Erwarte nichs, erhoffe alles - Jürgen Sammet - E-Book

Erwarte nichs, erhoffe alles E-Book

Jürgen Sammet

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Beschreibung

Wir werden geboren und am Ende sterben wir. Dazwischen liegt ein Leben, das wir gestalten wollen. Es soll sinnvoll, glücklich und erfüllt sein. Das Christentum hatte immer den Anspruch, Antworten darauf geben zu können, wie das gelingen kann. Glaube und Christentum sind jedoch aus vielfältigen Gründen ziemlich aus der Mode gekommen. Dadurch gerät leider auch der Schatz an Antworten in Vergessenheit. In vielen Klöstern wird dieser Schatz jedoch nach wie vor bewahrt. Und selbst für kirchenferne Menschen sind Klöster auch heute ein Sehnsuchtsort, an dem sie sich auf die Suche nach dem "Mehr" in ihrem Leben begeben. Jürgen Sammet ist Oblate der Benediktinerabtei Münsterschwarzach und somit ein "Hobbymönch". Für ihn steht fest: Moderne Lebensentwürfe und christlicher Glaube müssen sich nicht widersprechen. Und Religion kann auch heute noch Antworten auf die Fragen nach einem erfüllten Leben geben. Gerade die Regel des heiligen Benedikt eröffnet einen Weg, sich diesen Schatz für die eigene Lebensführung zu erschließen. Wie das konkret aussehen kann, zeigt der Autor in diesem Buch.

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Seitenzahl: 174

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Jürgen Sammet

Erwarte nichts, erhoffe alles

Gedanken eines Hobbymönchs

Vier-Türme-Verlag

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Printausgabe

© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2022

ISBN 978-3-7365-0423-3

E-Book-Ausgabe

© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2022

ISBN 978-3-7365-xxxx-x

Alle Rechte vorbehalten

E-Book-Erstellung: Dr. Matthias E. Gahr

Lektorat: Marlene Fritsch

Covergestaltung: Finken und Bumiller, Stuttgart

Covermotiv: tynyuk / shutterstock.com

www.vier-tuerme-verlag.de

Inhalt
Was will ich?
Sehnsucht nach dem »Mehr«
Glauben – alles andere als einfach
Glaube, Wissen und Erfahrung
Erfolg, Glück und Leben in Fülle
Wohlfühlglück
Leben in Fülle
Porös werden
Benedikt
Hören
Beten
Das persönliche Gebet
Sitzen in der Stille
Psalmgebet
Lieben
Wachsam sein
Wie Sie sich Ihr eigenes kleines Kloster bauen können
Leben in Fülle: Heitere Gelassenheit
Literatur

Meinen Eltern

Was will ich?

Wir werden geboren und am Ende sterben wir. Dazwischen liegt ein Leben. Dieses Leben wollen wir gestalten: Es soll sinnvoll, glücklich und erfüllt sein. Das Ziel ist universell: »Ein jeder Mensch strebt nach Glück«, meinte schon Aristoteles. Doch scheint es keine universelle Antwort auf die Frage zu geben, was »Glück« genau bedeutet und wie wir es erreichen. Das Christentum hatte immer den Anspruch, auf diese Fragen Antworten geben zu können. Glaube und Christentum sind jedoch aus vielfältigen Gründen ziemlich aus der Mode gekommen. Dadurch gerät leider auch der Schatz an Antworten in Vergessenheit. In manchen Klöstern wird dieser Schatz jedoch nach wie vor bewahrt. Möchte man sich also auf die Suche nach einer christlichen Lebenskunst begeben, die nicht mit der ganzen Schwere von Kirche und Tradition belastet ist, ist es sicher eine gute Idee, bei den Mönchen vorbeizuschauen. Man muss ja deshalb nicht gleich ganz fromm werden.

