Es konnte mich nicht zerstören - Hanna Frey - E-Book

Es konnte mich nicht zerstören E-Book

Hanna Frey

4,8

Beschreibung

Das Mädchen Stefanie wird in prekäre Verhältnisse hineingeboren. Der Vater alkoholkrank, die Mutter sucht verzweifelt Halt bei wechselnden Liebhabern. Ein geordnetes Familienleben kennt Stefanie nicht. Sie lehnt sich an eine ältere Schwester, die ihr im Alltag hilft, so gut sie kann. Als die Mutter schwer erkrankt und der Vater tief in der Alkoholsucht steckt, werden die Kinder in Heime und private Pflegefamilien "aufgeteilt". Stefanie kommt gemeinsam mit ihrer älteren Schwester Susanne in ein schönes Kinderheim. Dort lebt sie fast 3 Jahre, bis sie gegen ihren Willen in eine Pflegefamilie vermittelt wird. Anfangs entwickelt sich alles scheinbar sehr gut. Es wird ihr Bildung vermittelt, sie hat Geschwister und findet schnell ihren Platz in der neuen Familie. Doch beginnt bald hier für Stefanie eine Odyssee. Sie versucht sich der Umklammerung einer Familie zu entziehen, die Stefanie adoptieren möchte. Da das Sorgerecht jedoch beim leiblichen Vater liegt, der sich gegen eine Adoption ausspricht, verliert Stefanie den Halt. Nach 9 Jahren wird sie in eine zweite Pflegefamilie vermittelt. Hier jedoch ist sie eine lukrative Einnahmequelle. Wieder fühlt sie sich entwurzelt. Verfolgen Sie den schwierigen Weg des Mädchens Stefanie und erleben Sie, wie sie sich mit Kraft, Mut und Konsequenz aus Verhältnissen befreit, die für sie kein Familienersatz sein konnten.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Mein Zuhause

Die Auffangstation

Vom Auswildern

Niemals zurück

Die Freiheit

Was noch gesagt werden muss

Widmung

Anlaufstellen für Kinder, Jugendliche und Eltern

Nummer gegen Kummer

Anlaufstelle

Kommentare

Buchgestaltung

Vorwort

«Es konnte mich nicht zerstören» erzählt vom leidvollen Weg des Pflegekindes Stefanie. Das Buch wirft Fragen auf, mit denen wir uns im Alltag selten oder gar nicht beschäftigen. Wem die Themen «Pflege» und «Adoption» nicht begegnen, der nimmt sie selten aktiv wahr. Taucht ein Skandal über Pflege- oder Adoptiveltern in den Medien auf, sind die Menschen entsetzt, erheben den Zeigefinger, suchen und finden Schuldige, aber danach ist das Thema wieder vergessen.

Das Buch lässt die Geschichte des Mädchens Stefanie lebendig werden. Es berichtet von seiner schweren Kindheit. Sehen Sie für einen Moment mit den Augen von Stefanie, fühlen Sie mit ihr, nehmen Sie an ihrem Leben teil. Vielleicht gelingt es Ihnen so, mitzuempfinden, denn darum geht es. Nicht der fachlich-soziologische oder psychologische Blick steht in dem Buch im Fokus, sondern der lebendige, mitfühlende. Sehen Sie gleichzeitig auf das gesellschaftliche Konzept zu Pflege und Adoption. Stefanie steht für die Kinder, über deren Lebensumstände ohne Empathie und wenig verantwortungsvoll entschieden wurde und immer noch wird. Es gibt Eltern, die sich ihrem Kind nicht zuwenden oder nicht zuwenden können. Jugendämter, Sozialdienste, Vormundschaften und Gerichte sind nicht selten überfordert von all dem Leid, mit dem sie konfrontiert werden, und nicht jede Entscheidung ist gut für das Kind. «Zum Wohl des Kindes» heißt eben auch oft «im Sinne des Staates und einer kostengünstigen milieunahen Unterbringung.» Einmal getroffene Entscheidungen sind, wie im Fall von Stefanie, nur mit hohem Aufwand und im Überwinden vieler bürokratischer Hürden zu ändern.

Dieses Buch sucht nicht die Schuld für Stefanies Lebensweg bei einem Einzelnen. Es beschreibt das traurige Zusammenspiel falscher Entscheidungen. Ob nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt wurde, müssen sich Verantwortliche am Ende selbst fragen. Lassen Sie sich ein auf ein Thema, das nichts an Aktualität verloren hat.

Die elfjährige Chantal aus Hamburg und die vierjährige Talea aus Wuppertal starben in ihren Pflegefamilien. Chantal an einer Überdosis Methadon, weil ihre Pflegeeltern lange Zeit in einem Methadonprogramm waren, Talea wurde in der Badewanne ertränkt. Dass Stefanie lebt, ist ein großes Glück. Wenn sich Kinder in solchen Verhältnissen behaupten müssen, sind sie aufgrund ihres Alters meist nicht in der Lage, ihre Gefühle verbal zu äußern oder werden nicht ernst genommen, leiden häufig ihr Leben lang unter Bindungsängsten, können kein Vertrauen zu anderen Menschen aufbauen. Nicht selten ist ihr Weg vorprogrammiert, bis hin zu der Tatsache, dass sie es oft sind, denen später die Kinder weggenommen werden müssen.

Das Beispiel Stefanie soll deutlich machen, dass Kinder in solch schwierigen Situationen nicht allein gelassen werden dürfen. Pflegefamilien und Verantwortlichen in Jugendämtern soll das Buch Anstoß zum Überdenken von Entscheidungen sein.

