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1945 – die Stunde null. Der Architekt Paul Wolffenau hat eben noch an der Front gestanden, ist knapp der Kriegsgefangenschaft entronnen und kehrt nun in die Heimat zurück. Doch sein Haus in Berlin ist zerstört und seine Frau liegt tot unter den Trümmern. Wie in einem solchen Moment, wo ein gesamtes Leben, eine gesamte Welt zerstört ist, ein neues Leben beginnen? In einer notdürftig hergerichteten Waldhütte fängt Wolffenau in mehrfacher Hinsicht an, es sich neu einzurichten. Dann lernt er die junge Frau Maria kennen, schenkt ihr das Kleid seiner toten Frau und beginnt, durch ihr Vorbild gestärkt, ins Leben zurückzukehren. Doch auch Marias Mann findet die einsame und plötzlich sehr lebendige Waldhütte ... Ein spannendes, aussagekräftiges Stück Trümmerliteratur und literarisch kunstvoll verarbeitete Zeitgeschichte, das es unbedingt wiederzuentdecken gilt.-
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Seitenzahl: 583
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Walther von Hollander
Roman
Saga
Es wächst schon Gras darüber
© 1947 Walther von Hollander
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711474570
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com
Gras
Türmt eure Toten zuhauf in Austerlitz und Waterloo,
Türmt sie zuhauf in Ypern, Verdun,
Schaufelt ihnen das Grab und laßt mich nur schaffen.
Zwei Jahre, zehn Jahre; und Reisende fragen den Schaffner:
Was geschah hier? —
Wo befinden wir uns? —
Ich bin das Gras, das alles bedeckt.
Laßt mich nur schaffen.
Carl August Sandburg
Langsam begann es zu regnen. Aber es blieb warm. Die Wolken krochen dicht über die Ruinen, die den Bahnhofsplatz säumten, und es wurde sehr dunkel. Die zwei- oder drei- oder viertausend Flüchtlinge, die auf Säcken, Kisten, Koffern oder auf den wenigen rohgezimmerten Bänken des Platzes gehockt hatten, nahmen ihr Gepäck auf und schoben sich stumpf durch die Eingänge in die Bahnhofshalle hinein. Da aber diese Halle nur mit einem Gerippe aus verbogenen Eisenträgern überdacht war, regnete es auch hier hinein, und so sickerte der zähe, lehmgraue Fluß der Flüchtlinge und Vertriebenen tiefer in den Bahnhof, um in den spärlich erleuchteten Gewölben unter den Bahnsteigen Schutz vor der Nässe zu suchen.
Eine halbe Stunde lang schleppten sie, zankten sich um die besseren, zugfreien Plätze, schoben ihre Kisten und Säcke, ihre Koffer und Packen zurecht. Dann saßen sie wieder stumpfsinnig oder ergeben. Die Männer stocherten in ihren Pfeifen, suchten Tabakreste aus den Taschen ihrer verschmutzten Jacken. Ein paar Frauen schwatzten eintönig. Einige kauten trübe an Brotkanten, und nur ein paar Kinder spielten unermüdlich zwischen den graugrünen Hügeln des Gepäcks Verstecken. Ihre kreischenden Stimmen übertönten hell das dunkle Gemurmel der Ermüdeten.
Paul Wolffenau hatte sich einen Platz auf der Treppe zu dem Bahnsteig ausgesucht, auf dem irgendwann einmal, vielleicht in sechs oder acht oder vierundzwanzig Stunden, ein Zug gehen sollte. Freilich hatte das nur ein beliebiger Bahnbeamter gesagt, und auch der wußte nicht, wohin der Zug gehen würde. Immerhin, wenn er nur ging, wenn man nur aus diesem verdammten Nest herauskam, in dem man schon seit sechsunddreißig Stunden festsaß.
Wenn der Zug südwärts ging, so würde er Jochen aufsuchen, vorausgesetzt freilich, daß Jochen noch lebte, daß er schon zurück war. Aber wenn er nicht zurück war, würde vielleicht Lena da sein, seine Frau. Ganz bestimmt würde sie da sein! Sie verteidigte mit Klauen und Zähnen das winzige Haus, den Rosengarten, die Möbel, die Meißner Tassen und die Ahnenbilder. Aber vielleicht ging der Zug auch nach Norden. Ebenso recht. Da konnte er erst mal bei den Larsens unterschlüpfen. Die hatten ihr Landhaus bei Hamburg mit dem Blick über die majestätische, in Trümmer eingefaßte Elbe mit den spärlichen Fischdampfern, die da schon wieder aus- und eingehen mochten. Oder der Zug ging nach Westen. Nein, bitte nicht. Denn dann würde er sich verpflichtet fühlen, seinen Vater aufzusuchen. Paul I., wie er ihn nannte. Dann schon lieber nach Nordwesten zum großväterlichen Schloß nach Holstein, zur Mama, die sich gern noch immer die „schöne Mossigny“ nennen ließ. Er sah sie neben ihrem Vater, dem mürrischen alten Grafen Mossigny, im Biedermeiersalon sehr gerade auf den unbequemen Stühlen sitzen, ein Buch vor sich, dessen Inhalt sie in vornehmer Distanz wohl kaum zur Kenntnis nahm, oder über das Haushaltsbuch gebeugt, das sie mit ihrer kleinen, zierlichen Schrift sorgsam führte und das doch nie stimmte. Er sah sich eintreten. Sie hob den Kopf, lächelte ihm höflich und freundlich zu und sagte mit ihrer klagenden und klangvollen Stimme: „Ah, da bist du ja, Paul. Gedulde dich einen Moment. Ich habe ein kleines Defizit. 106 Mark. Das muß doch herauszukriegen sein.“ Aber es war nicht herauszukriegen. Nein ... er würde also nicht nach Norden und Westen und nicht nach Nordwesten fahren. Und nach Osten auch nicht. Denn da kam er ja gerade her. Wohin also?
Wolffenau setzte sich seufzend auf seinen Rucksack, der prall gefüllt und nachgiebig wie ein Kissen war. Angenehm, einmal weich zu sitzen. Aber es wurde jetzt kühler. Er knöpfte das bunte türkische Seidenhalstuch fester, klappte den Kragen des Regenmantels hoch und schob den Hut in den Nacken. Man konnte jetzt das gelockte, etwas drahtige, schwarze Haar sehn und seine merkwürdig hellen blauen Augen. Noch den Koffer zwei Stufen tiefer zurechtgerückt und als Fußschemel benutzt! So. Nun saß es sich ganz gemütlich.
Noch eine Pfeife? Er begann in seinen Taschen zu kramen. Der Teufel mochte wissen, wo sich wieder der Tabaksbeutel verkrochen hatte. Brieftasche, Taschentuch, Messer, ein kleines goldenes Salzlöffelchen mit dem Wappen der Mossignys, einem Greifen mit gierig gespreizten Krallen (ein Hochzeitsgeschenk der Mama), das Feldbesteck, Löffel und Gabel in einem, blechern und etwas verschmutzt von der letzten Flüchtlingssuppe, die mit Leukoplast bandagierte Pfeife, das runde Feuerzeug, blitzblank und für dreißig Mark soeben auf dem Schwarzen Markt vor dem Bahnhof erworben, eine bunte Kette aus indischen Halbedelsteinen, der Pfeifenstopfer und endlich der Tabaksbeutel, speckig glänzend und verdammt mager. Wolffenau hatte den Tascheninhalt neben sich auf die Stufen geschichtet, reinigte umständlich die Pfeife und stopfte sie langsam und sorgfältig. Ein bärtiger zerlumpter Mann blieb neben ihm stehn und sah ihm mit gierigen Augen zu. Paul blickte auf und hielt ihm den Beutel hin. Der Bärtige bediente sich blitzschnell und gewandt. Dabei begann er seine Leidensgeschichte herunterzuleiern. Von einem Kolonialwarenladen im Osten, dem ersten am Platze, mit blitzenden Scheiben und vollgestopften Auslagen. Spezialität: Schnäpse und Liköre aller Art. Zweihundert Flaschen lagen noch eingemauert und von niemandem zu finden unter den Trümmern. Ein Kapital heute, wenn man nur herankönnte. Von einer Wohnung, ganz modern eingerichtet mit spiegelnden Hölzern und einem riesigen Kristallüster im Speisezimmer, den man beim Brande klirrend hatte herabfallen hören. Von seiner Frau, die noch vor zwei Jahren lustig, schön und elegant war, und jetzt saß sie zerlumpt und alt, immer weinerlich, mit Tränensäcken unter den Augen, da hinten zwischen den anderen aus der Stadt, kaum zu unterscheiden von den Grünkramhändlerinnen, mit denen sie früher kein Wort gesprochen hätte.
Paul hielt ihm das Feuerzeug hin. „Ja“, sagte er abschließend, „so ist das.“ Wie viele Schicksale hatte er in den letzten fünf Tagen aufgeblättert gesehn, vergleichsweise harmlose wie das dieses Kolonialwarenhändlers und schauerliche, die man am besten gleich wieder wie Herbstlaub ins Vergessen hinuntersinken ließ, um damit das eigene Schicksal zuzudecken. „Schauderhaft“, sagte er abwesend und abweisend und steckte nun auch seine Pfeife in Brand. Das neue Feuerzeug funktionierte wirklich tadellos! Der Bärtige blieb noch eine Weile höflich wartend stehn, in der untertänig vertraulichen Haltung, mit der er früher seine prima Liköre und Schnäpse angeboten hatte. Dann kletterte er die Treppe hinab und verschwand im Halbdunkel des Gewölbes.
