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Eine Prophezeiung mit einem hohen Preis ... Lexi Merrill ist eine hart arbeitende Barkeeperin mit Rückgrat und gesundem Misstrauen, denn es gibt keinen Anmachspruch, den sie nicht kennt. Als Eryx Shantos in ihr Leben eindringt und sie mit sanften Worten und seinem muskulösen Körper umschmeichelt, macht sie alle Schotten dicht und geht auf Distanz. Eryx hat jedoch andere Vorstellungen. Als König der Myren ist es Eryx' Aufgabe, die Gesetze durchzusetzen, die verhindern, dass den Menschen die Existenz der Myren offenbart wird. Doch das Schicksal hat ihn zu Lexi geführt, einer Versuchung, der er nicht widerstehen will. Die Frage ist nur: Ist sie eine Myren - oder ein Mensch, was sie zur verbotenen Frucht machen würde? Als Eryx' Todfeind Lexi als sein nächstes Ziel auswählt, besteht Eryx darauf, sie in seine Welt mitzunehmen, wo er sie in Sicherheit bringen und beschützen kann. Lexi ahnt nicht, dass dadurch eine Prophezeiung eintrifft, die ihre neu gefundene Rasse dem Untergang weihen könnte ... Im ersten Teil ihres fesselnden Fantasy Romance-Vierteilers entführt uns die Erfolgsautorin Rhenna Morgan ("Haven Brotherhood") in eine faszinierende Welt voller Magie, Leidenschaft und Gefahr.
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Seitenzahl: 464
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Rhenna Morgan
Eden Teil 1: Eryx
Aus dem Amerikanischen ins Deutsche übertragen von Sandra Martin
© 2014 by Rhenna Morgan unter dem Titel „Unexpected Eden (Eden #1)“
© 2023 der deutschsprachigen Ausgabe und Übersetzung by Plaisir d’Amour Verlag, D-64678 Lindenfels
www.plaisirdamour.de
© Covergestaltung: Sabrina Dahlenburg (www.art-for-your-book.de)
ISBN Taschenbuch: 978-3-86495-656-0
ISBN eBook: 978-3-86495-657-7
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literaturagentur Langebuch Gerez Weiß GbR, 20257 Hamburg.
Die Personen und die Handlung des Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.
Dieses Buch darf weder auszugsweise noch vollständig per E-Mail, Fotokopie, Fax oder jegliches andere Kommunikationsmittel ohne die ausdrückliche Genehmigung des Verlages oder der Autorin weitergegeben werden.
Glossar
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Autorin
Aron – das wichtigste Nutztier in Eden, welches sowohl als Nahrungsmittel als auch zur Kleidergewinnung dient. Die Haut wird gegerbt, um ein weiches, geschmeidiges Leder zu erhalten, und ist in den kälteren Regionen die wichtigste Quelle für schützende Oberbekleidung. Das Fell des Tieres käme im Reich der Menschen einer Kreuzung zwischen Büffel- und Biberfell gleich, denn es ist dick und wärmend wie das eines Büffels, aber glänzend und weich wie das eines Bibers.
Asshur – eine Region in Eden. Bisweilen scheint hier zwar die Sonne, doch zumeist ist es bedeckter und regnerischer als in anderen Gegenden. Aufgrund des ungastlichen Klimas ist die Bevölkerung in Asshur während der vergangenen Jahrhunderte geschrumpft.
Erweckung – eine Zeremonie, während der ein oder eine Myren zwischen achtzehn und einundzwanzig Jahren ihre Kräfte entfaltet. Der Vater (oder väterliche Vertreter) ist in der Regel der Auslöser für diesen Prozess, während die Mutter (oder der mütterliche Einfluss) als Anker für das erwachte Individuum fungiert.
Baineann – der weibliche Teil einer Vereinigung zweier aneinander gebundenen Individuen.
Briash – das Myren-Äquivalent zu Haferflocken, das eine braune Farbe und ein leicht schokoladiges und zimtiges Aroma aufweist.
Brasia – eine Region in Eden. Das Gebiet ist bergig, wobei in den höheren Lagen starker Schneefall und raue Bedingungen vorherrschen.
Briyo – Schwager.
Cootya – eine Art Café, in dem übliche Myren-Getränke und Snacks verkauft werden. Myren-Obst und -Gemüse stehen am häufigsten auf der Speisekarte, aber es werden auch einige Backwaren serviert. Die meisten Cafés verfügen über einen Außenbereich, in dem sich die Gäste entspannen können, während im Inneren gekocht und serviert wird.
Cush – die Hauptstadtregion von Eden. Dicht besiedelt, mit kunstvoll gestalteten Gebäuden.
Diabhal – Teufel.
Drast – Schutzkleidung, die von Kriegern getragen wird, um die lebenswichtigen Organe im Kampf zu schützen. Die aus feinen Metallfäden gefertigten Oberteile liegen eng am Körper an und sind dazu gedacht, Angriffe mit Feuer und Elektrizität abzuwehren. Die Drasts, die als Alltagskleidung getragen werden, sind ärmellos, während die formelle Version drei Viertel der Arme bedeckt. Ein U-Boot-Ausschnitt sorgt für einen bequemen Sitz und mehr Bewegungsfreiheit im Kampf.
Drishen – eine in Eden heimische Frucht. Sie sieht aus wie eine Traube und schmeckt wie Limonade.
Eden – eine andere, den Menschen unbekannte, Dimension innerhalb der Hülle, die die Erde umgibt.
Ellan – gewählte Beamte, die neben dem Malran oder der Malress das Volk der Myren regieren. Wie bei den meisten Regierungsorganen besteht der Rat aus einer Mischung aus ehrlichen Staatsdienern, die Wohlstand und Wachstum für die Myren anstreben, und korrupten Alten, die auf antiquierten Ideen und Zeremonien beharren.
Evad – das Reich, in dem sich die Menschen aufhalten.
Fireann – der männliche Teil einer Vereinigung zweier aneinander gebundenen Individuen.
Havilah – eine wohlhabende und wenig bevölkerte Region in Eden. Auch hier regnet es, doch zumeist nur am Abend, während tagsüber die Sonne scheint und angenehme Temperaturen vorherrschen.
Histus – das Äquivalent der menschlichen Hölle.
Kilo – ein Fisch, der in vielen Seen in Eden heimisch ist, aber am häufigsten in Brasia vorkommt. Bei den Myren ist er eine beliebte Proteinquelle und wird meist über Apfelholz geräuchert und mit einer Apfel-Zimt-Glasur übergossen serviert.
Larken – ein langflügeliger Vogel, der für sein wohlklingendes Zwitschern bekannt ist. Das Gefieder ist kobaltblau, während die Flügelspitzen lavendelfarben sind.
Lasta – ein beliebtes Frühstücksgebäck der Myren.
Lomos-Rebellion – eine Fraktion der Myren, die seit langem die Versklavung der Menschen anstrebt und versucht, das Dogma des Großen zu stürzen.
Lyrita-Baum – ein exotischer Baum, der nur in der Region Havilah vorkommt. Die Stämme sind dunkelbraun, die Blätter lang und schlank und von salbeigrüner Farbe. Der Lyrita-Baum hat außergewöhnlich große Blüten mit perlmuttweißer bis blassrosa Farbe. Die durchschnittliche Höhe einer ausgewachsenen Lyrita beträgt dreißig bis vierzig Fuß.
Malran – der männliche Anführer des Myren-Volkes, der in der Menschenwelt mit einem König vergleichbar ist. Seit der Entstehung des Volkes der Myren werden die Herrscher von der Familie der Shantos gestellt, wobei der Titel des Malran (oder der Malress) auf den Erstgeborenen (oder die Erstgeborene) fällt.
Malress – die weibliche Anführerin des Myren-Volkes, die in der Menschenwelt mit einer Königin vergleichbar ist.
Myren – eine begabte Rasse, die seit über sechstausend Jahren existiert und in einer anderen Dimension namens Eden lebt. Sie stehen in tiefem Einklang mit der Natur und den Elementen, die sie umgeben. Ihr mächtiger Geist und ihre Verbindung zu den Elementen erlauben es ihnen, im Stillen mit denen zu kommunizieren, mit denen sie verbunden sind. Außerdem können sie fliegen und beherrschen bestimmte Elemente. Die Frauen haben in der Regel eher heilende oder pflegende Gaben, während die Männer zu schützenden und aggressiven Fähigkeiten neigen.
Natxu – eine körperliche Übung, die von allen Myren-Krieger regelmäßig ausgeführt wird. Die Bewegungen und Positionen sind äußerst anstrengend, haben aber auch meditative Qualitäten, was zu körperlicher Höchstleistung führt und die Verbindung zu den Elementen stärkt.
Nirana – das Äquivalent des menschlichen Himmels.
Oanan – Schwiegertochter.
Quaran – das Myren-Äquivalent eines Generals in den Reihen der Krieger.
