Erzählungen - Hans Fallada - E-Book

Erzählungen E-Book

Hans Fallada

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Beschreibung

Hans Fallada ist bekannt für seinen sozialkritischen, scharfsinnigen Blick, seine detailgenauen Beobachtungen, seine unverblümte Sprache. Der Band enthält eine Reihe kürzerer Erzählungen: Der Trauring; Die große Liebe; Gauner-Geschichten; Einbrecher träumt von der Zelle; Warum trägst du eine Nickeluhr?; Wie Herr Tiedemann einem das Mausen abgewöhnte; Der Gänsemord von Tütz; Ein Mensch auf der Flucht; Ich bekomme Arbeit; Der Pleitekomplex; Eine schlimme Nacht; Die offene Tür; Fröhlichkeit und Traurigkeit; Die Fliegenpriester; Mit Metermaß und Gießkanne; Der Bettler, der Glück bringt; Wie vor dreißig Jahren; Schuller im Glück; Gute Krüseliner Wiese rechts; Essen und Fraß; Der Ententeich; Alte Feuerstätten

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LUNATA

Erzählungen

Hans Fallada

Erzählungen

© 1941 Hans Fallada

© Lunata Berlin 2020

Inhalt

Der Trauring

Die große Liebe

Gauner-Geschichten

Einbrecher träumt von der Zelle

Warum trägst du eine Nickeluhr?

Wie Herr Tiedemann einem das Mausen abgewöhnte

Der Gänsemord von Tütz

Ein Mensch auf der Flucht

Ich bekomme Arbeit

Der Pleitekomplex

Eine schlimme Nacht

Die offene Tür

Fröhlichkeit und Traurigkeit

Die Fliegenpriester

Mit Metermaß und Gießkanne

Der Bettler, der Glück bringt

Wie vor dreißig Jahren

Schuller im Glück

Gute Krüseliner Wiese rechts

Essen und Fraß

Der Ententeich

Alte Feuerstätten

Der Trauring

1

Die Leute gehen aufs Feld zum Kartoffelaushacken. Es ist später Herbst, in der letzten Nacht hat es schon ein wenig gefroren. Nun bei Sonnenaufgang blinkt überall Frühreif. Obwohl sie frieren, gehen sie nur langsam, zuhinterst zottelt der Feldunterinspektor, die Hände tief in die Taschen gebohrt.

Verdrossen lauscht er auf das Geschnatter der Weiber, er hat in der letzten Nacht schlecht geschlafen, seine Schulden haben ihn wach gehalten. Alles Grübeln aber hat nichts geholfen: Diese kleine Summe, diese dreißig, vierzig Mark lassen sich nicht auftreiben, es findet sich nun einmal kein Weg. Wenn er Hofinspektor wäre! Man kann ganz gut einmal ein paar Zentner Roggen vom Boden verschwinden lassen, ohne daß einer etwas davon merkt. Aber so ..., verfluchtes Leben! Er gähnt, dann spuckt er aus.

Die Kolonne ist auf dem Kartoffelschlag angelangt. Das Kraut steht schwarzbraun und naß da, der Boden ist lehmig feucht. Unterinspektor Wrede teilt jedem seine Dämme zu, natürlich gibt es wieder Streit und Gezanke unter den Weibern, er kümmert sich nicht darum, er setzt sich auf die Wagendeichsel. Die erste Hacke blinkt in der Sonne, auf dem Felde wird es stiller, die Arbeit hat begonnen. Langsam kriechen die gebeugten Gestalten am Boden hin.

Wrede will rauchen, aber er merkt, daß er seinen Tabakbeutel vergessen hat. Eine dumpfe Wut regt sich in ihm gegen dieses Leben, das so trostlos einförmig ist, dem man rettungslos verfiel, eine Wut, die nach einem Ausweg sucht. Er stürzt hinter die Leute. Wo er eine liegengebliebene Kartoffel sieht, erhebt er ein großes Geschimpf, aber das hilft nichts, die Wut wächst in ihm.

Er muß zurück zum Kastenwagen, die ersten Körbe werden ausgeschüttet, er hat Marken zu verteilen. Er stellt sich auf die Deichsel und paßt auf, daß die Körbe ordentlich voll sind. Er wird der Bande schon zeigen, woher der Wind weht, keiner bekommt eine Marke, der den Korb nicht randvoll hat. Sollen die etwa vergnügt sein, wenn ihm speiübel ist? Er spuckt auf alles.

Da kommt die Uteschen. Das ist auch so ein Aas: Die denkt, weil sie jung verheiratet und hübsch ist, hat sie es nicht nötig. Ein paarmal hat er ihr heimlich Kartoffelmarken zugesteckt, aber sie soll nicht glauben, daß sie ihm deswegen auf der Nase tanzen kann. Außerdem ist sie verliebt in ihren Kerl.

Aber es läßt sich nichts sagen, der Korb ist voll. Nachdenklich sieht er den Knollen nach, die in den fast noch leeren Kasten poltern, er sieht die Frau an, die hochgereckt, die schwere Kiepe weit über dem Kopf, dasteht, und sein Auge bleibt auf der Hand haften, die, zwischen Kasten und Korbrand eingeklemmt, mit Erde beschmutzt, eine für Landarbeiterinnen zierliche Form hat.

Da blinkt zwischen den rollenden Kartoffeln etwas auf. Wrede macht eine Bewegung, will sprechen. Und steht wieder still. Die Frau hebt den leeren Korb aus dem Wagen, er gibt ihr eine Marke, sie geht.

Er steht wieder ganz still da, sein Gesicht ist seltsam heiß geworden, die Stirn zog sich zusammen – denkt er sehr über etwas nach? Plötzlich tut er einen Schrei, springt wie ein Unsinniger in den Kasten, mit beiden Füßen zwischen die Kartoffeln und brüllt: »Welches Aas schmeißt hier Steine zwischen die Kartoffeln?«

Er bückt sich, er wirft weit ins Feld hinein Knollen und Erde, seine Hände suchen fieberhaft. Die Leute lachen untereinander, halblaute Spottreden fliegen von einem zum andern: »Nun ist er ja wohl ganz mall geworden.« – »Seine Marie hat gestern Abend nicht gewollt.« – »So ein Aas, das nichts kann wie Leute schikanieren, sollte man mit der Hacke vor den Schädel hauen.«

Wrede ist wieder aus dem Kasten gestiegen. Er schreit noch einmal: »Wenn ich jemand erwische, der Steine zwischen die Kartoffeln tut, jage ich ihn vom Felde, versteht ihr das!«

Aber dies zu rufen war schon schwer. Ihm ist sehr warm, sein Herz scheint ganz voll zu sein. Er weiß gut, er muß den Vormittag weiter schimpfen, denn er darf keinen Verdacht erregen. Er muß schimpfen, obwohl er nun seine Schulden bezahlen kann.