Wolffenau packte seine Sachen wieder in die Taschen. Die bunte Halbedelsteinkette behielt er einen Augenblick in der Hand. Es war ein Geschenk Cassemberts, des großen belgischen Architekten, seines Lehrers, an Gertie, seine Frau. Vielleicht fuhr er zu Cassembert nach Genf. Er lachte. Ein wahrhaft abwegiger Gedanke! Ein Deutscher, der in die Schweiz fahren wollte! Wie viele Behörden, ja wie viele Regierungen hätte man fragen müssen! Nein — alle Deutschen waren in Deutschland als in einem riesigen Gefängnis gefangengesetzt und warteten, geduldige und hoffnungslose Angeklagte, auf ihr Urteil. Er drehte bei diesen Gedanken die Kette wie einen Rosenkranz. Die gelben, mattroten und rauchblauen, roh geschliffenen Steine glänzten in dem Gefängnislicht, das von einer trüben Lampe über der Treppe ausging. Mechanisch knüpfte er das Schloß und betrachtete gedankenlos die Rundung. Plötzlich fiel ihm ein: So schmal war Gerties Hals. Dies war genau sein Maß. (Wie oft abgemessen!) Auf dem ponte vecchio in Florenz lag, genauso groß, eine Korallenkette in einem schäbigen Schaufenster. Gertie wollte jede Kette haben. Wie viele besaß sie? Fünfzig? Hundert? Alle verloren! „Das Korallenkettlein ist für dich gemacht“, sagte er zu Gertie. Er ging mit ihr in den Laden. Es roch nach Öl, nach Fisch und in Käse gebackenen Tomaten. Er nahm dem geschwätzigen Händler die Kette aus der Hand und legte sie Gertie um den Hals. „Du siehst ... ich kenne dich ganz genau“, sagte er stolz. Und Gertie lächelte ein wenig unsicher. Halb stolz, halb ertappt. „Wieso kennst du mich?“ Sie hatte es gern, geheimnisvoll zu sein, und fast noch lieber, wenn man ihr hinter ihre kleinen Geheimnisse kam.
„Also lüge in Zukunft vorsichtiger“, lachte Paul damals in Florenz. Er hatte es ganz leichthin gesagt. Aber als sie errötete, wurde er einen Augenblick mißtrauisch. Da war dieser windige Brasilianer mit dem Oliventeint. Conte Silverspoon nannten sie ihn oder auch Graf Silberlöffel, weil er immer silbergrau gekleidet war von oben bis unten, Anzug, Krawatte, Hemd, Schuhe. Wie hieß er? Vergessen. Aber vielleicht hatte Gertie doch mehr Spaziergänge mit ihm gemacht, als sie eingestand, vielleicht ... Ach, wie einerlei! Die Korallenkette war längst verbrannt, und diese Kette, die gerettet war ... Er schob sie schnell zusammen und steckte sie in die Tasche. Sein Gesicht zeigte, als er jetzt seine Pfeife von neuem in Brand steckte, einen kühlen, gleichgültigen Ausdruck. Er war auch kühl und gleichgültig. Er hatte es sich ja vorgenommen. Er haßte die Exaltierten, die immer Aufgeregten, die in ihren Gefühlen Wühlenden, die in der Liebe Maßlosen, die dann auch maßlos haßten. „Das ist ja alles nur halb wahr“, pflegte er früher zu sagen. „Die Leute finden es nur sehr großartig, großartige Gefühle zu haben. Was sie in Wirklichkeit empfinden ... du lieber Himmel ... gar nichts ... armselig ... wenig ...“ Und was empfand er nun wirklich nach den schauerlichen Erlebnissen in Berlin? Was hatte er empfunden? Ach — wozu darüber nachdenken! Erstens steht es nicht ganz fest, ob man sich an frühere Empfindungen überhaupt richtig erinnern kann. Denn wenn man es in Worte einfängt, ist es schon einen verfälschenden Umweg gegangen. Und zweitens: es war ja ganz einerlei, was er vor ein paar Tagen, aufgeregt durch die Endgültigkeit, die Bildhaftigkeit des Entsetzlichen empfunden hatte. Es kam vielmehr darauf an, was er jetzt, in dieser Sekunde, noch empfand. Dann konnte man eher ermessen, was daraus werden würde, was aus ihm also werden würde. Ob er es überwinden konnte. Was hieß denn das? Er saß doch hier, ganz behaglich sogar, und rauchte eine Pfeife, die ihm wundervoll schmeckte. Hatte er also nicht schon überwunden? War nicht alles ganz schön grau und leer, wie eine Wand, an die man wieder die bunten Bilder neuer Erlebnisse hängen konnte, die man in der trostlos grauen Gegenwart mit Erinnerungen schmücken durfte? Erinnerungen? Nein ... lieber nicht. Dann Sehnsüchte? Wozu dieser Backfischausdruck! Wünsche? Was wünschte er? Im Augenblick fiel ihm nichts ein. Doch ... ein wenig schlafen. Der Zug kam noch lange nicht. Schlafen. Er neigte den Kopf und schlief sofort ein.
Im Traume kam natürlich, was er im Wachen noch abgewehrt hatte. Der kleine Weg im Dahlemer Garten dehnte sich nur ins Unendliche und endete im Trüben, in dem Gewölbegang des Bahnhofs. Aber vorn die Rosenpergola war da, genau wie er sie vorgefunden hatte, die eine Hälfte vom Brande angesengt und jetzt erst mit wilden Trieben wieder emporwuchernd, die andere aber von einer wahren Kaskade von kleinen rosa Rosen überschäumt. Dahinter sah man nur undeutlich die Ruinen des völlig zusammengestürzten Hauses. Vor vierzehn Tagen, als er in Berlin angekommen war, nach den Mühen des Rückmarsches, nach den Wochen des Dösens im Kral, dem Gefangenenlager bei Stuttgart, in dem er sich überhaupt nicht bemühte freizukommen, weil er ja wußte, daß Gertie tot war, das Dahlemer Haus, sein bestes Werk, die witzigste Architektur, die ihm je eingefallen war, vernichtet ... damals ... vor vierzehn Tagen also, als er „heimgekommen“ war, um sich endlich das anzuschauen, was er sich immer wieder vorgestellt und doch nie begriffen hatte, damals war er langsam schlendernd auf das Haus zugegangen. Aber jetzt im Traum wagte er sich nicht weiter. Denn er hörte Gerties Schritte, die leisen hochhackigen Schritte im Kies, und nun kam sie auf ihn zu und stand unter der Pergola still, eine Hand an den ausgeglühten, halb zerschmolzenen Stäben der Pergola. Sie war seltsam gekleidet. Zur Hälfte nämlich in ihren rosa Morgenrock aus durchsichtigem Chiffon. Aber die andere Hälfte war versengt und hing in braunen Lappen über die Haut. Die Haut wiederum war unverletzt, schimmerte weiß mit einem abendlichen Widerschein von rosa. Sie stand lächelnd, ein wenig schuldbewußt, wie sie immer gewesen war, und sagte zwitschernd: „Alles futsch, Paul. Aber ich kann nichts dafür. Es ist eben so.“ Und als er nichts antwortete, setzte sie seufzend hinzu: „Du wirst natürlich böse sein. Kann ich nicht ändern. Außerdem bringst du es ja doch wieder in Ordnung. Nicht wahr?“ Paul lachte. „Ist schon in Ordnung. Da.“ Und er bückte sich zu seinem Rucksack und hob ihn triumphierend auf. „Da ist alles drin. Wäsche, Kleider, dein Gabardine-Kostüm, dein kirschrotes Complet. Ich habe doch deinen Koffer ausgegraben.“ „Danke“, sagte Gertie, ohne das Gesicht zu verziehn. Damit ärgerte sie ihn immer, daß sie nie zeigte, wenn sie sich wirklich freute. Er sollte es raten, und wenn er es nicht riet, liebte er sie eben nicht. „Danke, und nun such’ noch den Schuhkoffer. Er muß da auch noch irgendwo liegen.“ Endlich konnte sich Paul in seinem Traum bewegen. Er lief auf sie zu, um sie zu packen und „wegen Frechheit“ zu verhauen. Aber sie war verschwunden, und er stand vor den Trümmern und hatte einen Spaten in der Hand. Die Spitzhacke lag daneben, und er grub vorsichtig. Der Schutt war bereits im Zerfallen, und es wuchs schon Gras darüber. In einer Ecke blühte sogar Fingerhut, digitalis. Gut gegen Herzschmerzen. Vorsichtig hob er die grüne Schicht ab, grub den Mörtel heraus, nahm die Spitzhacke und — im Traum ging das schneller, als es vor drei Wochen im Dahlemer Garten gegangen war— legte bald den Eingang zum Keller frei. Noch zwei Stunden Arbeit und er würde hineinkriechen können. Er sah schon die Rippen des Gewölbes, das nun Gerties Grabgewölbe geworden war. Er hieb wütend auf die Steine, daß die Funken sprühten — der Rücken schmerzte ihn. Und er wachte auf.
