen hat etwas Überwältigendes und Reines und wird mit der Macht jener überquellenden Erfahrung der erstmals erblühten Gefühle und der unter dem Mantel der Verschwiegenheit lechzenden Leidenschaft noch Jahre fortdauern, auch wenn die Liebe längst erloschen scheint und dem eigenen Denken enthoben rastlos der eigenen Erlösung harrt. Die erste Liebe, und mag sie noch so verwirrend und unzeitgemäss erscheinen, ist und wird hinfort für immer der Leidenschaft Mass und Gestalt verleihen und dem Menschen allein Richtmass und Bestimmung sein.

Von dieser Liebe handeln diese Geschichten, von ihren Verwirrungen und Eskapaden, vom autistischen Verlorensein, vom Ausgesetztsein, von Leidenschaft, Lust und stillem Verweilen, von Verweigerung und Coming-Out, von Mondscheinserenade und Ertrinken - einfach von Seelen und ihrem lechzenden Begehren, der Liebe hold und dem eigenen Leben auf der Spur zu sein.

Keine einfache Sache.

Die Knaben werden sich zu häuten haben, die Seelen zu leiden.

Dem Leser soll es hier gleich ergehen.

 

1. Die Suche nach dem Büffel

1.1. Schlüsselchen

Dunkel war’s, weit nach Mitternacht, sternenklar und doch stockfinstere Nacht, und hätte Noah zu verschwinden vermocht, er hätte sich aus dem Staub gemacht. Man hatte getrunken, vielerlei Hochprozentiges und vom Hochprozentigen zu viel, und das Gelächter seiner befremdlichen Gesellen rauschte ihm hohl und beklemmend in den Ohren. Nie und nimmer hätte er herkommen sollen. Seine Stirne brannte, er fühlte sich abgeschlagen und erschöpft, ausgelaugt, nicht mehr Herr seiner Sinne, elend und müde, und auf die Einladung, mit einer Horde halb trunkener halbwüchsiger Männer aufs Land zu fahren war er nur gegen das ominöse Versprechen eingestiegen, daselbst ein stilles Lager zu finden. Dem war, wie er mit banger Erschütterung bald einmal feststellen musste, ganz und gar nicht so. Noch als sie alle trunken und torkelnd in kniehohem Gras vergeblich nach dem Schlüsselchen tapsten, das der schwankende Gastgeber hatte fallen lassen, hielt er die Zeit für gekommen Leine zu ziehen und wie ein Schatten in der Nacht zu entschwinden, um sich unter dem offenen Himmelszelt unbemerkt aufs Ohr zu schlagen. Sein widerspenstiges Schicksal war es, urplötzlich das ominöse Schlüsselchen in der Hand zu halten und japsend zu rufen „I got it! I got it!“

Heute muss ich lächeln, wenn ich daran denke. Die Berauschung jener Nacht ist längst verraucht, die Beklemmung hat einem diffusen Erstaunen Platz gemacht und was ich damals als stumme Verwirrung wahrgenommen hatte ist nichts anderes mehr als simple Erkenntnis, dass was wir in den Händen halten nie wirklich das Wesentliche ist.

Schon damals war das so. Dieses dämliche Schlüsselchen gefunden zu haben, erschien Noah – kaum hielt er es in der Hand – wie ein Fluch, und noch am liebsten hätte er es in weitem Bogen von sich geschleudert und wäre auf und davon gerannt. Stattdessen wurde er wie ein Winner gefeiert und von der Horde junger Knaben und Burschen eingekeilt und umzingelt, was seine Verwirrung nur noch weiter verstärkte. Diese Kumpanei von Schulterklopfen und Lobhudelei war nicht sein Ding. Augenblicklich wurde allen klar: mitgegangen - mitgefangen - die sture Maxime wollte sich bestätigt wissen. Statt sich zu verabschieden oder weglaufen zu können wurde er mitgeschleift, und wo Noah den Blicken eines ihm Zulächelnden auswich, stand alsbald ein anderer, der ihm zulachte.

Diese Burschen, nun ja, diese Gesellen waren sehr jung, sehr feurig, sehr trunken und als verschworene Gruppe wie eine Herde junger Stiere auf freier Wildbahn, nur darauf wartend, Noah in die Enge zu treiben um ihn alsbald mit einem wuchtigen Stoss ihrer Hörner aufzuspiessen und zu durchbohren, und die immer deutlicher aufscheinende Tatsache, dass diese verwirrlichen Gesellen viel Gefallen an ihresgleichen fanden, trug nichts zu Noahs Erleichterung bei.

Ein deutscher Geschäftsmann und Kunstmäzen hatte an Noahs Arbeiten Gefallen gefunden und ihn wenn nicht genötigt so doch mit viel versprechenden Angeboten zu einer Reportage vor Ort verpflichtet. Auf der Suche nach einer neuen Herausforderung hatte sich Noah in jene kompromittierende Situation hinein manövriert, für eine Befindlichkeit, die bloss Auftragsarbeit war, die Haut hinhalten zu müssen. Der Auftrag schien simpel. Die Welt der Rentboys und Stricher sollte das Thema einer Recherche sein. Eine Fotostory als Bildreportage. Noah hatte sich an Kriegsreportagen die Haut wund gestossen und genug vom Hunger der Welt gesehen und wollte einfach wieder mal nur den nackten Menschen ins Zentrum rücken. Man hat es ihm als Versagen ausgelegt, als ein wohlfeiles Tändeln mit Zeitgeist und Banalität. Wie auch immer – die Bilder haben für Aufsehen gesorgt. Wie immer wenn es um menschlich allzu Menschliches geht. Um Tabus und Verbote. Um anderer Leute Passion, die man mit Faszination und Abscheu begafft. Das Abstruse ist nie die eigene sondern noch immer anderer Menschen Hingabe.

Und da sass er nun in der Falle. Von einer Horde junger Burschen umzingelt zu sein, die allerlei sinnliche Abenteuer suchten, war nicht ganz das, wonach der Sinn ihm stand. In jener Nacht, von Alkohol und geheimen Leidenschaften aufgeputscht, schien das keinen zu kümmern, ja es schien fast so, als ob Noahs Befremden und Verweigern jene starren und stossenden Leidenschaften nur immer noch stärker entfachten.

Kaum hatte sich das Schlüsselchen im Schloss gedreht, kaum waren die Tore aufgestossen, da nahm das halbe Dutzend Jugendlichkeit von einem abgelegenen und verlassenen Gelände Besitz, das still und verloren in einer kleinen Senke lag, sehr ausgedehnt und sumpfig schien und zwei grössere Teiche umfasste, die das Dunkel der Nacht mit ihrem aufblitzenden Glitzern durchbrachen, von einem plätschernden Zufluss gespeist. Der Grundbesitzer, ein älterer deutscher Geschäftsmann, mit mancherlei halblegalen Machenschaften sichtbar ans grosse Geld gekommen, hatte Noah, kaum wieder im Besitz des Schlüsselchens, dankend den Arm untergeschoben und ihn nicht wieder losgelassen als bis sie, unsicher durch die Dunkelheit wankend, eine grosse, über einen der Teiche gebaute und überdachte Terrasse erreichten, auf welcher, eilfertig und flink, Kissen und Sessel ausgelegt wurden, in welche sie alsbald sanken, der Deutsche wieder zu neuem Leben erwacht, Noah gerädert und erschlagen. Wie durch einen Schleier nahm Noah die Umrisse eines Anwesens wahr, in welchem jetzt brennende Petroleumlampen zuckende, gellende Schatten warfen, die mehr verschleierten als aufzeigten.