Pflegekindern, die sich hier wiederfinden, möchte ich sagen, dass sie nicht allein sind mit ihrem Schicksal und der Zwiespältigkeit in ihrem Leben, dass sie sich wehren und niemals aufgeben sollen, dass sie Hilfe annehmen dürfen, ja müssen.

Hanna Frey

Mein Zuhause

Eine Auffangstation für Elefantenbabys irgendwo in Afrika. Hier werden Jungtiere betreut, deren Mütter ermordet wurden und deren Babys zu verhungern drohen. Gerade wird ein Elefantenbaby eingeliefert: Die Mutter, ihrer Stoßzähne beraubt, liegt im Staub. Das Jungtier wandert wieder und wieder um seine Mutter herum, stupst sie an und will sie so zum Aufstehen bewegen. Vergeblich. Die Tierpfleger der Auffangstation fangen das geschwächte Baby ein. Es wird zunächst isoliert, damit es sich beruhigt. Mehrere Monate vergehen. Ein Pfleger ist Tag und Nacht für das Jungtier da, hegt und pflegt es mit Hingabe. In der Auffangstation ist das Standard. Haben sich die Jungtiere angepasst, werden sie der Gruppe Elefanten zugeführt, die bereits längere Zeit in der Station lebt. Sind sie groß genug, werden sie ausgewildert. Es ist ein langer Weg für alle Beteiligten. Er erfordert Geduld, Einfühlungsvermögen und Geld.

Stefanie ist das jüngste von sechs Kindern der Eheleute Schäfer. Sie hat drei Brüder – Stefan, Uwe und Peter – sowie zwei Schwestern- Susanne und Ulrike. Es ist Abend und Stefanie wartet auf den Schlaf, aber der Schlaf will nicht kommen. Sie ist 4 Jahre alt und liegt um Bett ihrer Eltern, denn ein eigenes Bett besitzt sie nicht.

«Maaamaaaa!», ruft sie. «Paaapaaa!»

Nichts geschieht. Hinter der Gardine blitzt durch die Fensterscheibe schwaches Mondlicht. Stefanie sieht sich um. Gegenüber dem Bett steht der massive elfenbeinfarbene Kleiderschrank, rechts neben dem Bett, gleich unter dem Fenster, der Nachttisch ihrer Mutter. Von dort blinzelt eine Fratze; es ist die Titelseite eines Groschenromans ihrer Mutter. Einige Seiten bewegen sich auf und ab, rascheln ein wenig. Das Fenster schließt nicht völlig. Stefanie zieht die Decke bis über ihre Nase. Nun kann das Monster auf dem Deckblatt sie bestimmt nicht mehr sehen.

«Susanne», flüstert sie unter der Bettdecke. Die große Schwester ist fast immer für Stefanie da, aber Susanne hört ihr Flüstern nicht. Oft ruft Stefanie vergeblich, wenn sie nicht schlafen kann. Sie schiebt die Decke vorsichtig von ihren Augen und sieht sich um. Als nichts geschieht, vergisst sie die Fratze und ihre Angst und turnt im Zimmer herum. Zuerst springt sie in den aufgetürmten Wäscheberg hinter der Tür. Er riecht muffig, aber das stört sie nicht. Sie kennt den Geruch.

Jetzt tut sich etwas vor der Schlafzimmertür: Schrilles Zetern ihrer Mutter, ihr Vater lallt unverständlich. Sicherheitshalber kriecht sie zurück ins Bett, zieht die Decke wieder über die Nase, lauscht.

BAMM. Mit Wucht springt die Tür auf. Mutter schleppt Vater, der seltsam schwankt, zum Bett. Mutter ist eine hochgewachsene, grazile Frau mit welligen braunschwarzen Haaren, die ihr – jetzt offen – bis zur Hüfte reichen. Am Tag hat sie das Haar meist toupiert und zu einer Frisur gesteckt. Das ist in den Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts modern. Ihre Haut ist stets leicht gebräunt. Vater dagegen ist von kräftiger Gestalt, hat prankenartige Hände und einen rötlichen Teint voller Sommersprossen. Immer hat er einen feinzinkigen Kamm in seiner Hosentasche. Mit dem fährt er häufig durch die dunkelbraunen Haare und kämmt sie aus der Stirn. Erst mit den Fingern der einen Hand durch den Schopf, die andere schiebt den Kamm hinterher. Stefanie mag das.

Die Mutter legt sich ins Bett, der Vater lässt sich neben sie fallen. Dass Stefanie noch wach ist, stört beide nicht. Stefanie will protestieren, weil die Mutter nicht die Decke mit ihr teilt, so dass sie an ihren Rücken gekuschelt einschlafen kann.

«Sei still und schlaf’ endlich!», raunzt Vater sie an, «Sonst gehst du zu Susanne!»

Jetzt muss sie mit dem Jammern aufhören, weiß sie, sonst wird Vater wütend.

Dann hatte sie Angst vor ihm. Vater bewegt sich hin und her. Er stöhnt, betastet die Mutter, die dreht sich immer wieder weg, schimpft auf ihn ein. Sein Stöhnen wird lauter. Schließlich lässt sie ihn gewähren. Nach einer gefühlten Ewigkeit ist es ruhig. Stefanie blinzelt und zieht vorsichtig ein Stück Decke über sich. Die Eltern schlafen. Nun findet auch sie Ruhe.