Er sah hinauf und stellte fest, daß es noch ganz dunkel war. Er hatte sich den Rücken an der Kante der Steinstufe schmerzhaft gerieben. Er nahm seinen Rucksack, legte ihn als Kissen hinter den schmerzenden Rücken. Jetzt fiel ihm der Traum wieder ein. Ja ... im Wachen konnte er seine Gedanken beherrschen, konnte von Dahlem wegdenken, konnte stundenlang alles Vergangene vergessen. Als ob es Gertie nie gegeben hätte, als ob sie nicht verbrannt und erstickt wäre, vier Wochen vor dem Waffenstillstand. Am Nachmittag noch hatte sie einen ganz heiteren, komischen Brief geschrieben, daß Bomben sie bestimmt nicht totkriegen würden, nachdem sie nicht einmal an Pauls Gefühllosigkeit, an seiner maßlosen Kälte und Herrschsucht, an seinem verdammten und überflüssigen Hineinrennen gestorben sei. „Paul der Erste hätte Dich zähneknirschend reklamiert, wenn ich ihn gebeten hätte, und ich habe ihn sogar heimlich gebeten, und man wird Dich telegraphisch herausholen, und Du wirst Deine verdammte Pflicht und Schludrigkeit tun und Dein Weib schützen einschließlich Heim und Herd.“
Das war also ihr letzter Brief, und am Abend dieses Tages war sie zusammen mit der dicken Köchin Minna und deren Soldaten verschüttet und verbrannt, und niemand hatte nachgegraben, niemand sich bis zu diesem August 1945 darum gekümmert, wo Gertie geblieben war. Er selbst aber? Nun, er hatte gegraben und gehackt. Regierungsrat Dittmoser von nebenan hatte ihm geholfen. Er hatte Zeit. Es gab keine Regierung, und er stand sicher auf irgendeiner schwarzen Liste, war auch mal verhaftet worden und erzählte, während sie gruben, von seinen Leiden und von seinen dunklen Zukunftsaussichten, bis er ihn fortschickte. Denn bald mußte er Gertie finden, und da wollte er allein sein. Weg, weg damit. Er hatte sie nicht gefunden. Er war nur auf einen Soldatenstiefel gestoßen, der dem Schatz der dicken Minna gehört haben mußte, auf das Häubchen der Köchin. Nein ... dann hatte er es aufgegeben und hatte die Koffer geöffnet, die im Vorkeller gestanden hatten. Der graue Flanellanzug stammte daher, den er jetzt trug, die drei Hemden, die er besaß, die beiden hübschen Paar Schuhe ... kurzum, die Ausrüstung, die Gertie für ihn zusammengestellt hatte, wenn sie zusammen als Bettler auf die Wanderschaft würden gehn müssen. Und im anderen Koffer waren Gerties Sachen gewesen. Warum hatte er die eingepackt — die Wäsche, die Sommerkleider, das Gabardine-Kostüm und das kirschrote Complet? Die füllten nun den prallen Rucksack, auf dem er lag, und der leise Duft von Chypre war nicht auszulöschen.
Zwei Stunden mochten vergangen sein, vielleicht waren es auch drei. Vielleicht auch nur zwanzig Minuten. Das eine nämlich hatte Wolffenau wie so viele in dieser Zeit gelernt, die Zeit für nichts zu erachten, sie gar nicht zu fühlen, sie an sich herabrinnen zu lassen wie Landregen, den man ja auch nicht abstellen, nicht schneller oder langsamer verströmen lassen kann. Die Zeit, früher kostbar, karg zugemessen, genau eingeteilt auf einem Kalender, den das dicke Fräulein Bröse, seine Privatsekretärin, halbstundenweise ausfüllte, diese Zeit war nun seit Jahren im Überfluß vorhanden. Auf den unendlichen Fahrten durch Rußland bis dicht an die Vorberge des Kaukasus, am Steuer des großen LKW, auf den gefährlichen Fahrten im Westen, die von den heulenden, tackenden Schwärmen der Jabos begleitet waren, und später im Kral unter den Gesprächen über Essen, Hungern, Frauen und die Ungewißheit der Zukunft ... da war die Zeit soviel wert wie ein Tausendmarkschein in der Inflation. Man konnte ihn einwechseln, einteilen. Der Teil war so wenig wert wie das Ganze. Man konnte nichts anderes mit der Zeit anfangen, als sie verrinnen lassen, nachdem man eine Zeitlang sich noch bemüht hatte, zu glauben, daß dieses Fahren und Warten, Warten und Fahren nur ein vorübergehender Zustand sei, nachdem man sich im ersten Jahr oder im zweiten noch knirschend gegen die Zügel gebäumt hatte, die das Schicksal allen Männern gleichmäßig angelegt hatte, den Dummen wie den Klugen, den Geschickten wie den Ungeschickten, den Fügsamen wie den Wilden, den Abenteurern wie den Kassenrendanten. Die Zeit verrann, und man ließ sie über sich hinrinnen. Man spürte sie nicht mehr. Es war ganz gleichgültig, ob es Montag war oder Donnerstag, ob Februar oder Juni. Die Sonne stieg an und versank wieder. Die Bäume ergrünten und warfen die Blätter ab. Blumen, einst kunstvoll mit liebender Hand in die Gärten der Ukraine oder der Normandie gepflanzt, zur Augenweide am Feierabend — sie blühten unbeachtet in einem tapferen Kampf gegen das wuchernde Unkraut, blühten und blühten ab, nachdem die Besitzer der Gärten längst vertrieben waren oder tot und ihre Häuser zertrümmert oder verbrannt waren. Die Zeit rann und verrann, und man konnte nur leben, indem man sich ihrem Zerrinnen nicht widersetzte, indem man sie nicht mehr fühlte, indem man sich schließlich stundenweise, ja tageweise aus seiner Existenz herausschlich, abwesend war, gefühllos und pflanzenhaft vegetierte. Kam man dann zu sich zurück, dann freilich mochte es sein, daß plötzlich alle Schmerzen wieder da waren, alle Ungeduld die Nerven zerbiß und die Wut auf die Welt, auf die Großen der Erde, auf das blödsinnige, unsinnige Schicksal sich in lächerlichen Ausbrüchen austobte, wegen einer zu dünnen Schnitte Brot etwa, oder weil der Leutnant Siemers noch eine Zigarette hatte, oder weil man das stumpfsinnige, unrasierte, landstraßengraue Gesicht des Nebenmannes einfach nicht mehr ertragen konnte. Dann gab es noch zwei Möglichkeiten. Entweder man gab diesen zwecklosen Ausbrüchen nach und bekam schließlich einen Nervenknacks, oder man zähmte sich und ergab sich endgültig und hatte damit den Zugang zur großen asiatischen Geduld, zur orientalischen Apathie gefunden.
Wolffenau gehörte zu den Geduldigen. Und als er jetzt zu sich zurückkehrte, kaum wissend ob er geschlafen hatte, waren in der Tat vier Stunden vergangen. Das Gefängnislicht auf der Treppe wurde ausgelöscht, und die erste graue Dämmerung sickerte langsam über die Stufen nach unten. Er sah sich um. Es hatten sich viele der reisenden Flüchtlinge aus den kellerartigen Gewölben auf die Stufen geflüchtet. Wahrscheinlich war unten das Gedränge unerträglich geworden. Rechts über ihm lag ein Bein in einem Soldatenstiefel. Das andere Bein des Schläfers fehlte. Die graue, schmutzige Hose war mit einer Sicherheitsnadel über dem Knie zusammengeheftet, die beiden Krücken mit den halben Rundungen für die Arme und den lederbezogenen Griffen wirkten daneben fast elegant. Jetzt sah Wolffenau, daß der Mann mit seinem Kopf im Schoße einer breithüftigen Frau lag. Die Frau hatte in ihrem rechten Arm ein etwa dreijähriges, engelhaft schlafendes Kind mit verschwitzten Löckchen. Mit der linken Hand streichelte sie langsam und feierlich das struppige Haar ihres Mannes. Ließ sie mit Streicheln nach, so wachte der Mann auf, lächelte ihr zu und schlief sofort wieder ein, wenn sie das Streicheln fortsetzte. Man sah: sie hatten sich erst seit wenigen Tagen wiedergefunden, und ihr Zusammensein machte sie glücklich im Haufen der Elenden und in ihrem eigenen Elend.
Die Frau mochte wohl fühlen, daß Wolffenau sie beobachtete. Sie blickte flüchtig auf, lächelte etwas verlegen, als müsse sie sich wegen ihres Glückes entschuldigen, und beugte sich wieder über den schlafenden Mann. Jetzt erst bemerkte Wolffenau, daß neben ihm eine junge Frau lag, die ihren Kopf gegen seinen weichen Rucksack gebettet hatte und in einen Schlaf kraftloser Erschöpfung versunken war. Sie mochte wohl zu anderen Zeiten eine Schönheit sein. Der Mund, mit Spuren von Rouge, war sehr klein, die Nase zierlich. Die Augenbrauen, ehemals ausrasiert, wuchsen ein wenig wild. Das Gesicht, rundbogig, mit etwas heraustretenden Backenknochen und grauen Schattentälern des Kummers, der Einsamkeit und der Entbehrungen unter den Augen, war eingerahmt von einem hellblauen, kunstvoll und straff geknüpften Kopftuch. Sie war in ein hellgraues Kostüm gekleidet, das nicht mehr ganz sauber war, mit einem Trenchcoat darüber, der von einem Ledergürtel zusammengehalten wurde. Ihre sehr kleinen Füße steckten in zerschlissenen Seidenschuhen. Die Hände, die sie gefaltet hielt, hatten rote Nägel, von denen der Lack zum größten Teil abgesprungen war. Am Ringfinger trug sie einen Trauring und einen Schlangenring mit einer kostbaren Perle. Wolffenau studierte sie so genau, nicht eigentlich aus Interesse, sondern weil er von Natur und Übung her und von Berufs wegen eben ein Augenmensch war, gewohnt, jede Einzelheit sofort zu registrieren und aus tausend Einzelheiten im Augenblick das Gesamtbild zu haben. Er stellte sich ihr früheres Dasein vor: Verwöhnt, von vielen Männern begehrt, kleiner Sportwagen mit blauem Leder vor dem Haus. Eine gute Tennisspielerin vielleicht, ein gepflegter Fünf-Zimmer-Haushalt irgendwo in der Vorstadt mit viel unnützem Zeug, Porzellankatzen auf hellen Vitrinen, Füllen aus Ton von der Renée Sintenis, großen Vasen auf den Teppichen, in die sie jeden Morgen die Blumen ordnete. Ein gutes, älteres Dienstmädchen, das sie in ihrer hochmütigen Art gut versorgte und in Distanz hielt. Ein behütetes, angenehmes, warmes Leben, etwas ziellos, ziemlich sinnlos, voll kleiner Spannungen, die sich zumeist um den Mann konzentrierten, zuweilen aber auch um irgendwelche hübschen, gutgekleideten Tennisspieler, trefflichen Tänzer, brillanten Autofahrer, berühmten Schauspieler, die im Hause aus- und eingingen. Und dann dieser Krieg. Erst ferne. Dann näher am Herzen, weil der Mann fortmußte. Dann mit den grollenden Flugzeugen, den pfeifenden Bomben bis ans Haus getragen. Dann das ferne Brummen der Front und die ersten Abschüsse, die man nachts schon leuchten sah. Dann Flucht, zuerst noch mit Koffern, schließlich ohne irgend etwas. Ja ... sie trug ihre ganze Habe in einer Art Jagdtasche mit sich, deren Riemen sie über die Schulter gelegt hatte.