Als Kind lud ich Jesus oft zum Kaffeetrinken in die Puppenküche meiner Schwester ein. Leider kam er nie vorbei. Das ist meine erste religiöse Erfahrung, an die ich mich erinnern kann. Aufgewachsen in einem evangelischen Milieu, lernte ich Religion vor allem als etwas kennen, das zur Geborgenheit in der Familie gehört. Später lockerte sich diese Beziehung. Ich studierte Philosophie und Erziehungswissenschaft, beschäftigte mich viel mit Existenzialismus und Erkenntnistheorie und wurde wohl zu so etwas wie einem Atheisten. Als Kulturphänomen fand ich Religion zwar nach wie vor interessant. An einen Gott glauben konnte ich damals aber nicht (mehr). Das erschien mir intellektuell nicht verantwortbar zu sein. Engstirnig, altbacken und verklemmt waren die Assoziationen, die ich mit Religion verknüpfte.

Eher durch Zufall kam ich irgendwann mit den Benediktinern in der Abtei Münsterschwarzach in Berührung. Meine Kenntnisse über Klöster beschränkten sich bis dahin auf den Film »Der Name der Rose«. Offen gestanden wusste ich anfangs nicht, was ich von den Mönchen in ihren schwarzen Umhängen halten sollte. Was mich dann aber schnell beeindruckte: Alles erschien mir sehr geerdet und nüchtern zu sein. Es ging weniger um theologische Argumentationen, sondern um das ganz alltägliche und praktische Tun. Als ich einem Mönch meine in langen Nächten und rauchigen Studentenkneipen gestählte Argumentationskette vortragen wollte, warum es keinen Gott geben kann, entgegnete er mir entwaffnend: »Ich lade Sie herzlich ein, einfach mal mitzumachen.«

Das war vor fast zwanzig Jahren. Seitdem bin ich nicht mehr von den Benediktinern losgekommen. Ich versuche sogar den benediktinischen Lebensstil in meinen Alltag zu integrieren und bin auch Oblate der Abtei geworden. Oblaten sind nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Gebäck, sondern sind Menschen, die außerhalb des Klosters versuchen, ein Leben nach dem Geist einer Ordensgemeinschaft zu führen. Weil diese Erklärung aber oft zu kompliziert ist, bezeichne ich mich manchmal gerne als eine Art Hobbymönch.

Beruflich habe ich mich natürlich auch weiterentwickelt. Aus dem langhaarigen Studenten wurde ein seriöser Organisationsberater und Lernbegleiter. In dieser Rolle habe ich mit sehr vielen Menschen zu tun. Oft entwickeln sich aus beruflichen Themen auch private Gespräche. Erzähle ich dann von Münsterschwarzach, folgt fast immer die gleiche Reaktion: Zunächst schlägt mir großes Interesse entgegen. Das Kloster ist für viele eine Art Sehnsuchtsort gelingenden Lebens, das mit Ruhe, Tiefgang und Gelassenheit assoziiert wird. Danach folgt fast immer das große ABER: »Aber die Kirche, der Religionsunterricht, der Pfarrer, die Wissenschaft sagt …« In den letzten fünfzehn Jahren habe ich sicher mehr als fünfhundert Mal dieses eigentlich immer gleiche Gespräch geführt. Natürlich auch immer wieder mit mir selbst.

Aus diesen Erfahrungen entstand die Idee für dieses Buch. Seine Grundthesen lauten:

1. Religion kann uns auf die Frage nach einem erfüllten Leben wertvolle Antworten geben.

2. Moderne Lebensentwürfe und christlicher Glaube müssen sich nicht widersprechen.

3. Die Regel des heiligen Benedikt eröffnet einen Weg, sich auf intellektuell verantwortbare Weise dieses Potenzial für die eigene Lebensführung zu erschließen.

Eigentlich finde ich es eher eitel, wenn Autoren viel über sich schreiben. In diesem Buch werde ich trotzdem immer wieder auch meine eigenen Erfahrungen einfließen lassen. Nicht, um zur Schau zu stellen, wie toll bei mir alles ist, sondern weil ich vermute, dass sie exemplarisch für etwas stehen, was auch andere Menschen bewegt. Diese Erfahrungen werde ich versuchen in einen größeren Zusammenhang einzuordnen. Nun bin ich kein Theologe. Das sollte aber kein Nachteil sein. Denn in diesem Buch geht es gar nicht um Theologie, auch nicht um Kirche, ja nicht einmal primär um Benedikt. Im Zentrum steht vielmehr die Frage, die wohl einen jeden Menschen umtreibt: Wie gelingt mein Leben?