Runa – Eine Region in Eden, die hauptsächlich für den Ackerbau genutzt wird. Der schwarze Boden ist fruchtbar und funkelt voller Mineralien. Die Gegend wird vom „blauen Kamm“ umsäumt, einer sichelförmigen Gebirgsformation, die vom Fuße der Berge aus blau erscheint.
Shalla – Schwägerin.
Somo – vereidigter Leibwächter des Malran oder der Malress.
Strasse – ein stark berauschendes Myren-Getränk, das aus Beeren hergestellt wird, die nur in Eden vorkommen.
Strategos – Anführer der Myren-Krieger.
Torna – ein lästiges Nagetier. Größer als ein Gürteltier, mit einer ähnlichen Farbe wie Aal-Haut. In der Regel ist es nicht aggressiv, seine Zähne erinnern aber an die eines Hais. Es scheut sich nicht vor einem Kampf.
Unterland – die meisten betrachten die Gegend nicht als eine eigenständige Region, sondern eher als unbewohntes Ödland. Der Mangel an Regen macht Landwirtschaft fast unmöglich.
Vicus
Tief einatmen und langsam wieder ausatmen. Lexi musste sich nur auf den Rhythmus von Rihannas neuestem Hit konzentrieren, Drinks servieren und hinter ihrer Hälfte des Tresens verharren. Die geballte Ladung Testosteron, die auf Jerrys Seite saß, würde schließlich nicht die ganze Nacht bleiben können.
„Vielleicht hast du es ja nicht bemerkt, aber der Adonis da drüben starrt dich schon die ganze Zeit an. Er scheint nicht von hier zu sein.“ Mindy verzog die Lippen zu einem breiten Grinsen und reichte ihr die letzte Getränkebestellung.
Weißes T-Shirt, stahlharte Muskeln und schokoladenbraunes Haar, das ihm bis auf den Rücken reichte? Ja, der Kerl war ihr zweifellos aufgefallen. Mehrmals. Und jedes Mal, wenn sie einen Blick riskiert hatte, hatte er sie mit seinen silbrigen Augen angesehen und längst totgeglaubte Nervenenden in ihr zum Vibrieren gebracht.
„Vergiss es, Mindy. Solche Typen sind ein Berufsrisiko, das weißt du genau.“
„Schätzchen, dieser Mann ist weit mehr als nur ein Risiko. Er scheint eher der Typ nukleare Katastrophe zu sein.“ Sie lehnte sich gegen den modischen Betontresen, wobei die modernen Hängelampen ihr platinblondes Haar und ihr üppiges Dekolleté beleuchteten. Eines musste man Mindy lassen – sie wusste, wie sie ihre Vorzüge zur Geltung bringen konnte. „Ich könnte wetten, er ist es sogar wert, dass man die Folgen eines Desasters in Kauf nimmt.“
„Der Laden ist heute gerammelt voll. Willst du lieber die Drinks unter die Leute bringen und gutes Trinkgeld verdienen, oder deine Zeit verschwenden, indem du einen Schönling angaffst?“
Mindys verträumtes Lächeln erstarb und sie zog das mit Cocktails beladene Serviertablett zu sich heran. „Nur Arbeit und kein Vergnügen, wie?“ Sie schüttelte den Kopf und wandte sich der Menge zu. „Viel Spaß damit.“
Ach, verdammt. Schon wieder hatte Lexi es geschafft, jemanden zu vergraulen. Mit ihren fünfundzwanzig Jahren hätte sie eigentlich in der Lage sein sollen, sich von Frau zu Frau über einen Mann auszutauschen. Vor allem, nachdem sie vier ihrer Lebensjahre damit verbracht hatte, in einer Kneipe zu arbeiten. Aber über einige Dinge sollte man einfach lieber ein Tuch des Schweigens ausbreiten. Wie zum Beispiel über ihre übertriebene Nervosität gegenüber dem anderen Geschlecht.
Sie bückte sich, um eine Flasche Wodka unter dem Tresen hervorzuholen und wagte einen Blick über ihre Schulter.
Diese Lippen, bei deren Anblick eine Frau sogar ihren Namen vergessen konnte, verzogen sich zu einem verschmitzten Lächeln.
Erwischt.
Mit einem Ruck wandte sie sich wieder ab und stieß dabei mit der Stirn an die Kante der Theke. „Du verdammtes, nichtsnutziges Stück Scheiße.“ Mit gesenktem Kopf zählte sie bis drei und kämpfte gegen das Bedürfnis an, sich umzudrehen, um zu sehen, ob sie jemand gehört hatte. Dankbar stellte sie fest, dass ihr Fluch offenbar in der lauten Musik untergegangen war.
Für gewöhnlich ließ sie sich nicht dazu hinreißen, jemanden derart unverhohlen anzustarren, doch in den letzten dreißig Minuten hatte sie in Sachen Finesse kläglich versagt. Und daran war einzig und allein dieser dunkelhaarige Mann schuld.
Mit der frischen Flasche in der Hand stand sie auf und begann, zwei Männer mittleren Alters zu bedienen, die gekleidet waren wie Mitglieder einer Burschenschaft. Die beiden tranken und zahlten ein Getränk nach dem anderen. Lexi war dankbar für die Routine, denn sie lenkte sie von den Blicken ab, die sich nach wie vor in ihren Rücken bohrten.
„Hey, Lex.“ Jerry klopfte ihr auf die Schulter und zeigte im Gehen auf etwas hinter ihm, als er auf die Kasse zusteuerte. „Groß, dunkel, gut aussehend will mit dir reden.“
Sie wagte es nicht, ihn anzusehen. Nicht noch einmal. Ein Trio junger Mädchen, die gerade einmal alt genug schienen, um legal trinken zu dürfen, kämpfte sich an den Barbereich vor. Ihr Anblick war nicht einmal annähernd so erbaulich wie der, den der Kerl am Tresen bot, aber zumindest lieferten sie eine Ablenkung. „Seit wann betätigst du dich als Kuppler?“
„Seit der Typ mir einen Hunderter gegeben hat, um sicherzustellen, dass du ihn bedienst.“
Wie bitte?
Sie wirbelte herum.
Der Fremde begegnete ihrem überraschten Blick und schenkte ihr ein Grinsen, in dem sich eine Mischung aus Bescheidenheit und Selbstsicherheit widerspiegelte. „Ist dir wohl nicht schwergefallen, mich für einen Hunderter zu verscherbeln, wie?“
„Verdammt richtig.“ Jerry zwinkerte ihr zu, schob einen Stapel zerknitterter Scheine in die Kasse und schlenderte auf die wartenden Blondinen zu, ohne Lexi auch nur viel Glück zu wünschen.
Lexi schnaubte und nahm die Bestellung eines Mittzwanzigers entgegen, der ebenfalls recht ansehnlich war. Der geheimnisvolle Mann könnte sich noch ein paar Minuten gedulden. Und falls er genauso gut flirtete, wie er aussah, dann würde sie sich ohnehin zuerst wappnen müssen.
Mit einer Extraportion Stolz nahm sie gemächlich die Bestellungen einiger weiterer Gäste auf, während sie versuchte, sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen.
Neben dem dunkelhaarigen Adonis saß ein Mann, dessen pechschwarzes gewelltes Haar ihm bis an sein markantes Kinn reichte. Obendrein hatte er einen straff gestutzten Kinnbart, der ihm eine geradezu bedrohliche Ausstrahlung verlieh. Definitiv nicht der Mann, den man mitnehmen sollte, um Frauen aufzureißen.
Als Lexi die anderen Kunden, die sich an der Bar drängten, bedient hatte, wandte sie sich den beiden Männern zu und wischte den Tresen ab. „Was darf ich Ihnen bringen?“ Ihre Stimme klang weit zittriger, als sie beabsichtigt hatte. Sie versuchte, ihre Unsicherheit zu überspielen, indem sie auf die Flaschen starrte, die unter dem Tresen lagerten.
„Meine Taktik hat Ihnen wohl nicht gefallen.“ Oh mein Gott, die Stimme des Mannes passte tatsächlich zu seinem Gesicht. Sie war geschmeidig und durchströmte Lexi mit einem leichten Brennen, das mit einem fünfzig Jahre alten Scotch vergleichbar war. „Ich muss zugeben, dass so etwas für gewöhnlich nicht mein Stil ist, aber ich war verzweifelt.“
Derartige Worte hätte sie von einem so umwerfenden Typen zwar nicht unbedingt erwartet, doch sie halfen ihr immerhin, sich ein wenig zu entspannen. „Sie sind alles andere als verzweifelt, das wissen wir beide.“
Er schenkte ihr ein strahlendes Lächeln, das sie fast aus den Socken gehauen hätte. Lässig stützte er die muskulösen Unterarme auf den Tresen und zog eine Augenbraue in die Höhe. „Gehen Sie mit mir essen.“
Eigentlich sollte es unmöglich sein, ihn bei der Lautstärke zu hören, geschweige denn eine derart starke körperliche Reaktion zu spüren, doch sie nahm beides zweifellos wahr. „Ich kenne Sie doch gar nicht.“
Er streckte ihr eine Hand entgegen, und sie betrachtete seine langen, starken Finger und die Schwielen an seiner Handfläche. „Eryx Shantos.“
Sein Kumpel starrte nur stur geradeaus. Er hatte eisblaue Augen, die so kalt wirkten, als könnte er damit jemandes Seele erfrieren.