Wolffenau unterbrach ärgerlich seine sinnlosen Betrachtungen. Warum beschäftigte er sich mit dem Schicksal dieser Frau? Nur weil sie seinen Rucksack als Kopfkissen benutzte? Er mußte ihr zudem die Kopfstütze jetzt wegziehn. Denn er wollte gehn. Er hatte genug von diesem Warten. Es wurde Zeit, sich aus dem Haufen der Elenden zu lösen. Gerade hörte er, wie ein Bahnbeamter erzählte, daß vorläufig an einen Zug nicht zu denken sei. Also weg! Den Rucksack genommen ... Statt dessen zog er sein Notizbuch und schrieb auf einen Zettel: „Sie schliefen so schön. Da konnte ich Ihnen das Kopfkissen nicht wegnehmen. Nehmen Sie den Rucksack als Geschenk eines unbekannten Verehrers, als eine kleine Ermunterung des Himmels. Die Sachen werden Ihnen sicher passen und bis auf das kirschrote Complet sogar gut stehn. Alles Gute.“
Dann nahm er seinen Koffer, stieg die Stufen hinab, kletterte über ein Gewirr von Beinen, Koffern, Kisten auf den Ausgang des Bahnhofes zu.
Draußen regnete es immer noch. Eigentlich, so dachte er, hätte ich lieber den Rucksack mitnehmen sollen und ihr Gerties Sachen in den Koffer einpacken. Denn so ein Koffer trägt sich viel unbequemer. Dann aber fiel ihm ein, was Gertie gesagt haben würde: „Mensch, Paul, sei manchmal ein Kavalier.“
So wandte er sich denn ganz befriedigt und bestieg eine Straßenbahn, die ihn an die Peripherie der Stadt bringen sollte. Was dann? Das war so ungewiß, wie es ungewiß war, wann je ein Zug diesen Bahnhof der Verdammten verlassen würde.
Das Schloß der Mossignys, 1530 gebaut und gegen die räuberischen Banden des Dreißigjährigen Krieges mit einem breiten Graben und einer Wehrmauer aus Felssteinen geschützt, liegt auf einer kleinen Anhöhe über dem Fluß, der sich schon fächerförmig in fünf Flußarme teilt, um ein paar Kilometer weiter sich ins Meer zu ergießen. Es ist ein nicht gerade schöner Bau, massig und trutzig im altdeutschen Sinn, mit einem breiten Quaderturm an der einen Seite, von dem aus man an hellen Tagen das Meer sehen kann. Von diesem Turm aus erschoß ein Graf Eckeholm — die Mossignys erbten das Schloß erst 1850, da ein Mossigny die letzte Eckeholm geheiratet hatte — im Dreißigjährigen Krieg einen schwedischen Hauptmann, der mit Plünderern eingedrungen war, und wurde vom Turm geworfen. Von der Plattform stürzte sich um 1730 eine Eckeholm, weil ihr Liebhaber in einem Duell mit ihrem Mann gefallen war. Hier oben versammelten sich nach 1864 beim Vater des jetzigen Mossigny die Großgrundbesitzer der Umgebung, die „Eiderdänen“, die durch den Wiener Frieden zu Mußpreußen geworden waren, in nächtlichen Gelagen und wetterten in kräftigen Trinksprüchen gegen den Herrn von Bismarck und den preußischen Zwangsherrn. Hier oben spielte zu Anfang des 20. Jahrhunderts der Inspektorsohn mit den Dorfjungen Räuber und Piraten, wenn die Mossignys auf ihren monatelangen Reisen in Paris waren oder an der Riviera, in London oder in Kairo. Sie drehten dann drohend das alte Fernrohr, das ein Geschütz vorzustellen hatte, und jagten mit Katapulten, in die sie Rehposten einlegten, die Hühner, die verbotenerweise im Rosengarten vor der Schloßterrasse scharrten.
Hier spielte auch um die Jahrhundertwende Christa Mossigny, die einzige Tochter, mit ihrer Riesenpuppe Betsebel oder mit Frieda Rothart, der Försterstochter, die, rotbackig, gesund und beflissen, sich kommandieren und schurigeln ließ.
Hier gab es in derselben Zeit an den sehr seltenen heißen Tagen die sogenannten Aussichtstees der alten Gräfin Mossigny, zu denen ein Dutzend alte, vornehme Damen erschienen, keuchend von den achtzig Stufen, aber stolz, zugelassen zu sein. Die Tees waren so langweilig wie die „Kreuzzeitung“, aus der die Damen ihre Hofnachrichten sogen, die Trauungen und Geburten unter den Standesgemäßen, die Beförderungen und Auszeichnungen, um sie nun wieder von sich zu geben. Neuigkeiten, die alle schon kannten.
Später schloß man die Turmtür zu, und in den aufgeregten Zeiten zwischen den beiden Kriegen betrat niemand mehr den Söller. Sonne, Regen und Schnee gingen drüber weg. Das alte Fernrohr rostete völlig ein, zwei rote Gartenstühle, die man oben vergessen hatte, verloren ihre Farbe, vermorschten und fielen zusammen. Im letzten Krieg wurde eine Flugmeldestation auf dem Turm eingerichtet. Davon war eine Bretterbude, mit Dachpappe überzogen, zurückgeblieben.
Jetzt aber, an diesem heißen Augusttage des Jahres 1945, stand in kurzen Hosen und nackten Knien, das schneeweiße Hemd aufgeknöpft, braungebrannt und pfeifend Captain Kelley auf dem Turm, der Adjutant des englischen Generals, der sein Hauptquartier im Schloß Mossigny aufgeschlagen hatte. Kelley hatte eine Ölkanne in der Hand und ölte eifrig das alte Fernrohr. Kreischend und unwillig bewegte es sich jetzt. Langsam konnte man es auf das Meer richten. Drei, vier Fischerboote standen mit weißen Segeln auf der Wasserfläche. Sonst war nichts Bemerkenswertes zu entdecken. Kelley ölte von neuem, schraubte. Jetzt ließ sich das Fernrohr auch etwas seitlich bewegen. Er sah hindurch. Ein Motorradfahrer überquerte schnurrend, die Befehlstasche umgehängt, den sonnigen Hof. Weiter: ein paar deutsche Kriegsgefangene beschnitten die Tannenhecke. Sie arbeiteten bedachtsam und gemütlich. Weiter: die Feldsteinmauer, auf der eine Ziege angepflöckt war, um die Gräser abzuweiden, der Graben, wieder eine Hecke und dahinter ein kleinerer sonniger Platz vor dem Inspektorhaus. Dort lehnte nun der alte Mossigny, ein Seidenkäppchen auf dem kahlen Schädel, die Sonnenbrille auf der Nase, in einem Gartenstuhl, und vor ihm saß seine Tochter, eine etwa sechzigjährige Dame in einem hellen Sommerkleid. Kelley, der ein wenig Deutsch verstand, wußte, daß die Leute hier sie die „junge Komteß“ nannten. Nun — gegen den siebenundachtzigjährigen Mossigny war sie ja noch jung. In Wirklichkeit war sie nicht jünger als Kelleys Tante Jessie aus Liverpool, die niemand „die junge Kelley“ genannt haben würde. Sie war auch keine Komtesse, sondern hieß Frau Christa Wolffenau. Warum man sie also die junge Komtesse nannte, begriff Kelley nicht. Dafür verstand er wieder nicht genug Deutsch. Außerdem interessierte es ihn auch gar nicht. Langsam hob er wieder das Fernrohr. Es kreischte noch immer entsetzlich. Er beschloß, es acht Tage lang täglich zu ölen, falls man so lange hier blieb.
Noch auf zehn Schritt Entfernung konnte man den alten Mossigny für sechzig oder siebzig Jahre halten. Er lag bequem, lässig die Beine übereinandergeschlagen, gekleidet in einen schneeweißen Anzug, mit einem scharfgebundenen dunkelblauen Schmetterlingsschlips. Aber wenn man näher kam, sah man, daß das Gesicht verwittert war, durchzogen von unendlich vielen kleinen Fältchen. Seine Tochter, Frau Christa Wolffenau, die Frau des Ruhrindustriellen Paul Wolffenau, den sein Sohn respektlos Paul den Ersten nannte, konnte immer noch für eine schöne Frau gelten. Ihr Haar war bis vor kurzem mit Hilfe guter Friseure tiefschwarz gewesen. Jetzt, da bei dem Friseur der Kreisstadt das Noirin ausgegangen war, ergraute es von den Wurzeln her, was Frau Wolffenau an jedem Morgen zu vielen Seufzern über die entsetzlichen Nachkriegsentbehrungen veranlaßte.