Das Buch ist eine Einladung, es auf der Suche nach einer Antwort doch einmal mit dem Glauben zu versuchen. Denn so unvernünftig, wie er auf den ersten Blick erscheinen mag, ist der Glaube gar nicht. Er muss auch nicht langweilig oder bieder daherkommen. Sich auf den Glauben einzulassen, verspricht ein Leben in Fülle. Das hat wenig mit Frömmigkeit, aber viel mit Gelassenheit und Heiterkeit zu tun.

Beschäftigt man sich heute mit dem christlichen Glauben, hat man es schnell – sowohl in der Literatur als auch in Gesprächen – mit zwei Positionen zu tun. Mit dem Szientismus, der nichts gelten lassen möchte, was sich den Methoden der Naturwissenschaften entzieht. Und einer christlichen Orthodoxie, die sich von vorneherein gegen die Herausforderungen moderner Lebensgestaltung abschottet. Inhaltlich sind beide Positionen diametral entgegengesetzt. Formal eint beide Positionen ihre Borniertheit und Arroganz: Beide meinen, die Wahrheit abschließend gefunden zu haben und sich deshalb mit anderen Perspektiven nicht beschäftigen zu müssen. Damit ist natürlich nichts gewonnen. In diesem Buch geht es dagegen darum, verschiedene Perspektiven miteinander in Dialog zu bringen.

Es versteht sich als Essay und ist das Ergebnis aus über zwanzig Jahren praktischer und theoretischer Beschäftigung mit dem Thema. Die Form des Essays begründet die Zuspitzung des Gedankengangs. Ich bin mir bewusst, dass an vielen Stellen weitverzweigte und differenziertere Betrachtungsweisen möglich gewesen wären. Dies hätte aber nicht der Zielsetzung dieses Textes entsprochen: Ich möchte auf etwas aufmerksam machen, das vielleicht für andere Menschen in ihrer Suche nach gelingendem Leben hilfreich sein könnte, und nicht einen Beitrag zum philosophisch-theologischen Diskurs der Gegenwart liefern.

Reden über Glauben kann schnell kitschig und abgehoben werden. Besonders zwei Textformen tauchen immer wieder auf. Wohlfühlsätze, die zwar wunderbar heimelig klingen, aber wenig aussagen. Und »Geheimnis-Geraune«, das zwar sehr bedeutungsschwanger daherkommt, aber noch weniger aussagt. Ich habe versucht, möglichst auf solche Erbaulichkeitsrhetorik zu verzichten. Das schließt auch mit ein, dass ich die in spirituellen Büchern weitverbreitete kulturpessimistische Skepsis gegen die »modere Welt« nicht teile. Unbestreitbar gibt es heute besorgniserregende wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Tendenzen. Dass heute aber alles lauter, schneller und oberflächlicher sei, früher dagegen alles echter, ursprünglicher und tiefgründiger, halte ich für ein typisches Stereotyp schlecht verstandener Kulturkritik.

Meinen lieben Glaubensschwestern und -brüdern sei gesagt: Vielleicht erscheint euch manche Formulierung als ungewöhnlich oder gar flapsig. Respektlosigkeit ist jedoch unter keinen Umständen intendiert. Viel erreicht wäre dagegen, wenn der eine oder andere Satz den Leser zum Schmunzeln bringen würde. Denn Humor ist immer der Lackmustest einer jeden Religion.

Sehnsucht nach dem »Mehr«

Der Wunsch nach einem erfüllten Leben treibt wohl jeden Menschen um. Wie werde ich glücklich? Wie gelingt mein Leben? Was macht mich zufrieden? Diese Fragen beschäftigen in jedem Lebensalter. Vielen Menschen reicht der Kreislauf aus Arbeiten, Konsumieren und Erholen nicht mehr aus. Sie warten auf die »große Pointe« in ihrem Leben, aber irgendwie scheint sie auszubleiben. Erreichbare Ziele setzen, Beziehungen pflegen, Achtsamkeit – die Liste mit gutgemeinten und sicherlich auch wirkungsvollen Tipps zum Glücklichsein ist lang. Es gibt tausende Bücher zum Thema, geschrieben von Philosophen, Psychologen, Weisheitslehrern, Coaches, Glücksforschern und vielen anderen. Aber offensichtlich ist der direkte Weg zum Glück nicht so einfach zu haben. Denn gäbe es eine wirklich zufriedenstellende Antwort auf diese Fragen, bräuchte es nicht diese Vielzahl an Antworten.