„Hören sie„, wollte sich Noah bemerkbar machen, kaum waren sie in die Kissen gesunken, „ich habe einen Zwölf-Stunden-Flug zusammen mit einer anstrengenden Busfahrt hinter mir und viel, viel zu viel Alkohol intus. Wenn sie mich jetzt entschuldigen wollen„. Doch nicht einer nahm von seinem Lallen Notiz; seine Worte verhallten ungehört in der Nacht.

Flaschen wurden herumgereicht, gegarte, scharfe, die Lippen versengende Fleischstücke auf kurzen Spiessen, in welche jeder nach Belieben biss, und über einen winzigen Beistelltisch sah er einen jungen Menschen gebeugt, der Reisschnaps in hohe, halb mit Eiswürfeln gefüllte Gläser goss. Er stutzte, weil alle lachten, und er nicht im Bilde war, was da so zum Ergötzen sei. Da alle äusserst angeheitert schienen, brachte seine stumme Verwunderung alle um so mehr zum Lachen. Mit wachsender Skepsis glaubte er zu bemerken, wie einige auf ihn und auf den über das Tischchen Gebeugten zeigten. Eine wachsende Übelkeit bemächtigte sich seiner, ein trübes, diffuses Unwohlsein, das filigran und verschwiegen mit seinem Schweigen verwoben war. Noah hätte aufstehen und den Raum verlassen wollen, sah sich aber ausserstande dazu.

So blieb er denn geknebelt ins Polster gelehnt, halb gehockt, halb liegend, und sah abwesend zu, wie jener noch und noch Reisschnaps in die Gläser kippte. Erst dann, nach langem, langem, in Gedanken versunkenen Hinsehen wurde er jener Eigentümlichkeit gewahr, die alle anderen so zum Lachen reizte – der über den Beistelltisch Gebeugte war ohne Hemd und Hose. Es schien nicht zu leugnen – der da gebückt und ganz ohne Hast noch und noch die Gläser füllte war unbekleidet und nackt.

Noah lachte kurz auf. Nicht amüsiert und ergötzt, bloss verloren und hart. Nicht die Nacktheit verstörte ihn, bloss diese plakative Zur-Schau-Stellung und Entblössung. Nacktheit hatte für ihn etwas Unberührtes, Natürliches zu sein. Hier schien ihm alle Natürlichkeit verbannt und verbaut. Die Gesten hatten etwas schleppend Geziertes, ganz als versuchten sie sich selber zu parodieren. Als aus Zufall ihre Blicke sich trafen und kreuzten wurde er sich einer Erregung gewahr die keinesfalls die seinige war. Das schien ihm allerdings des Zweifelhaften zu viel. Resigniert und ermattet senkte er den Blick. Zu spät offenbar. Aus den Augenwinkeln sah er den Entblössten sich aufrichten, jetzt ganz ihm zugewandt, und als er erneut die Augen hob, ahnte er längst, was kommen musste – der nackte Jügling kam auf ihn zu, zwei Gläser in der Hand. Was eben noch launiger Widerwille gewesen war wuchs augenblicklich zur Wand.

Oh nein!, hallte etwas in ihm, nicht hier, nicht jetzt! Vergeblich wandte er dem sich Nähernden den Rücken zu und drehte sich zum Gastgeber hin.

„Ich muss hier weg!“, liess Noah in einem Aufwallen der Gefühle verlauten, „das hier ist nichts für mich“. Ein schallendes Lachen war die Antwort.

Er hätte nicht mitgehen dürfen.

„Na so was, Noah“, meldete der Hausherr sich, indem er sich jovial gegen seinen Besucher lehnte, „ich darf sie doch bei ihrem Vornamen nennen? Da haben sie sich ja gleich den süssesten Jungen angelacht – Kennerauge, was?“ und mit einem verschwörerischen Augenzwinkern hob er sein halb geleertes Glas. „Und machen sie sich nichts aus seinem Aufzug. Er liebt es nun mal, sich auszuziehen – sich frei zu legen, wie er das nennt. Das sollte ihnen, gerade ihnen, aufs Trefflichste entgegenkommen. Es ist doch ihr Auftrag und Metier, die Nacktheit des Menschen zu dokumentieren! Wenn sie mich fragen – der Junge ist wie gemacht für sie.“

Noah lächelte matt. Zwanzig Jahre Berufserfahrung hatten ihn gelehrt, von zweideutigen Angeboten abzusehen und nach eigenen Wegen zu suchen, um die gesteckten Ziele zu erreichen. Er würde es hier und in dieser Sache genau so halten.

Mit einiger Anstrengung gelang es ihm, sich auf die Füsse zu stellen ohne gleich wieder ins nächste Kissen zu plumpsen.

„Hören sie“, begann er mühsam von neuem, „ich habe zwölf Stunden Flug hinter mir, eine endlose Busfahrt und ein Trinkgelage, das sich gewaschen hat. Das reicht. Ich habe jetzt nur noch einen Wunsch: mich aufs Ohr zu schlagen und zu schlafen. Und zwar allein. Wenn sie mich jetzt empfehlen wollen.“

„Nun seien sie mal nicht so zimperlich, guter Freund. Wenn sie mich fragen – das klassische Syndrom von etwas zu viel Mekong im Blut und viel zu viel Mondscheinserenade, gepaart mit fremden und exotischen Genüssen. Das Ganze hier ist doch bloss als Spass gemeint.“ Mit leisem Spott in der Stimme grinste ihn der Gastgeber an und versuchte vergeblich, ihn am Handgelenk erneut in die Kissen zu zwingen.

