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Zurück zum entspannten Familien-(Ess-)Alltag Bulimie, Anorexie oder Orthorexie - eine Essstörung betrifft immer die ganze Familie. Doch wie findet diese nach der Therapie wieder zu einem "normalen" (Ess-)Alltag? Wie ändere ich eingeschliffene Gewohnheiten und Verhaltensweisen? Woran zeigt sich ein drohender Rückfall und wie können Sie ihn abwenden? Experten geben lebensnahen Rat und Betroffene und ihre Eltern sprechen hier offen von Krisen und vom Gelingen. - Heilung als gemeinsamer Weg: Alltagshürden wie Familienfeiern, Einkaufen oder Urlaube meistern - Gemeinsam stark sein: Sich als Familie neu finden - Gesunde Ernährung wiederentdecken: 73 Rezepte von Betroffenen getestet - lecker und ausgewogen Als leitender Psychologe der Ambulanz für Familientherapie und für Essstörungen der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin Göttingen betreut Prof. Dr. Günter Reich täglich Menschen mit Essstörungen. Durch diese Tätigkeit und seine wissenschaftlichen Forschungen zur Entwicklung und Behandlung von Essstörungen hat er viele Einblicke in diese Thematik erhalten. "Ich möchte den Betroffenen und ihren Angehörigen etwas in die Hand geben, womit sie mehr Sicherheit im Umgang mit der Erkrankung bekommen und womit sie sich während und nach einer Therapie selbst helfen können." Prof. Dr. Günter Reich sitzt unter anderem im Kuratorium des Bundesfachverbandes Essstörungen (BFE) und hat einige Fachbücher zur Therapie von Essstörungen veröffentlicht. Silke Kröger, Diplom-Oecotrophologin und Ernährungsberaterin VDOE, ist seit 1991 in der Ernährungsberatung tätig, betreut eine Wohngruppe für Mädchen mit Essstörungen und betreibt eine eigene Praxis in Göttingen. Dort arbeitet sie eng mit der Ambulanz für Familientherapie und Essstörungen zusammen. "Mir ist es besonders wichtig, dass die Mädchen ein entspanntes Verhältnis zu ihrem eigenen Körper bekommen, regelmäßig essen und kochen und, mit meiner Hilfe, gemeinsam Hürden bewältigen."
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Seitenzahl: 192
Essstörungen
Gemeinsam wieder entspannt essen
Prof. Dr. phil. Dipl.-Psych. Günter Reich, Silke Kröger
1. Auflage 2015
Sie wollen etwas gegen Ihre Essstörung tun, Sie waren bereits oder sind gerade in Therapie. Ihre Angehörigen wurden oder werden – hoffentlich – in die Behandlung einbezogen. Nun soll es weitergehen. Sie möchten Ihr gewonnenes Gewicht halten und Ihr Essen nicht mehr übermäßig kontrollieren. Sie wünschen sich einen selbstverständlichen Essrhythmus und ein gesundes, flexibles Verhältnis zu den Essensmengen, das heißt ein normales, gesundes Essverhalten. Sie möchten Ihren Körper besser akzeptieren, Ihre Emotionen deutlicher spüren, Ihre Bedürfnisse klarer vertreten – so wie Sie es in der Therapie bereits begonnen haben. Außerdem möchten Sie lernen, mit kritischen Situationen und Rückfällen richtig umzugehen. Auf diesem Weg wollen wir Sie unterstützen. Aber auch Angehörigen, Eltern, Freunden und Partnern von Betroffenen soll dieses Buch helfen.
Wir möchten Ihnen zeigen, dass Sie nicht allein dastehen. Zahlreiche Betroffene und Angehörige haben uns von ihren Erfahrungen, Gefühlen und Gedanken berichtet. Sie werden Geschichten lesen, die Ihnen aus der Seele sprechen und Ihnen Hilfestellungen geben. Sie werden erkennen, dass Sie mit vielen anderen (ehemals) Essgestörten, deren Eltern und Partnern in einem Boot sitzen. Dieses Buch ist ein Praxis-Coach – es soll Sie zum aktiven Handeln auffordern. Vieles haben Sie selbst in der Hand!
Darüber hinaus finden Sie zahlreiche Rezepte. Zunächst wird es für Sie vielleicht eine Hemmschwelle sein, ein Kochbuch in die Hand zu nehmen. Gerade weil Sie in der Auswahl von Speisen sehr unsicher sind, ist es sinnvoll, hier konkrete Anregungen zu erhalten. Dieses Buch soll Ihnen helfen, auf eine abwechslungsreiche Ernährung zu achten, mit Kreativität zu kochen und wieder mit Freude und Genuss zu essen.