Sie war im übrigen sehr gepflegt. Das hellblaue Sommerkleid war frisch gebügelt. Sie trug dünne weiße Seidenstrümpfe und lackrote durchbrochene Schuhe. Ihr Gesicht, gut geschnitten und etwas kantig, wurde von einer zu großen Nase beherrscht, die sie vom alten Mossigny geerbt hatte.
Der Alte hielt in der herabhängenden Rechten einen Brief, und jetzt begann er mit seiner leisen und trotzdem krähenden Stimme zu sprechen. „Er ist und bleibt hartnäckig, dein Gatte“, sagte er höhnisch, „aber — das ist nun einmal eine Grundeigenschaft der Herren von der weltumspannenden Industrie — er sieht die Wirklichkeit immer noch nicht.“ Er schob einen Augenblick die schwarze Brille auf die Stirn und sah seine Tochter mit funkelnden Fuchsaugen prüfend an.
Christa Wolffenau erwiderte seinen Blick flüchtig, dann senkte sie ihr unbewegtes Gesicht wieder auf die kleine Handarbeit, sogenannte Frivolitäten, und zog die Fäden erbittert fester. Sie kannte diese Auseinandersetzungen seit dreißig Jahren, seit dem Tage, an dem sie ihrem Vater erklärt hatte, sie werde den eleganten, lustigen, schwerreichen Paul Wolffenau heiraten.
„Der berühmte Kohlenpott“, krähte der Alte weiter, „ist endgültig zertöppert. Selbst die Herren der Ruhrindustrie können ihn nicht mehr flicken. Produktiv ist und bleibt allein das Land, wie ich das vor sechzig Jahren im Reichstag Herrn von Bismarck gesagt habe. Damals hat man mich ausgelacht, und sechzig Jahre lang habe ich unrecht gehabt, aber jetzt habe ich recht. Zurück in die Kartoffeln. Alles andere ist Quatsch.“ Christa Wolffenau antwortete klagend: „Paul sagt, ihr könnt mit euren Kartoffeln nicht alle Leute ernähren.“ Der Alte lachte: „Aber T-Träger können die Leute zum Mittag essen, vorausgesetzt, sie haben genug Kohlen, um sie weich zu kochen. Ist ja alles Blödsinn! Tatsache bleibt, wenn man eine riesige Industrie aufzieht, kriegen alle Leute entsetzlich viel Kinder. So viel, daß wir wirklich mit den Kartoffeln nicht reichen und Weizen einführen müssen, Bananen und all so’n Zeug. Und dafür müssen sie natürlich Maschinen ausführen, und wenn sie viele Maschinen ausführen, verdienen alle Leute viel Geld und kriegen noch mehr Kinder. Und eines Tages haben sie zuviel Maschinen in der ganzen Welt, und dann hauen sie sich um die Absatzmärkte, und schon ist der Schlamassel da. Ich frage dich hiermit, wozu hat unsere vielgerühmte industrielle Entwicklung geführt? Kaputtgeschmissene Städte — ist allerdings kein Schade um die meisten —, kaputtgeschossene Menschen — ist auch kein Schade um die meisten. Aber wozu erst diese Ziegelsteinmeere aufbauen, wozu erst diese Millionen in die Welt setzen, wenn man nachher doch alles kaputtgehen läßt! Willst du mir das freundlichst beantworten?“
„Ich verstehe nichts von diesen Männersachen“, sagte Frau Wolffenau ungeduldig. Dabei hätte sie ihrem Vater ganz gut mit den Gegenargumenten ihres Mannes antworten können, die sie aus vielen früheren aufgeregten Streitgesprächen zwischen den beiden Männern kannte. Aber sie wußte aus Erfahrung: das führte zu nichts. Sie wußte auch nicht, wer von den beiden recht hatte. Der Großagrarier, der nach einem Ausspruch Pauls die Welt auf „Anno Vollkornbrot“ zurückführen wollte, oder der Großindustrielle, der nach Ansicht ihres Vaters an „fortschrittlichem Blödsinn“ litt.
„Er soll sich gefälligst herscheren und seine kaputten Fabriken liegenlassen. Irgendwann werde ich schließlich doch auch mal in die feuchte Grube fahren, obwohl mein Urgroßvater hundertdrei geworden ist.“ Christa lächelte, sie mußte sich einen Augenblick einmal vorstellen, wie es sein würde, wenn Paul I. mit dem Grafen Mossigny zusammenhauste. Länger als drei Tage hatte Paul es nie hier ausgehalten. „Ich wundere mich bloß, daß die Mossignys nicht noch mit dem Holzpflug ihre Äcker bestellen“, pflegte er zu sagen. „Eisen ist doch eigentlich auch so’n modernes Teufelszeug. Und seitdem Traktoren hier über die Felder brummen, glaube ich, daß selbst die Konservativen eines Tages aussterben werden.“
„Paul ist nun mal kein Landwirt“, sagte sie geduldig. Der Alte erhob sich ächzend und ging stelzbeinig auf das Haus zu. Nach ein paar Schritten wandte er sich zurück und krähte mit sich überschlagender Stimme: „Aber er ist mein Schwiegersohn, und soviel Verstand wird er ja wohl haben, um einen tüchtigen Inspektor beaufsichtigen zu können. Außerdem, wenn er durchaus nicht will, soll er seinen Sohn herschicken. Architekten gibt’s sowieso wie Pilze nach ’m Dauerregen, und was der schon gebaut hat ... schauderhaft, höchst schauderhaft. Meine Kätner hätten sich geweigert, in den geweißten Italienerbuden zu hausen, die der Bengel da nach Berlin gestellt hat für die Verrückten des Kontinents.“
„Von Paul haben wir seit Februar nichts gehört“, sagte Christa ergeben.
Aber der Alte gab sich nicht geschlagen. „Dann wird’s Zeit, daß der Bengel sich meldet. Der Krieg ist aus. Wo treibt er sich noch herum?“ Und um weiteren Antworten aus dem Wege zu gehen, stampfte er eilig ins Haus.
Christa sah ihm mit leeren Augen nach. Sie seufzte. Zu Mittag würde sich dieses Gespräch wiederholen. Sie liebte es nicht, sich zu streiten. Am liebsten gab sie dem recht, der gerade da war. Nie hatte sie sich mit ihrem Mann gestritten. Selbst damals nicht, als er für die Schauspielerin Fröhwerth eine Villa außerhalb von Elberfeld gebaut hatte. Was hätten Vorwürfe und Auseinandersetzungen genützt? Die Männer waren nun mal so, wie sie waren. Die Welt war so, wie sie war. Es blieb ihr immer noch genug und übergenug, um ihre Luxusbedürfnisse zu befriedigen, um ihre kostbare Medaillonsammlung zu vergrößern, um sich Perlen zu kaufen, von denen sie einen ganzen Beutel voll auserlesener Stücke besaß, um zu reisen, um junge Maler zu unterstützen, die unverständliche Bilder malten, von denen sie einige Dutzend auf dem Speicher des Elberfelder Hauses gestapelt hatte und die in irgendeinem Salzbergwerk vor den Bomben sichergestellt waren und dort sicherlich und Gott sei Dank verkamen. Jetzt allerdings, nachdem die Werke ihres Mannes zum größten Teil zerstört waren oder in der russischen Zone abmontiert wurden, seit hier Gerüchte umgingen, es würde zu einer Landreform kommen und man würde das Gut der Mossignys enteignen, jetzt war sie manchmal ein wenig unruhig. Wenn weder die großen Güter noch die großen Werke übrigblieben ... dann, ja dann blieben eigentlich nur die Medaillons und die Perlen, und wie lange mochten die reichen?
Paul, ihr Sohn, hatte ihr schon vor zehn Jahren gesagt, daß eines Tages alles weg sein würde und daß es nicht weiter schade darum sei. Aber er hatte damals kommunistische Freunde oder sozialistische. (Den Unterschied zwischen den beiden würde sie nie begreifen, er war ihr auch gleichgültig. Beide waren jedenfalls Feinde, die man bekämpfen mußte, mit denen man sich nicht verbrüdern durfte.) Paul war also nicht objektiv, er hatte völlig verquere Ideen, er war ihr unsäglich fremd. Wenn sie ehrlich gewesen wäre, hätte sie zugeben müssen, daß es ihr ziemlich gleichgültig war, ob er noch lebte. Denn während er lebte, hatte sie ihn fast nie gesehen, zweimal im Jahr ein, zwei Stunden. Das war alles. Was hatte sie mit diesem fremden Menschen zu tun, der sich über alles lustig machte, was sie tat, über die Maler, über die Medaillons und selbst über die Perlen, die doch unstreitig ihren Wert zu jeder Zeit behalten hatten? Wenn sie also jetzt seufzte bei dem Gedanken, wo Paul sei, so war es eigentlich ein lügnerischer Seufzer. Nichts würde sich in ihrem Leben ändern, wenn Paul auftauchte.
Sie seufzte noch einmal. Dann nahm sie aus ihrer Handtasche ein Paket Karten und begann mit fixen, gewandten Fingern eine Patience zu legen. Da es ganz windstill war, brauchte sie nicht zu fürchten, daß die Karten wegfliegen würden.