„Keine Bange, lieber Noah, keiner von diesen jungen Menschen hier will etwas von ihnen. Nichts jedenfalls was nicht sie auch wollen. Wir sind hier ja nicht in der Bronx. Einige der Anwesenden haben von ihren New Yorker-Bildern gehört. Sie können es diesen Jungen nicht verargen, wenn sie daraus auch einmal die falschen Schlüsse ziehen. Ich selbst, wenn sie mir die Bemerkung erlauben, ich selber habe da so meine Mühe, sie als völlig unbeteiligten, objektiven Betrachter zu sehen. Dafür, lieber Noah, sind ihre Bilder zu sprechend und einen Touch zu intim. Und darum, gerade darum habe ich sie hergebeten und das kleine Amüsement hier inszeniert. Ich bin da durchaus auch auf meinen eigenen Vorteil bedacht und versuche die richtigen Weichen zu stellen, damit das Vorhaben gelingt.“

Dem Deutschen schienen nun doch erste Zweifel zu kommen. “Wir sind uns doch über das Projekt noch immer einer Meinung?“

Über das Vorhaben ja, über die Umstände nicht`. Noahs Gemurmel verhallte ungehört im allgemeinen Gelächter. Lächelnd und vielsagend hob der Deutsche sein Glas. „Wenn sie sich jetzt doch vertrauensvoll dem Jüngling zuwenden wollen, der so erwartungsvoll lächelnd hinter ihnen steht. Auf ihr Wohl! Auf unser Projekt!“ Sprach's und leerte sein Glas in einem Zug.

1.2. Der erste Schultag

Er blinzelt, liegt auf dem Rücken und blinzelt in die Sonne. Wärme, Körpernähe, Wohllust. Er kennt das Gefühl, weiss es einzurichten und zu halten.

Der erste Schultag.

Wenn er den Kopf dreht sieht er seine neuen Sachen. Die Schulmappe und das blaue Hemd. Das blaue Karohemd und die kurze Hose. Die Manchesterhose und die neuen Socken. Die weissen Socken.

Er bleibt auf dem Rücken liegen, nackt, und blinzelt zwei Sonnenstrahlen entgegen. Genau zwei. Zwei Sonnenstrahlen, die durch die Fensterläden filtern.

Wie jeden Morgen hat er sich noch vor dem Erwachen entkleidet. Im Halbschlaf, behutsam, die Augen geschlossen, wie immer die Pyjamahose zuerst. So liegt er dann für Augenblicke reglos und still, lauscht in die Stille, auf dieses begehrliche Pochen in ihm. Genug gelauscht und in den Morgen gezwinkert schält e sich geschmeidig und sachte aus dem Hemd, ruht wieder regungslos und still. Nur das Leinen noch auf der nackten Haut.

Sich spüren. Erkennen. Ich bin.

Das Laken, das Pochen, die nackte Haut. Das Pulsieren zwischen Ferse und Stirn. Ein Kreisen, Pulsieren. Sich mit geschlossenen Augen unter dem Laken bewegen. Lautlos, haltlos, von jeder Schwere befreit. Blind werden, Licht einfach, Laken und Haut. Sich in dieses Kreisen eingebunden wissen.

Morgenfrische. Sich räkeln mit entblösster Haut, alle Poren offen, atmen, alle Sinne weit, weit aufgerissen und blank.

Der erste Schultag, warnt etwas in ihm, heute ist der erste Schultag.

Sein Herz schlägt wie wild, in den Adern pocht das Blut. Sein schmächtiger Körper wird steif, unbändig und hart. Also berührt er mit den Händen seinen widerspenstigen Leib. Das muss so sein. Er weiss. Das muss so sein. Er liebt es, so zu liegen und in die Sonne zu blinzeln, das gleissende Sonnenlicht im Gesicht, die Hand an den schmächtigen Leib gepresst. Das ist ein Naturgesetz, weiss er, er hat es erfahren.

Die Sonne, sein Leib, das Erwachen. Alles weiss er in diese Einheit eingebunden, all das, weiss er, ist das nackte Leben, all das ist in seinen Sinnen vorgezeichnet, ist seine Bestimmung. Das ganz allein ist was leben bedingt, spüren und atmen, atmen und spüren. Die Hände ganz nah, ganz dicht an sich gepresst. Sich nicht mehr rühren, nicht mehr bewegen, atmen nur noch. Nur noch dieses tiefe, wilde Atemschöpfen, sein Körper, sein Pochen, sein Erwachen tief unter der Hand, diese harte, pralle Ringen in ihm.

Er kneift die Augen zusammen, beisst sich auf die Unterlippe, verhakt die Schenkel ineinander. Fünf Sekunden, zehn. Dann sprintet er los, mit nackten Füssen, die jäh feuchte Pyjamahose in der Hand.

Türeknallen, Wimmern, Wasserrauschen. Wieder hat er es nicht ganz geschafft. Tränen schiessen ihm in die Augen. Die Blase brennt, das steife Glied ist nur noch Schmerz.

Mit geschlossenen Augen, die Schenkel gespreizt, nach vorn gelehnt, vornüber gebeugt, ganz als hätte er sich zu übergeben, versucht er den losschiessenden Strahl zu lenken. Vergeblich. Urin auf der Schüssel, Urin auf der Hand. Er zieht an der Vorhaut. Urin überall.

Er jammert, er schimpft. Dann blinzelt er wieder, ein verkniffenes Lächeln im Gesicht. Weil er es liebt, so Wasser zu lösen, so stehen und einfach pinkeln zu können, egal wohin der Urin im Moment auch rinnt. Weil er es mag, wenn der Tag mit dieser Erregung beginnt. Mit diesen harten und übervollen Verlangen, die sein berauschender Körper ihm diktiert. Und weil er es mag, die Erlösung zu spüren, wenn all seine Verlangen sich einfach ergiessen, wenn die Muskeln sich lösen, seine Glieder erschlaffen und alle Poren, eben noch offen, wie Blütendolden sich wieder schliessen.

Er steht in der Duschwanne, zieht den Vorhang zur Hälfte vor, die feucht gewordene Pyjamahose unter den Arm geklemmt, als der Vater ins Bad tritt. Elias pinkelt erneut. Der Vater kennt das, verkneift sich ein Lächeln, klopft ihm auf den Po.

“Dein erster Schultag.“

Elias nickt, stumm wie ein Fisch, noch immer von seinen Gefühlen verwirrt, und lässt sich Wasser über den Körper laufen, geschmeidig belebend, einmal heiss, einmal kalt.

Der Vater nestelt am Duschvorhang, mahnt zur Eile, rasiert sich. Elias duscht noch immer ohne Eile, ohne Ende, einmal heiss, einmal kalt. Der Vater stolpert über die feuchte Pyjamahose, runzelt die Stirn, schnüffelt daran.

„Elias! An deinem ersten Schultag!“ Er zieht den Duschvorhang zurück, „Raus jetzt!“ Mit einem Griff lässt er das Wasser versiegen, hebt den Buben hoch. „Wir kommen zu spät in die Schule!“

Elias hastet in sein Zimmer. Die weisse Wäsche, die weissen Socken, das karierte Hemd. Er schlüpft in die Hose, sucht einen Spiegel, humpelt ins Elternschlafzimmer, sich in der nur halb geschlossenen Hose verhaspelnd. Steht vor dem Spiegel, sieht einen Schüler, knüpft sich die Hose zu, staunt und erkennt sich. Elias als Schüler. Ich, Elias, an meinem ersten Schultag.