Mit unserem Buch wollen wir Sie auf dem Weg zu einem normalen Essverhalten begleiten und Sie in Krisenzeiten unterstützen, nicht aufzugeben.
Wir wünschen Ihnen viel Erfolg und guten Appetit!
Silke Kröger und Günter Reich
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
Teil I Viel mehr als nur gestörtes Essverhalten …
1 Was bedeutet »Essstörung«?
1.1 Ursachen von Essstörungen
1.1.1 Die Gene: Alles angeboren?
1.1.2 Die Persönlichkeit
1.1.3 Pubertät und Adoleszenz – eine schwierige Phase
1.1.4 Gesellschaftliche Einflüsse
1.1.5 Familiäre Faktoren
2 Therapie bei Essstörungen
2.1 Professionelle Unterstützung muss sein
2.1.1 Ernährungsberatung
2.2 Das neue Körpergefühl
2.2.1 Gewichtskontrollen
2.2.2 Den Körper akzeptieren lernen
2.2.3 Was können Angehörige tun?
2.3 Mit Gefühlen und Bedürfnissen richtig umgehen
2.3.1 Zugang zu Emotionen entwickeln
2.3.2 Die eigenen Gefühle wahrnehmen
2.3.3 Alternativen zum Hungern oder Essen entwickeln
2.3.4 Probleme und Konflikte angehen
2.4 Verzerrtes Denken überprüfen
2.4.1 Was können Angehörige tun?
2.5 Soziale Beziehungen pflegen
2.5.1 Jeder Mensch braucht Kontakte
2.5.2 Wenn Beziehungen problematisch sind
2.5.3 Hinweise für Angehörige
2.6 Essregeln
2.7 Die Familie: Das Wir gewinnt!
2.7.1 Mit Schuldgefühlen konstruktiv umgehen
2.7.2 Was können Familien und Partner tun?
2.7.3 Vertrauen ist gut – Kontrolle ist besser?
2.7.4 Sonderfall: Essstörung bei Angehörigen
3 Schwierige Situationen meistern
3.1 Zurück aus der Therapie – wieder zu Hause
3.1.1 Hinweise für Angehörige
3.1.2 Hinweise für Betroffene
3.2 Schule, Uni, Arbeitsplatz
3.2.1 Sorgen Sie für (Essens-)Pausen
3.2.2 Lassen Sie sich nicht zum Opfer machen
3.3 Einkaufen im Supermarkt
3.3.1 Hinweise für Angehörige
3.4 Klamotten-Shopping
3.5 Sport
3.5.1 Fitnessstudio – ja oder nein?
3.6 Urlaub
3.7 Einladungen bei Familie oder Freunden
3.7.1 Nicht aus dem gewohnten Rhythmus bringen lassen
3.8 Eine neue Partnerschaft
3.8.1 Lieber langsam angehen lassen
3.9 Krisen, Rückschläge und Rückfälle
3.9.1 Neigung zu alten Verhaltensweisen
3.9.2 Rückschläge und Rückfälle
3.9.3 Hilfestellungen für Angehörige
4 Gesunde Ernährung wiederentdecken
4.1 Allgemeine Empfehlungen
4.2 Die Nährstoffe im Überblick
4.2.1 Protein bzw. Eiweiß
4.2.2 Kohlenhydrate
4.2.3 Fett
4.2.4 Vitamine
4.2.5 Mineralstoffe
4.3 Diäten und spezielle Kostformen
4.3.1 Vegetarisch und vegan
4.4 Ernährungsmythen
Teil II Rezepte, die guttun
5 Frühstück
6 Snacks und Zwischenmahlzeiten
7 Hauptgerichte
8 Desserts und Drinks
9 Praktische Wochenpläne
10 Austauschtabelle
11 Service
11.1 Bücher, die weiterhelfen
11.2 Adressen, die weiterhelfen
Autorenvorstellung
Verzeichnisse
Impressum
1 Was bedeutet »Essstörung«?
2 Therapie bei Essstörungen
3 Schwierige Situationen meistern
4 Gesunde Ernährung wiederentdecken
Betroffene und Angehörige sollten sich über die Komplexität der Erkrankung bewusst sein. Der Weg zu Gesundheit und Wohlbefinden ist steinig, aber machbar.