Ab und an schien das «Liebesspiel» des Vaters Stefanies Mutter zu gefallen, meist aber schimpfte sie und bettelte, er möge damit aufhören. Aber mit seiner körperlichen Kraft brach er regelmäßig ihren Willen, beleidigte sie und schlug auch schon mal zu. Der Alkohol weckte in ihm Aggressionen, aber Mutter wusste, wie sie sich verhalten musste, um seinem Treiben ein Ende zu setzen. War Vater zu betrunken und nahezu handlungsunfähig, konnte Stefanie unter die Decke zu ihrer Mutter kriechen und sich etwas Wärme holen, oft aber wollte das die Mutter nicht und stieß sie weg.

Vaters Alkoholkonsum beschränkte sich nicht auf das Bier am Abend. Er trank bereits nach dem Aufstehen und war mittags oft schon volltrunken. Mutter rückte sich ihr Leben mit Hilfe von Medikamenten zurecht. Zweimal schon war sie bewusstlos neben der Toilette zusammengesunken. Blau im Gesicht von den Tabletten, steckte ihr Peter dann den Finger in den Hals, um Erbrechen hervorzurufen.

Die Ehe ihrer Eltern war längst zerrüttet, als Stefanie zur Welt kam. Sie hatte keine Chance auf eine liebevolle Zeit. Jedes Kind liebt seine Eltern erst einmal bedingungslos. Ob es wirkliche Liebe sein kann, oder nur Gewohnheit gegenüber den Menschen ist, die von Anfang an da sind – diese Frage stellt sich nicht. Tatsache bleibt, dass es für Stefanie und ihre fünf Geschwister keinen schützenden Raum in einer intakten Familie gab.

Wer erinnert sich nicht an seine Kindheit, tagträumend ins Spiel versunken, Momente voller Abenteuer, das Weihnachtsfest mit dem lang ersehnten Spielzeug, Geburtstage mit Freuden, Kinderpartys und viel Unsinn? Osterspaziergänge, bei denen Opa die Schokoladeneier immer wieder von neuem versteckt? Die Geschichten vor dem Einschlafen? Die Besuche im Zoo? Der Kaffeeklatsch bei Tanten, Onkel und Großeltern? All das gab es in Stefanies früher Kindheit nicht. Sie erinnert stattdessen so etwas:

«Steh auf, Uwe, du musst mir mal eben Bier holen!»

Stefanie hört ihren Vater im Flur poltern. Sie liegt bei ihrem ältesten Bruder Peter im Bett. Der wacht auf, setzt sich auf die Bettkante, reibt Schlaf aus den Augen und verlässt hastig den Raum.

«Was ist schon wieder los? Es ist spät und Stefanie schläft. Gib Ruhe und leg dich hin, verdammt noch mal!»

Doch Stefanies Vater beachtet Peter nicht und ermahnt Uwe, nun endlich das Bier zu besorgen. Der Dreizehnjährige, lang gewachsen für sein Alter und hager, schlüpft in seine Sachen und verlässt mit einer Plastiktüte leerer Bierflaschen die Wohnung. Längst hat er gelernt, sich besser nicht zu wehren. Er geht in die siebte Klasse einer Sonderschule. Das Lernen fällt ihm äußerst schwer, aber es ist niemand da, der mit ihm übt. Dass er selten in der Schule erscheint, kümmert seine Eltern nicht. Die einzige Aufmerksamkeit, die er bekommt, sind Schläge und Schimpfen. Sogar Mutter prügelt und nennt ihn Dummkopf.

Familie Schäfer lebte in unmittelbarer Nähe einer Müllkippe. Lastwagen polterten täglich über die Straße bis vor eine Schranke. Dort saß immer ein untersetzter Mann in einem Betonhäuschen und bewachte die Schranke. Den Lastwagen gewährte er die Durchfahrt an einem Waldstück entlang zur Müllkippe. Dort hindurch ging Uwe; es war eine Abkürzung zu der kleinen Wirtschaft. Der Weg über die beleuchtete Straße hätte zu lange gedauert. Vater konnte wütend werden, kehrte Uwe nicht zügig mit dem Bier zurück.

Uwe klopft, eine Frau öffnet ihm die Tür. «Iiich sssooll vvvier Flaschen Bbbbier für mmmeinen Vater kaufen», stottert er leise und blickt dabei zu Boden. Er kann nicht anders sprechen, schon gar nicht in einer solchen Situation. Die Frau nimmt schweigend die leeren Flaschen entgegen und poltert ächzend eine Treppe hinauf.

Wüsste Uwe nicht, dass es keine Hexen gibt, hätte er dieses Weib für eine gehalten. Aschgraue Zotteln, immer auf die gleiche Weise zu einem Knoten gebunden, fahles Gesicht, faltig wie ihre knöchernen Hände; am schlimmsten aber erscheinen Uwe ihre zu einem O gebogenen Beine mit zahllosen blauen Äderchen. Uwe macht einen kleinen Schritt in den Hausflur. Es stinkt nach abgestandenem Bier und Tabakqualm. Die Wände sehen im Schein einer Deckenfunzel hellbraun aus, fast wie geteert. Am Tag erahnt man darunter eine Tapete mit Lilienmuster. Von der eigentlichen Wirtschaft im vorderen Teil des Hauses dringt Schlagermusik. Endlich kehrt die Alte zurück und drückt Uwe die Tüte mit Bierflaschen in die Hand. Im Laufen hört er sie hinter ihm her krächzen:

«Nächstes Mal musst du früher kommen, um diese Uhrzeit haben Kinder zu schlafen, und sag deinem Vater, nächste Woche ist Zahltag.»

Die Wirtin ist auf jeden Pfennig angewiesen. Uwes Vater gehört zu ihren besten Kunden, deshalb macht sie die Hintertür bis spät in die Nacht für den Zögling des Trinkers auf. Einmal im Monat muss der Vater die Schulden begleichen. Selbst dafür benutzte er die Kinder.