Er kann seine Schulden bezahlen!

2

Es ist Feierabend geworden. Martha Utesch steht in der Küche und rührt ihren Schweinen warmen Schrotbrei an. Sie taucht die Arme bis zu den Ellenbogen in das warme Gemenge, um heil gebliebene Kartoffeln noch zu zerdrücken. Schmeichelnd empfindet sie die sämige Glätte des Tranks auf der Haut. Ein Gefühl von unbestimmter Leere taucht in ihr auf, das vage dämmernde Bewusstsein eines Verändertseins: Sie zieht langsam ihren rechten Arm aus dem Brei und betrachtet ihn. Völlig ist er von einer dicken Schicht weißgelben Schrots umgeben. Zögernd nimmt sie den andern Arm zur Hilfe, hebt ihn aus dem Eimer, die linke Hand streicht über die Handwurzel der rechten. Sie sieht darauf hin. Dann über den Handrücken, der sacht rosig aus dem abrinnenden Schrot auftaucht. Dann über die Fingerwurzeln ... »Es ist unmöglich«, flüstert sie. Und jetzt tut sie einen Schrei. Sie wirft beide Hände gegen den Kopf, sie sieht nichts mehr, ihr Körper beugt sich nach vorn.

Der Hobel in der Werkstatt wird mit einem Ruck still. Tischler Utesch zieht die Tür auf und fragt: »Hast du gerufen, Martha?«

Sie wendet langsam, zögernd das Gesicht gegen den Mann, sie kommt von weit her, als sie sagt: »Nein. Nichts. Das Schrot war zu heiß, ich habe mich verbrannt.«

Er steht im Türrahmen und betrachtet sie. Ein Schein der Petroleumlampe läßt das Gold in ihrem Haar aufleuchten, das zarte Rosa ihres Gesichtes vertieft sich zu Rot: »Es war nichts, Willem«, wiederholt sie, steht auf, faßt die Eimer und läuft in den Stall zu den beiden Schweinen. Sie gießt den Trank in den Trog, die Schweine schlabbern und schmatzen.

Beim Buddeln muß ich ihn verloren haben, in der Erde, denkt sie. Es hat keinen Zweck, ihn zu suchen, ich bin mit den Knien darüber weggerutscht, er liegt im Boden. Was soll ich tun? Höchstens beim Nacheggen kommt er nach oben, aber wer sieht solch kleines Ding? Was soll ich tun?

Sie faßt die Eimer, wendet sich zur Tür, stellt sie wieder hin.

Willem darf nie etwas erfahren. Er glaubte nicht, daß er in der Erde liegt. Der Schäfer in Zülkenhagen hat den Ring besprochen, da war Willem von seiner Eifersucht geheilt. »Solange du den Ring trägst, gehörst du mir. Hat ein andrer ihn, gehörst du ihm. Ziehe ihn nie, auch nur im Spaß, vom Finger.« Er glaubt daran. Es ist gut, daß ihn die Erde hat, vielleicht glaubte auch ich daran.

Ihr Gesicht ist noch vertiefter geworden.

Ich muß mir einen andern machen lassen. Es wird schwer sein. Schon mit dem Geld. Und dann, weil es kein Fabrikring ist. Bis dahin ...

Sie kommt in die Küche zurück. Nebenan stöhnt wieder der Kurzhobel. Sie greift das Beil und schlägt Kleinholz. Der Kurzhobel wird still. Wilhelm fragt: »Haust du jetzt Holz?«

»Alles ist naß«, sagt sie. »Dies Schlackerwetter.« Sie schlägt zu.

Wie ungeschickt ist Martha, denkt Utesch. So ungeschickt ist Martha doch sonst nicht. Schon sieht er eine Hand, die sich rötet, rötet. Alles ist Blut.

»Da habe ich mich gehauen«, sagt Martha, weiß geworden. Sie betrachtet zweifelnd, mit zitternder Lippe die Hand, die nur noch Blut ist.

Er macht einen Schritt zu ihr. »Warum haust du nach Feierabend Holz? Kann ich das nicht tun?«

»Laß! Laß!« ruft sie und springt gegen die Kammer. »Ich verbinde mich schon.«

Dann sitzen sie beim Abendessen. Wilhelm sieht immer auf die weiß umwickelte Hand. »Mit dem Buddeln ist es nun vorbei. Schade, wir hätten das Geld brauchen können.« Nach einer Weile: »Und der Ring? Hast du ihn abgetan?«

Martha lacht. »Der sitzt! Der geht nicht runter. Der bleibt. Fühle mal!« Und sie führt seine Finger über den dicken Verband.

3

Das Ehepaar Utesch schlief. Frau Utesch wanderte durch die Räume des Traums, geheimnisvoll geführt von einem, den sie nicht sah, vor dem ihr doch angst war. Plötzlich war der Führer verschwunden, sie fühlte ihn nicht mehr, allein stand sie in einer purpurfarbenen Röte, und ihre Angst wuchs.

Plötzlich hörte sie eine Stimme schreien, wilde, ungefüge Schreie in das Nichts rufen. Zuckend zog sich die Welt zusammen. Gegen den Schein der Morgenröte blinkte die erste Hacke, das Kartoffelkraut triefte naß, auf einem Wagen tobte Wrede und schrie.

Frau Martha war wach. »Der hat den Ring! Der!« flüsterte sie und lauschte in die Nacht, ob sie die schreiende Stimme noch höre. Alles war still. Aber die schwarze Stille schwoll und schwoll, die Stille rief und rief.

Martha Utesch stand auf, an der Tür lauschte sie noch einmal zurück zu dem schlafenden Mann, auf der schweigenden Dorfstraße stand sie, schlug den Weg zum Gute ein.

»Der hat den Ring! Der!«

Seltsamer Weg durch die Nacht, die ohne Stern ist! Die Telegrafendrähte summen, sie summen nur eine Melodie. Fährt der Wind in schon herbstlich raschelnde Blätter, rascheln sie nur die Worte: »Der hat den Ring! Der!« Einer geht vor ihr, den sie nicht sieht, der sie doch führt, vor dem ihr angst ist.