Welche Krankheitsbilder werden unterschieden? Welche Folgen haben Essstörungen und wodurch entstehen sie überhaupt erst? Dieses Kapitel gibt einen Überblick.
Essstörungen sind schwerwiegende psychosomatische Erkrankungen. Hauptmerkmal ist die andauernde, zwanghafte Beschäftigung mit dem Thema »Essen«. Es werden abnorm geringe oder abnorm große Mengen an Nahrung zugeführt. Die Nahrungsaufnahme sowie deren Auswirkungen können übermäßig kontrolliert werden und von Gegenmaßnahmen wie zum Beispiel Erbrechen begleitet sein. Essstörungen zeigen sich oft im äußeren Erscheinungsbild, das heißt im Unter- oder Übergewicht. Mit Essstörungen sollen Probleme gelöst werden, die den Betroffenen unlösbar erscheinen. Zudem ist der Bezug zum eigenen Körper gestört: Dieser wird verzerrt wahrgenommen (Körperschemastörung) und negativ bewertet.
Man unterscheidet verschiedene Formen von Essstörungen:
Magersucht (Anorexia nervosa): Hier kommt es vor allem durch Hungern, aber auch durch exzessive sportliche Betätigung, Erbrechen, Missbrauch von Abführmitteln und anderen Medikamenten zu extremer, oft lebensgefährlicher Abmagerung. Weitere Merkmale sind eine ausgeprägte Körperschemastörung, die Angst vor einer Gewichtszunahme, hormonelle Störungen sowie Verleugnung der Krankhaftigkeit des Zustandes.
Bulimie (Bulimia nervosa): Hier kommt es zu Essanfällen mit gegensteuernden Maßnahmen wie Erbrechen (»Ess-Brech-Sucht«), Sport, Abführmittelmissbrauch oder Hungern. Dieses Verhalten wird überwiegend heimlich praktiziert. Die Betroffenen sind meist normalgewichtig, manchmal auch über- oder untergewichtig. Krankheitseinsicht ist in den meisten Fällen vorhanden, aus Scham wird eine Therapie aber oft lange vermieden.
Essstörung mit Essanfällen (Binge-Eating-Störung): Hier kommt es regelhaft zu heimlichen »Fressattacken«, die starke Schuld- und Schamgefühle hervorrufen. Jedoch fehlen hier, im Gegensatz zur Bulimie, anschließende gegensteuernde Maßnahmen wie das Erbrechen. Die Betroffenen sind daher nicht selten übergewichtig.
Sonstige Essstörungen: Hierzu gehört unter anderem das »Nachtesser-Syndrom«, bei dem die hauptsächliche Nahrungsaufnahme – oft suchtartig – nach der Abendmahlzeit bzw. nachts stattfindet. Zudem fallen hierunter die Essstörungen, die den typischen Formen nicht zugeordnet werden können. Der Leidensdruck bzw. die Schädigung ist auch hier oft erheblich und es besteht genauso Behandlungsbedarf.
Orthorexie (Orthorexia nervosa): Ob die sogenannte Orthorexie auch zu den Essstörungen zählt, wird diskutiert. Hierbei handelt es sich um das ausgeprägte krankhafte Verlangen, sich »gesund« zu ernähren. Das Essen wird extrem ideologisiert und moralisiert. Die Nahrungsmittelvielfalt wird aus Angst vor »Ungesundem« oder »falscher Ernährung« immer stärker eingeschränkt. Infolgedessen kann es zu Mangelerscheinungen kommen. Die Krankheitseinsicht fehlt typischerweise.
Vor allem Mädchen und Frauen sind von Essstörungen betroffen. Das gilt besonders für die Magersucht und die Bulimie. Die Binge-Eating-Störung hingegen ist auch bei Männern verbreitet.