Das kleine Jagdhaus lag abseits vom Dorf auf einem Hügel. Man konnte durch das Unterholz die Elbe schimmern sehen. Es fuhren aber nur wenige Kähne darauf. Denn die Brücken waren noch zerstört und hingen im Wasser. Das Haus selbst war durch einen der unsinnigen Kriegszufälle zerstört worden. Zwei Soldatengräber deckten die beiden letzten Verteidiger, Hellmuth Grabert und Kurt Seßner, gefallen am 3. Mai 1945. Dieselbe Granate, die das Haus auseinandergerissen hatte, mochte die beiden getötet haben. Ein Zimmer war übriggeblieben, mehr eine Kammer. Darin standen jetzt ein alter Ledersessel als Prunkstück, ein kleiner Diwan, grünüberzogen mit gräßlichen Schlangenmustern, ein dreibeiniger Tisch, dessen dritter Fuß durch Ziegelsteine ersetzt wurde. Ein paar graue Gardinen hingen vor dem Fenster, das man durch ein Zugrollo von Wachstuch verdunkeln konnte. Auf einer Kiste war eine zerbrochene Waschschüssel aufgestellt, eine zerbeulte Emaillekanne als Waschkrug, und in einer Ecke war ein graubrauner Kachelofen, auf dessen eisernem Einsatz man kochen konnte. An den Wänden hingen einige angekohlte Geweihe, gut zu brauchen als Handtuchhalter und Kleiderhaken. Trat man aus dem Zimmer, so stand man gleich im Freien, zwischen halbmannshohen Mauern, verkohlten Balken, angebranntem Ried, das noch vom Dach übriggeblieben war, und natürlich auch zwischen größeren und kleineren Geweihen, unter denen Metalltäfelchen angebracht waren, die den Abschußort, den Abschußtag und den glücklichen Jäger aufzeichneten.
Jetzt lag ein trüber Himmel über dem Jagdhaus. Von den Bäumen tropfte es ruhig und gleichmäßig wie schon seit vierzehn Tagen, und zwischen den Trümmern hatten sich Pfützen gebildet.
Paul Wolffenau kam vom Dorf, wo er seine kleinen Einkäufe gemacht hatte. Das Beste war eine zwei Meter lange Angelrute und zwanzig Meter erstklassige Angelschnur, die er in der Hand trug. Er hatte sie beim Kaufmann Klösters eingetauscht gegen ein hübsches, sehr buntes Aquarell, darstellend den Klöstersschen Kolonialwarenladen, der rechts und links von Sonnenblumen eingerahmt war. Eine etwas mühsame Arbeit, da Herr Klösters alles sehr genau auf dem Bilde zu haben wünschte, einschließlich der Firmeninschrift: Theodor Lüttjohanns Nachfolger, Inhaber Hermann Klösters. Die Reißfeder war kaum fein genug, um das alles aufzuzeichnen.
Übrigens hatte er noch zwei Pfund Grieß darauf bekommen, zwei Päckchen Tabak und eine große Tüte Tee, der in einem Winkel des Ladens den Krieg überdauert hatte und nicht besonders frisch roch. Aber es war Tee. Paul trug diese Sachen alle in seinem Koffer. Wie oft hatte er schon geflucht, daß er in einem Anfall von unangebrachtem Mitleid seinen Rucksack verschenkt hatte. Wahrscheinlich trug jetzt der stämmige Gatte der Dame den Rucksack, und er schleppte sich mit dem Koffer, den er allerdings jetzt, mit einer Wäscheleine verschnürt, auf den Rükken gebunden hatte.
„Guten Abend“, sagte Paul, als er das Zimmer betrat. „Da wären wir also. Und es hat sich gelohnt. Bitte schön ... eine Flasche Milch wie immer, Grieß, ein widerliches Gericht, aber ausreichend für drei Tage. Ein halbes Pfund Margarine, ein Klecks Butter — weniger als sonst, aber immerhin. Ein Sechspfundbrot, ein halbes Pfund Zucker, und zwar bester weißer, wie Herr Klösters betont hat, Kartoffeln ... und das meiste — ja, hier ist noch Tee — gegen ganz gewöhnliche, ins Käufliche herabgedrückte Kunst eingetauscht.“
Er kam, während er die Sachen wegpackte, an dem kleinen, grünlichen Spiegel vorbei, blieb stehn und brach das unsinnige Selbstgespräch ab. Er sah sich prüfend an. Eigentlich wäre es gut, mal wieder ein Selbstporträt zu machen. Jetzt hatte er doch Zeit, zu malen. Kein Bauherr kommandierte, keine Behörde verlangte die Entwürfe termingemäß. Immer wieder hatte er seufzend zu Gertie gesagt: „Laßt mich doch mal aus der Geldmühle heraus, ich will malen. Stein und Eisen und Glas ... das ist nicht biegsam, das leuchtet nicht.“ Also jetzt ein Selbstporträt. Ölfarben hatte er noch aus Dahlem mitgebracht. Eine Holzplatte ließ sich präparieren. Es gab also keine Entschuldigung. Bitte, hier ... statt in der Art eines einsamen Greises Selbstgespräche banalster Art zu führen, wäre es gut, das tiefste Selbstgespräch zu führen, das es gibt: das Selbstporträt. Ein schonungsloses, ein selbstenthüllendes, sich selbst enthüllendes Porträt. Das malen, was hinter dem selbstsicheren, frischen, braunen Gesicht steckte. Den Kummer etwa, der sich in den kantigen Schläfen barg. Die Grübeleien des Nachts, die sich in den winzigen Stirntälern versteckten. Die völlige Leere, die in den stahlblauen Augen langsam Platz nahm. Bitte! Wenn man mal wirklich einsam war — und wer hatte je dieses Glück in seinem Leben? — dann konnte man auch ehrlich sein.
Er kniete am Ofen und zündete ein Feuer an. Die kleinen Tannenäste, Abfälle von den Ästen, die die Granaten heruntergeschlagen hatten, prasselten hell auf. Die Ofenplatte begann zu glühn, und das Wasser in dem kleinen Emaillekochtopf hob zu singen an. Keinen Grießbrei, bitte, sondern lieber einen starken, dunkelbraunen Tee. Dazu eine Pfeife von dem graubraunen Tabak des Herrn Klösters, Marke Flaggenstolz. Er betrachtete das Paket aufmerksam. Das Reklamebild stammte aus einer Zeit, die verschüttet und vergangen war wie die Zeit, bevor Herculanum und Pompeji untergingen. Es zeigte zwei Matrosen mit nacktem Hals, kleinem Spitzbart und roten Backen, die gerade eine Flagge am Mast emporzogen. Diese Flagge war mit weißem Papier überklebt. Aber als Wolffenau das Papier wie ein Abziehbild anfeuchtete und abzog, kam wahrhaftig die alte Seekriegsflagge mit dem schwarz-weiß-roten Gösch zum Vorschein. Er mußte sehr weit zurückdenken, um sich an die alte deutsche Fahne zu erinnern.
Zuletzt flatterte sie in einem trüben Novemberwind am Hause seines Großvaters Alexander Wolffenau, des Gründers der Firma, der sie als kaisertreuer Mann aus Trotz aufgezogen hatte, als das Kaiserreich zusammenbrach. Paul hörte jetzt wieder die empörten Rufe der demonstrierenden Arbeiter. Er hörte die schweren Stiefel einer eindringenden Rotte über die Treppe stampfen, er hörte das Triumphgeschrei der Massen vor dem Haus, und als er gleich darauf von seiner zitternden Mutter durch den Hinterausgang des Hauses hinausgeführt wurde, sah er, wie von dem breiten Balkon eine blutrote Fahne herabhing. Die Menge hatte sich seltsamerweise still entfernt. Den Grund erfuhr er am Abend. Der alte Alexander Wolffenau hatte sich voller Ingrimm den Arbeitern entgegengeworfen. Sie hatten ihn gepackt und beiseitegeschoben, und plötzlich war er unter den Händen der Festhaltenden zusammengebrochen. Ein Herzschlag hatte seinem Leben ein Ende gesetzt, und so lag er, während seine Schwiegertochter und sein Enkel durch die Straßen flüchteten, einsam auf seinem Ledersofa, den toten Blick auf die rote Fahne gerichtet, die langsam und feierlich im Novemberwind wehte. „Es war sehr heldenhaft, aber ein wenig lächerlich“, hörte Paul seinen Vater ein paar Wochen später zu Herrn Trümper von der Metall-Bau-AG sagen, „sich einer Fahne wegen in den Tod zu stürzen. Mögen sie aufziehn, welche Fahne sie wollen. Das ändert an den realen Tatsachen nichts. Und diese realen Tatsachen gilt es zu biegen, lieber Trümper, bis sie ein vernünftiges Gerüst für uns hergeben.“
Nach diesem Grundsatz hatte Paul I. gelebt und hatte die rote Fahne überstanden, dann die schwarz-rot-goldene, und er hatte auch gut, ja vorzüglich unter der Fahne mit dem Hakenkreuz gelebt. Es kam nicht auf die Flagge an, sondern ... Paul schüttete Tee in das sprudelnde Wasser. Ein Sieb besaß er nicht. So schwammen die Teefische in der henkellosen Tasse, auf die in Goldbuchstaben „Dem lieben Fritz“ gemalt war. Übrigens stank der Tabak, Marke Flaggenstolz, ganz abscheulich.
Es kommt nicht auf die Flagge an, dachte Paul wieder. Aber wenn es, wie jetzt, überhaupt keine Fahne gab, die man militärisch begrüßen, vor der man den Zylinder lüften, die man mit ausgestrecktem Arm beschwören konnte? Sicherlich, sobald es eine neue Fahne gab, würde Paul der Erste sie wieder an den gewünschten Tagen auf seinem Balkon hissen. Denn es kam ja nicht auf die Fahne an, sondern auf die realen Tatsachen, die man mit Kraft, mit Geduld, mit List zurechtbiegen konnte, weil man eben kräftiger, geduldiger und listiger war als die anderen.