„Lexi Merrill.“ Als er ihre Hand ergriff, durchzuckte ein Schauer ihren Arm, der an ihrer Wirbelsäule wieder hinunterrann. Sie bebte am ganzen Körper, als hätte sie es sich in der Badewanne mit einem Föhn gemütlich gemacht. Sofort riss sie sich los und rieb die Handfläche an ihrer Jeans.
Eryx zuckte nicht einmal mit der Wimper, während er sie mit einem wagemutigen und entschlossenen Blick aus seinen metallgrauen Augen musterte.
Möglicherweise forderte die Müdigkeit ihren Tribut und ihre Fantasie spielte ihr einen Streich. Vielleicht brütete sie auch eine Grippe aus. Oder sie hatte einfach das verzweifelte Bedürfnis, sich mit jemandem durch die Laken zu wälzen. Sie hielt sich am Tresen fest und nahm die Bestellung einer niedlichen kleinen Brünetten auf, die versuchte, der Anmache eines glatzköpfigen Mannes mittleren Alters zu entgehen.
Währenddessen trank Eryx' Kumpel gemächlich einen Schluck Bier, blieb aber ansonsten reglos sitzen. Mit seiner wütenden Miene schien er förmlich zu schreien: „Niemand kommt uns zu nahe.“
„Jetzt kennen Sie mich“, sagte Eryx. „Essen Sie mit mir zu Abend.“
„Ich muss arbeiten.“
„Wie wäre es dann mit Mittagessen?“
„Mittags arbeite ich ebenfalls.“ Es klang zwar wie eine lahme Ausrede, aber es stimmte. Mit zwei Jobs und einem Teilzeitstudium am College blieb Lexi nicht viel Zeit für Geselligkeit. Doch mit Letzterem hatte sie ohnehin noch nie viel Erfolg gehabt.
„Dann eben Frühstück.“
Unwillkürlich entfuhr ihr ein halbherziges Lachen. „Sie sind ziemlich hartnäckig, das muss ich Ihnen lassen.“
„Sie haben ja keine Ahnung“, warf sein Kumpel mit angespannter Stimme ein und tippte an seine Bierflasche, um eine weitere zu bestellen.
Eryx warf ihm einen finsteren Blick zu.
„Ihr Freund redet wohl nicht viel.“ Lexi schnappte sich ein paar leere Gläser und legte sie in eine Spüle mit Seifenwasser.
„Er heißt Ludan. Und es wäre möglich, dass er bis zum Ende der Nacht überhaupt nicht mehr fähig ist, noch einen Ton herauszubringen. Das hängt ganz davon ab, ob er seine Zunge zügeln kann oder nicht.“
„Hey! Wir wollen zwei Bud Lights.“ Zwei Männer im College-Alter, denen es augenscheinlich an Manieren mangelte, drängten sich neben Ludan an den Tresen.
Ludan richtete sich auf und starrte die Männer an, sodass die beiden ein paar Schritte zurücktraten.
Lexi hatte keine Lust, sich mit einer Schlägerei auseinandersetzen zu müssen, selbst wenn die beiden Idioten eine Lektion nötig gehabt hätten. „Beruhigen Sie sich und hören Sie auf, meinen Gästen Angst einzujagen.“
Ludan wandte sich ihr zu und starrte sie mit einem durchdringenden Blick an. Seine Augen schienen eher weiß als blau zu sein. Er atmete ein- oder zweimal tief durch, dann entspannte er sichtlich die Muskeln unter seinem schwarzen T-Shirt und verzog die Lippen zu einem Grinsen. Er ließ sich wieder auf seinen Barhocker sinken und griff nach seinem Bier. „Deine Frau hat Schneid, Eryx.“
Lexi schnappte sich zwei Bud Lights aus der Kühlbox und öffnete sie. „Ich bin nicht seine Frau.“
„Noch nicht“, erwiderte Eryx gelassen, wobei die Worte halb aufreizend, halb verheißungsvoll klangen. Der Ausdruck schierer Entschlossenheit, der sich auf seinem Gesicht abzeichnete, sandte einen elektrisierenden Schauer über ihren Rücken, über den sie nicht einmal nachdenken wollte.
Es wäre besser für sie, sich wieder auf ihren Job zu konzentrieren und etwas Abstand zwischen sich und den Typen zu bringen, bevor sie noch etwas tat, was sie später bereuen würde. „Also, was hätten Sie gern zu trinken? Ich muss mich wieder an die Arbeit machen.“
„Ich habe Ihnen bereits gesagt, was ich will.“
Lexi stemmte eine Hand in die Hüfte und dankte Gott dafür, dass der Kerl ihr wild pochendes Herz nicht sehen konnte. „Ihre Bestellung steht aber nicht auf der Karte.“
Eryx nickte mit einer bedächtigen, sinnlichen Bewegung, die viel mehr als nur seine Zustimmung zum Ausdruck brachte. „Auf manche Dinge lohnt es sich, zu warten.“
Plötzlich ereilte sie ein Déjà-vu. Im ersten Moment war sie fassungslos, dann stieg Frustration in ihr auf und sie ging zurück in ihre Hälfte der Bar. Sie gab Jerry einen Klaps auf den Arm und zeigte auf Eryx. „Er gehört ganz dir. Ich will wieder die Seite mit den normalen Leuten bedienen.“
Sie machte sich daran, Drinks auszuschenken und konzentrierte sich ganz auf ihre Arbeit. Auf manche Dinge lohnt es sich, zu warten. Es war nichts weiter als ein schmieriger Spruch. Kerle wie Eryx waren wie Landminen, die nur darauf warteten, dass man auf sie trat.
Direkt vor ihr stellten ein Mann und eine Frau gerade ihre Zuneigung zueinander zur Schau, indem sie ihre Nasen aneinander rieben. Die zärtliche Geste wirkte inmitten der grellen Lichter, die die Tanzfläche beleuchteten, deplatziert. Ihr Herz machte einen Satz. Hatte sie gerade eine einmalige Chance vorbeiziehen lassen? Vielleicht sollte sie es sich anders überlegen und sehen, ob er noch einen …
Er war weg, genauso wie sein Kumpel. Stattdessen tummelte sich eine Schar von Frauen um die lederbezogenen Barhocker aus Chrom, von denen eine ein Diadem mit einer unsittlichen Aufschrift und eine Schärpe trug, die sie unverkennbar als zukünftige Braut auszeichnete.
Der winzige Hoffnungsschimmer, den sie nicht hatte anerkennen wollen, verblasste. Sie schnappte sich einen Beutel aus der hinteren Kühlbox und leerte den Inhalt über die Bierflaschen im vorderen Behälter. Sie wusste, dass sie besser daran täte, nicht auf die Liebe zu hoffen. Verdammt, in den letzten Jahren war ihr nicht einmal ein Kerl ins Auge gestochen. Wahrscheinlich könnte sie sich von einer Horde Chippendales massieren lassen und würde trotzdem nicht in Wallung geraten. Warum um alles in der Welt sollte sie je jemanden finden, für den es sich lohnte, ihr Herz aufs Spiel zu setzen?
Also wandte sie sich der hinteren Kasse zu und unterdrückte ihre Enttäuschung. Sie konnte sich später noch mit diesem Thema auseinandersetzen – in etwa fünf Jahren. Für heute würde sie den Abend einfach ausklingen lassen, sich wie immer auf den morgigen Tag vorbereiten und sich darüber freuen, dass sie einem potenziellen Drama entgangen war.
Plötzlich lief ihr ein kribbelnder Schauer über den Rücken und Wärme umhüllte sie. Letztere zog jedoch nicht als dicke, feuchte Luft von der Tanzfläche herüber, sondern war eher ein wohliges Gefühl, das mit dem Duft von Leder und Sandelholz einherging. Wie aus dem Nichts. Aber wunderbar.
Sie blickte geradeaus in den großen Spiegel, der die Gäste reflektierte, deren Gesichter vom Alkohol gerötet waren. Nirgendwo konnte sie etwas Ungewöhnliches entdecken. Nichts schien auf eine Bedrohung hinzudeuten.
Und doch hätte sie schwören können, dass warme, raue Fingerspitzen über ihre Wange strichen.
***
Eryx hockte auf der hohen Böschungsmauer am Ende des Parkplatzes und starrte auf die Straßenlaterne über ihm. Mit einer einfachen Bewegung seines Handgelenks könnte er die ganze verdammte Vorrichtung durchbrennen lassen. Damit würde er zwar seiner Ungeduld Luft machen, doch für seine Pläne wäre es eher hinderlich. Kluge Frauen wie Lexi wagten sich normalerweise nicht um halb drei Uhr nachts auf dunkle Parkplätze.