Essstörungen sind keine »schlechten Angewohnheiten«. Sie haben schwer wiegende körperliche, seelische und soziale Folgen. Es kommt zu dauerhaften Störungen der Hormonregulation, vor allem der Geschlechtshormone, Störungen der Pubertätsentwicklung und des Wachstums, Konzentrationsproblemen, Haut-, Haar- und Zahnschäden, Störungen der Libido, Veränderungen der Knochensubstanz bis hin zu Osteoporose und vermutlich auch Veränderungen der Hirnfunktionen. Hierbei sind die Hunger-Sättigungs-Regulierung, die Körperwahrnehmung und das Belohnungssystem betroffen. Auf sozialer Ebene finden sich oft Rückzug und Vereinsamung, auf psychischer Ebene Stimmungsschwankungen, Reizbarkeit, Apathie, Depressionen und Angsterkrankungen, manchmal schwere Persönlichkeitsstörungen, bis hin zu Selbstmordgefährdung. Es kommt meist und rasch zu chronischen Krankheitsverläufen. Die Magersucht endet nicht selten tödlich: 15 % der Erkrankten sterben im Langzeitverlauf an den direkten und indirekten Folgen. Sie ist die tödlichste Erkrankung, die jemand in der Jugend entwickeln kann.
Daher bedürfen Essstörungen einer raschen und fachgerechten Therapie, bei der unter anderem Ärzte, Oecotrophologen und Psychotherapeuten kooperieren. Die Therapie ist oft langwierig, kann aber zu dauerhaften Verbesserungen führen, wenn die Betroffenen und ihre Angehörigen sich darauf einlassen. Wichtig ist, dass das Essverhalten und das Körperbild auch zum wesentlichen Thema gemacht und die Angehörigen mit einbezogen werden. Auf das Thema ▶ Therapie inklusive Unterstützungsmöglichkeiten durch Angehörige wird später genauer eingegangen.
Essstörungen haben nie nur eine Ursache. Bei der Entwicklung wirken immer mehrere Einflüsse zusammen: Die Gene spielen eine Rolle, ebenso die Persönlichkeit der Betroffenen, Pubertät und Adoleszenz, die Gruppe der Gleichaltrigen, gesellschaftliche Faktoren und die Familie. In jedem Einzelfall muss genau geschaut werden, welche dieser Faktoren besonders wichtig sind.
Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass bei der Entstehung von Essstörungen, insbesondere der Magersucht, die Gene einen erheblichen Anteil haben. Allerdings gibt es kein »Magersuchts-« oder »Essstörungs-Gen«. Die Dinge sind komplizierter. Bis zu einem gewissen Grade vererbt werden eher Persönlichkeitszüge wie Perfektionismus oder Impulsivität, die auch von Umweltfaktoren beeinflusst werden, wie die Forschungen der Epigenetik zeigen. Genetik ist also keine Ausrede dafür, nichts zu tun. »Tante Klara war auch so dünn« oder »Opa Herbert hat auch immer zu viel gegessen« gelten also nicht.
Hiermit ist die Individualität eines Menschen hinsichtlich seiner psychischen Eigenschaften gemeint. Man kann auch von Temperament oder Charakter sprechen. Die Persönlichkeit ist das Ergebnis des Zusammenspiels von erblichen, Erziehungs- und anderen Umwelteinflüssen. Einige Charaktereigenschaften sind bei Essstörungen bedeutsam.
Selbstwertprobleme: Ein gestörtes Selbstwertgefühl ist oft mit der Entstehung einer Essstörung assoziiert. Es führt z. B. dazu, dass Figurvorgaben in den Medien stärker zur eigenen Norm gemacht werden, was Unzufriedenheit mit dem Körper fördert. Magersucht wird in vielen Fällen entwickelt, um das eigene Selbstwertgefühl zu stabilisieren. Essanfälle und Übergewicht schwächen in der Regel das Selbstwertgefühl.
Perfektionismus: Selbstwertkonflikte hängen oft mit dem Bedürfnis nach Perfektion und dem Streben, nach außen einen »guten Eindruck« zu machen, zusammen. Insbesondere Magersüchtige, zum Teil auch Bulimikerinnen, verlangen von sich in allen Lebensbereichen oft 100 % oder mehr als das. Verfehlen der perfektionistischen Ziele kann mit verstärktem Hungern oder auch mit Essanfällen »beantwortet« werden. Perfektionismus gibt oft ein Gefühl von Sicherheit. Es ist nicht leicht, diese Sicherheitsquelle durch andere Möglichkeiten zu ersetzen.
Gefühle von Ohnmacht und Wirkungslosigkeit: Die Essstörung, vor allem die Magersucht, ist hier ein Mittel, das Gefühl von Kontrolle und Einfluss wiederzuerlangen.
Soziale Unsicherheit: Sorge um die Akzeptanz durch andere und Probleme, sich von den (vermeintlichen) Erwartungen anderer abzugrenzen und eigene Interessen zu vertreten, sind bei Personen mit Essstörungen weit verbreitet. Magersüchtige ziehen sich deshalb oft zurück. Bulimikerinnen hingegen neigen dazu, Unsicherheit durch Aktivität oder »Geselligkeit« zu überspielen.