Der Tee schmeckte wundervoll. Es war jetzt behaglich warm. Ein ziemlich kräftiger Wind blies von der Elbe her. Die lockeren Balken klapperten vor der Tür. Der Regen klatschte in Stößen gegen die Bäume und tropfte auf das Jagdhaus. Wolffenau warf noch ein paar Hände voll Kienäpfel auf das Feuer und stellte Kartoffeln auf. Es war vernünftiger, irgend was zu essen. Zum Holzsuchen war es außerdem zu naß. Er beschloß also, dazubleiben, es sich behaglich zu machen. Behaglich? Das klang ganz schön, und er hätte es ja auch wirklich behaglich haben können, wenn er nicht zufällig ein gutes Gedächtnis gehabt hätte, eine starke Vorstellungskraft. Wenn nicht in dieser Einsamkeit die Erinnerungen, die er längst abgestorben gewähnt hatte, zu wuchern begonnen hätten, unkrauthafte, die seit Jahrzehnten ihre Keimkraft behalten hatten und nun, da sie nicht von der Flugsandschicht der täglichen Erlebnisse überschüttet und niedergehalten wurden, mit krausen Blättern und seltsamen Blüten ans Licht kamen, einander bedrängend und wegdrängend und je nach ihrer Kraft wechselnd ins Bewußtsein emporwachsend.
Wie aber erinnert man sich, wenn man ohne eine richtige Tätigkeit dasitzt? Die Motoren laufen ja noch. Man ist und bleibt ein heutiger, hastiger, tätiger Mensch. Man hat zum erstenmal kein richtiges Ziel und ist doch zielstrebig auf tausenderlei Aufgaben hin erzogen worden. Man ist gewohnt, an einer Zukunft zu bauen, wenn sie sich auch immer wieder, zu Gegenwart geronnen, als etwas recht Unvollkommenes erweist und uns darum befiehlt, wiederum eine andere Zukunft zu setzen, die man nun erstreben muß, obwohl man im Laufe der Jahre erfahren hat, daß aus jeder noch so leuchtenden Zukunft eine recht trübe und unvollkommene Gegenwart wird. Wie erinnert man sich also, wenn man tatenlos und zukunftslos, in einer Atempause zwischen zwei Atemzügen der Zeit lebt? Man erinnert sich in seltsam abgerissenen Fetzen, und es ist schwer, die Fäden zwischen den Fetzen neu zu knüpfen und zum Ganzen zu sagen: Das war dein Leben, und was nun?
Während er, die Tasse „für den lieben Fritz“ zwischen beiden Händen, vor sich hinstarrte, auf den Regen lauschte, der ununterbrochen niederging, auf das warnende Geschrei der Eichelhäher, die vor irgendeinem Menschen ins Innere des Waldes flüchteten, tauchte wieder das Gesicht Gerties auf, und diesmal nur als ein ganz flüchtiger, vorübergehender Eindruck, das Gesicht nämlich von Tränen überströmt, nachdem er sie an einem schönen Sommertag auf dem Tennisplatz des Rot-Weiß-Clubs zum erstenmal ganz klar 7:5, 6:2 geschlagen hatte. Warum weinte sie? Aus verletztem Ehrgeiz? So hatte er damals gedacht, als er sie lachend und tröstend über das Netz weg umarmte und ihr spöttisch versprach, sich in Zukunft immer, wie es sich gehöre, besiegen zu lassen. „Du spielst eben besser“, hatte sie geschluchzt und war wütend davongelaufen. Jetzt wußte er, warum sie weinte. In ihrem ganzen Zusammenleben nämlich konnte sie seine Überlegenheit mit Spott überspielen und mit Finten wegwischen. Aber 7:5, 6:2 ... das ließ sich nicht wegfintieren, das war ein glattes und klares Ergebnis. Und in diesem Augenblick wußte sie, daß er ihr überlegen war. Ein Kampf von sechs Jahren hatte sich entschieden. Er spürte jetzt — früher hatte er nie darüber nachgedacht —, daß dieser Kampf in jeder Ehe entschieden werden muß, mochte es auch das Ideal einer Ehe geben, in der man nicht kämpft und keine Entscheidungen herbeiführen will. Und was hatte er von seinem Sieg gehabt? Er war notwendig gewesen, gewiß. Aber war er auch fruchtbar? Er konnte es nicht entscheiden. Wenn er an die Ehe seines Vaters dachte, in der es nie einen Kampf gegeben hatte, weil Paul I. gar keine Zeit dazu hatte und von vornherein seine Frau mit eisiger Höflichkeit auf einen Hausfrauenthron stellte, auf dem sie als würdige Regentin eines Vierzehn-Zimmer-Haushaltes im wahrsten Sinne des Wortes kaltgestellt war, so mußte er seine kurze, kämpfereiche Ehe loben. Mindestens war sie immer voller Überraschungen gewesen, meist voller Heiterkeit und guter Laune, sehr verspielt freilich, aber auch sehr abwechslungsreich. Man war einander nie sicher. Das konnte manchmal recht nervenaufreibend sein. Aber wenn er an die sicheren Ehen seiner Freunde dachte, so war es schon ganz gut so. Ja, es war für ihn das einzig Richtige, und er würde in Zukunft ... Himmel, er hatte ja ganz vergessen: Das war endgültig vorbei! Gertie war längst tot, begraben unter den Trümmern des kleinen verspielten Hauses in Dahlem. Also weg damit und schnell eine neue Pfeife gestopft!
Da war doch noch etwas mit dem Flaggenstolz. Ach ja, richtig, die Sache mit den verschiedenfarbigen Fahnen, die während seines kurzen Lebens über Deutschland geflattert hatten, und daß es jetzt keine Fahne gab, die man hißte und verehrte. Er hatte seinen Vater verspottet, weil er unter jeder Fahne gut lebte. Und er selbst? Hatte er Grund zum Spott? Nun, wenn er es ehrlich überlegte: für ihn konnte keine der Fahnen eine große Bedeutung haben. Acht Jahre war er alt, als aus dem Kampf zwischen rot und schwarz-weiß-rot die schwarz-rotgoldene Fahne kam, der sich niemand recht verpflichtet fühlte, eine Fahne über einem arbeitsamen, zäh alle Schwierigkeiten eines verlorenen Krieges überwindenden Volke. Sie war ihm so gleichgültig wie den meisten anderen Deutschen. Sie wurde auch selten gezeigt. Sie flatterte über einem überraschenden Aufstieg und einem ebenso überraschenden, in seinen Gründen kaum zu enträtselnden, aber anscheinend unaufhaltsamen Abstieg. Bis dann das Hakenkreuz kam. Das war ihm recht unbehaglich. Die Männer, die es trugen, zeigten eine Überheblichkeit, die ihn abstieß. Sie machten alles neu, auch das, von dem sie gar nichts verstanden. Sie wußten alles besser, auch das, von dem sie gar nichts wußten. Sie machten ihm allerlei Schwierigkeiten, verboten ihm zum Beispiel, flache Dächer zu bauen. Nun ... er hatte die flachen Dächer sowieso gerade über. Er fügte sich nicht etwa, wie sein großer Meister, der belgische Architekt Cassembert, es ihm in einem heftigen und ungerechten Brief vorwarf. Er war zufälligerweise wirklich auf einem neuen Wege. Oder fügte er sich doch? Hatte der Meister nicht recht, daß sein großes Talent schon zum Alleskönnen ausgeartet war, daß er mit seinen ungewöhnlichen Fähigkeiten sich jeder Richtung anschmiegen und sie originell weiterführen konnte? War er vielleicht seinem Vater allzu ähnlich, der die Tatsachen so lange bog, bis sie zu ihm paßten? War er also mit Hilfe seiner Gaben ein Konjunkturjäger geworden, einer, der im Mißerfolg enden mußte, weil er ohne Erfolg nicht leben konnte, ohne Lob nicht und nicht ohne Arbeit und Beifall? Eine sehr schwere, eine Lebensfrage.
„Wer immer dabeisein will, verliert schließlich die Verbindung mit sich selbst“, schrieb Cassembert am Schluß seines Briefes, und er hatte ihn nach Paris eingeladen, um in aller Stille, ohne Gedanken an einen Erfolg, die Häusertypen der Zukunft zu entwickeln, die Häuser der einzelnen. Des mönchischen Gelehrten zum Beispiel, winzig, wabenähnlich, mit allem technischen Komfort ausgestattet, der den abseitigen Mann unabhängig machte von den redereichen, ablenkenden Hilfeleistungen der Frauen. Das Haus der Tänzerin, voller Stufen und Treppen, auf denen sich ständig Gleichgewicht und Gang erproben ließ und dessen kreisrundes Mittelstück eine immerwährende Verlockung zum Tanz war. Das Haus der Familie, um einen Großraum gruppiert, an dem die einzelnen Kammern lagen, schalldicht abgesperrt durch metallene Türen, die so schmal waren, daß immer nur ein einzelner sie passieren konnte, damit jedermann ständig daran erinnert wurde, daß ein Zimmer das absolute Herrschaftsgebiet des einzelnen war. Diese drei Typen hatte er damals skizziert. Paul aber hatte in einem langen Brief abgelehnt, an einer Aufgabe mitzuarbeiten, die vielleicht in der Renaissance ihren Sinn gehabt hätte, aber heute abwegig, skurril genannt werden müsse. Und er hatte triumphierend gemeldet, daß man ihm den Bau einer Siedlung mit zweihundertachtzig Häusern übertragen habe, eine gigantische Aufgabe, besonders weil man ihm nur zwei Jahre Zeit dafür ließ.