Er stürmt zurück in sein Zimmer, zieht auch das Hemd über, fasst den Schulsack und steht dann erneut verwundert vor den Spiegel, unverwandt sein Spiegelbild betrachtend. Er staunt. Dieser Schüler da, mit blauem Hemd und weissen Socken, dieser Schüler da bin ich. Ich bin ich und dieser Schüler. Auch wenn die Schuhe fehlen – ich bin ich und dieser Schüler. Was irgendwie nicht stimmen kann. Er kann nicht beides sein. Nicht beides gleichzeitig was das Spiegelbild da zeigt. Und doch scheint es ganz als wär das so.

Beim Frühstück fragt er den Vater „kann man beides sein, gleichzeitig?“

Der Vater fragt „hast du deine Sachen bereit? Wo sind die Schuhe? Wir müssen los!“

Elias erkennt. Man kann nicht beides gleichzeitig sein.

„In der Schule wirst du viel Neues lernen“, sagt der Vater.

„Kann man lernen beides zu sein?“ Elias muss das wissen.

„Beides was?“ Der Vater rückt Elias das verrutschte Hemd zurecht. „Hol deine Schuhe. Wir müssen los.“

„Ich selber sein und Schüler sein“, erläutert Elias, „gleichzeitig.“

„Mach dir mal keine Sorgen“, beruhigt der Vater, „du wirst schon sehen. Die Schuhe!“

Ich bin ich, denkt Elias. „Ich bin doch kein Schüler“, erklärt er kleinlaut dem Vater, „ich hab doch nur die neuen Sachen an.“

„Die Schuhe, hab ich gesagt!“, tadelt der Vater, „nimm deine Mappe und zieh jetzt sofort die Schuhe an. Wir kommen zu spät.“

Als sie auf dem Schulhof vorfahren, sind alle Schüler schon da und strömen dem Schulgebäude zu. Ein paar Erwachsene stehen schwatzend und winkend herum. Alles Mütter, glaubt Elias zu erkennen. Keine Väter. Elias kommen immer mehr Zweifel. Weil das alles nie und nimmer stimmen kann. Weil er Elias und kein Schüler und Schule nicht seine Sache ist. Elias wendet sich ab, ist jetzt bleich und verstört.

„Was ist los mit dir?“, will der Vater wissen, „vergiss deine Schultasche nicht.“ Und unnachsichtig schuppst er Elias noch vorn.

„Ich geh nicht zur Schule“, gibt Elias zu verstehen, „ich will kein Schüler sein.“

Das kann nicht gut gehen. Elias, vom Vater gestossen, kommt ins Wanken. Diese vermaledeite Schule. Beide haben es kommen sehen, Vater wie Sohn. Der selbstvergessene Bub gehört da nicht hin. Der Vater hat’s geahnt, der Knabe gespürt, Elias weiss es. Schule ist nichts für ihn.

Elias hat genug von dem unseligen Spiel, macht da nicht mehr mit. Also sagt er was Sache ist. „Schule ist Scheisse!“

Die Zeit bleibt augenblicklich stockend stehen. Der Vater wird wieder zum sechsjährigen Kind, zu seiner eigenen Makulatur, Elias einfach nur wieder er selber. Er allein weiss, wer und was er ist, er allein hat über sein Dasein zu bestimmen und vermag zu erkennen, dass er als Schüler nicht mehr er selber ist.

ICH BIN KEIN SCHÜLER!, schreit es lautlos aus ihm heraus, ICH BIN KEIN SCHÜLER! Und dann, auf wessen Geheiss auch immer, verschaffen sich auch diese starren Worte Gehör und schwirren kreischend über den Pausenplatz, und als sei alle Erdenzeit abgelaufen, scheppert schrill eine Pausenglocke los und lässt Elias erschaudern. Elias erkennt.

Das ist, das muss sein Ende sein.

1.3. Gartenarbeit

Mit siebzig ist man mit einiger Sicherheit über den Berg, hat Erwerbsleben, Kinder, Familie und Ehekrise hinter sich und vor sich bloss noch ein weites, abgeerntetes Feld, das man beackert und erwartungsvoll immer mal wieder zum Knospen bringt – störrisch manchmal, mit heimlichem Groll, verbissen, verbittert gar. Dann wieder voller Lebensfreude, die man sich eisern aus den Gliedern destilliert.

Gartenarbeit also. Sich den Gezeiten unterordnen. Scholle werden, mit baren Händen der Schöpfung den Puls fühlen. Atem schöpfen. Sinnsuche mit siebzig? Ausgelitten. Man hat gesucht und gefunden. Und irgendwann die Orientierung verloren. Und weiss sich dennoch angekommen. Das Tröstliche am Altern: man weiss sich der weiteren Suche enthoben. Jede Flucht ist zwecklos. Die Knochen verweigern sich jeder sinnlosen Hast, wollen ruhen, verweilen. Wollen Muse haben. Nur der Kopf manchmal, noch und noch, begehrt kindisch Aufruhr, will schalten und walten und den Gliedern ihren eitlen, blindwütigen Schneid aufzwingen. Ein irres, selbstgefälliges Treiben. So wie du in die ausgetretenen Stiefel steigst und die Gartenhandschuhe befingerst ist all das ominöse Treiben ausgelitten.

An der Kunst willst du dich messen, Erfindergeist zeigen und kreativ dich noch und noch erneuert erfinden. All die Bildnisse der Kopfgeburten in Ehren – die Zeit ist ihnen längst enteilt. Mit siebzig die Literatur zu bereichern oder gar zu erneuern versuchen ist ein seniles Hirngespinst, ganz als versuchte ich im abgeernteten Acker einen sagenumwobenen Schatz zu heben.

Und dennoch, ganz als kümmere ich mich einen Deut um die Weisheit, male ich, reime Verse, bilde ab, suche kreativ alles Wissen zu brechen und werde nicht müde, neue Schätze zu heben, die anderen bloss Verblendung sind. Ich bin das Kind meiner eigenen Vision, vielarmig, hüllenlos, mit tausend Gesichtern, und jedem dieser Gesichter gebe ich mich noch so gerne hin.

Die Gartenarbeit schiebt der Verblendung Schloss und Riegel vor, weist mich immer wieder zurück auf Feld eins. Das Spiel ist nicht zu gewinnen. Ich weiss das, weiss dass alles eitles Gezierde ist und wie das Leben willenlos und ohne eigenen Sinn. Ein weites, offenes, brach liegendes Feld, in welchem ich nach eigenem Gutdünken Samen ausstreue und Triebbeete anlege, Blumen pflanze und Früchte und Gemüse ernte.

Irgendwann erkennst du – alles ist eins. Illusion und Gemüse sind Geschwister, der Apfel im Garten und der gereimte Vers sind Gebrüder und gleichen sich in ihrer Essenz wie ein Ei dem andern. Reimen also, malen und ernten. Die Schaufel im Garten wie der Pinsel in der Hand sind aus einem und demselben Guss. Es genügt, sie in die Hand zu nehmen. Schon deuten sie dir die Welt, öffnen dir Tore, tragen dich fort. Und beide nähren und erneuern sie dich allein durch dein Tun.