Ludan klopfte mit den Absätzen seiner Stiefel gegen die Mauer, ließ die Fingerknöchel knacken und suchte zum fünfzigsten Mal die Umgebung mit einem Blick ab. Als Eryx‘ Somo kümmerte sich Ludan um dessen Wohlergehen, doch der gemeine Scheißkerl neigte dazu, seinen Job etwas zu ernst zu nehmen und gebar sich hin und wieder wie eine Glucke. „Wir müssen zurück nach Eden. Dort können wir ein paar Tage Energie tanken, dann kommen wir zurück und bemühen uns um deine Frau. Falls die Rebellen uns hier finden, während unsere Reserven derart ausgelaugt sind …“
„Das sind nur Gerüchte, mehr nicht.“ Eryx verlagerte das Gewicht auf dem kalten Beton, um den Blutfluss in seinem Hintern wieder in Gang zu bringen. „Die Rebellion hat seit über siebzig Jahren keinen nennenswerten Angriff mehr unternommen. Ich wette, ich könnte keine fünf Leute auftreiben, die Maxis in dieser Zeit gesehen haben. Ich werde meine Männer nicht wegen irgendwelcher Vermutungen in Aufruhr versetzen.“
„Und der Ellan?“, fragte Ludan und beachte Eryx mit einem unterkühlten Blick. „Willst du die Mitglieder ebenfalls weiterhin ignorieren? Die alten Kauze können es kaum erwarten, herauszufinden, was dich in der Menschenwelt festhält.“
„Nur die Hälfte von ihnen sind alte Kauze. Die anderen sind genauso jung und versessen darauf, unser Volk zu modernisieren, wie wir.“ Falls man einhundertzweiundfünfzig Jahre alt als jung bezeichnen konnte. Aus menschlicher Sicht war das wahrscheinlich eine halbe Ewigkeit.
Ludan wandte den Blick ab und hielt sich am Mauersims fest. Vermutlich hätte er Eryx viel lieber die Faust ins Gesicht gerammt. Man konnte es ihm nicht verübeln. Die meisten hätten längst Reißaus genommen, wenn sie Eryx zehn Jahre lang bei der Suche nach der Frau helfen müssten, die ihn jede Nacht in seinen Träumen heimsuchte. Aber Ludan? Er war loyal bis ins Mark und immer noch an seiner Seite. Das bedeutete jedoch nicht, dass er nicht hin und wieder etwas dagegen einzuwenden hatte. Eryx gab ihm höchstens zehn Sekunden, bevor er sich wieder zu Wort melden würde.
Zehn.
Neun.
Acht.
Sie…
„Du bist der Malran. Du hast das Sagen.“ Ludan verschränkte die Arme vor der Brust. „Aber selbst ohne die Bedrohung durch die Rebellion, riskierst du deinen Thron und könntest zum Tode verurteilt werden.“
Und da war sie. Die Strafpredigt, auf die er gewartet hatte, seit er in seinen Träumen endlich einen Hinweis auf Lexis Arbeitsplatz gefunden hatte und ihm nachgegangen war. Die Menschen waren für sie tabu. Zwar war es Myren möglich, mit ihnen Geschäfte zu machen und sich frei in ihrer Dimension zu bewegen. Auch eine Runde heißer, schweißtreibender Sex mit ihnen war nicht verboten. Aber unter keinen Umständen war es ihnen gestattet, sie über die Rasse der Myren aufzuklären oder sich in das Schicksal der Menschen einzumischen. Damit handelte man sich den Tod durch die Axt ein. Der Große selbst hatte diese Regel aufgestellt, als er Eryx‘ Volk erschaffen hatte.
„Wir sind schon viel zu lange hier“, fuhr Ludan fort. „Bald werden wir keine Kraft mehr haben. Falls wir attackiert werden und die Angreifer in der Überzahl sind, sind wir erledigt.“
Die Personaltür wurde mit einem Knall aufgedrückt.
Eryx sprang von der Mauer.
„Tut mir leid, Mann.“ Der Barkeeper, den er zuvor bestochen hatte, schlenderte mit einem mitfühlenden Kopfschütteln auf den mittelgroßen Pick-up zu, der zu Eryx‘ Linken geparkt war. „Es hat Sie wohl schlimm erwischt.“
Eryx lehnte sich gegen die Backsteinmauer, verschränkte die Arme vor der Brust und kreuzte die Beine an den Knöcheln. „Wollen Sie mir etwa erzählen, dass sie der Mühe nicht wert ist?“
Die Schlüssel des Mannes klimperten in der Stille der Nacht, als ein Piepen ertönte und die Scheinwerfer des Wagens aufblitzten. Er zuckte mit den Schultern und riss die Fahrertür auf. „Schwer zu sagen. Ich bin noch nie einem Mann begegnet, der sich der Herausforderung gestellt hat.“ Er warf seinen schwarzen Seesack auf die Beifahrerseite, nickte Ludan zu und schenkte Eryx ein Grinsen. „Viel Glück.“
„Na großartig. Deine Traumfrau spielt wohl die Unnahbare.“ Sobald der Truck davonfuhr, sprang Ludan ebenfalls von der Mauer und stemmte die Hände in die Hüften. „Wir werden es nie zurück nach Hause schaffen.“
Das Zirpen der Grillen und das Dröhnen der Autos auf der Interstate erfüllten die Stille. „Würdest du an meiner Stelle zurückkehren?“
Die Frage war gemein. Ludan wusste genau, wie viel es Eryx abverlangte, die Frau ständig in seinen Träumen zu sehen. Er konnte kaum noch klar denken und wachte jedes Mal voller Verlangen auf, seine Gefährtin zu finden. „Wenn du so nah am Ziel wärst, würdest du riskieren, sie zu verlieren?“
Ludan ließ zwar nicht unbedingt den Kopf hängen, aber er betrachtete eingehend den Asphalt. „Nein.“ Er drehte sich um und steckte die Hände in die Taschen. „Es wäre besser, sich nicht mit den Schicksalsgöttinnen anzulegen.“
Die Tür gab ein klapperndes Geräusch von sich, dann wurde sie geöffnet.
Eryx vibrierte am ganzen Körper und drückte den Rücken durch.
Ludan wich einen Schritt zurück und begann, telepathisch mit Eryx zu kommunizieren. „Willst du das wirklich tun? Du kannst nicht mit Sicherheit wissen, dass sie eine Myren ist.“
„Ich werde es herausfinden. Die Bilder in ihrem Kopf waren definitiv aus Eden.“
Unter dem grellen Licht der Straßenlaternen glühte Lexis gebräunte Haut förmlich. Ihr seidiges schwarzes Haar wallte um ihre Schultern, während sie ihre Hüften auf scheinbar unbeabsichtigt sinnliche Weise hin und her wiegte. Sie schien in Gedanken versunken zu sein, denn sie zog ein langes Gesicht und ihr Mund war angespannt. Plötzlich sah sie auf und hielt abrupt inne, wobei der Schotter unter ihren eleganten Schuhen ein knirschendes Geräusch von sich gab. „Das soll wohl ein Witz sein.“
„Ich sagte doch, ich bin bereit zu warten.“ Obwohl er sich um einen beschwingten Tonfall bemühte, war seine Stimme angespannt. Er war dieser unwiderstehlichen Frau zehn Jahre lang hinterhergejagt. So etwas hinterließ Spuren bei einem Mann.
Sie sah zwischen Eryx, der neben ihrem roten Jeep Wrangler stand, und Ludan, der nur ein paar Schritte entfernt war, hin und her. Dann warf sie einen Blick auf die geschlossene Tür hinter sich. Sie rückte den Riemen ihrer Handtasche zurecht und kniff ihre blaugrauen Augen zu dünnen Schlitzen zusammen. „Ihr Verhalten geht schon etwas über das eines gewöhnlichen Stalkers hinaus.“
Er hob abwehrend die Hände. „Ich schwöre, so ist es nicht. Ich möchte Sie wirklich einfach nur zum Frühstück einladen.“ Als sie einander die Hände geschüttelt hatten, hatte er ihre Erinnerungen gescannt und war dabei einen Schritt weiter gegangen, als er es hätte tun sollen. Nach der Arbeit traf sie sich häufig mit einem Mann, der Mitte bis Ende fünfzig zu sein schien, zum Frühstück. Und sie fuhr mit dem hinter ihm geparkten Wrangler dorthin.
„Es ist fast drei Uhr morgens.“
„Und wir haben alle Hunger. Perfektes Timing.“ Er ließ die Hände sinken und hoffte, dass Ludan davon absah, sie mit finsterer Miene anzustarren. Leider gehörte ein harmloses Auftreten nicht gerade zu seinen Stärken.
„Kluge Mädchen gehen nicht mit fremden Männern frühstücken.“ Sie nickte in Richtung ihres Jeeps. „Geschweige denn, sich einem Fahrzeug zu nähern, neben dem zwei ihr unbekannte Männer stehen.“
„Ihr Kollege hat mir verraten, welchen Wagen Sie fahren.“ Er hoffte, dass sie ihm die Lüge abkaufen würde, obwohl er sich nicht gut dabei fühlte. „Sie könnten jederzeit jemanden anrufen und ihn bitten, sich uns anzuschließen. Wir treffen uns an einem öffentlichen Ort und Sie fahren mit Ihrem eigenen Jeep dorthin.“ Er hielt inne, um ihr einen Moment Bedenkzeit zu geben. „Was haben Sie schon zu verlieren?“
Ein Windhauch zerzauste ihr Haar. Ihr Gesicht entspannte sich, als eine kaum wahrnehmbare Woge aus Energie über den Parkplatz schwappte.