Uwe läuft, so schnell er kann. Es ist dunkel, er fürchtet sich im Wald. Jedes Knacken im Gehölz lässt ihn zusammenzucken. Daheim hält er dem Vater die Biertüte hin und stottert:

«Nnnächsssttte Wwwoche iiisst Zzzahtttag.» Dann flüchtet er in sein Zimmer.

Mutter und Vater ließen ihn manchmal absichtlich komplizierte Sätze sagen und machten sich dann über ihn lustig. Oft weinte er unter seiner Decke. Leise, damit Stefan es nicht merkte. Der schlug ihn sonst auf den Kopf und nannte ihn Heulsuse. Uwe tat Stefanie leid. Zu ihr waren die Geschwister selten böse. Später wusste sie, dass sie «Welpenschutz» genoss.

Als Peter nicht zu ihr zurück ins Bett gekrochen kommt, ruft sie nach ihm, heult, alles vergeblich, steht auf, rennt durch den düsteren endlosen Flur in das Wohnzimmer. Vor ihr im Sessel sitzt der schnarchende Vater. Peter glotzt in die Röhre.

«Papa, ich kann nicht schlafen», jammert er, aber der Vater rührt sich nicht.

«Susanne, komm her und hol Stefanie weg!», ruft Peter.

Neben Susanne schläft Stefanie am liebsten. Selbst erst zwölf Jahre, kümmert sich die größere Schwester mit einer Art mütterlicher Fürsorge um sie, versucht, sie zu beschützen und ihr einen Hauch Geborgenheit zu geben.

Einen Tagesrhythmus kannte Stefanie nicht, feste Essenszeiten waren ihr fremd. Oft saß sie stundenlang mit Vater vor dem Fernseher. Manchmal gingen Stefan, Uwe oder Susanne mit ihr nach draußen. Vater verbrachte die Tage und Abende weitgehend im Rausch. Das Leben zog an ihm vorbei. Wenn er spätabends genug hatte, erbrach er in den Eimer, der stets in seiner Nähe stand, angelte dann nach seinem herausgefallenen Gebiss und steckte es, wie es war, zurück in den kahlen Kieferkamm. Dann schlief er auf dem Sofa ein. Bier und Schnaps genügten für seinen Kalorienbedarf. Er war erst neununddreißig, aber sein Körper war verbraucht. Seine Frau schlief nach durchgefeierten Nächten entweder oder trieb sich mit Liebhabern herum. Es kam ihr gelegen, wenn er trank. So konnte sie ungehindert die Wohnung verlassen. Nie wussten die Kinder, wann sie zurückkehren würde.

Da gab es zum Beispiel einen türkischen Liebhaber. Der wartete gegen Abend an der gegenüberliegenden Straßenecke. Von dort konnte er das Schlafzimmerfenster beobachten. Die Mutter beauftragte Stefanie und Susanne dann, das Licht an- und auszuschalten, an, aus, an, aus. Das war das Signal, dass sie gleich kommen würde. Stefanies Geschwister flehten die Mutter an, doch bitte nicht zu gehen. Sie wussten: Wird der Vater wach und seine Frau ist nicht da, machte er die Kinder dafür verantwortlich.

In seinen Augen hatten sie versagt. Oft verlangte er von den Kindern sogar, auf die Mutter aufzupassen. Gelang ihnen das nicht, brüllte er und schlug hart zu. Mutter wusste das, aber es schien sie nicht zu interessieren. Auch sie war stets auf seine Schläge gefasst. Sie wusste aber auch, bot sie ihm ihren Körper an, fiel sein Ärger mäßiger aus.

An diesem Sonntagmorgen steht Stefanie spät auf, müde vom nächtlichen Theater. Ihre Schwester beseitigt im Wohnzimmer die Spuren des Abends.

Bierflaschen, überfüllte Aschenbecher, der Eimer mit dem Erbrochenen. Das ist Susannes Pflicht im Haushalt. Stefanie hat Hunger, aber Susanne ist von ihrer Tätigkeit so übel, dass sie nichts essen kann. Für Stefanie macht sie eine Scheibe Brot mit Zigeunersauce aus dem Glas zurecht. Mehr gibt der Küchenschrank nicht her. Vater stampft indes durch die Wohnung und sucht seine Frau.

«Wo ist die alte Schlampe schon wieder? Dreckiges Miststück. Wann ist sie abgehauen?»

Susanne weicht einer Ohrfeige aus. Er ist noch betrunken, seine Hand unsicher. Zittrig zündet er eine Zigarette an und öffnet die Flaschen vom Vorabend. Alle Reste entleert er in seinen Schlund. Nach einer Weile wirkt der Alkohol, er beruhigt sich und sinkt zurück auf das Sofa.

«Wo ist Mama?», fragt Stefanie immer wieder.

«Pssst… sei still. Sie kommt bestimmt gleich wieder.» Jetzt, da Vater sich entspannt, will Susanne keinen weiteren Ärger. Der aber wacht auf.

«Zieh das Kind an, deine Mutter ist ja wieder mal nicht da!»

Im Bad wählt Susanne aus der Schmutzwäsche neben der Waschmaschine etwas Passendes für Stefanie aus. Es muss dem Zweck dienen. Saubere Wäsche findet sie nicht.

Mutter kümmerte sich nie um so etwas. Die dreckigen Sachen rotteten mittlerweile in jedem Zimmer der Wohnung vor sich hin. Sie war keine Hausfrau. Allerdings schaffte sie es, selbst immer wie aus dem Ei gepellt auszusehen. Sie brauchte Abwechslung, sie brauchte die Affären. Selbst der feste Liebhaber konnte daran nichts ändern. Immer wieder teilte sie mit Kneipenbekanntschaften das Bett. Es gab ihr wohl für kurze Zeit einen Selbstwert.