Er tritt vom hinteren Garten durchs schmale Bogentor im Gemäuer, die Schaufel geschultert, und bleibt kurz sinnierend stehen. Der Deutsche damals, die beschwipste Horde der kaum der Pubertät entwachsenen Jungs, die verworrene, dunkle Seele der Nacht – dreissig Jahre sind verflossen, und noch immer betört und verzaubert ihn der Ort mit seiner fernöstlichen Abgeschiedenheit und Magie. Nichts ist da vollkommen, nichts für Ewigkeiten festgelegt, und wenn der Monsun wieder mal seine Schleusen öffnet, schwimmt und treibt der halbe Garten dem brüchigen Gemäuer zu. Gut so, denkt er, und weis sich in dem Treiben eingebunden. Nichts ist ihm so widersprüchlich und fremd wie Beständigkeit. Fauler Zauber bloss, und nichts von Bestand. Ein Vorwand nur, um sich die Sicht zu verstellen. Panta rhei. Alles fliesst. Und noch jedes Mal wenn ihn die Sinne mit ihrer Sinnsuche benebeln, gibt ihm der Garten die Losung vor und gemeinsam stemmen sie sich in den Boden, dem Fliessen und Vergehen ein Jota am Zeugs herumzuflicken. Alles ist nur auf Sand gebaut, und wenn es dem Strömen und Fliessen beliebt, schwimmt alles einfach der Schwerkraft zu. Ergötzlich, sich so ins Zeugs zu legen, ganz im Wissen, dass alles bloss eitles Gehabe ist. Nachsichtig wie die Natur sich seit ewigen Zeiten offenbart lässt sie das Treiben geschehen. Der Mensch ist ein Erdenkloss. Und doch versucht noch ein jeder sich über den Staub zu erheben, sucht Erhabenheit, Wert und Sinn im eigenen Tun wie im Lauf der Gestirne. Das ist Sand in die Augen gestreut, Blindwerden. Erbärmliches Tun.

Er hebt sich die Schaufel von der Schulter und lehnt jetzt erschöpft vom emsigen Tun gegen ein von Termiten zerfressenes Geländer, das er, Jahre sind’s her, nachsichtig in den Boden gerammt hat. Der Bach murmelt, der Teich zeichnet Spuren filigraner Bewegung, ein laues Lüftchen raschelt durch die üppig wachsenden Helikonien, die den Teichrand verwurzeln und stabilisieren sollen. Alles wie immer. Ein lähmendes Erschöpftsein, Gewand und Gestalt vom Hantieren beschmutzt, der Rachen ausgedorrt und lechzend nach Schleim, zentnerschwer die Knochen, die Muskeln bleiern und klamm, Durst. Und Befriedigung dennoch. So nahe am Leben, dem eigenen Sein so dicht auf der Spur. Sich einmal mehr ins Fliessen eingebunden wissen. Dieses Wissen ist es, ein Erahnen viel mehr, ein Erkennen, vieldeutig und flüchtig. Ist es nicht das was du dir vom Leben abringst? Was du begehrst und zu gewinnen erhoffst? Ist es das letzten Endes was du suchst, hier und jetzt, jetzt und immer?

Die körperliche Erschöpfung zeichnet die eben gleichen filigranen Spuren des Wassers ins Bewusstsein. Ihm ist als fliesse der Bach durch sein dürstendes Ich. Nur noch Dasein einfach, regungslos dem Murmeln des Wassers lauschen. Nichts suchen, nichts finden. Ein Bach einfach, Wasser, Bewegung wie auch immer, Natur, alles in ein winziges Jota Zeit gebunden. Ein Gefühl von Eintracht, bewegend, verschwörerisch, zeremoniell schon fast.

Er zerrt sich die klebrig feuchten Handschuhe von den Händen, jeden Finger noch einzeln, steigt aus den Stiefeln, aus Hose und Hemd, tritt aufs Haus zu, wirft die schmutzige Bekleidung in ein Wasserbecken, und zieht sich die restliche Wäsche von den Gliedern. Ist jetzt erschöpft einfach nur noch, gealtert und nackt. Mehr will er, mehr vermag er in diesem Moment nicht zu sein. Mehr, weis er, mehr ist in diesem Leben nicht zu haben. Mehr kann und will er nicht generieren. Diese leise Gewissheit ist ihm mehr Wert als alles Haben und Gut.

2. Büffelspuren

2.1.   Ankommen

Noah lauschte. Die Augen geschlossen. Er schien zu schlafen, tief und fest. Die Augenhöhlen brannten. Übelkeit. Gliederschmerzen. Morgengrauen, Vogellaute, Mückensurren am Ohr.

Wo bin ich.

Er krümmte sich auf die andere Seite, schob ein Kissen unter, entschlief einmal mehr.

Als er erwachte, war es Mittag. Er lauschte in die Stille, irritiert. Das Kreuz tat ihm weh. Die Sonne stand versengend hoch im Zenit, Tauben gurrten. Er erahnte wohl, warum er hier lag, wusste aber keinesfalls, wo das war. Das Lager war hart, ungewohnt, unbequem und improvisiert. Ein ständiges Sichaufbäumen und Kämpfen gegen die Schwerkraft. Der Nacken fühlte sich steif und verdreht an, die Schultern verspannt, beide Unterschenkel lagerten abgedreht über einander getürmt auf dem blossen Fussboden. Drei Dinge nahm er mit wachsendem Missbehagen wahr – das nervtötende Sirren einer Mücke, Taubengurren, versengendes Sonnenlicht auf nackter Haut. Kein Laut sonst, keine Atemgeräusche, kein Stimmengewirr wie am Abend zuvor, nicht ein einziges verräterisches Geräusch einer menschlichen Präsenz.

Als das Mückensurren plötzlich verstummte schlug er unwillig die Augen auf, blieb aber reglos liegen. Er hockte mehr als er lag in ein Kissengewirr gezwängt und vermochte sich kaum zu bewegen. Eine grosse Terrasse, über einen Teich gebaut, mit einem hölzernen Geländer bewehrt, überdacht, ein paar Palmen, Reisfelder, Hügelzüge in der Ferne, die Sonne. Als hätte sie alles zu versengen, blendend, unbarmherzig und hart, hatte sie ihn ins Schwitzen gebracht.

Mühsam setzte er sich auf, rieb sich den Schlaf aus den Augen und versuchte sich zu orientieren. Alle Erinnerung war wie ausgeblasen, alles Erkennen weggewischt. Verdachtsmomente allemal. Etwas wie Erstaunen streifte seine Sinne. Etwas sehen aber nicht erkennen. Etwas erkennen aber nicht verstehen. Etwas verstehen aber nichts begreifen. Die Gläser, die Kissen, das niedere Beistelltischchen, Reste von Kerzenwachs in lotusförmigen Leuchtern, kurze Fleischspiesse, abgenagt, verstreute Kleidungsstücke, sein eigenes Hemd. Nur die Hose noch am Leib, verschoben und eng. Kissen auf dem Boden, Gläser und Flaschen, umgekippt oder kaum zur Hälfte geleert. Ein wüstes Chaos.