Paul Wolffenau streckte sich triumphierend in seinem Sessel. Was war das für eine lustige Zeit gewesen, als er mit Plümmer, Segewold und Trantau, seinen drei Assistenten — von Gertie die Drillinge genannt —, an den Entwürfen arbeitete! Und was hatte Cassembert ihm geantwortet? Noch könne kein Architekt von Format und Gewissen eine Siedlung solchen Ausmaßes bauen, ohne trostloser, langweiliger Eintönigkeit zu verfallen. Denn noch stecke im sozialen Gedanken (dessen hindernissprengende Gewalt er nicht leugnen wolle) natürlicherweise ein Element des Neides, und der Neid veranlasse den Neider stets, sich das gleiche zu wünschen, was der andere habe, statt das zu erstreben, was er selbst originaliter für sein Leben brauche. Und dem Neid, der Gleichförmigkeit erzeuge statt der musikalischen Variationen eines natürlichen Lebensgefühls, werde Paul sich fügen müssen.
Wolffenau hob spöttisch drohend seine Pfeife. Wie wäre es, wenn der alte Cassembert jetzt in das zertrümmerte Deutschland käme, um sein Haus des Gelehrten, sein Haus der Tänzerin und das Familienhaus mit den schalldicht abgesperrten Kinderzimmern zu propagieren? Welch ein Höllengelächter würde sich erheben unter denen, die kein noch so primitives Dach über dem Kopf hatten und zu zwei, drei Familien in Schulzimmern, Tanzböden ländlicher Gastwirtschaften auf Stroh nächtigten? Er, Paul Wolffenau, hatte also recht gehabt. Oder ...? Zunächst einmal hatte der Meister recht behalten. Die Siedlung war durch Abstriche und Eingriffe der Behörden schließlich so langweilig geworden, daß Paul die Ausführung ganz und gar den Drillingen übertrug. Und dann ... mußte man wirklich immer auf dem so bequemen Flusse der Notwendigkeit schwimmen, der einen zwar zum Erfolg trug, aber auch allzuleicht im Seichten absetzte? Mußte man nicht, wenn man das Besondere konnte, sich wenigstens zuweilen absondern, das Ungewöhnliche tun, das scheinbar Gegenzeitliche? Ach, wie leicht war es, die Unbeugsamkeit und Unbiegsamkeit des Abseitigen zu verspotten, ihn zu verkleinern, ihn unnütz zu schelten und zeitfremd. Was waren schließlich die paar Häuser, die er, Wolffenau, anständig gebaut hatte, anderes als Abseitigkeiten, für wenige überhaupt nur verständlich und dennoch fruchtbar als erste Anzeichen eines neuen Lebensstils, einer Rückführung von außen nach innen; was waren sie anders als kleine Wildtriebe, sprossend aus der großen Wurzel des veredelten, meisterlichen, früchtereichen Baumes? Wer hatte recht? Der Unbeirrbare, auch dann, wenn er starr war und starr wurde? Oder er, Paul Wolffenau, der immer auf der Jagd blieb nach Anregungen, der das Herz der Zeit schlagen hörte, seinen Rhythmus spürte und ihm Ausdruck gab, er, der Schmiegsame, Biegsame, Elegante, er, der Einfühlsame, der den unklaren Wünschen seiner Bauherren mit ein paar hinreißenden Einfällen oft schon in Sekunden den richtigen Ausdruck gab? Wie konnte er geduldig sein, langsam wachsen lassen, wenn ihn die Einfälle manchmal wie Sturzbäche überfielen? Wie konnte er still sein, wenn es ihm im Trubel der Arbeit, auf dem Markt des Erfolges so wunderbar gut gefiel?
Er hielt die sich überstürzenden Gedanken plötzlich an. Er löschte sie aus mit einer banalen Binsenweisheit. „Die Menschen sind eben verschieden“, sagte er, wieder in das Selbstgespräch verfallend. Er wußte noch nicht, daß dieses Sprechen mit sich selbst nicht etwa eine Nothilfe des Einsamen war, sondern ein Ausweichen vor den Gedanken. Er merkte nur mit Erleichterung, daß ihn die Erinnerungen losließen.
Das Zimmer umgab ihn wieder mit seiner trostlosen Häßlichkeit und seiner trostreichen Einsamkeit. Es war sehr heiß geworden. Er stieß das Fenster auf. Der Regen hatte nachgelassen, und im Westen zeigte sich über dem Fluß eine blaue Bahn zwischen den Wolken. Es war erst sieben Uhr, noch hell. Ein langer Abend lag vor ihm, eine lange Nacht. Aber zunächst mal waren die Kartoffeln weich. Er schüttete das Wasser ab, schälte eine nach der andern und aß sie, indem er sie in Salz stippte. Dazu trank er eine Tasse Milch. Dann beschloß er, an den Fluß zu gehn, um die neue Angelrute auszuprobieren. Er hatte auch großen Appetit auf gebratenen Fisch. Während er, die Angelrute geschultert, durch den tropfenden Wald zum Fluß hinunterstieg, beschäftigte ihn nur ein Gedanke: brät man den Fisch so, wie man ihn fängt, mit Haut und Haar also, aufgeschnitten und ausgeweidet natürlich, oder muß man zuerst die Gräten herausnehmen? Schade, daß er nie kochen gelernt hatte. Wahrscheinlich aber war es so, daß man die großen entgrätete und die kleinen ganz briet. Nun — er würde wohl nur kleine fangen.
Er fing überhaupt keinen Fisch. Ein paarmal zuckte der Schwimmer, aber es biß kein Fisch an. Nun ist es ja beim Angeln keineswegs die Hauptsache, daß man Fische fängt, sondern daß man ab und zu mit kühnem Schwung die Leine wirft. Daß man die Augen starr auf den Schwimmer gerichtet hält und vor allem daß man das Gefühl hat, etwas ungeheuer Wichtiges zu tun. Untätig in der Natur zu sein ... dazu sind die meisten Menschen zu aktiv und nervös, und sie haben auch Angst, daß die weite Natur sie ganz wegziehen könnte, ihre so wichtige Existenz für Sekunden auslöschen.
Wolffenau jedenfalls saß befriedigt und völlig gedankenlos am Ufer des Flusses und sah das seichte Uferwasser in kleinen Wellen sich im Schilf verfangen und weiterströmen, sah über die blendende Fläche, die sich allmählich mit den Farben des Sonnenuntergangs bedeckte, mit einem flammenden Hellgelb, einem schaumspeisenartigen Rosarot, einem türkisfarbenen Grün, bis plötzlich eine schwarze Wolkenwand alles wegwischte.
Gleichzeitig kam ein kalter Wind über das Wasser und zwang ihn, aufzustehn. Er rollte die Angelschnur sorgfältig ein, knüpfte das türkische seidene Halstuch zu einem kunstvollen Knoten und marschierte sehr zufrieden und sehr leer hügelaufwärts auf seine Hütte zu. Er beschloß, den Tag leichtsinnig mit einer neuen Portion Tee zu beschließen, ein tüchtiges Feuer zu machen und vielleicht die erste Skizze zum Selbstporträt anzufangen. Es kam ihm viel darauf an, etwas zu tun, damit er von den verfluchten Erinnerungen loskam. Er bückte sich, weil er ein gar zu schönes Stück Holz liegen sah, einen prächtigen harzigen Tannenast, mit dem man sehr leicht Feuer machen könnte. Die Streichhölzer wurden verflucht knapp. Gut nur, daß er das Feuerzeug hatte.
Er schulterte den Ast zu der Angel und marschierte weiter. Er überlegte, ob es nicht ernstlich Zeit sei, wieder aufzubrechen. Für immer konnte er ja nicht als Einsiedler, als ein Hieronymus im Gehäus, hier im Walde hocken und gar nichts tun, während das ganze Land voll Trümmer lag, die weggeräumt werden mußten. Während die Herren Kollegen sicher schon dabei waren, Entwürfe für den Neuaufbau der Städte zu machen. Warum drängte es ihn denn nicht, mit dabei zu sein? Hatte er etwa keine Ideen mehr, war er fertig, ausgebrannt, verbraucht? Hatte die Langeweile des Krieges — nie hatte er es für möglich gehalten, daß man sich so sehr langweilen konnte — ihn ausgelaugt, war er am Ende? — Ach — das war nur eine rhetorische Frage, eine nachhallende Frage aus seinen Anfängen damals, als er jede Idee ängstlich behütete und bewahrte, als er beweisen mußte, daß er jemand war, der Ideen hatte. Später brauchte er nur den Stift anzusetzen, dann war die Idee da, dann fiel ihm mehr ein, als gut war, dann mußte er Entwürfe über Entwürfe als Abfälle wegwerfen, die gut genug waren, daß sich ein Dutzend Dutzendarchitekten davon hätte ernähren können. Sicherlich, wenn er den Stift wieder ansetzte, würden die Ideen wieder dasein. Aber es lag ihm nichts daran. Warum nicht? Das war ihm unklar. Andererseits aber, wenn er jetzt an den langen Abend dachte, an die Nacht, die vielleicht wieder schlaflos sein würde oder von unsinnigen Träumen gestört, von ganz und gar undeutbaren Stimmen und Gesichtern, dann schien es ihm richtiger, irgend etwas zu tun, was sich als Barriere gegen die Gedanken, gegen die Erinnerungen benutzen ließ. Man konnte sich doch nicht einfach ausliefern. Oder ...?
Was war denn eigentlich sein Talent gewesen? Doch nichts anderes als ein Ausgeliefertsein an eine Kraft, die sich seiner bediente. Die eigenen Ideen ... du lieber Gott, das war eine klägliche Geschichte, ein stotterndes Probieren, ein hilfloses Suchen, bis dann die Verbindung plötzlich da war, dieser merkwürdige elektrische Strom, dieses seltsame Knistern und Aufflammen, das sich auf den Zeichenstift übertrug und ihn von selbst führte. Also war das Ausgeliefertsein die eigentlich fruchtbare Haltung, ein wenig gefährlich, gewiß, besonders wenn man es herbeizwingen wollte, wenn man es ausnutzte oder stolz damit spielte. Und jetzt wehrte er sich gegen eben dieses Ausgeliefertsein?