Impulsivität: Hierunter versteht man die Neigung zu heftigen gefühlsmäßigen Reaktionen und Handlungen, ohne die Konsequenzen und Risiken angemessen zu berücksichtigen. Impulsive Züge findet man häufig bei Bulimikerinnen.
Probleme bei der Gefühlswahrnehmung: Probleme, Gefühle wahrzunehmen und zu unterscheiden, haben viele Essgestörte, insbesondere, wenn die Krankheit lange andauert. Manchmal wurde diese Fähigkeit im Laufe der Kindheit nie wirklich erworben, manchmal wurde sie durch unangenehme Erfahrungen und Konflikte verschüttet. Die Beschäftigung mit Essen, Ernährung, gegensteuernden Maßnahmen, Figur und Aussehen überlagert hier alles andere und dient dazu, sich nicht mit unangenehmen Gefühlen auseinandersetzen zu müssen.
Essstörungen haben nie nur eine Ursache.
Essstörungen beginnen oft in der Adoleszenz, dem Alter zwischen 12 und 20 Jahren. Hier kommt es zu gravierenden körperlichen, seelischen und sozialen Veränderungen, deren Bewältigung immer schwierig ist. Mädchen müssen sich mit ihren Rundungen und der Zunahme von Körperfett anfreunden, was in ihren Augen dem von den Medien propagierten Schönheitsideal widerspricht. Das kann Probleme bringen. Auch Jungen entwickeln in dieser Phase eine Körperunsicherheit.
In der Phase des Erwachsenwerdens wird das Urteil der Gleichaltrigen und der Medien oft wichtiger als das der Eltern. Essgestörte lassen sich hiervon derart beeinflussen, dass sie keine davon unabhängige Orientierung finden.
Es gibt keine Entwicklung ohne Konflikte und die Adoleszenz ist in der Regel konfliktreich für Jugendliche und Angehörige. Den »richtigen Weg« heraus gibt es nicht.
Wenn sich Essstörungen in der Adoleszenz entwickeln, sind sie manchmal schwer von der »normalen« Bandbreite der Irrungen und Wirrungen in dem entsprechenden Alter zu unterscheiden. Eine manifeste Essstörung muss entschieden mit oberster Priorität angegangen werden, da sie die gesamte Entwicklung verändert. Abwarten nach dem Motto »Das wächst sich schon alles aus« hilft hier nicht.
Zweifellos spielen gesellschaftliche Faktoren eine Rolle. Wir leben hierzulande in einem Überfluss an Nahrungsmitteln. Das Durchschnittsgewicht der Menschen steigt. Gleichzeitig werden die in den Medien präsentierten Frauen immer dünner. Viele Personen bemühen sich, diese »Kluft« zu überwinden: durch »Fitness«-Programme, Body-Building und Body-Shaping, durch Diäten und Hungerkuren und durch ebenso fragwürdige Verfahren wie »Fettabsaugen« und andere chirurgische Eingriffe. Sind also diese übertriebenen und gefährlichen Verhaltensweisen heute nicht irgendwie »normal«? Diese Frage kann man leider nicht ganz verneinen. Gestörtes Essverhalten und ein gestörter Körperbezug sind mit verschiedenen zeitgenössischen Normvorgaben verbunden, die die Ernährung und den Körper betreffen und bei Abweichungen ein schlechtes Gewissen erzeugen. Hierbei werden wissenschaftlich in keiner Weise belegte Überzeugungen und Glaubenssätze verbreitet, die die Betroffenen einer inneren und äußeren Diktatur unterwerfen können. Im Folgenden finden Sie ein paar Beispiele heutiger »Idealvorstellungen«:
Der »richtige Körper«: Zu vermutlich keiner Zeit wurde der menschliche Körper gleichzeitig so offen und normiert präsentiert wie heute, wobei für Hochglanzmagazine am Computer kräftig nachgebessert wird. Gezeigt werden keine realen Körper, sondern solche, die von den Redakteuren für präsentierenswert oder ideal gehalten werden. Reale Menschen haben sich hieran zu messen. Wer dem nicht entspricht, ist eben nicht schön oder attraktiv. TV-Casting-Shows, in denen der Körper begutachtet und bewertet wird, tun ihr Übriges, um bei jungen Frauen ein schlechtes Gefühl auszulösen. Machen sich Personen die Maße von ultradünnen Models als ideal zu eigen, entwickeln sich Körperunzufriedenheit und Symptome von Essstörungen. Dabei sind unsichere Personen anfälliger für solche Vergleiche.