Er war sich solcher Art Erwachen nicht gewohnt. War es zu Verfehlungen gekommen, zu Unsittlichkeiten gar? Irgend etwas in ihm schien den Verdacht zu erhärten. War das Chaos nicht sprechend, das Hemd auf dem Boden nicht ein klarer Beweis? Seine Verwirrung, jetzt wie in der vergangenen Nacht. Diese masslose Leere, das Hämmern im Kopf, die tumbe Übelkeit, die Schwere der Glieder. Alles bezeugte und beschwor eine Verfehlung. Er hatte sich vorführen lassen, verführt, hatte selber verführt. Ein Bild alsbald, zaghaft leuchtend und hell. Eine Gestalt wie gemalt, flüchtig einmal, dann wieder wie aus Metall, blendend und hart. Ein Mahnmal. Eine Bezeugung. Ein Selbstbekenntnis. Eine Lüge. Eine Verblendung einfach. Betrunken wie er war hatte man sich seiner bedient. Ihn wie auch immer verführt. Und er hatte es geschehen lassen.

Noah wuchtete sich hoch, schwankend einmal mehr, Schlaf in den Augen, der Kopf dröhnend von Schmerz. Keine Seele weit und breit. Das konnte heiter werden. Man hatte ihn einfach liegen lassen. Wie Morast. Wie geschlagenes Holz. Er hatte sich vom Abend einiges versprochen. Auch vom Deutschen. Die geplante Reportage hatte in groben Zügen dargelegt zu werden. Stattdessen hatte man sich einfach betrunken. Eine Chance vertan. Dennoch. Etwas war geblieben.

Tauben schwirrten hoch, als er ans Geländer trat um sich zu übergeben. Vergebliches Würgen. Was blieb war der brennende Durst, das Hämmern im Kopf, der stechende Schmerz in den Augenhöhlen. So rasch kann man sich verloren gehen.

Mückenstiche. Am linken Handgelenk, dem Puls entlang, am Nabel, an Wade und Fussgelenk, am äusseren Rand des linken Ohrläppchens, überall einfach. Mahnmale dieser beissenden, stechenden Kontaktstellen zwischen Mensch und Insekt, als habe es eine Liebesbeziehung zu sein. Sich ausliefern. Sich ausgeliefert wissen. Einem fremden, ungehörigen Verlangen hilflos hingegeben. War es das was ihn schmerzte? Sich den Begehren nicht entziehen zu können? Den eigenen nicht. Nicht den fremden. Hatte er sich denn nicht durch eigenes Tun zum Opferlamm gemacht! Und sass nun hier fest.

Hundegebell irgend woher aus der Ferne, Wasserplätschern, einlullend lieblich, kaum ein Lüftchen, beschauliche Stille. Übelkeit. Zuviel Alkohol im Blut. Er war solche Exzesse nicht gewohnt, nicht gebaut dafür. Erneut suchte er mit den Augen die Gegend nach einer menschlichen Präsenz ab.

Er war, wo er stand, allein. Er grinste. Weil es lächerlich war, eine Täuschung seiner Sinne, unmöglich; grinste, weil er solche Sinnestäuschungen liebte. Wie alles Unmögliche, Unsinnige, Diffuse. Wie alles, was nicht fest gefahren war. Lächelte, weil er das, was er sah, als unerhört packend und voller Liebreiz empfand. Zwei von einer Landzunge getrennte Teiche, in eine fast flache Senke gebettet, von Palmen und Reisfeldern begrenzt, scheinbar jeder menschlichen Präsenz enthoben. Nicht Realität. Vision. Und wenn es auch Sinnestäuschung war, Wunschdenken und ein Fabulieren mit dem Blick, es war von betörender Dichte, die all seine Sinne umfing und beleckte und ihn für Momente seinen Kater vergessen liess. Ein Paradiesgarten war, wo er schaute und stand, überbordend exotisch. Und zirpte und gurrte und quakte und vibrierte in einer Dichte und Vielschichtigkeit, die ihm ganz neu und doch berührend vertraut erschien. Endlos hätte er so stehen und schauen mögen, verspürte jedoch einen quälenden Durst, der ihm die Kehle versengte.

In einer brüsken Bewegung stiess er sich vom Geländer ab und wandte sich nach rechts. Zum ersten Mal nahm er vom Wohnhaus Notiz. Ein klobiger Rohbau, nüchtern, modern, ohne jede Zierart, ein stossender Fremdkörper in einem Flecken unberührter Natur. Die enge Treppe, die sie in der Nacht Flaschen im Arm schwankend hochgestiegen waren, die Einfahrt, die Umzäunung, das Tor.

Erinnerungsfetzen.

Der Deutsche, das ominöse Schlüsselchen, auf allen Vieren das Tapsen im Gras. Eine Horde junger Burschen. Das Trinkgelage. Flackernde Petroleumlampen, tanzende Schatten, die bleierne Müdigkeit, Widerwillen und Trotz. Betrunken wie er war, musste er irgendwann eingeschlafen sein, ohne Hemd, einfach so.

Vom Haus her glaubte er Geräusche zu vernehmen. Der Deutsche vermutlich, seine jugendlichen Begleiter, Dienstboten, egal wer auch immer.

Richtig.

Sie hatten über seine New Yorker Bilder debattiert. Hatten kurz das Projekt angetönt.

Der Jüngling alsbald.

Mec.

Richtig.

Der Junge ist wie gebaut für sie. So hatte der Deutsche deklamiert. Willfährige Blicke. Missbehagen. Interesse dennoch. Hatten sie nicht einen Termin vereinbart?

Völliger Unsinn. Was er suchte waren Menschen, nicht Statisten. In seiner Berauschung hatte ihm der Junge geleuchtet wie ein Fanal in der Nacht. Eine Fata Morgana. Er hatte sich hinreissen lassen. Zweifellos. Allerdings ohne sein geringstes Zutun. Ohne sein Zutun? Als Gedankenspiel bloss, als unergiebiges Projekt. Hübsch aber ohne Substanz. Damit war kein Staat zu machen. Da war nichts was sich hätte fassen lassen. Schund allenfalls, von Weichzeichnereffekten verwischte Pornografie. Knabenhaftigkeit, die sich in Affekten erschöpft. Der Junge mochte hübsch, liebreizend und gut gewachsen sein. Damit hatte es sich. Noah setzte ganz andere Prioritäten. Was seine Bilder zeigten und was er zu realisieren versuchte war tiefgründiger und intimer.

Den Menschen ins Zentrum rücken.

Den Menschen mit seinen Gefühlen unter dem pochenden Leib.