Plötzlich sieht sie den alten Zülkenhäger Schäfer. Er bespricht den Ring, er legt seine altersfleckige Hand, die gekrümmt ist, auf sie. »Diesem Ring gehört dein Leib. Bewahrst du ihn, bewahrst du dich. Gibst du ihn fort, gibst du dich fort.«

Und wieder der Wind und das Drähtesummen in der Nachtschwärze.

4

Auch Wrede schläft nicht. Er hat den Ring geputzt, er hat den Stempel untersucht, er denkt daran, wie er seinen Fund wird am besten verkaufen können. Ihn an einen Freund zu schicken wäre zu gefährlich, die Postdamen sind neugierig, alles wäre entdeckt. Und in eine Stadt fahren, selbst wenn er Urlaub bekäme, ist zu teuer.

Jedenfalls, nun hat er ihn. Er läßt das Licht der Taschenlampe aufblitzen, der rötlich gelbe Schein des Dukatengoldes erglänzt sanft, gegen den Marmor des Nachttischs schlägt er den Ring und hört mit Entzücken den weichen hellen Klang, den nur Gold hat.

Auch er beginnt zu träumen. Diese wenigen Gramm Gold im Werte von dreißig, vierzig Mark scheinen der Schlüssel zu sein zu allen Toren der Welt. Er sieht sich weit fort von hier, in Berlin fährt sein Auto vor dem besten Hotel vor, der Portier grüßt würdig, die Kellner knicken. Er steht im Hotelzimmer, hier türmt sich schon sein Gepäck, in die weiten Ledersessel ist alles Bunte von Weiberkleidern gegossen, ein Mixer bereitet Getränke, der Raum ist voll wie ein Vogelhaus von Weibergeschrei und Gelächter. Jemand klopft.

Jemand klopft ...

Wrede fährt auf. Der Ring entfällt ihm, der Ring rollt, rollt, dreht sich klingend irgendwo im Dunkeln, ist still. Noch einmal ein Klang, ist still. »Wer ist denn da?« Klopfen gegen die Scheibe. »Wer ist denn da?« Nichts. Wieder Klopfen. Angst befällt ihn. Sind die Wachtmeister schon da? Mit zitternder Stimme fragt er: »Sind Sie das, Hofmeister? Ist etwas krank im Stall?«

Eine Stimme ruft verklingend: »Ich!«

Er steht lauschend. Plötzlich begreift er, er reißt das Fenster auf, er schreit: »Wer ist ich? Was ist ich? Alle sind ich. So ein Blödsinn!«

Die bebende Stimme: »Geben Sie mir meinen Ring wieder, Herr Wrede. Bitte.«

»Wer ist denn das? Ist das die Marie? Mädel laß mich schlafen. Jetzt ist nicht Mai, nicht einmal die Katzen haben jetzt Raunzzeit.«

»Bitte geben Sie mir meinen Ring wieder, Herr Wrede.«

»Aber – nein, wahrhaftig, das ist die Martha Utesch! Na, Martha, ist denn da dein Wilhelm mit einverstanden, daß du nachts an fremde Fenster gehst?«

»Geben Sie mir meinen Ring wieder. Es wird nicht gut sonst, Herr Wrede.«

»Wenn's denn sein muß, Martha. Hopp, ein Bein aufs Fensterbrett. Ich zieh dich hoch. Nur nicht zipp, Martha.«

Seine schweißnassen Finger tasten blind nach dem bleich geahnten Gesicht, er fühlt es, er fühlt die Wärme der Schulter, der Brust. »Komm, Martha!«

Stille. Lange Stille. Dann ganz leise: »Ich will kommen, wenn Sie mir meinen Ring wiedergeben, Herr Wrede.«

Auch er bleibt lange still. Dann polternd, mit einer Anstrengung: »Laß jetzt mit dem Quatsch nach. Entweder oder. Ich schmeiße das Fenster zu.«

»Ich gebe Ihnen fünfzig Mark für den Ring. Ich kaufe ihn Ihnen ab.«

Ganz rasch: »Hast du es da, das Geld?«

»Nur zwanzig. Das andere bringe ich nächste Woche.«

»Gib!«

»Erst den Ring.«

»Gib!«

»Hier ...«

Er fühlt den Schein, er nimmt ihn. Er lacht auf: »Sone verrückten Weiber! Nun zahlen sie mir schon. Das geht über die Marie!«

Das Fenster fliegt zu. Verzweifelter Heimweg durch die Nacht.

5

Als die Nacht vergangen war, hatte sich Wrede dafür entschieden, alles nur geträumt zu haben. Fragte man ihn, er würde von nichts wissen. Er betrachtete, was ihm geschehen, sicher blieb, diese Frau war kein Aas, sondern weich. Und Butter soll man kneten. Wozu einen Ring verkaufen, den man behalten konnte? Sie sollte ihr bißchen Geld wie Wasser aus dem Leibe schwitzen!

Trotzdem beunruhigte es ihn, daß er Martha Utesch nicht auf dem Kartoffelacker sah. Warum war sie zu Haus geblieben? Hatte sie mit ihrem Mann geredet? Oder fürchtete sie sich? Gleichviel, er blieb entschlossen, seinen Griff nicht locker werden zu lassen. Kam sie nicht, ging er zu ihr, die Abende waren lang und dunkel. Das Aufblitzen ihres Ringes würde sie hinlocken, wohin er wollte.

Da horchte er auf. Auch die Buddler sprachen von Martha Utesch. Man wußte schon, warum sie fehlte. Über Nacht war sie von Haus fortgewesen, ihr Mann war erwacht, das Bett an seiner Seite fand er leer. Er hatte auf sie gewartet. Der Streit zwischen der Heimkommenden und dem Wartenden war laut geworden, hatten die in ihrem Morgenschlaf gestörten Nachbarn die Worte nicht gehört, die man gewechselt hatte, so waren sie doch nicht zu ungelenk, welche zu erfinden. Jedenfalls war sicher, daß selbst der Mann schon gemerkt hatte, daß seine Frau mit dem jungen Nagel aus dem Grunde ging. Sie hatte nicht sagen wollen, wo sie gewesen, aber das konnte selbst solch verliebten Ehekater nicht dumm machen. Hatte sich nicht der junge Nagel schon vor ihrer Hochzeit mit ihr abgegeben? Der Mann hätte sie nur ordentlich prügeln sollen, aber heute waren die Männer ja viel zu schlapp. Ordentlich Keile für eine Frau, das war grade, was sich gehörte.