Schon immer hatte das Christentum den Anspruch, ebenfalls eigene Antworten auf diese Grundfragen zu geben. Und zwar solche, die wirklich aufs Ganze gehen: Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod, Erlösung, Leben in Fülle. Das Wort »Evangelium« heißt übersetzt »Frohe Botschaft«. Entsprechend spielt Freude eine zentrale Rolle bei der christlichen Lebensgestaltung (oder sollte sie spielen – dazu später mehr).

Tatsächlich lässt sich die positive Wirkung von Religion sogar empirisch nachweisen. »Wer religiös ist, ist zufriedener« (Schröder 2020, S. 201). Das belegen die Daten einer großangelegten Studie zur Zufriedenheit der Deutschen, die seit den 80er-Jahren mit über 600.000 Befragungen durchgeführt wurde. Ausgewertet wurde die Studie von dem Soziologieprofessor Martin Schröder. In seiner sehr persönlich gehaltenen Interpretation des Ergebnisses kommt das ganze Dilemma zum Ausdruck, in dem Religion in Bezug auf die Glücksfrage steckt. Er schreibt: »Doch können Sie etwas mit Religion anfangen? Ich persönlich wünschte, ich könnte es. Ich würde gerne an einen großen Papa glauben, der auf uns aufpasst und uns später zu sich nimmt. Leider finde ich die Vorstellung einfach zu absurd, um sie glauben zu können« (Schröder 2020, S. 201).

Zwei typische Erfahrungen kommen hier zum Ausdruck: Da gibt es zum einen den Wunsch, glauben zu können. Die Ahnung, dass Religion für den eigenen Lebensentwurf bedeutsam sein könnte, dass es einen »Papa« gibt, der Geborgenheit und Anerkennung vermittelt. Doch andererseits erscheint eine solche Vorstellung dem modernen, aufgeklärten Menschen »absurd«. Um in den Worten des französischen Philosophen Blaise Pascal zu sprechen: Mag das »Herz« auch den Wunsch haben, der »Verstand« lässt es nicht zu. Aus diesem Grund ist Religion heute für viele keine ernstzunehmende Option mehr. Sie ist eher etwas für Menschen, die intellektuell nicht ganz auf der Höhe sind. Andere Angebote auf dem Glücksmarkt erscheinen vernünftiger – oder doch zumindest attraktiver: philosophische Lebenskunst, positive Psychologie, Zen-Meditation, neurolinguistisches Programmieren, Enneagramm – für jeden ist etwas dabei – und das sind nur die seriöseren Angebote. Unsere Grundsituation ist heute die, dass wir die Wahl haben zwischen den verschiedensten Optionen. Diese Freiheit ist einerseits höchst begrüßenswert. Wir selbst und nicht starre Traditionen bestimmen unseren Lebensentwurf. Andererseits kann diese Freiheit auch ziemlich anstrengend sein. Der Sozialphilosoph Erich Fromm spricht hier von der »Furcht vor der Freiheit« (vgl. Fromm 1993). Nichts erscheint mehr selbstverständlich. Das trifft auch auf den Glauben zu: Wir können nicht mehr »naiv« glauben, sondern Glaube muss aktiv angeeignet werden.

Diese moderne Situation wird gerne mit den Begriffen der »Säkularisierung« und »Pluralisierung« umschrieben. Seit der Epoche der Aufklärung im 17. Jahrhundert hat die Bedeutung von Religion kontinuierlich abgenommen. Ein früheres Verständnis von Säkularisierung ging davon aus, dass dieser Prozess des Bedeutungsverlustes linear voranschreitet und Religion von selbst verschwinden wird. Zwar gilt diese These heute als überholt: Religion hält sich, allen Unkenrufen zum Trotz, auch weiterhin tapfer (vgl. Habermas 2016). Dennoch spielt sie in weiten Bereichen der Gesellschaft keine oder nur noch eine geringe Rolle. Der Bedeutungsverlust von Religion ist unbestreitbar (vgl. Knoblauch, S. 18).