Diäten, Fasten und Entgiftung: Es gibt immer wieder neue Warnhinweise auf Gifte, die im Körper enthalten sein sollen, und entsprechende Ratschläge für »Entschlackung«. Der Körper enthält aber gar keine »Schlacken«. Zahlreiche auf dem Markt verfügbare Produkte, die bei der Entgiftung helfen sollen, sind industrielle Kunstprodukte, die mit einer »natürlichen« Ernährung nichts mehr zu tun haben. Verschiedenste Fasten- und Entschlackungskuren sowie Diäten werden ständig neu erfunden. All diese Methoden helfen nicht bei der Gewichtsreduktion, sondern sind für viele Menschen der sicherste Weg hinein in eine Essstörung.
Fitness: Selbstverständlich sind regelmäßige Bewegung, moderat und ab und zu auch mal »hochtourig« ausgeführt, in aller Regel gesund für Körper und Psyche. Körpertraining ist zum großen Geschäft geworden. Wer sich nicht quält, wird zum Außenseiter, der ein schlechtes Gewissen haben muss.
Chirurgische Eingriffe: Erreichten Models die vom Business geforderte Figur in den 90er-Jahren noch durch hartes Training und eiserne Disziplin, wird heute oft auf das Skalpell zurückgegriffen. »Kosmetische« Chirurgie ist ein Milliardenmarkt. Das Wort »kosmetisch« verdeckt oftmals brutale und blutige Prozeduren, die vor allem Frauen über sich ergehen lassen.
Wenn die sozialen Einflüsse zur Entwicklung einer Magersucht, Bulimie oder Essstörung mit Essanfällen ausreichten, hätten wir viel mehr derartige Erkrankungen. Wie bereits erwähnt, spielen auch die Persönlichkeit und der zwischenmenschliche Bereich, vor allem der gegenseitige Umgang innerhalb der Familie, eine Rolle.
Familiäre Einflüsse können erheblich zur Entwicklung von Essstörungen beitragen. Und Essstörungen können die Familienbeziehungen massiv beeinflussen. Beide Seiten der Medaille müssen betrachtet werden, vor allem, welche Veränderungen notwendig und hilfreich sind. Zu der Entwicklung von Essstörungen tragen zwei Arten von Einflüssen bei: solche, die sich direkt auf das Essverhalten und die Einstellung zu Körper oder Aussehen auswirken, und solche, die sich indirekt auf das Selbstwertgefühl und den Umgang mit Emotionen und Konflikten auswirken.
Einflüsse, die sich direkt auswirken:
Essstörungen, unnatürliches (z. B. extrem kontrolliertes) Essverhalten sowie starke Gewichtsabweichungen oder Körperunzufriedenheit bei den Angehörigen
Abwertende Kommentare zu Gewicht, Figur und Aussehen
Drängen zum Vielessen
Einflüsse, die sich indirekt auswirken:
Der Umgang mit Emotionen: Die Essstörung kann ein Versuch sein, Gefühle, die nicht anders ausgedrückt werden können (z. B. der Wunsch nach Trost oder Beruhigung), zu befriedigen.
Der Umgang mit Konflikten: Dieser ist in Familien, in denen Essstörungen auftreten, oft schwierig. Bei Bulimikerinnen kann er »untersteuert« sein, sich in heftigen impulsiven Äußerungen zeigen. Bei Magersüchtigen ist er oft »übersteuert«, das heißt, das offene Austragen von Konflikten wird vermieden. In beiden Fällen scheint oft eine konstruktive Lösung nicht möglich zu sein.
Die Balance von Selbstständigkeit und Verbundenheit: Diese ist in Familien von Betroffenen oft gestört. Manchmal wird die Unabhängigkeit zu wenig gefördert und nicht angemessen unterstützt. Dies findet man nicht selten bei Magersüchtigen. Manchmal wird die Autonomie zu sehr betont. Dies findet man häufig bei Bulimikerinnen.