Auch Wrede bedauerte, daß es nicht zu Schlägen gekommen war. Hätte der Mann doch schließlich nur für ihn seine Frau mürbe geschlagen. Je unmöglicher die Verhältnisse wurden, um so höher würde der Preis sein, der für diesen Ring zu erzielen war. Und schließlich war es noch gar nicht sicher, daß, gab man ihn wirklich her, die Frau ihn bekam. Vielleicht war der Mann der bessere Käufer. Konnte man den Ring nicht von Nagel aus dem Grunde haben? Und hatte man den Kies, so haute man in den Sack und war fort. Mochten sich die andern die Schädel zerschlagen, es war nicht schwer, sich auszurechnen, daß die meisten Schläge auf die Frau fallen würden.

Neben dem Wunsche nach Geld, nach sehr viel Geld, war es die Gier nach Rache an der jungen Frau, die Wrede immer weiter vor trieb. Er fühlte wieder die Weichheit ihrer Schulter, sie hatte gezögert, zu ihm zu kommen. Selbst der hohe Preis dieses Ringes war im ersten Augenblick ihr gering erschienen neben der Abneigung vor ihm. Und grade da er in solchem Nachtbesuch nichts Besonderes sah, war ihm diese Anstellerei empörend. Martha – was hieß Martha Utesch? War sie etwa zu gut dafür? Oder er ihr zu schlecht? Sie sollte Geld schwitzen. –

Am Abend lehnte er die Stirn gegen die erhellte Scheibe des Tischlerhauses. Er sah hinter den Gardinen einen einsamen Schatten, der bewegungslos hockte. War sie es? War sie allein? Oder war es der Tischler? Und sie schon erneut nach dem Gute unterwegs?

Eine Hand berührte seine Schulter. »Wenn Sie Utesch suchen, Herr Inspektor, der ist im Krug. Aber er ist ja wohl schon halb dun.«

Wrede fuhr zusammen. Der zu ihm sprach, war der Sattler Hinz, das Dorfradio. »Ja, ich suche Utesch, wir haben da was zu machen. Dun sagen Sie. Nun, ich will sehen, vielleicht läßt sich noch mit ihm reden. Sonst trank der Utesch doch nicht?«

Der Sattler zockelte nebenher. Die Nachtgeschichte war gewachsen, sie hatte Gestalt bekommen. Der Tischler hatte seiner Frau den Ring abreißen wollen, weil sie ihn geschändet, er war nicht von der Hand gegangen, da hatte er ihn mit dem Schnitzmesser heruntergeschnitten. Das Geschrei der Frau war fürchterlich gewesen. Sie hatte die Hand verbinden müssen. Niemand wußte, was nun kam. Zu Ende war das noch nicht.

Obwohl das Erfundene an dieser Geschichte nicht schwer zu unterscheiden war, graute Wrede doch ein wenig. Er hörte die Frau schreien. Ihre Stimme, als sie um ihren Ring bat, war zage, verhalten und klein gewesen. Nun schrie sie. Und immer der Ring. Selbst aus diesem Lügengewebe glänzte er hervor, funkelnd, neu verräterisch. Einen Augenblick überkam ihn unechtes Mitleid mit der Frau, er wollte umkehren, ihr den Ring freiwillig zurückgeben. Es blieb unausführbar, da Hinz neben ihm ging. Bis zur Schenkentür brachte ihn der Schwätzer.

6

Die Gaststube war düster und fast leer. In einem Winkel hantierte der mufflige Wirt mit einem Putzlappen an seinem Bierapparat, später verschwand er. In einer andern Ecke, über der eine trübe Lampe brannte, saß ein einsamer Gast vor einer Flasche Korn, die Stirn in die Hand gestützt, bewegungslos: Wilhelm Utesch.

Wrede trat an diesen Tisch, sagte »Guten Abend« und setzte sich. Langsam sah Utesch zu ihm hinüber, mit dem haftenden leeren Auge des Trunkenen, das schwer wie ein Tierblick ist und in das langsam nur wie ein trübes Licht Erkennen trat. »Sind Sie's, Herr Inspektor?« fragte er, und die übertrieben deutliche Aussprache jedes Wortes bewies die trunkene Zunge, die sich nicht verraten wollte. »Auch noch so spät unterwegs?«

»Ich war schon bei Ihnen in der Wohnung, Meister. Wollte mal hören, ob Sie morgen nicht Zeit haben, zu uns aufs Gut zu kommen. Wir haben da eine Sache.«

»Zeit? Zeit? Ich habe Zeit.« Wieder hob sich der gerötete Blick, traf die Flasche. Utesch schenkte sich umständlich ein Glas voll, sah suchend über den Tisch, machte eine gießende Bewegung mit der Flasche, hielt inne.

»Ja so, trinken Sie auch einen?«

»Ich sage nicht nein. Päplow, mir ein Glas.« Wrede nahm die Flasche, bediente sich selbst. »Na, denn Prost, daß unsre Kinder lange Hälse kriegen.« Sie tranken. Sofort schenkte Wrede wieder ein. Der Trunkene saß still, den Blick vor sich auf dem buntkarierten Tischtuch. Endlich begann er: »Also auch noch so spät unterwegs. Ja, die jungen Leute ...« Er pfiff, ein kümmerliches Lächeln ging um seinen Mund. Er sprach hastig, undeutlich, über den Tisch zu dem andern gebeugt: »Das will ich Ihnen sagen, Herr Inspektor, man kann es den jungen Leuten nicht verdenken. Was hält sie? Aber wenn man erst verheiratet ist, dann sage ich: Schluß!«

Er preßte die Hand zusammen, daß die Knochen knackten. Wrede meinte: »Natürlich. Arbeitspferde gehören feierabends in den Stall und nicht auf die Koppel.«

»Das ist ein Wort«, rief Utesch plötzlich lebhaft. »Das ist ein Wort wie aus der Bibel.« Er sank wieder in sich zusammen.

»Trinken wir noch einen!«

Und nachdem sie getrunken hatten, schenkte Wrede wieder voll.