Die Entwicklung von Wissenschaft und Demokratie hat die Religion auf eine unter vielen möglichen Deutungen von Welt reduziert. Vor der Aufklärung gab es nur die eine Deutung, und zwar die religiöse. Für die Menschen wäre es früher völlig unvorstellbar gewesen, nicht an Gott zu glauben. Die Frage »Existiert Gott?« hätten sie wahrscheinlich gar nicht wirklich verstanden. Wie Leben gelingt, darauf konnte man damals selbstverständlich nur im Kontext des Christentums eine Antwort finden. Natürlich kann niemand hinter den Stand der Reflexion ernsthaft zurückwollen. Aber anscheinend ist in diesem Prozess der »Entzauberung« auch manches verloren gegangen oder hat sich zumindest in andere Gestalt transformiert. Die vom Religionssoziologen Thomas Luckman stammende These der »unsichtbaren Religion« besagt, dass sich viele religiöse Inhalte heute in sozialen und kommunikativen Formen wiederfinden, die nicht sofort als religiös erkennbar sind: »Ins Zentrum des Heiligen Kosmos moderner Gesellschaften rücken zunehmend Themen, die eigentlich zu den mittleren und kleineren Transzendenzen gehören: die körperliche Erfahrung nimmt einen zentralen Ort ein, das sexuelle Verhalten, die Familie, Bewusstseinserweiterung, Selbstverwirklichung, das persönliche Glück …« (Knoblauch, S. 25). Auch in Ritualen und Festen lebensgeschichtlicher Übergänge wie Geburt, Hochzeit und Tod ist diese ver­loren­gegangene »verzauberte« Dimension noch heute präsent. Selbst Menschen mit einer explizit religionskritischen Haltung suchen hier oft noch die Nähe zu religiös konnotierten Ritualen. Die Geburt eines Kindes feiern, die Liebe mit einer Hochzeit sichtbar werden lassen oder in Zeremonien des Abschiednehmens wird eine Dimension erahnbar, die sich nicht mit dem nüchternen Kalkül reiner Rationalität erfassen lässt.

Eines der sichtbarsten Phänomene dieser Sehnsucht nach »Verzauberung« ist der überwältigende Erfolg des Fantasy-Genres. »Harry Potter«, »Herr der Ringe« und »Game of Thrones« gehören zu den erfolgreichsten Buch- und Filmproduktionen. »Herr der Ringe« liegt mit 150 Millionen verkauften Exemplaren auf Platz 8, »Harry Potter« mit 120 Millionen auf Platz 9 der meistverkauften Bücher (vgl. Behling 2021). Es wäre ganz gewiss zu kurz gegriffen, wollte man diese Erfolge rein mit den Marketingmechanismen der Unterhaltungsindustrie erklären. Vielmehr holen wir uns in diesen Fantasiewelten das zurück, was durch die Entzauberung verloren gegangen ist: der Glaube an etwas Höheres, persönliche Berufung und Aufopferung, Emotionalität und klare Sinnstrukturen.

Natürlich ist das alles nur Fiktion, aber offensichtlich verweist und antwortet diese auf ein grundlegendes Bedürfnis des Menschen. Vielleicht ist es auch treffender, statt von Bedürfnis von Sehnsucht zu sprechen: der Sehnsucht nach dem ganz Anderen, dem Geheimnis, nach einem Zustand, der sich irgendwie erfüllter anfühlt als unser geschäftiger Alltag. Früher fasste man diese Sehnsucht unter dem Begriff Religion zusammen. Heute spricht man eher von Spiritualität. In diesem Begriff scheint etwas von jener Verzauberung und Magie aufgehoben zu sein, die man verloren glaubt. Während »Religion« oft mit »Kirche« gleichgesetzt wird und ein entsprechend schlechtes Image hat, klingt »Spiritualität« individueller und irgendwie befreiter. Im Kern ist es wahrscheinlich auch der passendere Begriff, um diese individuelle Sehnsucht nach dem Anderen zu beschreiben. Es gibt im Christentum eine lange und fruchtbare spirituelle Tradition, die sich meist im Randbereich von Kirche verortet hat (vgl. Plattig 2010). Ich muss jedoch gestehen: Spiritualität klingt mir heute oft zu sehr nach Glamour. In seiner inflationären Verwendung evoziert das Wort ein Versprechen nach leichtfüßiger Tiefe, die doch selten erreicht werden kann. Wird es dann noch genutzt, um die eigene Einzigartigkeit und Bedeutsamkeit hervorzuheben (»Mein ganzes Leben ist so spirituell ausgerichtet«), ist genau das Gegenteil dessen erreicht, was Spiritualität im Kern eigentlich meint, nämlich in ein reflektiertes Verhältnis zum Ego zu kommen und es eben gerade nicht aufzublähen. Religion mag dagegen altbackener klingen, dafür aber auch irgendwie ehrlicher. Zumindest lässt sich mit Religion nicht so einfach ein Aufmerksamkeitspreis gewinnen wie mit Spiritualität. Das spricht für Religion.