Ludan horchte auf.
Lexi hatte sie ausgelöst. Es konnte nicht anders sein. Ein Mensch wäre nicht in der Lage, eine derartige Welle zu erzeugen. Zumindest war er bisher keinem begegnet.
Sie hob ihre Handtasche an und kramte darin herum. „Waffle House. Ein paar Kilometer die Straße runter.“ Sie fuchtelte mit einem Schlüsselbund herum und ließ die Handtasche wieder auf ihre Hüfte sinken. „Ich treffe mich dort mit einem Freund. Er ist Polizist, um genau zu sein. Also kommen Sie nicht auf dumme Gedanken.“
Zufriedenheit durchströmte Eryx. Die Tatsache, dass ein fremder älterer Mann dabei sein würde, war nur ein unbedeutendes Detail. Er ging mit gleichmäßigen Schritten langsam auf sie zu und strich ihr über die Wange.
Sie riss die Augen auf.
Die Schicksalsgöttinnen irrten sich nie. Zwar lieferten sie immer nur vage Begründungen und hielten sich mit ihren Anweisungen zurück, aber eines war sicher: Sie hatten ihn zu seiner Gefährtin geführt.
Maxis Steysis fesselte die Handgelenke seines Opfers mit einem Seil. Mit geübter Effizienz sicherte er die Beine des bewusstlosen Mannes, sodass diese unbeweglich von der Kante der einfachen Pritsche baumelten. „Sklavin!“
Verdammtes Zeolith. Jeder Zentimeter der winzigen Kellerzelle war mit dem Mineral überzogen, das seine myrenischen Kräfte blockierte und an seiner Seele nagte. Aber er würde die Zähne zusammenbeißen und weitermachen, so wie er es unzählige Male zuvor getan hatte. Macht hatte immer einen Preis, und Paul Renner war im Besitz einer Kraft, für die es sich zu leiden lohnte.
Ein rhythmisches, metallisches Klappern ertönte auf dem Korridor. Einen Moment später trat Brenna mit den Waschschüsseln ein und hielt den Blick starr auf den Boden gerichtet.
Er deutete auf die Ecke neben Pauls Füßen. „Hierher.“
Im Kerzenlicht wirkte ihr elfenbeinfarbenes Kleid, als sei es aus Leinen statt aus einem groben, rauen Stoff. Sie zitterte so heftig, dass sogar ihre dunklen Zöpfe zu beiden Seiten ihres Kopfes bebten.
Es war ein Geniestreich gewesen, sie sich in einem fügsamen Alter von acht Jahren zu schnappen. Seine ersten Sklavinnen waren zu alt gewesen. Gerade als sie begonnen hatten, ihre Sache gut zu machen, waren sie zusammengebrochen. Doch dieses Mädchen hatte er nach seinen Bedürfnissen geformt, und sie hatte noch einige Jahre vor sich. Es war ein Kompromiss. Menschen waren zwar leicht zu kontrollieren, doch die Fluktuation war extrem hoch.
Maxis stopfte seinem Gefangenen ein Handtuch in den Mund und verpasste ihm eine Ohrfeige.
Vom Chloroform immer noch ganz benommen, blinzelte der Mann und schüttelte den Kopf. Er rollte sich auf die Seite und zerrte an den Fesseln, dann stieß er einen Schrei aus, den der Knebel jedoch dämpfte.
Mit einem kalten, singenden Laut zog Maxis seinen Dolch aus der Scheide. Er zeigte mit der Klinge auf die großen Metallschüsseln. „Stell sie an ihren Platz.“
Brenna setzte sich mit einem Ruck in Bewegung und hätte dabei beinahe die Schüsseln auf den Steinboden fallen lassen.
Maxis klopfte mit der flachen Seite der Waffe gegen seinen Oberschenkel. Man sollte meinen, sie wäre nicht mehr so schreckhaft, nachdem er diese Prozedur bereits unzählige Male durchgeführt hatte. Aber sie war ein Mensch. Am Ende zogen sie immer den Kopf ein und retteten ihren eigenen Arsch, selbst wenn das bedeutete, dass sie jemand anderen leiden lassen mussten. Sogar einen trauernden neunjährigen Jungen.
Die Erinnerung ließ ihn bis tief in seine Seele erschaudern. Der menschliche Junge, den er für seinen Freund gehalten hatte, hatte genauso zitternd wie Brenna jetzt hinter einer Mauer aus Teenagern gestanden, während sie ihn verprügelten, bis er keine Kraft mehr gehabt hatte. Die Schläge hätte er vielleicht noch weggesteckt, doch die vernichtenden Worte, mit denen sie ihn verhöhnt hatten, zerrissen ihm auch heute noch das Herz.
Kein Mensch würde je wieder eine solche Macht über ihn ausüben.
Den Blick abgewandt und die Hände zu Fäusten geballt, flüchtete Brenna sich zurück in ihre Ecke.
Paul wehrte sich nicht mehr, doch er ließ seinen Blick über die Wände schweifen, während seine flachen Atemzüge durch den kleinen Raum hallten.
„Es ist Zeolith“ erklärte Max. „Weder deine Familie noch sonst irgendjemand wird dich hier erreichen können.“
Zweifellos würde er es trotzdem versuchen, doch sein Geist würde den Kristall nicht durchdringen können. Myren waren ihren Familien und Gefährten auf ganz natürliche Weise mental verbunden. Die telepathische Kommunikation ging genauso instinktiv vonstatten wie das Bedürfnis eines Tieres, zu atmen.
„Vor einigen Wochen habe ich deinen Bruder getroffen.“ Maxis trat einen Schritt zur Seite, woraufhin das Kerzenlicht auf das abgespannte Gesicht des Mannes fiel. „Er ist in der Tat ziemlich langweilig. Offenbar verträgt er keinen Alkohol. Aber er wird äußerst redselig, wenn er etwas getrunken hat.“
Bis auf das rasche Heben und Senken seiner Brust lag Paul reglos da.
„Er erzählte mir von dem unglücklichen Vorfall aus eurer Kindheit. Du hast damals deine mentale Verbindung genutzt, um den Verstand deiner Schwester zersplittern zu lassen.“
Maxis beugte sich zu dem Mann vor und atmete den süßen Duft des Grauens ein, der von ihm ausging. „Ehrlich gesagt, halte ich es für reine Verschwendung, dass du diese Gabe nie wieder benutzt hast.“ Er führte seine Lippen an Pauls Ohr und flüsterte: „Ich versichere dir, dass ich nicht denselben Fehler machen werde.“
Kopfschüttelnd versuchte Paul, trotz des Knebels zu sprechen, und eine Schweißperle rann ihm über die Schläfe.
Maxis zögerte. Vielleicht sollte er dem armen Kerl noch ein oder zwei Worte gewähren, bevor dieser vor seinen Schöpfer trat. Er packte den Knebel in seinem Mund. „Nicht schreien. Verstanden?“
Der Mann nickte.
Maxis zog den Stoff heraus, richtete sich auf und verschränkte die Arme vor der Brust. „Sprich.“
„Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden“, krächzte Paul mit brechender Stimme. „Sie müssen mich mit jemandem verw…“
„Ich weiß genau, wer du bist.“ Maxis schob dem Mann die Leinenhose bis zu den Knien hoch. „Während du ohnmächtig warst, habe ich deine Erinnerungen gescannt, um mich zu vergewissern, dass dein Bruder die Wahrheit gesagt hat. Du bist in der Lage, jeden, zu dem du eine Verbindung hast, zu töten, indem du seinen Geist vernichtest. Dafür musst du nicht einmal in seiner Nähe sein. Das ist eine einzigartige Gabe, und ich will sie haben.“
„Sie sind verrückt.“ Paul zerrte an den Fesseln. „Dazu sind Sie gar nicht in der Lage. Nur der Malran hat die Fähigkeit, jemandem seine Kräfte zu entreißen.“
„Er ist der Einzige, der es auf natürliche Weise tun kann.“ Maxis hob den Dolch und drehte ihn, wobei die Klinge im Kerzenlicht aufblitzte. „Ich habe eine Möglichkeit gefunden, dieses Problem zu umgehen. Es hat Jahre gedauert und unzählige Leben gekostet, aber ich habe es geschafft.“
Die Muskeln in Pauls Nacken und Schultern spannten sich an, als er erneut an den Fesseln zerrte.
„Unsere Kräfte entspringen dem Gehirn, aber unter normalen Umständen ist es unmöglich, die natürlichen Abwehrmechanismen unseres Körpers zu überwinden. Es gibt jedoch einen Moment, kurz bevor eine Person ins Nirana übergeht, in dem der Verstand loslässt und die Tür für einen Opportunisten wie mich weit offenlässt.“ Maxis klemmte das Bein des Mannes oberhalb des Knöchels ein und durchtrennte die Fußrückenarterie.