Der Betrunkene flüsterte: »Aber wenn eines verheiratet ist und ist nachts fort und kommt wieder und man fragt's: wo bist du gewesen? und es lächelt bloß, das ist Verrat, Herr Inspektor! Das nenne ich blutschänderischen Verrat.«

Er hielt inne, wie zusammenschreckend, den Blick aufmerksam, wie erwacht, auf sein Gegenüber geheftet. »Sie wissen alles, Herr Inspektor. Natürlich wissen Sie alles. Nur ich weiß nichts.« Nun ganz langsam: »Wo ist die Frau gewesen, frage ich Sie, Herr Inspektor, wo um alles in der Welt ist nachts um zwei Uhr die Frau gewesen?«

»Ich weiß nichts, Meister. Ich höre nicht auf das, was die Leute sagen.«

»Sie wissen es. Jeder weiß es. Wenn es mir nur einer sagen könnte ...« Er hielt grübelnd inne, sein Gesicht belebte sich von einer Idee. »Trinken wir!«

»Und noch einen.«

»Wird das nicht zu viel?«

»Wie kann das zu viel werden, junger Mann? Eine Flasche habe ich schon allein getrunken, und ehe ich betrunken werde, kann ich noch eine trinken. Also trinken wir!«

»An mir soll's nicht liegen«, sagte Wrede und trank, indem er sich darüber klar war, daß der Betrunkene die unsinnige Idee hatte, ihn betrunken zu machen, um ihn aushorchen zu können.

Aber der andere war schon wieder weit fort. »Am Abend vorher hat sie sich in die Hand gehauen mit dem Beil. Blut ist über ihren Ring geflossen. Was bedeutet das? Man müßte wissen, was es bedeutet. Aber man weiß nichts.«

Auch dem Inspektor kam ein Gedanke. Er griff in die Westentasche. Er zog die Hand zurück. »Also trinken wir noch einen.«

Und der andere echote: »Trinken wir noch einen!«

Sie tranken. »Wo ist die Frau gewesen, Herr Inspektor?«

»Ich weiß es nicht, Meister.«

»Sie wissen es nicht. Wie sollen Sie es wissen? Niemand weiß es. Jeder ist allein. Und jeder tut alles für sich allein.« Utesch taumelte hoch, langsam und tastend ging er zur Hoftür, hielt inne. »Ich komme gleich wieder.« Und war fort.

Wrede sah um sich: Die Stube war düster und leer. Eine späte Fliege erhob sich mit einem Schwung, summte, und alles war still. Wrede zog den Ring aus der Tasche, verborgen in die hohle Hand betrachtete er ihn. Er war breit und schwer, aus einem rötlichen alten Dukatengold, mit tausend feinen Hammerschlägen genetzt, für einen Menschen gearbeitet, der noch glaubt, daß die Dinge einen Sinn in sich tragen.

Aus der Hosentasche riß Wrede einen Bindfaden. Er knüpfte ihn um den Ring, band das andere Ende des Fadens an einen Westenknopf, steckte den Ring wieder in die Tasche. Er stand auf, ging hin und her. Als Utesch eintrat, saß er schon wieder.

Die Nachtluft hatte den Tischlermeister noch betrunkener gemacht. Er kam kaum auf seinen Stuhl, er sprach nicht mehr, er lallte nur noch. Wrede goss ein.

»Es ist sternenklar, Meister. Ob es Frost gibt?«

Und das Echo: »Ob es Frost gibt?«

»Trinken wir«, sprach Wrede.

»Trinken wir«, sagte der andere und rührte sich nicht.

Da griff Wrede in die Tasche. Auf den Rand des Tisches legte er den Ring, weit davon sichtbar seine Hände. »Trinken wir, Meister«, wiederholte er und stieß sein Glas um. Es klirrte gegen die Flasche. Der trübe Blick suchte nach der Ursache des Geräuschs. Er wurde schrecklich wach. Er sah das kleine blitzende Rund drüben, jenes unverkennbare, das ihm allein Gewähr für Treue war. Der Meister machte aus aller Trunkenheit heraus einen Tigersatz um den Tisch. Alles stürzte zusammen. An der Schnur glitt der Ring zurück hinter das Jackett. Nichts war da.

»Was kommt Sie an, Utesch?« schrie Wrede. »Sind Sie ganz betrunken geworden?«

»Der Ring«, flüsterte der andere leise, »es war der Ring.«

»Was für ein Ring? Was reden Sie von einem Ring? Wo soll er sein?«

Der andere stand vor ihm. Noch hielt die Wirkung des Schreckens an. Klar drang der Blick in Wrede. »Der Ring! Dort auf der Tischkante lag er. Sie haben ihn. Ich sage, Sie haben ihn.« Er griff Wrede an die Brust. Der stieß ihn stark zurück. »Sie schwatzen. Wie sollte ich Ihren dämlichen Ring haben?«

Aus dem Fallen richtete der andere sich auf. Stammelnd wieder sagte er: »Sie haben ihn! Jeder hat ihn. Alle haben den Ring. Nur sie hat ihn nicht.« Er stand grübelnd. Plötzlich schrie er noch einmal: »Nun weiß ich es: Sie hat ihn nicht.«

Utesch sprang gegen die Tür, riß sie auf, war fort in die Nacht. Über den Dorfplatz brüllte Wrede in Angst: »Meister, kommen Sie. Sie sollen den Ring haben.«

Alles blieb still. Niemand kam. Niemand hörte.

7

In dem Zimmer ist es dunkel und still, nichts rührt sich, kein Mondlicht fällt durch die zerbrochenen Scheiben, denn der Mond ist noch nicht aufgegangen. Etwas Dunkleres lehnt sich gegen die Hausmauer, lauscht in das Zimmer, lange, zieht sich plötzlich zurück.

Ein Geräusch wird hörbar, jemand kommt gelaufen. Er prallt gegen den Vorgartenzaun, tastet umher, findet das Gatter offen, eilt den Gartensteig hinauf, rüttelt an der Haustür. Sie ist verschlossen, gibt nicht nach. Eine Weile steht Wrede still, überlegend. Dann nähert er sich dem Fenster, will dagegen klopfen, stößt gegen eine Scherbe, die klirrend herunterfällt. Er erschrickt, er steht lauschend, er lauscht gegen die Stube, in der sich nichts rührt. Eine zähe lange Stille scheint aus dieser Stube zu dringen, wie etwas Hartnäckiges, Böswilliges.