Wie man es auch nennen mag: In der durch Säkularisierung und Entzauberung hervorgerufenen Situation der Wahl ist Religion zu einer unter vielen Optionen der Lebensgestaltung geworden. Die Naturwissenschaften haben unsere Kontrolle und Verfügung über diese Welt in einem unglaublichen Maß gesteigert. Sie können aber selbst keine umfassenden Sinnbezüge hervorbringen. Dafür sind sie in ihrem Erkenntnisinteresse viel zu partikular. Bei unseren Entscheidungen für oder gegen bestimmte Formen der Lebensgestaltung bewegen wir uns grundsätzlich auf unsicherem Terrain. Kein Wunder, dass Religion da nicht zu den attraktivsten Optionen gehört, ist doch hier der Unsicherheitsfaktor mit am höchsten.

Glauben – alles andere als einfach

Noch nie war es so schwierig wie heute zu glauben. Die Liste der Kritikpunkte, welche die säkulare Vernunft an Religion äußert, ist lang. Am offensichtlichsten lässt sich diese Kritik an der Kirche als der institutionellen Form von Religion festmachen. Die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche sowie der Umgang damit lassen sich durch nichts entschuldigen. Auch stellen das völlig antiquierte Frauenbild und der Umgang mit Homosexualität Abgründe dar, die sich nicht mit den Werten einer auf rationalen Diskurs und Gleichberechtigung aufbauenden Gesellschaft vereinen lassen.

Aber auch in ihrem weniger dramatischen, alltäglichen Erscheinungsbild wirkt die Kirche (katholisch und evangelisch) auf viele Menschen abwechselnd selbstherrlich oder blutleer, in jedem Fall aber irgendwie aus der Zeit gefallen. Man traut ihr nicht mehr zu, zeitgemäße Antworten auf die drängenden Fragen des modernen Daseins geben zu können, zumal die Kirche in ihrer Erscheinungsweise auch nicht unbedingt die »Freude« verkörpert, die sie verkünden möchte. Nietzsche bemerkte schon vor 150 Jahren über die Christen: »Erlöster müssten mir seine Jünger aussehen« (Nietzsche 1997b, S. 35).

Die Zahlen der Kirchenaustritte sprechen eine deutliche Sprache: 2019 waren es in den beiden großen christlichen Kirchen jeweils rund 270.000 Menschen und damit haben die Kirchenaustritte einen »historischen Höchststand« erreicht (Tagessschau 2020). In seinem bemerkenswerten Rücktrittsgesuch an den Papst sprach Kardinal Marx davon, dass die Kirche an einem »toten Punkt« angekommen sei. Trotz ernstgemeinter Reformbemühungen bleibt es fraglich, ob dieser »tote Punkt« noch einmal überwunden werden kann. Vieles deutet darauf hin, dass die Erosion weiter voranschreitet.