Er hatte es sich einzugestehen – die Arbeit versprach schwierig zu werden, das Projekt von zweifelhaftem Erfolg. Minderjährige und käufliche Liebe waren mit tausendjährigen Verboten belegt und strotzten von aller arten Tabus.

Er würde sich auszugrenzen haben, mehr als ihm sinnvoll und lieb schien. Kein gutes Omen. Mit Ausgrenzung war dem Menschen nicht beizukommen.

Sein suchendes Auge hatte die Terrasse nach etwas Trinkbarem abgesucht und wurde fündig. Also ging er auf eine Ansammlung von Flaschen und Gläsern zu, fasste das erstbeste Glas und zwei halbvolle Mineralwasserfläschchen, goss alles ins Glas und leerte es in einem Zug.

Augenblicklich brach ihm der Schweiss aus. Die Hitze war nicht auszuhalten, die Sonne stand hoch im Zenit und noch immer tat sich nichts im Haus. Er hatte sich bemerkbar zu machen, liess den Pavillon hinter sich, stieg die kurze Treppe runter und trat schleppenden Schrittes auf das Anwesen zu. Vor der Schiebetüre blieb er stehen, lauschte kurz in die sich weitende Stille, pochte drei Mal an die Fassung der Tür und schob diese dann kurz entschlossen auf.

Nichts geschah, niemand da, nichts. In einem Zimmer ein Bett, in einem zweiten ein paar Stühle, ein Tisch in eine Ecke geschoben, nichts sonst. Das Haus war unbewohnt, schien nie bewohnt gewesen zu sein, ein Reduit. Ein Relikt aus einer Zukunft, die noch nicht angekommen war.

Noah biss sich stirnrunzelnd auf die Lippen. Das wollte ihm nicht gefallen, war einen Touch des Guten zu viel. Ganz einfach – das versprach unangenehm zu werden. Die liebliche Oase bekam Risse. Nur gut hatte er sein Handy dabei. Er schaltete es auf Stand by und begab sich zurück auf die Terrasse. Schon bald würde sein Telefon klingeln, wenig später das Gartentor rattern und die Zivilisation hätte ihn wieder. Er könnte allenfalls die Strasse hochlaufen und ein vorbei fahrendes Gefährt stoppen. Oder in den nächsten Weiler marschieren und sich Proviant und Getränke besorgen. Zurückkommen. Sich still und heimlich für einige Zeit hier vergraben. Einfach die Gedanken fliessen lassen und das Projekt auf später verschieben.

Barer Unsinn. Was er jetzt brauchte war ein Bad und eine Rasur. Also begann er sich ohne Eile zu entkleiden, suchte mit den Augen eine günstige Einstiegsstelle, stieg hinunter ans Teichufer und liess sich ins Wasser gleiten. Das Teichwasser von einem dunklen, olivenfarbenen Grün war erstaunlich erfrischend, roch nach Moor und Morast. Jetzt nur keine Schlangen, Skorpione oder anderes, blutsaugendes Getier. Er hatte in der Nacht genug gelitten und zur Genüge Blutopfer dargebracht. Das Gewässer hatte ihm jetzt seine Wunden zu lecken.

Die Abkühlung tat gut. Er vollführte ein paar halbherzige Schwimmbewegungen, legte sich rücklings flach aufs Wasser, schloss geblendet die Augen und liess sich dann einfach treiben. Nur keine falsche Begehrlichkeit wecken, dachte er voller Schalk, er wüsste sich ihrer nicht zu erwehren. Diese asiatische Exotik war höchst verwirrlich und wie der Garten und die ganzen Umstände dem Geiste nicht wirklich erklärlich.

Als sein Handy zu piepsen begann sah er kurz einmal auf und liess es dann ergeben klingeln. Rennen war zwecklos. Er würde zurückrufen, später, viel, viel später. Leider kannte das Gerät keine Muse, klingelte Mal für Mal, unnachgiebig, noch und noch. Als er endlich genug im Wasser getrieben, genug in der Sonne gelegen und sich genügend abgekühlt hatte und tropfend zurück auf die Terrasse hastete gab das piepsende Gerät ein paar letzte, verwirrende Laute von sich und erlosch dann mit einem metallischen Seufzen. Die Batterie hatte ihre Reserven ausgeschöpft.

Das war nun doch betrüblich und brachte ihn ins Grübeln. Ohne Verbindung zu der Aussenwelt ist auch im Paradies nicht viel Staat zu machen. Er war auf sich allein gestellt. Keine liebliche Eva, keine Weisheit und Wissen versprechende Schlange, kein lockender Apfel, nichts womit er sich mit Beissen hätte erlösen, befreien oder verdammen können.

Die Verbindung wäre wichtig gewesen – nicht zu Gott, gewiss. Zur Aussenwelt einfach.

Blut tropfte. In der Hast war er ausgerutscht und hatte sich die Elle wund geschlagen. Das tropfende Blut lockte fremdes Getier das geflogen und gekrochen kam.

Die Welt war verwirrlich. Kein piepsendes Handy mehr. Aber summende Fliegen. Käfer schwirrten, Mücken surrten, ein sanftes Lüftchen nestelte in Blättern. Und alles ergab sich ohne sein Zutun. In der Ferne sah er winzige Gestalten eifrig saftgrüne Felder bestellen, Hunde bellten, Hähne krähten und mit kristallklarem Plätschern ergoss sich ein schmales Bächlein in den kühlenden Teich, in welchem er eben noch getrieben hatte. Das Bild bekam Tiefe je länger er staunte.

Jugenderinnerungen. Ihm war als ob sich die Vergangenheit ob der geschauten Bilder neu einzurüsten begänne. Was pochte da zwischen dem Knaben von damals und dem Erwachsenen jetzt? Fremdheit und Erkennen, ein diffuses Erahnen ohne jegliche Erkenntnis. Mit Denken liess sich die Entfremdung nicht tilgen, wurde trüb und beschwerlich, gab Selbstzweifeln neuen Auftrieb. Nur Fühlen und Erahnen machten alte Fährten und Spuren wieder ersichtlich, modulierten Skizzenbilder vergangener Zeit.

Die Zeit blieb stehen. Er sah sich eingebettet, eingebunden in den Kreislauf der Natur, in welcher er bisher bloß Zaungast und Zuschauer gewesen war.

Nackt wie er war, feuchtnass und glücklich, Slip und Schuhe in der Hand, begann er langsam und gemächlich den Teich zu umrunden , als sei das die natürlichste Sache der Welt, lies sich von allerhand Gewächs und Getier die Füße zerkratzen und zerstechen, und die winzigen, rot glänzenden Blutstropfen, die seinen Weg markierten, waren wie Nektar jener Fauna und Flora, denen er sich jetzt verbunden fühlte. Als er erneut auf die Terrasse trat, war er von der Sonnen trocken geleckt und die Blutung der Elle mit geronnenem Blut gestillt. Was nun? An eine weitere Nacht im Freien war nicht zu denken, so verführerisch der Gedanke auch war.