Stefanie ist nicht gern allein im Badezimmer. Hinter der Waschmaschine gibt es ein großes Loch. Zwei Fliesen fehlen, der nackte Putz ist feucht und bröckelt. Es schimmelt. Spinnen und Silberfische haben das Loch in Besitz genommen. Stefanie hat Angst vor den Insekten. In ihrer Fantasie kriechen sie über die Hand, den Hals hinauf, um sich dort festzubeißen. Auch Susanne sucht sich aus dem Berg etwas zum Anziehen. Saubere und neue Kleidung organisieren sie sich aus geklauten Säcken der Altkleidersammlung. Dann verlassen die Mädchen das Haus. An Wochenenden wie diesen kümmert sich Susanne um Stefanie. Sich allein mit ihren Freundinnen treffen, ist selten möglich. Sie muss auf die kleine Schwester aufpassen, so verlangen es die Eltern. Hinter der Wohnung ist ein Hof, der zu mehreren Häusern gehört. Hier gibt es einen kleinen Sandkasten und eine Schaukel. Hinter dem Hof befindet sich eine Baufirma. Das Gelände ist nur durch einen verwitterten Zaun abgetrennt. Manchmal schleicht sich Stefanie davon und schlüpft durch den Zaun .In den alten Autos auf dem Baugelände spielt sie gern. Sie setzt sich auf die kaputten Sitze und dreht an den Lenkrädern, über die sie kaum hinausblicken kann. Nachbarskinder kommen dazu. Bis jemand es bemerkt und sie wegscheucht, hat Susanne ein paar freie Minuten mit ihrer Freundin. Sie sitzen schnatternd auf einem Holzstapel.

Stefanies Lieblingsspielplatz jedoch ist die Müllkippe. Wenn Uwe und Stefan sie dorthin mitnehmen, sucht auch sie begeistert in den Müllbergen nach Brauchbarem. Einmal findet sie eine Puppe mit nur einem Arm. Für Stefanie ist sie dennoch schön. Sie hat sonst kein Spielzeug. Wochentags beobachtet sie gespannt, wie die riesigen Lastwagen rückwärts an die Rampe fahren, um den Müll zu entladen. Ab und zu sind neue Spielsachen dabei. Der Gestank des Unrates stört sie nicht. Er ist Alltag. Der Tag ist gerettet, wenn sie und ihre Brüder etwas finden, das sie mit nach Hause nehmen können. Traurige Tage sind es, wenn sie von den Müllwagenfahrern erwischt werden und sich vom Acker machen müssen. Es ist streng verboten, sich dort aufzuhalten.

Den jüngsten Bruder Stefan sah Stefanie selten, selbst in der Wohnung begegneten sie sich kaum. Weil er nachts ins Bett pinkelte, hatte er tagsüber Arrest. Wenn es passierte, und das war fast immer, holte Mutter laut fluchend einen schwarzen Ledergürtel aus der untersten Schublade der Wohnwand, den sie eigens dafür dort aufbewahrte. Stefan musste zu ihr ins Wohnzimmer kommen, den nackten Po hinhalten und sich auspeitschen lassen.

«Du altes Dreckschwein! Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst auf Toilette gehen, statt ins Bett zu pissen!»

Stefan flehte die Mutter an, ihn bitte, bitte nicht zu schlagen. Aber sie hörte erst auf, wenn Susanne, Peter oder Ulrike sie zurückhielten. In ihrer rasenden Wut war sie grenzenlos. Hatte sie ihn so sehr verprügelt, dass er vor Schmerzen kaum sitzen konnte, ging er nicht zur Schule. Sie schrieb dann eine Entschuldigung. So lernte er nie Schreiben und Lesen.

Nach einer Prügelattacke schickte sie ihn in sein Zimmer. Dort musste er bleiben. Tagelang. Im Zimmer standen ein Hochbett, ein Tisch und ein alter Schrank, dessen Türen schief in den Angeln hingen. Stefans Matratze war immer feucht. Stand die Tür mal offen, entwich ein süßlich-beißender Uringeruch. Zwar mussten Uwe und Stefan das Fenster selbst im Winter weit offen lassen, aber das änderte nichts. Der Gestank waberte durch den zugigen Raum und die ganze Wohnung. Niemand erneuerte jemals die Matratze. Nicht einmal die Bettwäsche wurde gewechselt.

Stefanie verbrachte ihren Tag bis zum Abend meist draußen. Hin und wieder wurde sie von Frau Yang, der Mutter von Stefanies Freundin, eingeladen. Sie besaßen gegenüber ein eigenes Haus. Frau Yang stammte aus Korea. Ihr Deutsch war nicht perfekt. Wenn Frau Yang gekocht hatte, durfte Stefanie oft zu ihr kommen, um mit der Freundin gemeinsam Mittag zu essen. Ob sie ahnte, wie es bei Stefanie zu Hause zuging? Sie sprachen nie darüber, aber wenn Stefanie das Essen in sich hinein schlang und keinen Bissen auf dem Teller ließ, konnte Frau Yang bestimmt ihre Schlüsse ziehen. Die Familie war sehr nett. Stefanie durfte bei ihnen spielen.

Andere Kinder aus der Nachbarschaft durfte Stefanie nie besuchen. Viele Mädchen flüsterten hinter ihrem Rücken, verspotteten sie, weil sie schlecht roch, grenzten sie aus. Stefanies Welt war Armut, Gewalt und asoziale Verhältnisse. Mutter kam immer seltener nach Hause, Vater war in diversen Kliniken für wiederholte Entzugsversuche. Wann immer er weg war, brachte Mutter ihre Liebhaber mit nach Hause.