Paul stieß einen Schrei aus, der von den Wänden widerhallte.
Maxis stopfte ihm hastig den Knebel wieder in den Mund. Das Gejaule zerrte an seinen Nerven und er durfte die Sache nicht vermasseln. Eine Macht wie diese würde ihm so schnell nicht wieder über den Weg laufen, und sie war die letzte, die er noch in seinem Arsenal brauchte. Zumindest für den Moment.
Er durchtrennte die Arterie an Pauls anderem Bein.
Pauls Blut floss in Strömen in die Schüsseln. Er wurde immer blasser, und seine Augenlider begannen zu flattern.
Maxis tastete nach dem Puls des Mannes. Er war schwach. Fast war er so weit.
Mit einem schnellen Hieb seiner Klinge löste er die Fesseln. Er hob den bewusstlosen Mann von der Pritsche und eilte in den Nebenraum. Sobald er die mit Zeolith beschichtete Schwelle überschritt, erwachten seine Kräfte wieder zum Leben und über seine Haut rann ein elektrisierender Schauer.
Er warf Paul auf die Liege, packte ihn an beiden Seiten des Kopfes und drang mental tief in seinen Geist ein. Er saugte sämtliche Gaben auf, über die der Mann verfügte, denn er hatte nicht genügend Zeit, um wählerisch zu sein. Es wäre besser, sich alles einzuverleiben, als zu riskieren, dass die Fähigkeit in Pauls Psyche begraben wurde, wenn er starb.
Maxis verschwamm die Sicht vor Augen, als er vor Schmerz kaum noch atmen konnte. Die Gaben des Mannes drangen mit Wucht in ihn ein und brachten sämtliche Nerven in seinem Körper zum Vibrieren.
Das leblose Gesicht des Mannes glitt ihm aus den Fingern. Mit einem dumpfen Knall fiel der Kopf auf die dünne Matratze.
Schwere Schritte ertönten auf der Holztreppe, die in den Keller führte. Maxis hatte Mühe, sich zu konzentrieren.
„Sir.“ Der schneidende Bariton seines Spions drang durch den Raum.
Maxis entspannte die Schultern, rückte seinen langen Mantel zurecht und drehte sich um. „Ich hoffe für dich, dass du einen guten Grund hast, warum du den Malran im Moment nicht wie befohlen verfolgst.“
„Ihr sagtet, ich solle Euch kontaktieren, wenn der Malran sich in irgendeiner Weise auffällig verhält. Ich konnte Euch über die Verbindung nicht erreichen.“ Der Mann warf einen Blick auf den leblosen Körper, der hinter Maxis auf der Pritsche lag, und schluckte. „Er hat … auf eine ungewöhnliche Art … Kontakt zu einem Menschen aufgenommen.“
„Inwiefern ungewöhnlich?“
Maxis‘ Lakai errötete und trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen.
„Auf eine romantische Art.“
Interessant. Im Gegensatz zu einigen freigeistigen Myren, hielt sich Eryx normalerweise von den Menschen fern, es sei denn, er machte Geschäfte mit ihnen. Der Ellan murrte schon seit Jahren, dass Eryx sich nicht zur Genüge mit den Ratsangelegenheiten befasste. Falls der betreffende Mensch irgendetwas mit Eryx‘ Abwesenheit zu tun hatte, wäre das vielleicht eine Untersuchung wert.
„Nicht gerade eine weltbewegende Enthüllung, aber wir sollten der Sache nachgehen.“ Maxis schnappte sich ein Tuch von Brenna und wischte die Blutspuren von seiner Klinge und seinen Fingern. „Gib mir seine Koordinaten. Ich werde mir selbst ein Bild davon machen.“
***
Scheinwerfer beleuchteten das Armaturenbrett, als Lexi ihren Jeep auf den Parkplatz des Waffle House lenkte. Abgesehen von Ians braunem Wagen und dem Hummer, der hinter ihr parkte, war der Platz leer. Das aufgemotzte, schwarz verchromte Ungetüm schien eigentlich nicht Eryx‘ Stil zu sein, aber was wusste sie schon? Ein Händedruck und eine kurze Unterhaltung auf dem Parkplatz machten sie nicht gerade zu seiner besten Freundin.
Sie schaltete den Motor aus und atmete tief durch. Warum hatte sie Eryx nur eingeladen? In dem Moment, in dem sie sich setzten, würde Ian ihn sicher in die Mangel nehmen. Wenn man zudem die Reaktion bedachte, die Eryx in ihr auslöste, würde sie noch vor ihrer ersten Tasse Kaffee wie ein unreifer Teenager beim Abschlussball herumzappeln.
Sie erinnerte sich wieder an das Gefühl von Eryx‘ Fingerspitzen an ihrer Wange, und ein erregender Schauer durchzuckte ihren Unterleib. Wie die unsichtbare Berührung, die sie in der Kneipe gespürt hatte, war auch seine Liebkosung sanft und doch bestimmt gewesen. Auf gewisse Weise schien sie ihr … vertraut.
Die Tür ihres Wagens wurde aufgezogen. Lexi zuckte zusammen und schlug mit den Fingerknöcheln gegen das Lenkrad. „Meine Güte!“ Sie schnappte sich ihre Handtasche vom Beifahrersitz, um ihre Aufregung zu überspielen, und stieg mit einem finsteren Blick aus. „Sie haben mich erschreckt.“
Eryx schloss die Tür und lächelte. „Sie sahen so aus, als wollten sie Reißaus nehmen. Ich dachte mir, ich greife lieber ein, bevor Sie es sich anders überlegen können.“
Sie warf einen vielsagenden Blick auf den Hummer und wandte sich dann der Tür zu. „Ziemlich protzig.“
„Nicht mein Stil.“ Eryx legte eine Hand an ihren Rücken. Die Berührung war angenehm, und sie verlangsamte ihre Schritte. „Ludan legt Wert auf Beinfreiheit, also haben wir Ramsays Wagen genommen.“
„Ramsay?“ Sie griff nach der Türklinke, doch Eryx packte ihr Handgelenk und zog ihren Arm beiseite, wobei sie die Wärme seiner Brust an ihrem Rücken spüren konnte. Sein heißer Atem strich über ihren Nacken und ein Hauch von Minze durchzog die kühle Frühlingsnacht.
„Mein Zwillingsbruder.“ Er ließ ihren Arm los, trat zur Seite und öffnete die Tür. „Sie werden ihn mögen.“
Gott hatte also nicht nur einen, sondern gleich zwei dieser umwerfenden Männer geschaffen? Voller Zwiespalt betrat sie das Restaurant. „Sie gehen davon aus, dass wir uns nach dem Frühstück wiedersehen werden.“
Ian erhob sich und musterte Eryx mit einem unnachgiebigen Blick.
Glücklicherweise schien er nicht überrascht zu sein, dass sie noch andere Gäste mitgebracht hatte, was bedeutete, dass er zur Abwechslung seine Mailbox abgehört hatte. Allerdings wirkte er nicht gerade begeistert darüber, ihren Adjutanten spielen zu müssen.
Nun, sein Pech. Sie brauchte eine unvoreingenommene Meinung, die nicht von ihrem dürftigen Sexualleben beeinträchtigt wurde, und Ian war ihr einziger wahrer Freund. Er würde darüber hinwegkommen. Irgendwann.
„Ian, das sind Eryx und …“ Lexi lehnte sich zurück und sah sich nach seinem Kumpel um, der auf die Barhocker am Tresen zusteuerte. „Ludan?“
„Er ist nicht sonderlich gesellig.“ Eryx streckte Ian eine Hand entgegen. „Eryx Shantos.“
„Ian Smith.“ Die beiden gingen ohne Umschweife in einen stummen Zweikampf unter Männern über. Ein fester Händedruck. Durchdringende Blicke.
Lexi war unbehaglich zumute. „Wollt ihr beiden euch duellieren oder können wir jetzt frühstücken?“
Ian zog als Erster seine Hand zurück, wobei er den Blick immer noch starr auf Eryx gerichtet hatte und ihm ein wenig überzeugendes Lächeln schenkte.
„Das ist eine Sache unter Männern. Wir können nicht anders.“
Eine Sache unter Männern, von wegen. Ian hatte sich im Nu vom hilfsbereiten Freund in eine neugierige Vaterfigur verwandelt.
Er trat einen Schritt zurück und bedeutete Lexi, in der Nische neben ihm Platz zu nehmen. Lexi setzte sich in Bewegung, doch Eryx packte sie wieder am Handgelenk. „Würden Sie sich zu mir setzen?“
Die einfachen Worte zeugten von einer Bescheidenheit und Aufrichtigkeit, die Lexi mit einem unerwartet angenehmen Schauer durchströmten. „Ich …“
Ian betrachtete sie in aller Ruhe mit seinen haselnussbraunen Augen und wartete, dass sie ihre Wahl traf. Was auch immer er über die Situation dachte, er würde sich ihrer Entscheidung fügen.