Er würde noch etwas im Schatten rasten, der Hitze trotzen, noch etwas baden in diesem Schwirren und Surren, Schmachten und Schweigen. Noch einmal den einen Teich und den anderen umrunden, noch einmal in deren Wasser eintauchen, noch einmal schmecken den herben Geschmack von Erde und Sumpf, von Flora und Getier, noch einmal den Horizont im Rund nach allerlei Augenfreuden absuchen. Dann, gegen vier order sechs, alle Flaschen und Behältnisse leer getrunken, würde er über die Umzäunung klettern und mit grossem Bedauern eine ihm so vertraut gewordene Umgebung hinter sich lassen wie eine Geliebte, von welcher man sich nur mit schlechtem Gewissen und Widerwillen trennt, weil man weiss, dass ein Wiedersehen utopisch und ohne jede Hoffnung ist. Weil man ob der plötzlichen und unerwarteten Liebe Zweifel bekommt, Verblendung erkennt und sich jählings verweigert. Und dennoch mit lieben nicht aufhören mag. Weil man hofft. Und weil jede Hoffnung die Verlorenheit bricht. So wird er dann losmarschieren, mit verbluteter Elle, die Füsse vom Barfusslaufen zerkratzt und wund, mit leerem Magen, durstig und mit von der Sonne versengter Haut, bereit, jederzeit, einmal, irgend wann wieder dahin zu gelangen, wo das Dasein zu berührendem Staunen verklumpt.

2.2. Der Baum

Vater ist augenblicklich wieder ganz der alte.

„Los jetzt!“

Er fasst den Knaben bei der Hand und zieht ihn einfach mit sich fort. Die Sache duldet keinen weiteren Aufschub. Herrisch schreitet er auf das Schulgebäude zu, klemmt sich den störrischen Knaben unter den Arm und hat auch schon die Orientierung verloren. Wo Elias Klassenzimmer ist weiss er nicht, dass der verstörte Knabe leidet duldet er nicht. Der Balg tut wie wild, wimmert und schreit. Die Verwirrung wächst.

Ich will nicht zur Schule, weiss der Bub, ICH-WILL-NICHT-ZUR-SCHULE! Und weiss es zu zeigen mit Puffen und Treten. Schule ist Scheisse. SCHULE-IST-SCHEISSE!, dröhnt es in ihm, zweimal. Und bezeugt damit, was Tatsache ist.

„Na endlich“, brummelt der Vater, „Zimmer 1 C. Und jetzt ist Schluss mit dem Theater, kapiert!“

Energisch stellt er den Buben wieder auf die Füsse, zupft ihm Hemd und Hose zurecht und fährt dem Verwirrten mit den Händen durchs Haar. Dann erst klopft er an, verspätet natürlich, öffnet spaltweit die Tür. Alle Schüler sitzen brav in ihren Bänken und starren die beiden Wartenden wie Fremdlinge an. Die Lehrerin wendet sich ihnen zu, streckt dem Knaben ihre Hand entgegen.

„Elias, hab ich Recht?“ Sie nimmt den neuen Schüler bei der Hand und führt ihn an einen noch leeren Platz. Ein kurzes Nicken in Richtung des Vaters, dann ist der auch schon entschwunden.

Die Flucht nach vorne beginnt. Das also ist Schule. Da muss er nun durch, dafür hat er sich selber herzugeben. So also sieht das Ende aus. Und er hatte sich noch darauf gefreut. Wollte Schüler werden, lernen und so wie alle anderen werden. Er, Elias. Ein Schüler einfach.

Ein Schüler einfach.

Er schaut verloren aus dem Fenster und sieht den Baum. Einen grossen, wuchtigen, stämmigen Baum mit knorrigen Ästen und winzigen Blättern. Erkennt nach langem, halsstarrigem Schauen sein eigenes Gesicht auf der Fensterscheibe. Dahinter, übermächtig, der Baum. Beide verschmelzen sie alsbald, Elias und der Baum.

„Hey du!“ der neben ihm in der Bank Sitzende zupft ihn sachte am Ärmel. Elias hört es nicht. Er ist nicht da. Elias macht auf Elias und der Baum. Mit seinen langen, ausufernden Ästen wiederholt der Baum lautlos was Elias denkt. Ich bin Elias, raunt der Baum, ich bin Elias. Zweimal, immer wieder. Ich bin Elias ich bin Elias. Durch das Tuscheln der Schüler hindurch vermag Elias das stumme und doch übermächtige Rauschen des Baumes zu hören. Elias sieht das Erzittern der Blätter im Wind, weiss die Stille zu lesen, ist dem Baume vertraut. Und weiss jetzt, dass er angekommen ist.

Oh nein! Nicht in der Schule, nicht in dieser Klasse, nicht da, wo er noch gar nicht hingehört. Nur in seiner Welt. Nur in seiner ihm eigenen, vertrauten Welt. In seiner Welt der sinnlichen Begriffe.

2.3. Spitalbesuch

Man ist nicht sonderlich darauf erpicht, von fremden Leuten angesprochen zu werden, besonders wenn man in die Arbeit vertieft sinnierend und suchend am Laptop sitzt. Das war auch jenem Sommerabend nicht anders. Seit einer geschlagenen Stunde in einem äusserst zügigen, unangenehm hallenden und lärmendem, düsteren, übel riechenden Flur auf einer steinharten und aufs heftigste unorthopädischen Steinbank hockend, den Laptop auf die Knie gezwängt, vergeblich versuchend, mittels Handy über Internet die letzten Börsenkurse aus Hongkong und Tokio herunter zu laden – etwas, was er sonst aus Prinzip nicht tut – war er mehr und mehr gereizt und noch unnahbarer als sonst schon aus Natur. Um keinen Zweifel offen zu lassen – er verachtete zügige, unangenehm hallende, lärmige, düstere, übel riechende Gänge, verachtete beinharte, unorthopädische, eckige Bänke, auf welchen man sich den Hintern abfriert, verachtete Laptop und diese dämliche Sitte, sie wie Nachwuchs auf den Knien zu halten wie besorgte Eltern es mit Kindern tun, er verachtete das Hantieren mit Börsenkursen, und es käme ihm beim besten Willen nie in den Sinn, sie aufzuschreiben oder herunterzuladen, weil ihm mit dem flüchtigen Überfliegen der Kurse mit den Augen dem Anlagedenken Genüge getan war. Nun denn – man mag seinen Missmut teilen oder auch nicht und seinen widerwilligen Gedanken die Folge verweigern, zu ändern vermag man die Tatsache nicht, dass er es ganz ausserordentlich verachtete, in einem Bezirksspital zu sitzen – in einem zügigen, nach Krankheit und Siechtum riechenden zumal – und stundenlang auf einen anderen Menschen zu warten, um dann, unter all dieser Pein, am Laptop sitzend, stirnrunzelnd Börsenkurse evaluierend, von einem Dritten angesprochen zu werden.