Schließlich entschließt er sich. Er ruft leise: »Utesch!« Nichts. Und noch einmal: »Meister Utesch!« Nein, nichts. Nur von Augenblick zu Augenblick ein Windstoß in dem raschelnden Herbstgebüsch.

Er ruft noch einmal angstvoll: »Martha! Martha Utesch!« und bricht in die Knie, als eine Hand sich auf seine Schulter legt, eine Stimme flüstert: »Still! Still doch! Hören Sie nicht?«

So, die Knie in der kühlen Gartenerde, unter der Hand des Geheimnisvollen, lauscht er, und nun meint er, weit drinnen im Haus etwas stöhnen zu hören, kurz stöhnen zu hören.

Plötzlich versteht er. »Der Hobel! Utesch ist in der Werkstatt?«

Der andere: »Er macht ja wohl ihren Sarg.« Und mit einer schrecklichen Neugierde: »Er hat sie ja wohl umgebracht, Herr Inspektor?«

Wrede steht wieder. »Hören Sie zu, Hinz. Laufen Sie, was Sie können, zum Wachtmeister. Ich werde hier Posten stehen, daß Utesch nicht ausreißt.«

Der andere zögert.

»Laufen Sie!«

Hinz verschwindet; ist fort, untergetaucht in der Schwärze.

Langsam nähert sich Wrede dem Fenster. Er befühlt es. Ein Flügel steht offen, er neigt sich in die Stube, ein Streichholz flammt auf.

Er sieht ..., er sieht ..., dort liegt etwas Weißes, allein, ausgestreckt, etwas, das nicht mehr greifen kann, das schlaff geworden ist, doch zugreifen möchte, o du guter Gott! Eine Hand! Eine Hand allein!

Und dort das Dunkle, Verhüllte, unter den Rändern eines Tuches sind schwere zähe Teiche hervorgequollen ... Das Streichholz erlischt.

Wrede greift in die Tasche, in die Schwärze des Zimmers wirft er den Ring, er hört ihn klirren, klingen mit dem weichen hellen Klang, den nur Gold hat.

Da stürzt Wrede fort in die Nacht, in die Stille der Felder, wo nur der Laut des Windes ist oder einmal das Rascheln eines Tieres. Keine Menschen. Hier aber ist Stille, lange Stille.

Und jetzt kommen die Lichter, die Leute und die Polizei.

Die große Liebe

1

Als sie sich kennenlernten, waren beide strahlend jung. Sie siebzehn, er siebzehn.

Kam er abends aus der Werkstätte, wartete sie schon auf ihn. Nebeneinander gingen sie nach Haus, er in seinem blauen Kittel, schwarz von Ruß und Öl, die leere Emaillekanne in der Hand schlenkernd, sie in weißer Bluse und faltigem Rock, umsonst bemüht, Takt zu halten mit seinen weitgespannten Schritten.

Meistens hatten sie noch Zeit, und weil es halb auf ihrem Weg lag, gingen sie an den Hafen und setzten sich dort auf eine Bank. Der Fluß trieb sachte dahin, es roch nach Teer, eine Winde knarrte.

Er erzählte vom Hof, aus dem er stammte, sie gingen durch den Garten, ein Kartoffelacker, Kiefern kuscheln, Dünensand – und soweit der Blick reichte, brandete Meer blau, grün und weiß gegen den hellen Sand. Er beugte sich vor, sein Auge, blau wie jenes, streng und unbestechlich, schien die See zu schauen, von der er sprach, seine schmale, lange Nase roch den Duft von Tang und Teer, und der ernste, halb geöffnete Mund atmete wohl jener Brise entgegen, die gleich, gleich sich aufmachen mußte.

Sie stammte aus einer kleinen Stadt, aus einfachem Bürgerhause. Unterdrückt von der rechthaberischen Mutter, tyrannisiert von der älteren Schwester, die klüger und härter als die jüngere war, hatte sie ewig in Angst gelebt, und das Gefühl war in ihr dicht geworden, dumm und unfähig zu sein, nichts wert. Ihre zarte blonde Schönheit hatten sie durch unmögliche Kleider verschandelt, ihre Demut ausgenützt, ihre Liebesbedürftigkeit verachtet. Immer hatte sie im Dunkeln gestanden, bestraft, und war sie einmal straffrei, lag wie ein Alp auf ihr die Furcht vor den andern, der Zukunft, all und jedem.

Nun, aufs Seminar gekommen, war sie zum ersten Mal frei, ein ans Dunkle gewöhnte Auge versuchte blinzelnd, in das Licht zu schauen, lieber noch barg sie es im Schatten des Jünglings neben sich.

Er wußte vom Segeln und Schwimmen, von Hasenjagden und wilden Reiterfesten. Am liebsten wäre er Seemann geworden. »Nun werde ich Schiffe bauen.«

Er war so stark, doch war er auch fein. Er verstand gut, erzählte sie ihm die kleinen großen, immer noch nicht überwundenen Unglücksfälle ihrer Kinderzeit, warum ihr Lächeln noch weich und gewinnend war, über Tränen hinweg, auf die seinetwillen verzichtet wurde. Diese unseligen beiden Frühstückssemmeln, die ihre Mutter aus Gesundheitsrücksichten verordnet und die sie nie hatte essen können! Sie schmuggelte sie heimlich in ihre Kommode, sie häuften sich dort und wurden eines Tages – natürlich – entdeckt. »Und der Bach, in den ich sie so gut hätte werfen können, floß direkt unter meinem Fenster, Fritz!«

Sie hätte ewig so bei ihm sitzen mögen, bis das Bunt der Abendröte ganz übergegangen war in jenes stille hohe Blaugrün der Meerhimmel. Er mahnte, daß sie würden essen müssen in ihrer Pension. Der letzte Weg war still. Sie streifte einmal scheu seine Hand, wie sich zu überzeugen, daß er noch da sei. Er spürte es nicht. Er dachte wohl wieder an seine Bücher, diese Philosophen, die er ewig las. Er hatte soviel, was in sein Leben reichte. Sie hatte nichts, nur ihn. Und schon war die Angst wieder da, eine neue, brennendere als jene der Kindheit, die andern könnten ihn ihr fortnehmen, die Mitseminaristinnen, die Freundinnen. Dora war so schön und weltgewandt, Ada war zehnmal klüger als sie!