Es muss aber gar nicht die große Kirchenpolitik sein. Auch so manche konkrete christliche Gemeinschaften (und manch christliche Autoren) machen es den Suchenden schwer, Zugang zu ihren Themen und zu ihrem Glauben zu finden. Abschottung statt wertschätzender Erkundung ist die Devise. Schnell wird mehr oder weniger subtil manichäistisch unterschieden zwischen einem oberflächlichen und verderbten »Außen« und einem heilvollen und richtigen »Innen«. Schnell klopft man sich gegenseitig auf die Schulter und beglückwünscht sich darin, dazuzugehören, während die anderen in der »Welt« umhergeistern. Diejenigen, die nicht dazugehören – die Nichtchristen – werden mit herablassender Liebenswürdigkeit behandelt. Höhepunkt solcher Arroganz ist der Spruch, den sich wohl schon viele »Ungläubige« anhören mussten, wenn sie auf übermotivierte Christen trafen: »Ich bete für dich, dass auch du den Weg zum Herrn findest.« Das hat nichts mit Augenhöhe, aber viel mit Anmaßung zu tun. Diese scharfe Grenzziehung zwischen »denen« und »uns« ist der Nährboden, auf dem Intoleranz und letztlich Gewalt gedeihen können. In ihrer gemäßigten Form korrespondiert eine solche Überlegenheitsvermutung mit einem Lebensstil, der für Außenstehende oft schwer erträglich ist. Florale Tischgestecke, handgeschöpfte Bienenwachskerzen und Dinkelvollkornbrot scheinen auf mysteriöse Weise untrennbar mit dem Glauben zusammenzuhängen. Das kann für jemanden, der aus anderen Lebensbezügen kommt und einen anderen »Style« gewöhnt ist, eine echte ästhetische Herausforderung darstellen.

Noch schwerer als dieses äußere Erscheinungsbild wiegt allerdings, dass Inhalte und Sprache des Glaubens für viele unverständlich geworden sind. Was ist nochmal genau mit »Auferstehung« oder »Dreifaltigkeit« gemeint? Und wie ist das mit dem »Lamm Gottes« zu verstehen? Und müsste ich wirklich an all die Wunder glauben? Oder gar an die Jungfräulichkeit Marias? Viele Begriffe sind zudem stark negativ belastet: »Sünde«, »Hölle«, »Buße« klingen weniger nach »Leben in Fülle«, sondern stark nach »Angst und Strafe«. Wie frisch und unverbraucht scheinen dagegen die Begrifflichkeiten des Zen-Buddhismus! »Achtsamkeit«, »Bewusstsein« und »Karma« – das evoziert gleichermaßen Leichtigkeit und Tiefgang, ohne mit der Bürde der Tradition belastet zu sein (zumindest in unserer Kultur). Während die Aussage »Ich meditiere regelmäßig« meist mit Interesse und sogar mit Bewunderung belohnt wird, erntet man für »Ich bete jeden Tag mehrmals zu Gott« eher zweifelnde bis erschrockene Blicke, gerne in Verbindung mit einem mehrdeutigen: »So hätte ich dich jetzt gar nicht eingeschätzt«.

Wer sich heute als »religiös« outet, gerät schnell in den Verdacht, mit seinem Glauben etwas anderes kompensieren zu wollen: fehlende menschliche Anerkennung, fehlender Mut, sich dem Leben in seiner ganzen Härte zu stellen, oder Flucht in eine (vermeintlich) harmonische Parallelgemeinschaft. Gläubige haben kein gutes Image. Sie gelten oft als schwach und intellektuell irgendwie eingeschränkt. Religion scheint nicht wirklich zum Selbstbild des modernen, freien, selbstbestimmten und kritischen Individuums zu passen – einerseits. Andererseits treibt aber genau dieses Individuum die Frage nach dem gelingenden Leben um. Und Religion ist nun mal eine Option zur Beantwortung dieser Frage. Doch aus den genannten Gründen scheint für viele Menschen diese nicht mehr realisierbar. Deswegen lautet die entscheidende Frage: Wie kann ich heute auf intellektuell verantwortbare Weise glauben? Gibt es einen Weg zu Gott, der auch für moderne, aufgeklärte Menschen gangbar ist? Es müsste ein Weg sein, der sowohl den Ansprüchen der modernen Vernunft gerecht wird als auch genug Raum für die Entfaltung des Glaubens lässt, der gleichzeitig wissenschaftliche Rationalität wertschätzt, ohne die Grenzen dieser Rationalität zu verleugnen. Und er müsste anschlussfähig sein an die Lebenswelt des modernen Menschen, welche eben durch eine Vielfalt an Lebensentwürfen und -stilen geprägt ist und sich nicht im Modell »traditionelle Kleinfamilie der Mittelschicht« erschöpft: Diversity statt frommer Monokultur.

Glaube, Wissen und Erfahrung