Der Umgang mit Normen und Ansprüchen: Der Umgang insbesondere mit Leistungs- und Perfektionsansprüchen ist oft problematisch. Essgestörte leiden häufig unter dem Gefühl, ihren eigenen Ansprüchen nicht zu genügen. Die familiären Ansprüche werden dabei oft nicht verbal vermittelt, sondern dadurch, dass sie vorgelebt werden. In Familien Magersüchtiger spielen zudem oft übermäßiger, unangemessener Verzicht und Opferbereitschaft eine Rolle.
Diese Probleme können durch die Entwicklung von Essstörungen noch zunehmen, weil aus Angst, die Krankheit zu verstärken, Konflikte noch mehr umschifft und kontrollierende Verhaltensweisen verstärkt werden oder Gespräche nur noch ums Essen kreisen und sich dadurch die familiäre Atmosphäre verkrampft.
Persönlichkeit, Körper und Ernährungsverhalten werden als wesentliche Faktoren in der Therapie der Essstörung berücksichtigt. Und auch das soziale Umfeld spielt eine bedeutende Rolle.
Essstörungen sind vielschichtige Erkrankungen, die durch zahlreiche Faktoren bedingt sind und sich durch weit mehr als nur gestörtem Essverhalten zeigen. In jedem Fall sind sie immer schwerwiegend und bedürfen möglichst frühzeitig professioneller Hilfe. Eine Therapie kann stationär, teilstationär oder ambulant erfolgen und umfasst zahlreiche Therapiebausteine mit verschiedenen Ansatzpunkten. Der Kampf gegen eine Essstörung endet jedoch nie mit dem Ende einer professionellen Therapie. Das Erlernte soll und muss im Alltag immer wieder angewendet werden. Und auch die Unterstützung durch Familie und Freunde ist ganz wesentlich beim Wiedererlangen und Beibehalten eines normalisierten Essverhaltens und einer gesunden Einstellung zum Körper. Deshalb sollten Angehörige immer in die Behandlung einbezogen werden. Das verbessert die Chancen erheblich. Auf die wesentlichen Ansatzpunkte in der Behandlung sowie Unterstützungsmöglichkeiten durch Angehörige wird im Folgenden genauer eingegangen.
Eine Essstörung ist eine ernsthafte Erkrankung, die weder Betroffene noch Angehörige alleine bewältigen können. Obwohl es gute Selbsthilfeprogramme gibt, raten wir in jedem Fall zu Diagnostik, Beratung, Begleitung und Behandlung durch Fachleute.
Selbsthilfe kann parallel dazu und auch im Anschluss an die Therapie stattfinden. Unser Buch ist ja ebenfalls als Unterstützung bei der Selbsthilfe gedacht.
Die Behandlung von Essstörungen ist insgesamt ein »holpriger« Weg mit vielen Aufs und Abs. Zudem benötigt es oft mehrere Anläufe, bis eine Behandlung »greift«. Sehr häufig sind stationäre Aufenthalte in Fachkliniken notwendig. Darüber sollten sich alle, Betroffene und Angehörige, immer wieder bewusst sein. Alle Beteiligten müssen sich in Geduld und Hartnäckigkeit üben, sollten dabei aber auch ihre Zuversicht nicht verlieren.
Die Therapie beruht auf drei Säulen und erfordert regemäßige ärztliche Untersuchungen, Psychotherapie und Ernährungsberatung. Betroffene und Angehörige müssen ausführlich über Ursachen, Hintergründe der Erkrankung, über Risiken und Folgen sowie über die Therapiebausteine aufgeklärt werden. Es müssen regelmäßige Gewichtskontrollen erfolgen. Weiterhin sind oftmals Blutuntersuchungen und Untersuchungen des Herzens (EKG) notwendig, um körperliche Komplikationen auszuschließen. In allen Fällen muss den Betroffenen genau erläutert werden, was aus welchem Grunde getan wird.
In einer effektiven Psychotherapie sollten nach heutigem Kenntnisstand immer auch das Essverhalten und das Körperbild thematisiert werden. Zudem sollten die Angehörigen in die Behandlung mit einbezogen werden. Bei der Behandlung von Jugendlichen mit Magersucht hat sich die Familientherapie bisher als das effektivste Verfahren erwiesen.
Psychotherapie und medizinische Betreuung sind zur Behandlung einer Essstörung absolut notwendig. Ein zentraler Baustein einer erfolgreichen Behandlung ist die konkrete Veränderung des Essverhaltens.