An einem solchen Abend hat Mutter Besuch. Vater ist seit Wochen in einer Kur- Klinik. Die Wohnzimmertür, in der Mitte verglast, ist mit einer Decke abgehängt. Man kann nicht hineinsehen. Musik und Gelächter dringen in den Flur. Stefan nutzt die Gelegenheit, sein Zimmer heimlich zu verlassen. Er will einen Blick ins Wohnzimmer erhaschen und entdeckt in der Mitte der Decke ein kleines Loch.

«Lass mich auch mal gucken!», bettelt Stefanie.

«Psst, sei still, sonst hören die uns.»

Er hebt seine Schwester hoch, so dass sie ebenfalls durch das Loch blinzeln kann. Mehrere Männer sitzen am Tisch, doch kein Gesicht kommt Stefanie bekannt vor. Das heimliche Spiel wird ihr langweilig. Sie rutscht aus Stefans Arm, öffnet die Tür und verpetzt Stefan. Willkommene Gelegenheit, einen vollständigen Blick in den Raum zu werfen. Stefan rennt blitzschnell in sein Zimmer. Vielleicht hat Mutter ihn nicht gesehen? Die holt Stefanie ins Wohnzimmer und nimmt sie auf den Schoß. Auf dem Sofa ein Mann, der ihr Haar berührt und unverständliches Kauderwelsch von sich gibt. Auf dem Tisch sammeln sich unzählige Flaschen neben überfüllten Aschenbechern. Das Zimmer ist vernebelt vom Dunst. Mutter lacht, während ihr einer der Männer unter ihre Bluse und dann zwischen die Beine greift. Stefanie bekommt Angst und bleibt eng an die Mutter geschmiegt auf dem Schoß, vergräbt den Kopf an ihrer Schulter.

Irgendwann fordert die Mutter Stefanie auf, an ihrem Finger zu riechen, den sie sich zuvor unter den Rock geschoben hat. Stefanie verzieht das Gesicht, denn der Geruch ist nicht angenehm. Die Männer lachen laut. Auch Mutter ist belustigt, als Stefanie die Nase rümpft und die Hand mit dem Geruch zur Seite schiebt.

«Lass das, ich will das nicht, das stinkt.» Mutter nimmt keine Notiz davon. Immer wieder steckt sie sich einen Finger in die Scheide und hält ihn Stefanie unter die Nase. Immer wieder grölen die Männer. Das Spiel scheint nicht enden zu wollen.

Plötzlich fliegt die Tür auf. Ulrike, die älteste Schwester, kommt herein, packt die Vierjährige und zieht sie hinaus.

«Bist du bescheuert Mama?» Dann bringt sie Stefanie zu Susanne ins Bett.

Ulrike ist längst bekannt, was ihre Mutter im Wohnzimmer treibt. Das allein hätte sie nicht aus der Ruhe gebracht. Dass sie Stefanie benutzt, jedoch sehr wohl. Susanne nimmt Stefanie in den Arm und beruhigt sie. Im Wohnzimmer wird bis tief in die Nacht gefeiert, gelacht, getrunken. Als Stefanie am nächsten Morgen neugierig ins Wohnzimmer geht, liegt ihre Mutter nackt mit einem fremden Mann unter einer Decke auf dem Sofa und schläft ihren Rausch aus.

Tage, Wochen und Monate – immer der gleiche Trott in einer unerträglichen Welt.

Stefanie nahm wahr, was um sie herum passierte, aber konnte es nicht einordnen. Gewalt, Gebrüll, Dreck, Verwahrlosung und sexuelle Handlungen, auch unter den Geschwistern. Sie sahen es ja bei den Eltern. Die psychische Belastung, der ihre Geschwister ausgesetzt waren, wurde ihr erst viele Jahre später klar. Sie erinnerte sich an den bettnässenden Stefan, auf dessen Haut Ekzeme blühten, an den stotternden Uwe, dessen Sprachfehler ihn irgendwann nahezu verstummen ließ, an die fürsorgliche Susanne, die für ihr Alter viel zu dünn war und an Ulrike, die sich selbst in den Alkohol flüchtete. Peter ging irgendwann weg, lebte auf der Straße, fernab vom heimischen Wahnsinn. Was die Eltern ihren Kindern vorlebten, spiegelten diese, auch ohne es zu wollen, nur zu deutlich wider.

Stefanie, inzwischen sechs Jahre alt, besaß nach wie vor kein eigenes Bett. Zwar wurde die Familie jetzt vom Jugendamt betreut, aber das änderte zunächst nichts.

Eine Frau hielt den Lärm und den Gestank nicht mehr aus, der aus der Wohnung drang. Auch taten ihr die Kinder leid. Jeder wusste, wie diese nach Einbruch der Dunkelheit zum Bierholen geschickt wurden oder vor Schmerzen während einer Bestrafung schrien. Doch einzig diese Frau hat das Jugendamt informiert.