Dann saßen sie alle um den Abendbrottisch, er der einzige Mann in diesem Mädelnest, und Reden und Gelächter flogen hin und her. Sie redete mit, sie lachte mit, tiefes Rot tönte ihre Wangen. Wenn die andern zu seinen Paradoxien Weh schrieen, wenn die Pensionsmutter Einhalt gebot: sie hielt zu ihm, sie ging mit ihm durch dick und dünn.

Ja, sie verstieg sich soweit, ihm laut und öffentlich beizustimmen, als er einen persönlichen Gott leugnete. So war es, er hatte recht. Und als die andern Mädels längst schliefen, kniete sie noch an ihrem Bett und bat Gott diese Beleidigung ab, sie versprach ihm, Fritz gut zu machen, wenn er nur bei ihr bliebe, wenn ihn ihr Gott nur schenkte.

2

Sie gingen durch die Anlagen, sie stiegen empor über die Stadt. Ein fröhlicher Sommerwind bewegte die Büsche, kleine Fliederblättchen tanzten in seinem Hauch. Der Fluß zog blau durch Gold und Grün, tausend kleine Lerchenlieder hingen in der Luft.

Er warf sich ins Gesträuch, er brach Flieder und Goldregen, Heckenrosen warf er auf sie und er überhäufte ihren Schoß mit Schneeball, Margeriten, Kornblumen und Mohn. Sie lächelte aus all dem Blust hervor, ihm zu.

Ein Wasserfall zerstäubte, seine Tropfen funkelten in der Sonne, feurige blaue und grüne Sterne erglänzten, die Heuschrecken feilten eine endlose Melodie, und in die Wagenspur sickerte sachte und demütig der Sand.

Sie sahen sich an. Ihre Augen glänzten golden in der Sonne, ihre Wimper tanzte, und die Segel in der Ferne und der bläuliche Rauch und, plötzlich, ein Jubelschrei von drüben, schon verhallend, schon verklingend, als habe ihn der Frühsommer ausgestoßen, erschrocken von der eigenen Herrlichkeit.

Er hielt sie in seinem Arm, ein angstgequältes Herz klopfte ruhig und frei, ein zage lächelnder Mund öffnete sich durstig und demütig dem seinen entgegen.

»Thilde!«

»Fritz!«

Und die Sommerwege alle durch Gehölz und Gefeld, der stille Mittagsduft im Nadelwald, die abseitigen Bänke, die herrliche Mahlzeit in der Mühle! Da war ein Eichkater, und eine Krähe hatte sie angesehen, als wisse sie alles. In einem Garten blühten schon Rosen, und er bat um ein paar, für seine Braut, und der alte Herr winkte ihr zu und zog sein Käppchen.

Und der Heimweg dann durch die sacht sickernde Dämmerung und das Verhallen des lauten Tages und die werdende Stille, hinter der tausend solche Tage stehen mochten, und die Flüsterworte und die Atemlosigkeit der Küsse und das seligsüße Einschlafen.

3

Er war jung, er war stark, er war frei. Das Leben lag vor ihm als eine weite blühende Landschaft: tausend Wege sie zu durchwandern, zu verharren, weiterzuziehen und andere Länder zu sehen, andere Düfte zu riechen, andere Gefühle zu erproben. Er war jung, er war ruhelos, er wollte noch nicht das Glück. Was war Glück? Glück war Beharren, Glück war Sichzufriedengeben, Glück war Zurruhekommen. Er wollte weiter.

Sie saß gebeugt über ihre Seligkeit und träumte sie immer wieder neu. Immer die gleiche und stete Seligkeit. Schon zitterte ihr banges Herz davor, daß sie einmal entglitten sein, daß ihr Leben einmal nicht grade diesen Inhalt besitzen könnte. Sie wollte keinen andern, sie konnte sich nicht einmal einen anderen denken. Und sie schmiegte sich fester in ihn hinein, sie verstieß alles andere, sie vereinzelte sich auf ihn.

Sie fragte nicht. Sie zweifelte nicht. Sie verglich nicht. Sie warf ihre Arme um seinen Hals und flüsterte: »Liebst du mich?« und hätte ewig sein Ja hören mögen. Sie war Wachs in seiner Hand, eine Falte auf seiner Stirn verstörte sie, Ärger, den er gehabt, ließ sie nicht schlafen.

Dies war die Liebe, von der sie gelesen, die große Liebe, nichts kam ihr gleich und sie konnte nie aufhören.

Und doch zitterte sie immer. Jede Freundin konnte ihn fortnehmen, was konnte ihm nicht geschehen, wenn er nachts aus war! Sie hörte ihn heimkommen, sie barg ihr glühendes Gesicht im Kissen: würde er je erfahren, wie sehr sie ihn liebte? Wie er ganz allein in ihrem Leben war?

Auch er liebte sie. Eine unsägliche Rührung ergriff ihn, wenn er diese holde zergehende Schwäche sah, die sich ganz an ihn warf. Sie machte ihn sanfter, in seiner harten hielt er die gebrechliche Hand und träumte von dem zarten lautlosen Pflanzendasein, das diese hier geführt. Er suchte, sie mehr in die Welt zu ziehen, er sprach ihr von den hundert Erkenntnissen, die von allen Seiten auf ihn einströmten, von den Denkern, den Dichtern, den Erfindern. Sie hörte ihm zu, sie glaubte alles, was er glaubte, sie fand schön, was ihm schön war, sie war sein.

Sie wurde es ganz. Und mit ungekannter Fassungslosigkeit stand er vor der haltlos Weinenden. Sie hatte sich in seinen Arm geschmiegt, sie war sein geworden, sanft, still und selig, nur mit einem letzten mädchenhaften Abwehren irrer Angst. Doch ihr Elend danach, ihr krampfhaftes Schluchzen, ihre wilde Verzweiflung erschütterten ihn. Er kniete neben ihr, seine Lippen trockneten Tränen, seine Hände suchten die ihren zu erwärmen, die kalt und wie leblos waren.

Sie stieß Worte hervor endlich, unverständlich zuerst, von Schluchzen unterbrochen, er fragte sanft, immer wieder, er lauschte.

Nun vernahm er ein wenig von der Angst, in der sie stets neben ihm gegangen, von der ewigen Sorge um seinen Verlust. Da sie sich ihm hingegeben, wertlos geworden war, war es da nicht selbstverständlich, daß er sie verließ? Was blieb ihr noch zu geben als Entgelt für seine Liebe? Sie stammelte wirr von Schande, ihre Mutter hatte recht behalten: sie war schlecht. Auf die Straße gehen ...