Viele Essgestörte haben sich im Laufe der Erkrankung zu vermeintlichen Spezialisten in Sachen Ernährung entwickelt. Es scheint auf den ersten Blick also gar nicht nötig zu sein, eine Ernährungsberatung in Anspruch zu nehmen. Dem müssen wir vehement widersprechen.
Essgestörte suchen sich allzu oft leider nur selektiv die Daten und Informationen heraus, die der Aufrechterhaltung der Erkrankung dienen. Viele Betroffene orientieren sich nur an dem Kalorien- oder Fettgehalt von Nahrungsmitteln. Sie sind beispielsweise der Meinung, dass nur fettarme Lebensmittel gesund seien und versuchen, alle fetthaltigen Speisen zu meiden. So verstärken sich krankhafte Verhaltensweisen, die im Laufe der Zeit zu massiver Mangelernährung führen können.
Hinzu kommen die vielen Tipps von Angehörigen und Freunden. Selbst wenn Sie einsichtig sind und wieder ein normales Essverhalten erlernen wollen, haben Sie in der Regel falsche Vorstellungen über die richtige Ernährung. Es kann auch durchaus sein, dass Sie nicht nur unter einer Körperschemastörung leiden, sondern auch Portionsgrößen und Lebensmittelmengen völlig falsch einschätzen.
Eine Ernährungsberatung kann Ihnen helfen, sich wieder ausgewogen und abwechslungsreich zu ernähren. Außerdem können dort alle Unsicherheiten und Fragen rund um die Ernährung geklärt werden. Sie werden individuell betreut und die Beraterin hilft Ihnen, neue Lebensmittel in Ihren Speiseplan einzuführen und damit zu experimentieren. Wenn Sie unter einer Mangelernährung leiden, können Sie diese mit Hilfe einer fachlichen Betreuung wieder ausgleichen. Dadurch vermeiden Sie ernsthafte körperliche Schäden. Wenn eine außenstehende Person auf Ihr Ernährungsprotokoll und auf Ihren Speiseplan achtet, können unnötige Konflikte mit Familie und Freunden vermieden werden. Sie werden sehen, dass ein »objektiver« Blick auf Ihre Essgewohnheiten auch einiges in Ihrer eigenen Wahrnehmung verändern wird. Wenn Sie nur unter der Kontrolle von Eltern oder Partner essen können, werden Sie kaum wirklich gesund werden. Eine professionelle Ernährungsfachkraft hilft Ihnen dabei, zu lernen, unabhängig von Ihren Bezugspersonen Ihren Speiseplan zu managen.
Ernährungsberaterinnen arbeiten in der Regel eng mit Psychotherapeuten und Ärzten zusammen. Im Serviceteil finden Sie eine Kontaktadresse, unter der Sie kompetente Ernährungsberaterinnen (Diplom-Oecotrophologen) finden.
»Leckerbissen« – Achtsamkeitsübung
Mit dieser Übung fördern Sie Ihre Sinne dem Essen gegenüber. Spüren Sie zu gegebener Zeit in Ihrem Tages- und Essensrhythmus einen Moment nach: Was würde ich jetzt gerne essen? Wonach ist mir gerade? Spüren Sie, wie Ihre Geschmacksnerven aktiv werden und innerlich suchen. Was geschieht in Ihrem Mund? Was kommt Ihnen in den Sinn? Nehmen Sie sich dann ganz bewusst etwas von dem, worauf Sie Lust haben: ein Stück Ihrer Lieblingsschokolade, eine Erdbeere, etwas Käse, eine Tasse Tee oder was auch immer. Tun Sie dies so langsam, dass Sie wirklich alles wahrnehmen können. Holen Sie die Köstlichkeit aus dem Schrank, packen Sie sie aus. Seien Sie achtsam und mit allen Sinnen dabei. Was fühlen Sie mit Ihren Händen: welche Formen, welches Gewicht, welche Konsistenz? Atmen Sie den Geruch des Leckerbissens ein. Führen Sie ihn zum Mund. Nehmen Sie Ihre Lippen wahr und Ihren Gaumen, wie er sich freut. Geben Sie die Leckerei behutsam auf Ihre Zunge und nehmen Sie sie dort mit all Ihren Geschmacksnerven wahr. Kauen und schlucken Sie langsam und mit Bedacht, mit Genuss und mit Dankbarkeit dafür, dass Sie sich so etwas gönnen und es Ihrem Körper schenken können.
Sonja (24), ehemals anorektisch
Ich dachte, ich aß zu viel – dabei war es fast gar nichts