Eryx strich mit dem Daumen über ihr Handgelenk.
Und sämtliche Nervenenden in ihrem Körper vibrierten. „Sicher“, sagte sie mit heiserer Stimme und setzte sich in die gelbe Nische. Zu diesem Zeitpunkt schien sie nur zwei Möglichkeiten zu haben. Entweder sie versteckte sich unter dem Tisch oder sie setzte sich rittlings auf Eryx Schoß und verlangte von ihm, ihre hormongeschwängerten Fantasien zu befriedigen.
Denise kam an ihren Tisch. Wie jeden Abend hatte sie ihre dichten schwarzen Locken zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden. Ihr Make-up war schon vor Stunden verblasst, wahrscheinlich inmitten des Andrangs von Leuten, die nach einer durchzechten Nacht hier auftauchten. „Nimmst du das Übliche?“
Lexi nickte und rückte die unbenutzten Speisekarten zurecht, die hinter dem Serviettenhalter lagen.
Die Frau blätterte auf eine neue Seite ihres Notizblocks, machte eine Blase mit ihrem Kaugummi und wandte sich Eryx zu. „Und Sie?“
„Ich nehme das Gleiche.“
Lexi reckte den Hals, um ihm in die Augen zu sehen. Verdammt, er war groß. Die Tatsache, dass sie zu ihm aufschauen musste, schwächte leider die Wirkung ihres finsteren Blickes. „Sie wissen ja nicht einmal, was ‚das Übliche‘ ist.“
„Das ist nicht von Bedeutung.“ Eryx‘ Antwort war zwar nicht so schnippisch wie ihre Bemerkung, dafür umso lauter. Er ließ eine Hand über die abgenutzte, holzgemusterte Resopaltischplatte gleiten und bedeckte damit ihre Faust, an der ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. „Ich bin Ihretwegen hier.“
Denise hörte auf, auf ihrem Kaugummi herumzukauen.
Lexis Magen krampfte sich zusammen und schlug zugleich einen Purzelbaum.
Ian deutete auf seine Tasse, die bei ihrer Ankunft bereits auf dem Tisch gestanden hatte. „Für mich nur den Kaffee. Ich kann nicht lange bleiben.“
Lexi bedachte Ian mit einem finsteren Blick. Vor ihrem inneren Auge sah sie die Sprechblase über seinem Kopf aufblinken: Wie man sich bettet, so liegt man.
„Dann erzählen Sie mal etwas von sich, Eryx“, sagte Ian und senkte den Blick auf dessen Hand, die immer noch auf der ihren ruhte. „Woher kommen Sie?“
„Ich habe eine Wohnung hier in Tulsa.“
Als Denise ihnen zwei weitere Tassen Kaffee an den Tisch brachte, bat Eryx sie um einen Stift. Sie kramte in der Tasche ihrer fleckigen brauen Schürze und reichte ihm einen Kugelschreiber, dann ging sie hinüber zu Ludan.
Ian fuhr mit seinen Fragen fort. „Und was machen Sie beruflich?“
„Ich bin im geologischen Bereich tätig.“ Eryx holte seine Brieftasche hervor, zog eine Visitenkarte heraus und kritzelte etwas auf die Rückseite. „Lexi erwähnte, dass sie Polizist sind.“
„Tatsächlich bin ich im Ruhestand und arbeite nur noch als Privatermittler.“
Eryx legte den Stift beiseite. „Meine Firma führt Erkundungen von Erdgas- und Mineralvorkommen durch.“ Er schob die elegante Karte über den Tisch und bedachte Ian mit einem unbeirrt selbstsicheren Blick. „Falls Sie Wert auf Hintergrundinformationen legen, sollte Ihnen das hier für den Anfang reichen. Sie werden auch mehr über Ludan in Erfahrung bringen können.“
Ian lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Und werde ich irgendetwas finden, worüber ich mir Sorgen machen muss?“
Eryx nahm seine Tasse und trank gemächlich einen Schluck Kaffee, ohne den Blick von Ian abzuwenden. „Nicht das Geringste.“
Lexi wagte es nicht zu atmen. Verdammt, sie hatte sogar Angst, sich zu bewegen. Zum einen hätte sie ihren Freund am liebsten umarmt, und zum anderen glaubte sie, es wäre wohl besser, nach Hause zu gehen. Dieses ganze männliche Gehabe hatte sicher gefährliche Nebenwirkungen.
Ian entspannte sich, wandte sich ihr zu und steckte die Visitenkarte in seine Tasche. „Hast du über unser Gespräch von gestern nachgedacht?“
Lexi hatte keine Ahnung, wovon er plötzlich sprach. „Tut mir leid, wie bitte?“
„Deine Jobs und die Schule.“ Ian stützte einen Ellbogen auf den Tisch und ergriff mit dem Daumen und Zeigefinger der anderen Hand ihr Kinn. „Die dunklen Ringe unter deinen Augen werden sicher nicht einfach verschwinden, wenn du so weitermachst.“
Eryx lehnte sich vor und betrachtete ihr Gesicht.
„Es geht mir gut“, erwiderte Lexi und schob Ians Hand beiseite, bevor sie näher an die Wand rutschte, um den Abstand zu Eryx zu vergrößern. „Ich gebe den Job in der Bar auf, sobald du ausreichend Aufträge hast. Derzeit kannst du es dir nicht leisten, mich Vollzeit einzustellen.“
„Das Problem ist nicht nur die Müdigkeit, Lexi, und das weißt du.“
Zwischen ihnen breitete sich unangenehmes Schweigen aus. Es war wirklich ein Jammer, dass seine Frau und sein ungeborenes Kind zu einem ungelösten Vermisstenfall geworden waren. Denn er machte sich perfekt als Vaterfigur.
Er musterte Eryx und bedachte sie dann mit einem Grinsen. „Ich würde sagen, das hier ist gut für dich.“ Er sprach die Worte fast im Flüsterton aus, aber nicht so leise, dass Eryx sie nicht hören konnte. Ian fischte ein paar Dollarscheine aus seiner Tasche und stand auf. „Ich hoffe, es macht euch nichts aus, aber ich werde jetzt nach Hause gehen.“
Eryx stand ebenfalls auf.
Lexi geriet in Panik. Der einzige Mensch, mit dem sie soziale Kontakte pflegte, wandte sich zum Gehen. „Musst du denn …“
Ian baute sich dicht vor Eryx auf. „Mir kommen nur wenige Dinge in den Sinn, die mich dazu verleiten würden, das Gesetz zu brechen.“ Er streckte Eryx eine Hand entgegen. „Eines davon wäre es, wenn sich jemand dazu entscheidet, Lexi wehzutun.“
Eryx ergriff Ians Hand. „Verstanden.“
Lexi stieg die Hitze in die Wangen. Sie massierte sich die Schläfen und richtete ihren Blick auf die Sirupflasche vor sich. Eigentlich hatte sie gehofft, Ian könnte ihr helfen, sich ein Bild von Eryx zu machen. Sie hatte nicht erwartet, dass er sie einfach den Wölfen zum Fraß vorwerfen würde.
Die Bank mit dem Plastiksitz gab einen ächzenden Laut von sich, als Eryx sich neben ihr niederließ. „Es ist völlig in Ordnung, dass jemand auf Sie aufpasst.“
„Aber das war peinlich.“ Sie bemühte sich nicht einmal, ihren gereizten Tonfall zu unterdrücken. Warum sollte sie auch?
Er legte eine Hand an ihren Nacken und strahlte dabei eine Wärme aus, die ihr den Rücken hinunterrann. „So hatten Sie sich das Frühstück wohl nicht vorgestellt.“
„Nicht im Geringsten.“ Ihre Stimme war heiser und klang in dem heruntergekommen Waffle House fehl am Platz.
„Was meinte er damit, dass es gut für Sie wäre?“
„Nichts.“
Zwischen ihnen herrschte Stille, die nur die leise Unterhaltung des Kochs und der Kellnerin am anderen Ende des Cafés unterbrach.
Eryx legte seine andere Hand an ihren Unterarm. „Verraten Sie es mir, Lexi. Ich würde Sie wirklich gern kennenlernen.“ Seine Stimme strahlte eine ebensolche Wärme aus wie seine Berührung. „Öffnen Sie mir die Tür zumindest einen Spalt, um mir einen Einblick zu gewähren.“
Verdammt. Der Kerl hatte mehr auf Lager als nur einen billigen Spruch, um sie ins Bett zu locken. Er sprach sie auf einer tieferen Ebene an und wollte sich wirklich mit ihr unterhalten. Ihre Intuition schrie förmlich, sich ihm zu öffnen und ihr Misstrauen beiseitezuschieben.
Die Hitze, die von seiner Hand ausströmte, breitete sich auf ihrem ganzen Körper aus und hüllte sie ein wie eine Decke. Es fühlte sich gut an. Richtig. Schon fast notwendig.