Die Eltern wussten geschickt ihre Probleme zu verharmlosen. Die Angestellten des Jugendamtes sahen deshalb anfangs kaum Handlungsbedarf. Sie leisteten halbherzig Erziehungsbeihilfe. Eine Sozialarbeiterin schaute hin und wieder nach dem Rechten, aber solange keine Gefahr für Leib und Leben der Kinder ersichtlich war, unternahm man nichts. Stefanie litt oft Hunger. Manchmal, wenn kein Geld da war, wurde sie zu einer Nachbarin geschickt, um ein halbes Brot zu leihen. Doch nicht selten schlief sie mit knurrendem Magen ein. Als Vater wieder Arbeit hatte, holte Mutter die Lohntüte bei dessen Arbeitgeber ab. Danach blieb sie oft für Wochen verschwunden. Bis zu dem Tag, an dem Vater seinen Job verlor. Er fiel betrunken von einem Gerüst. So wurde er nicht nur die Arbeit los, auch der grüne VW-Bus der Firma, mit dem die Familie manchmal einen Ausflug machte, stand nicht mehr zur Verfügung. Nun gab es keine Wochenenden mehr für die Kinder, an denen man gemeinsam wegfuhr. Setzte Mutter jetzt, nachdem sie Wochen wegblieb, einen Fuß in die Wohnung, schlug er sie, bis ihre Haut in allen Farben schimmerte. Danach nannte er sie trotzdem wieder Liebchen. Er war sich seiner Abhängigkeit von ihr bewusst, glaubte ihr, wenn sie ihm versprach, nie wieder wegzugehen. Sie wiederum wusste, dass er sich auf diese Versprechen jedes Mal aufs Neue einließ. Er war nicht in der Lage, sein Leben selbst zu regeln. Schon gar nicht das seiner Kinder. Es mangelte ihm an Selbstbewusstsein. Nur in Verbindung mit Alkohol fühlte er sich stark. Das Jugendamt erfuhr von alldem nichts oder wollte es davon nichts wissen?

Kurz nach seinen Entziehungskuren war er öfter mal nüchtern. Dann war er ein ruhiger, furchtbar hilfloser Mensch, der keiner Fliege etwas zuleide tat. Manchmal riefen Anwohner inzwischen die Polizei, wenn Geschrei aus der Wohnung drang. Doch auch die nahm keinen Einfluss, solange das Ehepaar eine heile Welt zu mimen wusste. Streit, so dachten offenbar auch «blinde» Beobachter, gab es in den besten Familien. Es müssen «triftige Gründe» vorliegen, bevor man Kinder von ihren Eltern trennt. Das war damals so und ist heute so. Solche Gründe waren angeblich «nicht zu erkennen». Meldete sich die Dame vom Jugendamt an, wurde geputzt, die dreckige Wäsche zuerst in Säcke, dann in Schränke gestopft. Nachbarn schüttelten die Köpfe, aber sie wurden von den Behörden nicht ernst genommen.

Eines Tages gaben sie auf und riefen niemanden mehr.

Die folgende Zeit verlief anders als erwartet. Stefanie wunderte sich, dass ihre Mutter nun regelmäßiger zu Hause war. Sie lag meist im Bett. Vater kümmerte sich um sie, beinahe liebevoll. Bei einer erneuten Schwangerschaft hatten die Ärzte festgestellt, dass sie an Krebs erkrankt war. Bei der Operation schnitt man ihr nicht nur das Tumorgewebe aus dem Leib, sondern auch das siebte Kind. Von wem sie schwanger war? Wer weiß das schon. Auch Susanne und vielleicht weitere Geschwister hatten nicht den gleichen Erzeuger. Vater behandelte dennoch jedes Kind gleich – gleich schlecht. Was es für Susanne bedeutete, wenn die Eltern «scherzhaft» wegen ihrer Hautfarbe spotteten, sie käme «aus der Kohlenkiste», das erfuhr Stefanie von Susanne erst viele Jahre später. Wie Vater sich jetzt um Mutters Wohl sorgte, schien es, als liebte er sie tatsächlich. War er betrunken, nannte er sie Hure, Dreckschwein und Schlampe, und sie solle ruhig verrecken.

Ulrike, die Älteste, wurde ebenso beschimpft. Mutter hatte Ulrike oft auf ihre Touren mitgenommen. Die Geschwister fanden das ungerecht. Ulrike schien eine privilegierte Stellung zu genießen. Sie ahnten nicht, dass ihr frischer, noch kindlicher Körper seit ihrem zwölften Lebensjahr an Tankstellen andern Männern angeboten wurde. Verrat mussten die Freier nicht fürchten. Mutter übernahm die Zuhälterrolle: Günstiger Preis, gute Gelegenheit.

Mit Fünfzehn unternahm Ulrike ihren ersten Selbstmordversuch. Mit Mutters Tabletten hoffte sie auf einen «friedlichen Übergang». Etwas Besonderes war das für die Familie nicht. Der Notarzt wurde gerufen und man pumpte ihr den Magen aus. Nach nur einem Tag wurde sie aus dem Krankenhaus entlassen. Mutter erzählte den Ärzten, das Kind sei zum ersten Mal unglücklich verliebt, leide unter gebrochenem Herzen. Die Ärzte glaubten ihr. Kaum zu Hause, verprügelte Mutter Ulrike. Auch Vater, außer sich vor Zorn, packte Ulrike und warf sie durch die geschlossene Balkontür. Glassplitter flogen umher. Ulrike quoll Blut aus tiefen Schnittwunden an Armen und Beinen. Aber das war nicht lebensbedrohlich. Die Wunden wurden notdürftig versorgt, dann kümmerte sich niemand mehr um sie. Sie sollte nur eins: Gehorchen. Auch Mutters türkischer Liebhaber war mit Ulrike vertraut und übernahm gern «Verantwortung» für ihre Erziehung. Hierfür ließ er ebenfalls die Fäuste sprechen. Warum sich die Mutter einen solchen Liebhaber nahm? Es muss wohl eine Form von Sucht gewesen sein. Der gewalttätige Umgang war etwas wie Aufmerksamkeit. Von ihrem Mann bekam sie die nur, wenn er betrunken war. Es reichte ihr nicht, wenn sie von ihm beschimpft und benutzt wurde. War es ihr zu wenig, vom eigenen Mann gefickt zu werden? Sie fickte sich durch die Betten vieler Männer, um ihre Sucht nach Aufmerksamkeit zu befriedigen. Aber nun war alles anders: Ihr Körper war krank, und ihre Chancen, den Krebs zu besiegen, standen laut Prognose der Ärzte schlecht.