Wie ein stilles freudiges Staunen stieg es in ihm auf. Fremde Welt, fremde Worte, längst versunken geglaubt, auferstanden in einem kleinen, selbstquälerischen, armen Hirn. Er beugte sich zu ihr, von seinem Glück flüsterte er, das auch sie fühlen müsse. Ihr Weinen ging dahin, sie verstand nichts. Da tat er das einzige: er nahm sie in seinen Arm und war gut zu ihr. Er sagte ihr die sanftesten Worte und ließ sie sich erinnern. Und als sie noch fortweinte, sprach er leise, zögernd, mit Widerstreben von der Zukunft.

Er log nicht. Aber all das war noch so fern, sie waren so jung, soviel konnte geschehen, was sollten heute schon feste Pläne? Doch schien eine Gemeinsamkeit nicht unmöglich, er wies sie.

Da legte sie ihre Arme um seinen Hals und flüsterte: »Du bist gut.«

Sie waren nun heimliche Brautleute, sie trug den Ring an einem Band in der Bluse. Er hatte ihn in den Schreibtisch gelegt und nach einer Stunde vergessen. Er war lieb zu ihr, er war sanft. Wenn er ungeduldig werden wollte, mußte er immer an jene herzzerreißende Angst denken, und er bezähmte sich. Er suchte sie zu sich herüberzuziehen, er gab ihr Bücher zu lesen, die sie ins Feuer steckte, weil sie »schlecht« seien. Er begriff nicht. Es war ihr recht, daß sie von solchen Ansichten Nutzen trug, und sie fand sie schlecht? Ja, fand sie sich denn schlecht?

Und erschreckt erkannte er: ja, sie war überzeugt davon, daß sie schlecht sei. Sie war eine Sünderin. Heimlich schlich sie zur Kirche, und voll erleichtert hätte sie es wohl, wenn sie hätte beichten dürfen. Einer mußte da sein, der ihre Sünden auf sich nahm. Ein Priester. Nicht ihr Geliebter, nein. Er konnte sie nicht entsühnen, weil er falsch dachte. Er sündigte nicht, denn er wußte ja nicht, daß Sünde war, was sie taten. Doch sie wußte es. Und sie mußte büßen.

4

Es vergehen kurze drei Jahre, und sie müssen sich trennen. Sie wird Lehrerin, er geht auf ein Technikum. Der Abschied ist grauenhaft, immer wieder klammert sie sich an ihn, will ihn nicht gehen lassen. Sie fragt stets von neuem, ob er sie immer lieben wird, ob er schreiben wird, ob er sie nicht vergessen wird. Sie bettelt um fünf Minuten und noch um fünf Minuten. Aus der Dämmerung blüht ihm die weiße übertaute Schönheit dieser Treibhausblume verführerischer entgegen als je, er läßt sich halten, er schwört.

Dann reißt er sich los, eilt zur Tür und wendet sich zurück nach dem harten Fall. Sie liegt dort leblos, er hebt sie hoch, legt sie aufs Sofa, macht Licht. Sie spricht fieberhaft, nun ist die Angst wieder da, die dunklen Wellen wollen über ihr zusammenschlagen, sie ruft nach Fritz. Sie hält seine Hand fest, einen Augenblick besinnt sie sich: »Du gehst doch nicht fort!«, und muß einen Aufsatz machen, und die Schwester schlägt sie. Er ruft die Pensionsmutter. Mit dem letzten Zuge fährt er.

Nun kommen ihre Briefe, demütig, um Verzeihung bettelnd, klein. Er liest sie in der kahlen, unwohnlichen Stube einer großen Stadt, er schreibt ihr wieder. Auch er ist verändert, diese Stadt vergiftet ihn. Ihr Lärm betäubt, ihre Gerüche machen ihn krank. Das Hocken und Horchen in den Hörsälen lähmt seine Aufmerksamkeit, eine wahnsinnige Sehnsucht nach Feld und Gewächs, nach Erde packt ihn, er bricht aus, stromt ein, zwei Tage durchs Land und kehrt kränker zurück.

Schein dieses Elends leuchtet in seinen Briefen. Wilder, ausschließlicher, hingebender wird seine Liebe. Er findet jene Worte, nach denen sie sich immer gesehnt. Als sie einmal zusammenkommen, sind sie stumm, wie verlegen. Aber in der Stille seines Zimmers stürzen sie einander in die Arme, ihre Küsse brennen, ihre Umarmungen entkräften.

Allein geblieben besinnt er sich. Seine Gesundheit empört sich gegen soviel Übertriebenheit. War es nicht eben noch, daß er vom Wallberg in die Buntheit des Lebens sah? Nun erhellt zuckender, fieberhafter Schein ein Dunkel, das trostlos ist. Er schreibt seinen Eltern, daß er heim will. Bauer werden, die Stadt tötet ihn. Er erhält die Antwort: nach dem Examen.

Er packt einen Rucksack, verkauft seine Bücher, seine Sachen, setzt sich auf die Bahn und fährt in die Welt. An irgendeiner süddeutschen Station beginnt er seine monatelange Wanderung. Er lebt von Trauben, von Obst, von Brot. Er trinkt Wasser. Er schläft im Freien. Der schlaff gewordene Körper baut sich von neuem auf, sein Schritt federt, er begreift nicht mehr, daß dies Leben dunkel sein solle. Ihm kann nichts geschehen, da keiner Rechte an ihm hat. Er wird sich bewahren.

Keiner? Eine doch vielleicht. Die Bestürzung ist unendlich, als ihr Brief unbestellbar zurückkommt. Was ist geschehen? Die Feige wird mutig. Sie nimmt Urlaub, sucht ihn in der Stadt. Nichts. Sie fährt zu seinen Eltern, sie bekennt ihre Brautschaft, aber auch dort erfährt sie nichts. Sie kommt heim, den Tod im Herzen, und findet auf ihrem Tisch eine Karte von ihm, einen Gruß vom Rhein. Keine Erklärung, nichts. Aber er lebt, die schrecklichen Befürchtungen sind nicht in Erfüllung gegangen, er wird wiederkehren.

Er läßt sich Zeit. Der Sohn trotzt gegen den Vater an. Er streift durch das Land, erwartet, bis der Alte nachgibt. Er wird nicht mürbe. Geht ihm das Geld schon aus, so stellt er sich an den Amboss einer Dorfschmiede, und zwei, drei Tage kann er's weitertreiben.