„Ian denkt, ich sollte mehr unter Leute gehen“, gestand sie mit einem Brummen. „Ich …“ Sie hatte Mühe, die richtigen Worte zu finden. „Ich ecke überall an. Ian ist einer der wenigen Menschen, mit denen ich mich gut verstehe. Alle anderen verwirren mich entweder oder sie stechen mir ein Messer in den Rücken.“ Natürlich war sie ganz und gar nicht verbittert.
Er durchbohrte sie mit einem Blick aus seinen stahlgrauen Augen und blinzelte dabei kein einziges Mal. „Vielleicht befinden Sie sich ja am falschen Ort.“
Lexis Sinne waren sofort in Alarmbereitschaft. Doch das lag weniger an seinen Worten, sondern vielmehr an der Art, wie er sie ausgesprochen hatte. Denn in seiner Stimme schwang sowohl ein verführerischer als auch warnender Unterton mit.
Eryx drehte sich auf seinem Sitz um und musterte Ludan an der Bar. Er presste die Lippen zusammen und verengte die Augen zu dünnen Schlitzen.
Ludan runzelte nur die Stirn und widmete sich wieder seinem Kaffee.
Eryx sog bedächtig die Luft ein und legte ihr eine Hand an die Wange. „Welche Art Frau sind Sie? Ergreifen Sie eine Herausforderung, wenn Sie sie sehen? Oder sitzen Sie am Rande der Stromschnellen und schauen zu, während die anderen vorbeirasen?“
Eine seltsame Frage. Tiefgründig. Oder es war seine Art, um auf raffinierte Weise zu fragen: „Deine Wohnung oder meine?“
„Das kommt ganz darauf an“, erwiderte sie.
Eryx schwieg und rührte sich nicht. Lexi fühlte nur, wie er kaum merklich die Finger an ihrer Wange anspannte.
„Ich sehne mich nach den Stromschnellen, aber wenn meine Intuition mich davor warnt, setze ich mich daneben.“ Das war die Wahrheit und zugleich eine Warnung.
Er strich mit dem Daumen über ihre Unterlippe. „Ich verlasse mich ebenfalls auf meine Instinkte.“ Er ließ seinen Blick auf ihren Mund gleiten. „Und das werde ich auch jetzt tun.“
Er senkte den Kopf.
Ein Kuss. Lieber Gott, er wollte sie küssen. Hier. In der Öffentlichkeit.
Ihre Lippen begannen zu kribbeln, als sie bereitwillig leicht den Mund öffnete. Das Herz schlug ihr bis zum Hals und Unentschlossenheit und Panik packten sie. Sie sollte ihn von sich stoßen. Und sich von ihm fernhalten.
Er ließ seine Lippen sanft über die ihren gleiten, und ihr Magen schlug Purzelbäume. Sie stieß zitternd die Luft aus, die sich mit seinem warmen Atem vermengte. Plötzlich flammte Begierde in ihr auf. Es war so sinnlich und trotz der Kleidung, die sie am Leib trugen, unglaublich intim.
Eryx presste seine Stirn an ihre und atmete tief durch. „Ich denke, Sie ecken überall an, weil Sie am falschen Ort sind.“
Wie bitte? Jetzt wollte er sich unterhalten? Sie konnte nichts weiter tun als atmen und fühlen. „Sie meinen, dass ich den falschen Job ausübe?“
„Nein, ich meine, Sie befinden sich am falschen Ort“, erwiderte er mit fester und entschlossener Stimme. „Sie sind nicht im Kreise der Menschen, unter denen Sie geboren wurden.“
Die winzige Flamme der Hoffnung, die in ihrer Brust entfacht war, erstarb und ihr lief ein kalter Schauer über den Rücken. Sie stieß ihn von sich, als ihre Begierde einem Gefühl wich, das man fast als Abscheu bezeichnen könnte. Ihrer Erfahrung nach waren die gut aussehenden Kerle meistens nicht ganz richtig im Kopf. „Ich denke, ich werde jetzt nach Hause gehen. Lassen Sie mich bitte raus.“
Eryx blieb sitzen. „Ein weißer Sandstrand, umringt von schwarzen Felswänden. Sie haben von diesem Ort geträumt.“ Seine tiefe Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, in dem ein eindringlicher Unterton mitschwang.
Mit seinen Worten zeichnete er ein Bild, das ihr immer wieder in ihren Träumen erschien, doch sie schob es beiseite. „Ja, ich bin mir ziemlich sicher, dass das irgendwo auf Hawaii ist. Da wollte ich schon immer mal hin. Und jetzt lassen Sie mich bitte aufstehen.“
„Am Himmel ist immer ein Regenbogen zu sehen. Überall, wo man hinschaut, wechseln die Farben, wobei manche aus verschiedenen Blickwinkeln noch kräftiger erscheinen.“
Lexis Herzschlag wurde sofort wieder in eine Höhe katapultiert, in die er ihr Herz wenige Minuten zuvor noch mit seinen Lippen gehoben hatte. Sie schluckte, um ihr Staunen zu überspielen.
„Die Bäume sind von einer weißen Rinde umgeben, die von dunklen Adern durchzogen ist. Immergrüne Blätter in der Form von Federn neigen sich dem Boden zu, wobei die Spitzen indigoblau sind.“
Lexi hörte, wie Denise Teller auf ihrem Tisch abstellte.
Er konnte unmöglich etwas über diese Bilder wissen. Niemand wusste von ihren Träumen. Nicht einmal Ian. „Warum erzählen Sie mir das alles?“
Eryx sah ihr tief in die Augen und presste die Lippen so lange aufeinander, dass sie schon glaubte, er würde ihr die Antwort schuldig bleiben. „Weil ich Ihre Erinnerungen durchsucht habe. Der Ort, den Sie in Ihren Träumen sehen, ist meine Heimat. Und ich denke, dass es auch die Ihre ist.“
Das Blut rauschte Lexi in den Ohren.
„Ich glaube, Sie sind eine unserer Verlorenen.“
Eryx hätte es ihr auch schonender beibringen können. Wenn er schlau wäre, würde er schummeln und Lexis Gefühle lesen. Als männlicher Shantos verfügte er über sämtliche Gaben der Myren. Das war ein nicht zu verachtender Vorteil, falls er sich dazu herablassen sollte, ihn zu nutzen.
Sie wurde blass und schlang die Arme um ihren Körper.
Scheiß drauf.
Er öffnete seine Sinne und wurde von einem stechenden Gefühl von Panik übermannt.
Lexis Panik.
„Lassen Sie mich aufstehen.“ Lexi schnappte sich ihre Handtasche und stieß mit einer Hand gegen seine Schulter. „Ich brauche frische Luft. Lassen Sie mich raus.“
Er rutschte von der Bank und stand auf.
Lexi eilte zur Tür.
„Bezahl die Rechnung“, sagte er telepathisch zu Ludan. Letzterer saß immer noch mit einer Tasse Kaffee auf seinem Barhocker. „Und lenk die Kellnerin ab.“ Eryx konnte keinerlei Einmischung gebrauchen, doch Denise hatte die Stirn gerunzelt und sah aus, als wollte sie jeden Moment einschreiten.
Er stürmte durch die Tür und ergriff Lexis Arm, als sie gerade die Autotür aufzog. „Lexi, warten Sie.“
Sie riss sich los, wobei ihre Tasche gegen die Außenseite des Jeeps prallte. „Lassen Sie mich in Ruhe“, stieß sie mit zitternder Stimme hervor.
Mit einer flinken Bewegung schlang er einen Arm um ihre Taille und führte sie zum Heck ihres Wagens. „Lexi, atmen Sie. Ganz ruhig.“ Er drückte sie gegen den Jeep, wobei er seine Beine zu beiden Seiten ihrer Schenkel aufstellte, ohne sie jedoch einzuengen. Dann umfasste er mit beiden Händen fest ihr Gesicht. „Ich bin nicht verrückt. Das schwöre ich Ihnen. Hören Sie sich an, was ich zu sagen habe.“
„Ich habe Ihnen bereits zugehört.“ Mit hochrotem Gesicht schlug sie nach seinen Händen. „Sie sind verrückt.“
„Sie sagten, dass Sie sich von Ihren Instinkten leiten lassen. Hören Sie auf sie. Gehen Sie in sich und sagen Sie mir, was Sie fühlen.“ Es war ein Risiko. Sie war derart aufgewühlt, dass die Taktik auch nach hinten losgehen konnte. Aber es wäre besser, als sie gehen zu lassen, damit sie sich irgendwo verstecken konnte. Er hatte ein Fass geöffnet, das er nun nicht mehr verschließen könnte.
Mit einem Schnauben presste sie die Hände gegen den Jeep. Ihr Blick wurde weicher, als eine Woge aus Energie um seine Schultern schwappte.
„Ihr Freund hat bemerkt, wie müde Sie sind.“ Vielleicht würde die Erwähnung einer Person, der sie vertraute, sie zum Zuhören bewegen.
Sie entspannte sich ein wenig.
„Falls ich richtig liege, gibt es dafür einen guten Grund. Sie brauchen die Energie in Eden, um aufzublühen.“