Es ist Abend. Stefanie spielt unter dem Wohnzimmertisch, über den sie gerne eine Decke wirft, die bis zum Boden reicht. Eine Höhle, in der sie sich sicher fühlt. Hier bleibt sie stundenlang mit ihren Habseligkeiten aus dem Müll. Dennoch verliert sie nicht den Blick für drohendes Unheil «draußen». Wird es brenzlig, gibt es Streit, rollt sie sich mucksmäuschenstill zusammen. Die Decke macht sie unsichtbar. Vater liegt auf dem Sofa. Er saugt eine Zigarette nach der anderen durch seine Lungenflügel, bis von den Möbeln nur noch Umrisse zu erkennen sind. Ulrike hockt auch auf dem Sofa. Stefanie ist unter dem Tisch vor dem giftiggelben Nebel ein wenig geschützt. Plötzlich bricht Vater in Tränen aus und weint bitterlich. Er hebt die Decke an und erzählt Stefanie in seinem plattdeutschen Slang:

«Deine Mutter ist sehr krank und bald ist sie tot.»

Stefanie krabbelt aus ihrer Höhle und schaut den Vater verwundert an. Niemals hat sie ihn weinen sehen. Sie weiß nicht genau, was er ihr sagen will.

«Wie kannst du das nur so sagen, Papa? Sie ist doch viel zu klein, um das zu verstehen!», ruft da Ulrike. Dann rollen ihr ebenfalls Tränen die Wangen hinab.

Stefanie zieht sich ohne ein Wort zurück in ihre Höhle. Sie grübelt über das Wort tot.

Genau weiß sie nicht, was es bedeutet, aber es muss etwas sehr Schlimmes sein. Warum sonst weint Vater? Ulrike bringt Stefanie in ein Zimmer und legt sie in ein leeres Bett. Susanne, Peter, Stefan und Uwe versammeln sich im Wohnzimmer. Sie wissen, was Vater meint und sind schockiert. Nur Uwe scheint sich insgeheim zu freuen, endlich den Schlägen der Mutter entkommen zu können.

Stefanie weint leise im Bett, da kriecht Peter zu ihr unter die Decke. Er streichelt sie, will sie beruhigen. Seine Hand gleitet über ihren Bauch, an ihren Beinen hinunter. Stefanie wird stumm. Peter atmet jetzt schwer, er fasst ihr zwischen die Schenkel und befriedigt sich. Sie kennt das schon Er zieht sie gern fest zu sich, so dass ihre Hände seinen Penis berühren müssen. Sie hasst es, aber traut sich nicht zu wehren. Angst lähmt sie. Also liegt sie starr und lässt geschehen, was sie nicht ändern kann. Wenn sie versucht, seine fordernden Finger wegzuschieben, droht er ihr und schlägt ihr auf die Finger. Ließe sie ihn nicht gewähren, würde er alles Mutter erzählen. Die würde dann den Gürtel aus der Schublade holen. Stefanie nahm das so hin. Sie war zu klein, um es zu hinterfragen. Sah sie doch auch ihre Geschwister auf diese Weise miteinander umgehen: Nackt lagen sie beieinander, wie sie es bei den Eltern gesehen hatten.

Einmal bemerkte Mutter, dass Peter Stefanie weh tat. Er versuchte, mit seinem Penis in ihre Scheide einzudringen. Stefanie schrie, und die Mutter ermahnte Peter, von ihr abzulassen. Als der ihr entgegen schleuderte, «Du Hure hast mir gar nichts zu sagen! Verpiss dich, du Schlampe!», verließ die Mutter wortlos das Kinderzimmer. Peter ließ von seinem Vorhaben zwar ab, aber sie musste häufiger seinen Penis berühren und zusehen, wie er sich dabei befriedigte. Jetzt ist sie seinen sexuellen Handlungen abermals schutzlos ausgeliefert. Als er mit ihr fertig ist, dreht er sich auf die Seite und schläft ein. Ganz vorsichtig schleicht sich Stefanie unter der Bettdecke hervor und kriecht zu Susanne ins Bett.

«Du schläfst ja noch nicht… hat er dich wieder angefasst?» Susanne nimmt sie in den Arm, bis sie einschläft. Sie hat sich Peter häufig selbst angeboten, damit er Stefanie in Ruhe lässt, aber vergeblich. Wenige Abende später, Stefanie und Susanne haben es sich gemütlich gemacht, nimmt Susanne Stefanies Hand. In ihren Augen funkelt es ungewöhnlich.

«Stefanie, bald werden wir frei sein. Wir kommen ins Heim, in ein Kinderheim.» Susannes Stimme ist leise, aber eindringlich. Stefanie spürt die Aufregung.

«In ein Kinderheim?»

«Ja, da leben ganz viele Kinder, mit denen du spielen kannst. Dort gibt es immer etwas zu Essen. Sie haben viele Spielsachen. Du wirst sehen, es wird großartig.

Stell dir vor, du bekommst ein eigenes Bett, frische Wäsche in einem eigenen Schrank, ist das nicht der Wahnsinn? Zu Weihnachten gibt es Kekse, und wir werden Geschenke bekommen. Zum Geburtstag dürfen wir uns etwas wünschen.»

Susanne hört vor Begeisterung nicht auf.